Der Aufsichten! als Kontrollorgan und die Unhaltbarkeit des heutigen Revisionswesens.
Die groben Pflichtverletzungen, deren sich Aufsichtsräte in ihrer Eigenschaft als Kontrollorgan in einer Unzahl von Fällen schuldig gemacht haben, erlauben den Schluß, daß die wenigsten Mitglieder dieses Organs sich der Wichtigkeit und. Schwere ihres Amtes völlig bewußt sind. Zumeist ist man in den mit der Aufsicht betrauten Kreisen, deren Mitglieder oft tüchtige Finanzleute, Juristen und Ingenieure, aber schlechte Buchführungstechniker sind, zu vertrauensselig; man kennt den Grad seiner Rechte, die Summe seiner Pflichten, das Gewicht seiner Verantwortlichkeit nicht — oder unterschätzt sie. Zwar beziehen die Aufsichtsräte häufig für ihre „Tätigkeit“ recht hohe Tantiemen, so beliefen sich dieselben nach einer Zusammen-stellung der „Frkf. Ztg.“ bei io größeren Banken auf 14,13% .des erzielten Reingewinns, bezw. nahezu 20% der verteilten. Dividenden. Nach einer Berechnung, die jüngst ein genauer Kenner der einschlägigen Verhältnisse, Dr. Ernst Loeb, in „Conrads Jahrbücher“ (DL Folge, Bd. 23, Jena 1902) veröffent¬licht hat, betrugen im Jahre 1900/01 bei 400 Kreditbanken mit einem Gesamtaktienkapital von 2459 Millionen Mark die Tan¬tiemen 11 Millionen Mark, d. i. % % vom Kapital. Bei 41 Hypo¬thekenbanken mit einem Kapital von 625 Millionen Mark betrugen die Tantiemen 4 Millionen Mark oder % % des Aktien¬kapitals. ' Bei 3443 Industriegesellschaften mit einem Gesamt¬kapital von 5915 Millionen Mark betrugen die Tantiemen des. Aufsichtsrates 41 Millionen Mark, demnach ebenfalls, wie bei den Hypothekenbanken, % % des Kapitals. Die Dresdner Bank z. B. hat ein Aktienkapital von 130 Millionen Mark und ver¬teilte im Jahre 1900 eine Dividende von 8%. Der Aufsichts¬rat bekam eine Tantieme von 470000 Mk. Da derselbe aus 24 Mitgliedern bestand, so erhielt ein jedes beinahe 20000 Mk. an Tantieme für seine Tätigkeit vergütet. Bedenkt man, daß die Aufsichtsräte, die in der Regel als Kollegium tagen, nur in längem Perioden zusammentreten, meistens einigemal im Jahr, sehr oft sogar nur ein- bis zweimal jährlich, und zwar einmal zur Abnahme der Semestralrechnung und das andere
Mal zur „Prüfung“ der Jahresschlußbilanz, so sind diese Ver¬gütungen gewiß reichlich bemessen.
Freilich mußten schon da und dort, besonders in den letzten Jahren, die Aufsichtsräte auch nach dem alten deutschen Sprich¬wort: „Wer nicht die Augen auftut, muß seinen Beutel auf¬tun“, ihr Vermögen opfern. Notorisch aber ist, daß der Tan¬tiemebezug in den meisten Fällen mühelos erworbenes Geld ist, und daß die mit dem Bezüge verbundene Verantwortung gewöhnlich im umgekehrten Verhältnis zur Höhe der Tantieme steht. Darum hat der Abgeordnete Nacken in der Sitzung der Steuerkommission des Reichstags vom 14. Februar 1906 den Antrag gestellt, ein Zehntel der Aufsichtsratstantiemen zu¬gunsten des Fiskus zu konfiszieren, d. h. die fraglichen Bezüge mit einer Steuer zu belegen, deren Ertrag dem zehnten Teil des Bezugs gleichkommt Und was gibt der Aufsichtsrat für diese hohen, zum Teil fürstlichen Bezüge an effektiver Gegen¬leistung den Gesellschaften her? Nichts, oder doch nicht sehr viel. Zwar wird die nunmehr Gesetz gewordene Tantiemesteuer den gewollten Zweck kaum erreichen, denn es wird ein Leichtes sein, die Bezüge des Aufsichtsrates um so viel höher zu stellen, als Prozente an das Reich abzuführen sind; aber charakteristisch bleibt, daß im deutschen Reichstage die Aufsichtsratstantieme als müheloser Gewinn gekennzeichnet wurde.
Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß von den nach Mil¬lionen zählenden Verlusten, die bei Aktiengesellschaften ent¬standen sind, der weitaus größte Teil auf das Konto mangelnder Diligenz seitens des Aufsichtsrates gesetzt werden muß. Denn weder der Gesamtaufsichtsrat noch einzelne Mitglieder desselben können und wollen die Bücher und Schriften einer Gesellschaft einsehen und prüfen. Wohl vermögen sie periodisch den Be¬stand an Bargeld, Effekten und Wechseln festzustellen. Aber diese Feststellungen haben nichts mit der Kontrolle des Rech¬nungswesens zu tun. Die Prüfung der Jahresrechnungen im Zusammenhänge mit der Bilanz ist für den Aufsichtsrat rein unmöglich. Darum sollte, so schreibt der Geh. Hofrat Hecht1), die gesamte rechnerische Revisionstätigkeit aus dem Pflichten¬kreis des Gesamtaufsichtsrats ausgeschaltet werden. Seine Tätig-
*) Referat gehalten in der Sitzung des Vereins für Sozialpolitik am 15. Sep¬tember 1903, abgedruckt in Holdheims „Monatsschrift“ Nr. 11 v. 14. November 1903. keit sollte dort anfangen, wo diejenige des Bücherrevisors aufhört. Derzeit beruht nicht bloß bezüglich der Revisions¬pflicht, sondern überhaupt die ganze Verfassung des Aufsichts¬rats auf dem, was man „Vertrauen“ nennt. Das ist aber kein für die juristische Konstruktion verwertbares Moment Die Ver¬fassung des Aufsichtsrats, so führt Hecht weiter aus, ist aus jener Zeit herübergekommen, in der das Rechtsbewußtsein noch nicht bestand, daß für die einzelnen Mitglieder des Aufsichts¬rats eine unter Umständen für sie ruinöse pekuniäre Haftpflicht und eine ihre ganze bürgerliche Existenz möglicherweise unter¬grabende kriminelle Haftbarkeit besteht Das einzelne Auf-sichtsratsmitglied hat auch heute eine Vertrauensstellung, wie der ganze Aufsichtsrat, aber — eine bezahlte Vertrauensstellung, was Georg v. Siemens in seiner drastischen Weise einmal so ausdrückte, daß er sagte: „Die Tantieme ist eine Prämie;“
Die Bestimmung des § 266 H.-G.-B. gestattet zwar, wie schon erwähnt1), der Generalversammlung, Revisoren zur Prü¬fung der Bilanz oder zur Prüfung von Vorgängen bei der Gründung oder der Geschäftsführung zu bestellen; allein der erste Absatz des § 266 wirkt zu schwerfällig, auch enthält er nur nachgebendes Recht: „Die Generalversammlung kann usw.“ Der übrige Teil der Vorschrift trifft nur die Anordnung für bestimmte Fälle, schafft also nur Gelegenheitsrevisoren. Was daher bei dieser Gesetzesbestimmung herauskommt, kann kein Institut sein, das eine nachhaltige Wirkung erzeugen könnte. ' Gewiß liegt auch in anderen Staaten, so in Italien, Belgien, Spanien und Rußland, die Bücherrevision noch sehr im argen. In Österreich-Ungarn ernennen die Handelskammern die Bücher¬revisoren, und auch Frankreich kennt keine diesbezügliche Or-ganisation. Aber Was bedeutet das Aktienwesen dieser Staaten gegenüber demjenigen Deutschlands.
Schon der internationale Emissionsmarkt bezeichnet klar den Unterschied. Ordnet man die gesamten Emissionen der Welt, die im Jahre 1905 über 15 Milliarden, genau 15,28 Milliarden Mark betrugen, nach denjenigen Staaten, denen sie zugute kämmen, nicht nach denen, wo sie aufgelegt wurden, also nach den Ursprungsländern, so marschieren, wie der „Ratgeber auf
*) Vergl. bei: „Wie muß die Revirion ausgeübt werden“; „Allgemeines“.
dem Kapitalmarkt" schreibt, die Vereinigten Staaten von Nord-amerika mit über 4 Milliarden Mark an der Spitze. Deutsch¬land ist ein guter Zweiter mit nahezu 2% Milliarden Mark, dann kommt Großbritannien und dessen Kronkolonien (also ohne Kanada und Südafrika usw.) mit etwas über 2 Mil¬liarden Mark, Japan mit 1,46 Milliarden, Rußland mit 1,57 Mil¬liarden, Zentral- und Südamerika mit 828 Millionen Mark, Frank¬reich nebst Kolonien mit 676 Millionen Mark, Ägypten mit 376 Millionen Mark, Rumänien mit ca. 320 Millionen Mark (wo¬von ca. 277 Millionen Mark Konversion), Belgien mit 277 Mil¬lionen Mark, Spanien mit 261 Millionen Mark, die Niederlande nebst Kolonien mit 201 Millionen Mark, Britisch-Südafrika mit 229 Millionen Mark, Kanada mit 188 Millionen Mark. Es folgen Italien, die Türkei, die Schweiz, Österreich-Ungarn (mit nur 56 Millionen Mark, ein deutliches Zeichen der wirtschaftlichen Depression infolge des politischen Zwistes mit Ungarn), China, Griechenland, Portugal, Schweden, Luxemburg, Serbien mit Beträgen von 142 % Millionen Mark bis herunter zu 2,4 Mil¬lionen Mark.
In welchen Proportionen die Gründungen bei uns seit 1871 (die vor 1871 bestandenen kommen wenig in Betracht, weil dieselben längst wieder von der Bildfläche verschwunden sein dürften) sich entwickelt haben, möge folgende vom „Deutschen Ökonomist“ veröffentlichte Tabelle zeigen.
Es wurden gegründet:
im Jahre 1871 207 Gesellschaften mit 758760000 Mk. Kapital
Y n 1872 479 Y 79 I477730000 Y Y
n Y 1873 242 Y Y 544180000 Y Y
n 9? 1874 90 Y Y 105920000 Y Y
1875 55 Y 45560000 Y Y
Y 1876 42 Y Y 18180000 Y Y
Y 1877 44 Y n 43420000 Y Y
Y 1878 42 Y Y 13250000 Y Y
Y 1881 ui n . Y 199240000 V Y
Y 1882 94 n Y 56IOOOOO Y Y
n Y 1883 192 r Y 176030000 Y Y
n Y 1884 153 n Y III240000 Y Y
w Y 1885 70 Y Y 53470000 Y Y
r 1886 113 Y Y 103940000 Y Y
im Jahre 1887 168 Gesellschaften mit 128410000 Mk. : Kapital
n 1888 *84 n r. 193680000 * 99 -
„ „ 1889 360 „ „ 402540000 „ 99
n „ 1890 *36 « r. 270990000 „ 99
« „ 1891 160 „ „ 90240000 „ 99
„ „ 1892 127 , „ 79820000 „ n
* V I893 95 « r 77260000 r 99
» » 1894 9* n * 88260000 n 99 ■
» 1895 l6l „ „ 250680000 „ n
» n 1896 *8* „ „ 268500000 n n
» » 1897 *54 „ „ 380470000 „ 9!
