Der Jainismus
Seit 2600 Jahren teilen die Jainisten mit den Hindus sowohl den indischen Subkontinent als auch viele Glaubensüberzeugungen. Dennoch unterscheidet sich diese uralte, friedliebende Religion, die rund vier Millionen Anhänger hat, in mehrfacher Hinsicht vom Hinduismus: durch ihre übergeordnete Sorge für das Universum, durch ihren Glauben an die spirituelle Gleichberechtigung von Menschen, Tieren und Pflanzen, und durch ihre extreme Askese. Alle Jain sind Vegetarier; sie lehnen weltliche Besitztümer, Sexualität und Gewalt ab und folgen einem Weg, der im sechsten Jahrhundert v. u. Z. von dem indischen Prinzen und Einsiedler Mahavira vorgezeichnet wurde.
Jain glauben nicht an einen Gott oder an Götter, sie sind jedoch überzeugt, dass es Jinas (reine Seelen) und Tirthankaras (inspirierte Lehrer) gibt. Manch einer würde sie als Atheisten bezeichnen. Sie glauben aber an die unsterbliche Seele. Ihre spirituellen Praktiken, ähnlich denen von Mönchen, gründen sich auf eine tiefgreifende Sorge um das Wohl aller Lebewesen im Universum – Menschen, Tiere und Pflanzen – und um die Gesundheit des Universums selbst. Wie Hindus und Buddhisten glauben sie an den Kreislauf des Samsara, den sie aber ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Selbsthilfe interpretieren. Götter, die helfen könnten, gibt es nicht.
Drei Rechte Jeder Jain ist selbst für seine Bestrebungen verantwortlich, dem obersten Prinzip seines Glaubens – der Gewaltlosigkeit – und den „Drei Juwelen“ treu zu bleiben: richtiger Glaube, richtiges Wissen und richtiges Verhalten. Um nach diesen Prinzipien zu leben, legen Jain fünf Gelübde oder Mahavratas ab: Sie verpflichten sich dazu, keine Gewalt auszuüben, keine Besitztümer zu haben, stets die Wahrheit zu sagen, nie zu stehlen und sexuelle Mäßigung zu üben. Der Zölibat gilt als Idealzustand. Die Gelübde der vielen zölibatär lebenden jainistischen Mönche
9. Jahrhundert v. u. Z. Lebenszeit von Parsva 599 v. u. Z. Geburt Mahaviras
und Nonnen werden als auf einer höheren Ebene stehend betrachtet als die der Laien, die heiraten und Kinder haben, sich aber dazu verpflichten, dem Partner lebenslang treu zu bleiben und Sex nicht zum Vergnügen zu betreiben. Nach der jainistischen Lehre wurden die ersten vier Gelübde von Parsva formuliert, dem 23. Tirthankara ihrer Religion in diesem Zeitalter. Es gab auch andere Zeitalter und viele weitere Tirthankaras, darunter auch Frauen. Historischen Belegen zufolge lebte Parsva im neunten Jahrhundert v. u. Z. und war königlicher Herkunft. Das fünfte Gelübde kam auf Geheiß von Mahavira – wörtlich „großer Held“ – hinzu, der nach der jainistischen Überlieferung von 599 bis 527 v. u. Z. lebte. Nach dem Tod seiner Eltern, König Siddharta und Königin Trishala, verließ Mahavira (der damalige Prinz Vardhamana) im Alter von 30 Jahren den Königspalast und lebte die nächsten zwölfeinhalb Jahre ohne Besitztümer, um nach Erleuchtung zu streben. Als er sie schließlich gefunden hatte, lehrte er den Rest seines Lebens andere, wie man sie erlangt; seine Weisheiten sammelte er in einem heiligen Buch mit dem Titel Agamas. Bei seinem Tod hatte Mahavira die Mokscha erlangt – eine weitere gemeinsame Vorstellung von Jainismus und Hinduismus.