„ „ 1898 3*9 « „ 463620000 „ 99
1» „ 1899 3<>4 n „ 544390000 n n
n n I9OO *6l „ „ 340460000 „ 99
„ „ I9OI *58 r> n 158250000 r n
r. n 190* 87 n 1, 1x8430000 n n
» n 1903 84 n n 300040000 „ n
» „ 1904 104 » „ 140650000 „ 9!
„ n 1905 I9I n „ 386000000 „ 9T
Nach vorstehender Tabelle haben wir in Deutschland mit 5049 Aktiengesellschaften und einem nominellen Aktienkapital von 7435150000 Mk. zu rechnen. Zu diesem Kapital ist noch diejenige Summe hinzuzufügen, die als werbendes Kapital für die Aktiengesellschaften in Form von Obligationen wirksam ist. Zwar fehlen über den Umfang derselben bestimmte Daten, aber es wird annähernd wohl auf eine Milliarde veranschlagt wer¬den können. Das gesamte investierte Kapital dieser Gesell¬schaften wird auf mindestens 20 Milliarden Mark geschätzt. Und merkwürdig! Dieses ganze und große Riesenkapital ist nicht bloß mit Rücksicht auf seine Verwendung, sondern auch in Bezug auf seine buchtechnische Verrechnung einzig und allein der Kontrolle des Aufsichtsrates, d. i. eines Organs ausgeliefert, das — die täglichen Erfahrungen und die Gerichtshöfe bestätigen dies — mehr Dekoration als Kontroll¬organ ist, und das weder die Zeit noch auch die Befähi¬gung besitzt, die Pflichten eines solchen auszuüben, und dennoch diese Pflichten tragen muß, weil — das Gesetz es so will. Das Handelsgesetzbuch bestimmt nämlich in § 246 was folgt:
„Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung in allen Zweigen der Verwaltung zu überwachen und sich zu dem Zwecke von dem Gange der Angelegenheiten der Gesellschaft zu unterrichten. Er kann jederzeit über diese Angelegen¬heiten Berichterstattung von dem Vorstande verlangen und selbst oder durch einzelne von ihm zu bestimmende Mitglieder die Bücher und Schriften der Gesellschaft einsehen, sowie den Bestand der Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren untersuchen. Er hat die Jahres¬rechnungen, die Bilanzen und die Vorschläge zur Gewinn¬verteilung zu prüfen und darüber der Generalversammlung Bericht zu erstatten. Er hat eine Generalversammlung zu berufen, wenn dies im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist Weitere Obliegenheiten des Aufsichtsrates werden durch den Gesellschaftsvertrag bestimmt. Die Mitglieder des Auf¬sichtsrates können die Ausübung ihrer Obliegenheiten nicht anderen übertragen.“
Bedenkt man, daß der Aufsichtsrat sehr vieler Aktiengesell¬schaften aus Zufallskapitalisten, Malern, Professoren, Ärzten, Ingenieuren, hohen Beamten und Offizieren „z. D.“ und „a. D.“, also aus Personen besteht, die vom kaufmännischen Rechnungs¬wesen keine Ahnung haben, so ist rasch zu begreifen, welcher Wert der von einem solchermaßen zusammengesetzten Kolle¬gium revidierten Bilanz beizumessen ist Daß die Unfähigkeit zur Überprüfung nicht zugegeben wird, ist natürlich und be¬ruht auf rein menschlicher Eitelkeit und — Schwäche. Ihr ist es auch zuzuschreiben, daß der Aufsichtsrat oft „Vogelstrau߬politik“ treibt dort, wo er zugreifen sollte und müßte. Daraus erwächst die traurige Tatsache, daß Bilanzen oft für „geprüft und in Ordnung befunden“ erklärt werden, die nicht einmal oberflächlich mit dem Scheinwerfer der Kritik beleuchtet wurden. Es sei hierbei nur daran erinnert, wie seiner Zeit die gröbsten Unregelmäßigkeiten, die auf eine ganze und lange Reihe von Jahren zurückreichten, bei einem Straßburger Bankinstitut auf¬gedeckt wurden, trotzdem in dem unmittelbar vorangegangenen Jahre die Bilanz mit der Bescheinigung, daß alles in bester Ord¬nung sei, versehen wurde, und ungeachtet dessen, daß schon eine oberflächliche Prüfung die Falschbuchungen bei dem „Konto pro diverse“ hätte finden müssen!
Man hätte nun meinen sollen, daß der Gesetzgeber dem Aufsichtsrate mit Rücksicht auf seine Eigenschaft als Kontroll¬organ das Recht hätte geben, um nicht zu sagen die T’flictit hätte auf erlegen müssen, unparteiisch e, aber verantwortliche Sachverständige zu ernennen, um die Bilanzkontrolle und mit ihr eine lückenlose Prüfung der Bücher samt Belegen wirksam zu ermöglichen. Damit wäre die Gewähr gegeben, daß die Bilanz nicht bloß pro forma, sondern der Tat nach geprüft würde. Allein das Gesetz kam zu einem umgekehrten Schluß und. schrieb vor, daß die Obliegenheiten des Aufsichtsrates nicht übertragbar sind, und bestimmte so mit Rücksicht auf die Re¬visionstätigkeit gerade das Gegenteil von dem, was es logischer- weise bestimmen müßte. In der Tat kann vernünftigermaßen einem Menschen nicht eine solche Kraft und Vielseitigkeit zu¬gemutet werden, daß er in ein und demselben Betrieb ein Wächter, der Custos der Geschäftsführung und gleichzeitig" der Revisor und Inspektor eines komplizierten Verrechnungswesens sein soll. Ein Aufsichtsratsmitglied, welches dies alles zu leisten vermöchte, müßte die reinste „Allerweltskraft“ sein. Und dies sind die Aufsichtsräte gemeiniglich nicht. Es wird dies sofort klar, wenn man weiß, wie die Aufsichtsratsstellen oft besetzt werden. Bei der engen Beziehung der Industrien zu den Gro߬banken existiert ein System der Ernennung nicht nur von Auf¬sichtsräten, sondern auch von Direktoren, das ganz anderen Gesichtspunkten als dem der Wahl des Tüchtigsten folgt. Solche Gesichtspunkte sind um so maßgebender, je größer die Bank, je zahlreicher ihre Industriebeziehungen, je zielbewußter ihre In¬dustriepolitik wird. So ist es zu verstehen, daß an Stelle der un¬mittelbaren und freien Wahl eine systematische Ausnutzung der rechtlichen Institution des Aufsichtsrates tritt. Man kann daher getrost sagen, daß der Aufsichtsrat nicht nur vom Gesetz zu einem obligatorischen Organ der Aktiengesellschaften, sondern auch durch die Art der handelsrechtlichen Regelung zugleich zu einem vollkommenen Werkzeug finanzpolitischer Bestrebungen der Banken gemacht ist. Wie könnte es sonst sein, daß ein dem technischen und industriellen Leben fernstehender Bankier über die Wahl der Direktoren befinden, oder ihm nahestehende Personen auf diesen Posten bringen, oder als Aüfsichtsrat über das Wohl und Wehe der Gesellschaft verfügen könnte.
Dazu tritt» daß das Gesetz zwei wichtige Tatbestände still¬schweigend sanktioniert: und zwar braucht das Aufsichtsrats¬mitglied nicht Aktienbesitzer der Gesellschaft zu sein» sodann ist die Zahl der Gesellschaften, bei denen dieselbe Person Auf¬sichtsrat sein kann, unbeschränkt. So steht denn im „Adre߬buch der Direktoren und Aufsichtsräte“ für 1904/05 der Bankier Louis Hagen in Köln mit 35 Aufsichtsratsstellen an erster, der Inhaber der Firma Oppenheim in Köln mit 29 an dritter Stelle. Der letzte Mitinhaber der liquidierten Firma Landau in Berlin war Aufsichtsrat bei folgenden Gesellschaften: bei drei Banken» einer Versicherungsgesellschaft, zwei Terraingesell¬schaften, einem Bahnuntemehmen, drei Montangesellschaften, fünf Brauereien, fünf Gesellschaften der Waggon- und Maschinen-industrie, je einer chemischen Zement-, Zucker- und Textilfabrik. Im gleichen Betreff schreibt Dr. Arthur Blaustein, Mannheim („Neue Gedanken über die Bedeutung des Aufsichtsrates für die Aktiengesellschaft“ in der „Bankbeamten-Zeitung“ Nr. 7 v. 1. April 1907), was folgt:
„Wohl die größere Hälfte der Aufsichtsratsposten bekleiden die „Großaktionäre“ (darunter Gründer, Vorbesitzer von umge¬wandelten Einzelunternehmungen, fremde Unternehmungen, die sich beteiligen, vor allem die Banken), Vertreter von Bank¬häusern fehlen überhaupt nur in den seltensten Fällen in den Aufsichtsräten, denen sie, sei es äls Gründer oder ständige Bank¬verbindung oder als Gläubiger angehören. Für die Großbank-direktoren ist es nachgerade zum vornehmen Sport geworden, als Aufsichtsrat bei den Aktiengesellschaften ihrer Klientel zu fungieren. Daher die vielen Dutzende von Aufsichtsratsposten, welche diese Männer bekleiden (Passow zählt bis 33, Eulenburg sogar bis 40 bei einer Person). Nach Jeidels (Verhältnis der Großbanken zur Industrie, Leipzig 1905) verfügten Ende 1903 die Direktoren und Aufsichtsräte der 6 Berliner Großbanken über 751 Aufsichtsratsposten. Nach Eulenburg hatten 692 Bankiers und Bankdirektoren von insgesamt 3918 Personen 1996 Aufsichtsratsstellen (von 6783) oder 29,4 °/0 aller Aufsichtsrats¬posten inne, und zwar sind von den 154 Aufsichtsräten mit 10 und mehr Stellen (zusammen 2257) 91 Bankiers, die 1422 Stellen innehaben. Fraglich ist, ob Passows Motivierung zutreffend erscheint, wonach die „Tantiemenjagd“ erst in zweiter Linie zu
dieser Erscheinung geführt habe, und daß den ausschlaggebenden Anreiz vielmehr der Einfluß auf das Unternehmen, also das Geschäftsinteresse, nicht das Selbstinteresse bilde.
Weiter gehören den Aufsichtsräten an Direktoren und Auf-sichtsratsmitglieder von in Interessengemeinschaft stehen¬den Gesellschaften (auch Bildung besonderer Delegationsräte), nur selten Vertreter der Kleinaktionäre (fast nur sog. „Schreier“, die beruhigt werden sollen), ferner technische oder kommer¬zielle, auch juristische Sachverständige, zurückgetretene Direktoren, Vertreter des Staates, endlich dem Unternehmen fremde Leute mit dekorativ wirkenden Namen oder Titeln, höhere Beamte, welche durch ihre Beziehungen nützen können, Männer der wirtschaftlichen Praxis mit wichtigen geschäftlichen Verbindungen. Diese betriebsfremden Ele¬mente haben am meisten zur Unterschätzung der Auf¬sichtsratstätigkeit, zu ihrer Bewertung als mühelosen Gewinn bringend, beigetragen.