| Fasten Das Fasten spielt in der jainistischen Spiritualität eine größere Rolle als in anderen Religionen und wird von Frauen häufiger vollzogen als von Männern. Nach ihrer Überzeugung reinigt Fasten den Körper und den Geist; das Vorbild ist Mahavira mit seinem von Verzicht und Askese geprägten Leben. Einmal soll er angeblich ein halbes Jahr lang keine Nahrung zu sich genommen haben, eine Übung, die Mönche noch heute nachahmen. Manche gehen noch einen Schritt weiter und fasten ein ganzes Jahr. Dabei reicht es nicht aus, einfach nichts zu essen. Man muss auch den Wunsch zu essen überwinden.Wenn man sich weiterhin nach Nahrung sehnt, gilt das Fasten als sinnlos. |
527 v. u. Z. Tod Mahaviras 350 v. u. Z. Bei einer Hungersnot sterben viele jainistische Mönche 19. Jahrhundert u. Z. Zahl der Jain erreicht ihren Tiefpunkt
Namaskara Sutra: tägliches Gebet der Jain ‘
Mit ihrer Besorgnis für das Universum haben die Jain genauere Vorstellungen vom Jenseits entwickelt als die Hindus. Beschrieben werden mehrere Schichten. Im Zentrum steht die „Mittlere Welt“, in der die Menschen nach Erleuchtung streben müssen. Darüber befinden sich zwei Schichten: In der einen leben befreite Wesen wie Mahavira in Ewigkeit in einer Welt ohne Anfang (daher gibt es auch keinen Schöpfergott) und Ende, die zweite ist eine Art Station auf der ewigen Reise zur endgültigen Erleuchtung. Darunter gibt es zwei weitere Schichten: eine Reihe von sieben Höllen, in denen die Lebewesen von Dämonen und von ihresgleichen gequält werden, aus der sie aber entkommen können, und schließlich einen Kerker, in dem die niedrigsten Lebensformen für immer festgehalten werden.
Jainistischer Einfluss In der Geschichte hatte es der Jainismus im Schatten des Hinduismus immer schwer. Wenn der Hinduismus stark war – beispielsweise im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Kolonialmacht –, wurde der Jainismus geschwächt. Heute gibt es zwei Richtungen: die Digambara- und die Swetambara-Jain. Die ersteren sind ernster. Ihre Mönche tragen niemals Kleidung. Außerdem vertreten sie eine eher traditionelle Haltung, beispielsweise im Hinblick auf die Rolle der Frauen: Diese können nach ihrer Auffassung nur dann die höchste Erleuchtung erlangen, wenn sie zuvor als Männer wiedergeboren wurden. Im Jainismus gedieh und gedeiht eine einflussreiche literarische Kultur. Einige der ältesten Bibliotheken Indiens wurden von Jain gegründet. In überproportionaler Zahl findet man sie auch in der wohlhabenden Elite des Landes. Obwohl sie nur
| Jainistisches Vegetariertum Jain sind Vegetarier, aber da sie Gewalt gegen alle Lebewesen (auch Pflanzen) verabscheuen, verzehren sie auch kein Wurzelgemüse wie Kartoffeln, Knoblauch, Zwiebeln, Möhren und Rüben. Dagegen essen sie Wurzeln wie Kurkuma, Ingwer und Erdnüsse. Auberginen werden gemieden, weil sie viele Samen enthalten, und Samen gelten als Träger zukünftigen Lebens. Strenge Jain essen keine Lebensmittel, die über Nacht stehengeblieben sind, wie beispielsweise Joghurt, und nehmen ihre Mahlzeiten vor Sonnenuntergang ein. Die strengen jainistischen Ernährungsvorschriften spiegeln sich am stärksten in der Küche von Gujarat wider. |
0,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen, zahlen sie mehr als 20 Prozent des Steueraufkommens. Einer von denen, die sich durch die jainistischen Vorstellungen von Gewaltlosigkeit beeinflussen ließen, war der Führer der Unabhängigkeitsbewegung Mahatma Gandhi.
Orte der Anbetung Für Jain war Mahavira nicht der Begründer ihrer Religion, aber an den letzten Tag, an dem er lehrte, wird jedes Jahr mit der jainistischen Version des hinduistischen Diwali-Festes erinnert. Das zweite große Fest, zu dem Jain ihre Tempel aufsuchen, ist Paryushana, der Geburtstag Mahaviras; er bildet den Höhepunkt einer achttägigen Periode des Fastens, der Buße und der Rituale. Da Jain keine Götter haben und die Vorstellung, Mahavira sei ihr Begründer, ablehnen, muss man sich fragen, warum sie überhaupt etwas verehren. Teilweise liegt das am allgemeinen Einfluss des hinduistischen kulturellen Umfeldes, auch wenn die jainistischen Rituale in der Regel strenger und ernster sind. Allerdings beten die Jain das Ideal jener Vollkommenheit an, die Mahavira, Parsva und alle anderen (historisch nicht belegten) Tirthankaras erlangten. Alle Teilnehmer streben danach, zu reinen Seelen zu werden.
Worum geht es Die Welt steht der Erleuchtung im Weg
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