Der im Juli 1903 wegen Weiterverpfändung fremder Depots verhaftete Geh. Kommerzienrat Viktor Hahn, Mitinhaber der inzwischen in unfreiwillige Liquidation getretenen Dresdner Bankfirma Ed. Rocksch Nachf., der von jeher sich dadurch unvorteilhaft auszeichnete, daß er eine ungewöhnliche Zahl von Aufsichtsratsstellen einnahm, hatte wohl am meisten solcher Sinekuren inne. Zu den Gesellschaften, in denen Aufsichtsrat Hahn den Vorsitz führte,, zählten nach dem „Berliner Tage¬blatt*4 (Nr. 381 v. 30. Juli 1903): die Aktiengesellschaft für Kunst¬druck in Dresden-Niedersedlitz, Aktiengesellschaft für Trocken¬plattenfabrikation vorm. Westendorp & Wehner in Köln, AktiengesellschaftBergbräu zu Dresden-Plauen, Dresdner Aktien¬Cichorien- und Kaffeesurrogatfabrik Teichel & Claus, Dresdner Albuminfabrik, Aktiengesellschaft in Dresden, Cardinal Film Compagnie in Köln, ErZgebirgische Dynamitfabrik, Aktienge¬sellschaft in Geyer in Sachsen, Faber & Schleicher, Aktien¬gesellschaft in Offenbach a. M., Fabrik photographischer Papiere auf Aktien C.Christensen, Aktiengesellschaft in Berlin, Fabrik photographischer Papiere vorm. Dr. A. Kurz, Aktiengesellschaft in Wernigerode, Fabrik photographischer Apparate auf Aktien vorm. R. Hüttig & Sohn in Dresden, Kunstanstalt Wilh. Hoff¬mann, Aktiengesellschaft in Dresden, Kulmbacher Exportbrauerei 76 •
Mönchshof, Aktiengesellschaft, Mittelrheinische Brauereigesell¬schaft in Andernach und Koblenz, Sebnitzer Papierfabrik, Aktien¬gesellschaft, Paul Süß, Aktiengesellschaft für Luxuspapierfabri¬kation m Dresden, Trockenplattenfabrik Dr. C. Schleußner, Aktiengesellschaft in Frankfurt a. KL, Vereinigte Radeberger Glashüttenaktiengesellschaft, Petzold & Aulhorn, Aktiengesell¬schaft in Dresden, Protalbinwerke, Aktiengesellschaft in Wien, Vereinigte Elektrizitätswerke, Aktiengesellschaft in Dresden, Mitteldeutsche Elektrizitätswerke in Dresden und Aktiengesell¬schaft für Elektrizitätszentralen in Dresden. Außerdem gehörte er dem Aufsichtsrate der Deutschen Kognakbrennerei vorm. Gruner & Co. in Siegmar, der Mechanischen Treibriemenweberei und Seilfabrik G. Kunz, Aktiengesellschaft, der Sächsischen Gußstahlfabrik in Döhlen bei Dresden, den Vereinigten Fabriken photographischer Papiere in Dresden und Georg A. JasmatziF Aktiengesellschaft in Dresden an.
Zur Illustration der Häufung der Aufsichtsratsstellen dient eine Statistik, die das „Berliner Tageblatt“ aufgemacht und am 3. Juli 1907 veröffentlicht hat. Nach dieser Statistik hatten Aufsichtsratsmandate inne: 29 Personen je 10, 26 je 11, 21 je 12, 25 je 13, 20 je 14, 10 je 15, 13 je 16, 8 je 17, 2 je 18, 2 je 19, 4 je 20, 2 je 21, 4 je 22, 3 je 23, 4 je 24, 3 je 26, 1 :27, 1:28, 2 Je 3 je 30, 1:36, 1:37, 1:41. 15 oder mehr Mandate hatten folgende Persönlichkeiten: Justizrat Dr. Springer-Berlin (15), Generalkonsul H. Rosenberg-Berlin (15), Max Schinckel- Hamburg (15), Geheimrat Fritz v. Friedländer-Fuld-Berlin (i6)r Kommerzienrat Rudolf Koch-Berlin (16), Geheimrat Dr. Max Winterfeldt sen.-Berlin (17), Dr. P. v. Schwabach-Berlin (17), Dr. Hans Jordan-Schloß Mallinckrodt (17), Kommerzienrat Arn- hold-Dresden (20), Direktor Arthur Gwinner-Berlin (22), Kom¬merzienrat Karl Klönne-Berlin (22), Geheimer Regierungsrat Witting-Berlin (23), Geheimer Baurat Emil Rathenau-Berlin (24), Dr. Walther Rathenau-Berlin (23), Geheimrat Isidor Loewe- Berlin (24), Generalkonsul Eugen Landau-Berlin (24), Direktor Julius Stern-Berlin (26), Hugo Stinnes-Mülheim-Ruhr (26), Ge¬heimer Oberfinanzrat Waldemar Müller-Berlin (30), Konsul Eugen Gutmann-Berlin (36), Karl Fürstenberg-Berlin (37), Kommerzien¬rat Louis Hagen-Köln (41). Die Stelle des Aufsichtratsvor¬sitzenden vereinigt in einer Hand Dr. Hans Jordan (7 mal),.
Karl Neuburger-Berlin (7 mal), Konsul Eugen Gutmann-Berlin (8 mal), Hugo Stinnes-Mülheim (8 mal), Arthur Gwinner-Berlin (10 mal), Dr. P. v. Schwabach-Berlin (11 mal), Eugen Landau- Berlin (14 mal), Geheimrat Dr. Gustav Strupp-Meiningen (18 mal).
Man hat ausgerechnet, daß in Deutschland allein 70 Per¬sonen in 1184 Aktiengesellschaften die Aufsichtsratsstellen in Beschlag genommen haben, dabei müssen doch diese Leute auch noch ihr eigenes Geschäft besorgen! Je mehr derartige Posten jemand bekleidet, desto größer ist die Möglichkeit, in der einen oder andern Gesellschaft zivilrechtlich haftbar gemacht zu werden, was fraglos nicht im schutzwürdigen Interesse der Aktionäre liegen kann.
Freiwillig werden Aufsichtsratsstellen, so schreibt Dr. Otto Jeidels in seiner oben zitierten Arbeit, gewährt an Personen mit gutklingendem Namen, auch an ehemalige Staatsbeamten, die im Verkehr mit den Behörden manche Erleichterung schaffen können, oder aus Höflichkeit der Gründer, ferner an Sachver¬ständige, vor allem aber an andere industrielle Gesellschaften, deren Kundschaft oder Freundschaft man sich sichern will. Gewiß liegt der Generalversammlung in ihrer Majorität die Wahl des Aufsichtsrates ob. Dies ist aber auch nur ein Schein¬recht Denn gewöhnlich bilden die Banken, zufolge des über¬nommenen Aktienbesitzes die Mehrheit, so daß die Generalver¬sammlung nur Ja und Amen zu sagen braucht Findet sich wirklich einmal ein scharfer Opponent, der es versucht „wider den Stachel zu locken“, so weiß man ihn durch Kooptation in den Aufsichtsrat mundtot zu machen.
Wir wollen hier nicht von der Einflußsphäre sprechen, in der solche Aufsichtsräte wirksam sind, und die diese für sich ausnützen können; aber diese Sach- und Rechtslage birgt große Gefahren für die Bilanzkontrolle. Denn ein aus solchen Mit¬gliedern zusammengesetztes Kollegium kann gar nicht anders als nur formell die Saldi des Hauptbuches mit den Ziffern der Bilanz vergleichen. Ob die Bilanz aber auch in Wirklichkeit stimmt, ob sie nicht, wie man zu sagen pflegt, „frisiert“ ist, ob keine Verschleierung stattfand, oder ob sie nicht gar unmittel¬bar Fälschungen verdeckt, das kann eine solche „Kontrolle“ nicht aufdecken. Wenn es nun schon tüchtigen Kaufleuten außerordentlich schwer fällt, und diese nur selten dazu befähigt 78
sind, eine aktiengesellschaftliche Bilanz zu ziehen und zu beur¬teilen, um wieviel weniger noch muß dies bei einem Aufsichts¬ratspersonal, wie dem oben gekennzeichneten, der Fall sein. Damit ist der Wert des heutigen Kontrollorgans, so da Auf¬sichtsrat heißt, auf das richtige Maß gebracht.
Es war daher ein Fehler, daß man im dritten Abschnitt des Handelsgesetzbuches über die Aktiengesellschaften nicht analoge Vorschriften aufgenommen hat, wie sie im vierten Ab-schnitt des Reichsgesetzes vom i. Mai 1889, betreffend die Er¬werbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, über die „Revision“ zum Prinzip erhoben sind. Denn was den Genossenschaften frommt, würde auch den Aktiengesellschaften nützen. Beide verdienen gleichen Schutz. Sind doch die Ziele im Grunde genommen bei beiden die gleichen, nämlich den Aktionären und den Genossenschaftsmitgliedern möglichst hohe Renten zu sichern. Zum mindesten aber hätte man den Schlußsatz des § 246 H.-G.-B. anders regeln, d. h. den Aufsichtsrat ermächti¬gen sollen, Sachverständige an seiner statt wählen zu dürfen. Damit wäre diesem Laienkollegium etwas gewährt, was dem juristisch gebildeten Richterkollegium längst zugestanden ist. Der § 405 der Zivilprozeßordnung bestimmt in dieser Hinsicht was folgt:
„Das Prozeßgericht kann den mit der Beweisaufnahme betrauten Richter zur Ernennung der Sachverständigen er¬mächtigen. Derselbe hat in diesem Falle die in dem vor¬stehenden Paragraphen dem Prozeßgerichte beigelegten Be¬fugnisse auszuüben.“
Ein ähnliches Zugeständnis hat das Gesetz dem Aufsichts¬rat nicht gemacht. Da aber die Prüfung der Jahresrechnungen samt Belegen und Bilanzen, sei es für den Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit oder für einzelne Mitglieder desselben, so gut wie unmöglich ist, so beschränkt sich fast durchgängig diese Prüfung auf Stichproben, oder sie wird durchgeführt durch Stroh¬männerrevisoren, das heißt soviel wie: die Revision unterbleibt ganz. Etwas ganz besonderes glaubt gewöhnlich der Aufsichts¬rat geleistet zu haben, wenn er die Übereinstimmung der Bilanz¬posten mit den Abschlußziffern der Bücher prüft. Wie die Endziffern gewonnen werden und nach welcher Methode die Bilanzaufmachung auf ihre Zuverlässigkeit gegenüber Ver- 79 schleierungen geschieht, darauf geht er nicht ein, und er be¬achtet nicht, daß selbst bei den gröbsten Fälschungen für Über¬einstimmung gesorgt wird. Darin liegt für den Aufsichtsrat das ruinöse Moment Nicht zum kleinsten Teil hat daher der § 246 des H.-G.-B’s die Unsummen mit verschuldet, die im Jahre 1903 dem deutschen Nationalvermögen durch den Zu¬sammenbruch namhafter Banken und industrieller Aktiengesell¬schaften verloren gingen. Gewiß hat der Aufsichtsrat, salvis juribus der Generalversammlung, das unbegrenzte Prüfungsrecht Allein das Recht der Untersuchung wird illusorisch, wenn die Unmöglichkeit der Ausübung dieses Rechts zweifellos ist Darum hat, so führte Hofrat Hecht in seinem in der Sitzung des Ver¬eins für Sozialpolitik am 15. September 1903 zu Mannheim er¬statteten Referat aus, unter allen organischen Einrichtungen des Aktiengesellschaftswesens keine so wenig die Hoffnungen und Erwartungen gerechtfertigt, wie die Institution des Aufsichtsrats 1 Zwar steht auch der Generalversammlung das Prüfungsrecht zu (§ 250—260 H.-G.-B.), allein auch dieses ist nur ein papiernes Recht Dies bedarf keines Kommentars. Noch niemals hat eine ordentliche Generalversammlung einen entscheidenden Ein¬fluß auf di$ Vorgänge im Gesellschaftsbetrieb ausgeübt, ebenso wie es niemals der Gesetzgebung gelingen wird, die ordentliche Generalversammlung zu beleben, und auch der warmherzigste Appell an die Aktionäre, daß es ihre Pflicht sei, die Versamm¬lungen zu besuchen, wird je bei denselben irgend welchen Widerhall finden.
Was nun die Regreßpflicht des Aufsichtsrates anlangt, so läßt sich aus den einzelnen Fällen, die das Reichsgericht entschieden hat, eben nur der gemeinsame Gedanke heraus¬schälen, daß die Schadenersatzpflicht des Aufsichtsrates dann gegeben ist, wenn er bei einiger Sorgfalt und Einsichtnahme der Bücher die Fälschungen hätte entdecken oder verhindern können. Aus dieser Haftung (§§ 246 ff. des H.-G.-B.) ist die Idee einer Versicherung entstanden, welche Aufsichtsrats¬mitgliedern gegen die Folgen Deckung gewähren soll.
Die Geschichte des deutschen Aktienwesens zeigt es klar, daß sozusagen unter den Augen des gesamten Aufsichtsrates, des geborenen Kontrollorgans der Aktiengesellschaften, die gröbsten Bilanzfälschungen und Defraudationen jahrelang be- 80
-gangen werden können. Die Vorgänge bei der Aktiengesell¬schaft für chemische Industrie in Rheinau-Mannheim, in der plumpe Millionenfalschungen vorkamen/und der Zusammenbruch der Leipziger Bank, die in blanco auf die einzige Treberkarte 85 Millionen setzte, haben in dieser Beziehung klassisches Mate¬rial zu Tage gefördert Oder was soll man dazu sagen, wenn der Vorstand der Hannoverschen Straßenbahn-Aktiengesell¬schaft, um in den Jahren 1897 bis 1900 Tantiemen und Gewinn¬anteile zahlen zu können, mit Wissen des Aufsichtsrates den Reingewinn höher angeben konnte mit ca.:
34900b Mk. für das Jahr 1897, 737000 „„ „ „ 1898,
933000 „ „ „ „ 1899,
1193000 „ „ „ r 1900.
Einen gleichen „Trick“ hatte der durch eine Reihe von Ehren¬stellen ausgezeichnete Leiter der Aktiengesellschaft für Leder¬fabrikation in München-Giesing, Kommerzienrat Ed. Kester, angewendet, der, um die ungenügenden Geschäftsergebnisse der einzelnen Betriebsjahre besser erscheinen zu lassen, seit dem Jahre 1886 alljährlich im Hauptbuche wie in der Bilanz das Lederkonto mit einer weit höheren Ziffer einsetzte, als sich solches nach den richtig vorgenommenen Einzelaufnahmen be¬rechnete. Hierbei soll auch an das buchmäßige Verschwinden¬lassen von mehr als 25 Millionen, das bei der Diskontogesellschaft als „Abschreibung“, vulgo Verlust auf Popp und die Venezuela¬bahn, gelegentlich der Fusion mit der Norddeutschen Bank in Hamburg vorkam (vergL Dr. Otto Lindenbaum, „Die Ge¬fahren im deutschen Bankwesen“, Berlin 1901), gedacht werden. Man vergesse nicht, daß die Aktiengesellschaft gar oft als ein Weidefeld betrachtet wird, das möglichst schnell abzugrasen ist, ganz nach dem Nomadencharakter aller jener Spekulanten, denen weniger am Produzieren als am Profitieren gelegen ist. Das sind die Piraten des Aktienwesens!
Mit der Frage der Kontrollpflicht des Aufsichtsrates und der Prüfung der Bilanz bezw. der Buchführung durch sachverständige Revisoren beschäftigte sich auch der Juristen¬tag, der in Kiel im September 1906 tagte. Es wurden, nach¬dem festgestellt war, daß die Überwachungsfunktionen des Aufsichtsrates im großen und ganzen sich nicht bewährt haben, R. Beigel, Theorie und Praxis. 6 ßj
die folgenden, von den beiden Referenten — Reichsgericlitsrat Dr. Düringer und Geh. Justizrat Prof. Dr. Riesser — in der zweiten Abteilung gemeinsam aufgestellten Thesen beinahe mit Einmütigkeit angenommen:
„i. Ein dringliches Bedürfnis zu einem sofortigen ge¬setzlichen Eingreifen ist nicht anzuerkennen, zumal eine weitere Klärung der vielfach stark voneinander abweichenden Ansichten und Reformvorschlage abzuwarten ist
2. Bei einer künftigen Regelung ist vorzusehen, daß im Gesellschaftsvertrage selbst das Mindestmaß der Kontrollpflicht mit Rücksicht auf die besondere Art und Branche der einzelnen Gesellschaften bestimmt wird. Den Mit¬gliedern der demzufolge im Gesellschaftsvertrag in ihrem Mindest-umfange festzusetzenden Dezernate oder Kommissionen sollen selbständige Kontrollbefügnisse zustehen, aber auch schärfere Verpflichtungen in der Weise auferlegt werden, daß jedes Kommissionsmitglied für die Erfüllung seiner beson¬deren Kontrollpflicht den übrigen Mitgliedern des Aufsichts¬rats verantwortlich ist
3. Für größere Aktiengesellschaften mit einem Grund¬kapital von mindestens nom. 1000000 Mk. empfiehlt sich die obligatorische Einführung jährlicher Bilanzrevisionen durch besondere, von der Gesellschaft unabhängige, seitens der Generalversammlung zu wählende Sachverständige, die für sorg¬fältige Ausübung ihrer Pflichten verantwortlich zu machen sind.“
„Durch diesen Vorschlag, so führte Geheimrat Dr. Rießer in seinem Referat aus, soll der Tatsache Rechnung getragen werden, die aus den Eingangs erwähnten Gründen durch gesetzliche Vorschriften nicht zu beseitigen ist, daß un- gemein häufig in den Aufsichtsräten nicht genügend sach¬verständige Personen sitzen, um eine materielle Bilanz- (und Inventar-)Prüfung, um die es sich hier handelt, vornehmen zu können, und es soll die bereits tatsächlich bei vielen Gesell¬schaften bestehende Übung zu einer gesetzlichen Institution erhoben werden. Auch hier werden die Ausführungsbestim¬mungen Näheres bestimmen können und müssen; ich selbst habe, so berichtete der Referent weiter, schon früher vorgeschlagen, zu bestimmen, daß die Generalversammlung in erster Linie solche Sachverständige zu wählen habe, welche von beson- 82
deren Gesellschaften hierzu speziell ausgebildet sind, vorausgesetzt nur, daß diese Gesellschaften in ihren Satzungen für sorgfältige Auswahl dieser Sachverständigen und für deren gewissenhafte Amtsführung die Gewähr übernehmen, .und ein zur Erfüllung solcher Garantie ausreichendes, vollgezahltes Grundkapital (etwa von 1000000 Mk. nominal) besitzen.
Wir haben also den Vorschlag des Herrn Gutachters nicht aufgenommen, wonach bei allen Aktiengesellschaften alle zwei Jahre eine Prüfung der Buchführung durch besondere Re¬visoren erfolgen soll, weil wir nicht glauben, daß die gemachten Erfahrungen ein Recht geben, an der Richtigkeit der Buch¬führung der Aktiengellschaften im allgemeinen Zweifel zu hegen, und weil die besonderen Verhältnisse, welche den Gesetzgeber bei Genossenschaften zu einer solchen Maßregel veranlaßten, hier nicht vorhanden sind.“
Die im letzten Absatz enthaltene Bemerkung gibt zu An¬ständen Anlaß: Zunächst, welches war der Grund, der den Gutachter zum Vorschlag gerade einer zweijährigen Prüfung der Bücher geführt hat? Welches sind sodann die gemachten Erfahrungen des Prof. Dr. Rießer, die, wie er ausführte, ein Recht nicht geben, „an der Richtigkeit der Buchführung der Aktiengesellschaften im allgemeinen Zweifel zu hegen“? Fast sämtliche bis jetzt geführten Prozesse bei Zusammenbrüchen von Aktiengesellschaften oder bei Haftbarmachung ihrer Organe wegen mangelnder Diligenz oder wegen böswilliger Hand¬lungen haben immer noch das Gegenteil bewiesen, nämlich, daß Falschbuchungen vorgenommen, die Inventare gröblichst gefälscht, Lagerbücher nicht geführt waren u. dergl. mehr. Sodann, wenn Referent an die Richtigkeit der Buchführung glaubt, wozu verlangt er die obligatorische Bilanzrevision durch besondere Sachverständige? Oder meint er etwa, daß unter „Bilanzrevision“ etwas anderes als eine Prüfung der gesamten Buchführung zu verstehen sei? Oder daß die Bilanz nur formell mit den Abschlüssen der Hauptbuchkonti verglichen zu werden braucht? Es darf von Prof. Dr. Rießer angenommen werden, daß er unter „Bilanzrevision“ eine Revision des gesammten, der Bilanz unterliegenden Rechnungsmaterials verstanden haben will. Will er aber das, so durfte er auch nicht die Richtigkeit der Buchführung der Aktiengesellschaften, auch „im allgemeinen“
6* 8S
nicht, als etwas so Zweifelfreies hinSteilen; denn die Revision der Bilanz bezw. der Buchführung unterstellt, daß in der Bilanz bezw. in der Buchführung Ungehörigkeiten vorgekommen sein könnten»
Sicher aber bedeuten die Vorschläge Rießers mit ihrem Zwange zu regelmäßiger, sachkundiger Revision der Aktien¬gesellschaften, zur Schaffung von Dezernaten für die ein¬zelnen Aufsichtsratsmitglieder unter eigener Verantwortlichkeit sowie zur Festsetzung eines Mindestmaßes von Pflichten für den Aufsichtsrat in dem Gesellschaftsstatut einen Fortschritt, der zweifellos der künftigen Gesetzgebung die Richtung weisen wird.
No Comments