Bilanzwahrheit und Bilanzklarheit
Von der Sorgsamkeit und Vorsicht, mit der bei Aufstellung des Inventars vorgegangen wird, hängt es ab, ob die Bilanz die wahre Vermögenslage darstellt oder nicht Freilich wird die Bilanz immer nur insoweit die Vermögenslage ziffernmäßig zum Ausdruck bringen können, als die Forderungen, Schulden und Rechte nach den Grundsätzen einer ordnungsmäßigen Buch¬führung im Hauptbuch enthalten waren. Es gibt aber eine Reihe von Verpflichtungen und von Rechtsgeschäften, wie Giro¬obligos, Garantieverpflichtungen u. dergl., die, weil sie nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung nicht gebucht werden, auch nicht in den Salden des Hauptbuches enthalten sind, aus denen aber mit mehr oder minder großer Wahrscheinlich¬keit Verluste drohen oder bedingte Verpflichtungen erwachsen können. So hat es sich im Leipziger Bankprozeß gezeigt, daß die Buchführung dieses Instituts als eine durchaus korrekte an-erkannt wurde, und daß trotzdem aus der Bilanz die verhängnis¬vollen Riesenengagements, die die Gesellschaft gegenüber der Trebertrocknungs-Gesellschaft eingegangen war, nicht ersehen werden konnten. Dieser Tatbestand kollidiert demnach nicht mit der Bilanzwahrheit. Aber er erfordert, daß jede Bilanz einer Nachprüfung auch in der Richtung, ob Rechtsgeschäfte abgeschlossen sind, die nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung nicht gebucht werden, aus denen aber Eventual-verpflichtungen schweben, unterzogen werden muß.
Eine andere Frage ist, ob es sich mit der Bilanzwahrheit verträgt, wenn gesellschaftliche Aktiva, entweder in zu hohen oder
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in zu niederen Sätzen abgeschrieben werden, so zwar, daß diese Aktiva mehr oder weniger weit hinter demjenigen Wert Zurück¬bleiben oder über denjenigen Wert hinausgehen, der ihnen am Bilanztage beigemessen werden kann. Wieviel im Minimum abgeschrieben werden muß, bestimmt das Handelsgesetzbuch. In § 261, Ziff. 3, heißt es:
• „Anlagen und sonstige Gegenstände, die nicht zur Weiter¬
veräußerung, vielmehr dauernd zum Geschäftsbetriebe der Gesellschaft bestimmt sind, dürfen ohne Rücksicht auf einen geringeren Wert zu dem Anschaffungs- oder Herstellungs¬preis angesetzt werden, sofern ein der Abnutzung gleich¬kommender Betrag in Abzug gebracht oder ein ihr ent¬sprechender £meuerungsfonds in Ansatz gebracht wird.“
Daraus könnte man schließen, daß der Gesetzgeber den Gesellschaften eine Maximalgrenze nicht vorschreiben, sondern ihnen nach oben freie Hand lassen wollte. Dieser Schluß wäre aber falsch und stünde in direktem Widerspruch zur Bilanz¬wahrheit. Diese erfordert treue Angabe desjenigen Wertes, den der Gegenstand tatsächlich am Bilanztage für den Betrieb hat Der gewöhnliche Kaufmann mag in seiner Bilanz Minderungen oder Vermögensabgänge in der Hoffnung verschweigen, in besseren Jahrgängen wieder einen Ausgleich herzustellen und somit über kritische Zeiten hinwegzukommen. Bei Aktien¬» gesellschaften liegt der Fall ganz anders. Diese müssen aller Welt von Jahr zu Jahr die bei ihnen vorkommenden Vorgänge, auch wenn solche noch so schmerzlicher Natur sind, klar¬legen. Dies muß geschehen selbst auf die Gefahr hin, daß Ansehen und Kredit und damit die Lebensfähigkeit schwindet, die bloße Hoffnung auf eine spätere Gesundung der Gesell¬schaft entbindet nicht von der Pflicht zur Offenbarung der vollen und ganzen Wahrheit, wenn das Publikum wirksam gegen das leichtfertige oder gar verbrecherische Treiben von Gesell¬schaftsorganen, denen es sein Vermögen anvertraut, ohne die Möglichkeit einer Kontrolle zu haben, geschützt werden soll. Die Notwendigkeit uneingeschränkter Bilanzwahrheit entspringt dem eigenartigen Wesen der Aktiengesellschaft, die auf der einen Seite den gleichen Lebensbedingungen unterworfen ist wie jede andere wirtschaftliche Unternehmung, auf der andern .Seite aber in ihrer freien wirtschaftlichen Entfaltung aus Gründen des öffentlichen Interesses gewissen Schranken unterworfen werden muß. Denn wenn Aktionäre und Gläubiger nicht mehr wissen, was, wo und wieviel in der Bilanz verschwiegen wurde, dann hört jeder Glaube an dieses Schriftstück auf. Darum muß an dem Verlangen einer möglichst ausgiebigen Wahrheit und Offenheit in den aktiengesellschaftlichen Bilanzen und Geschäfts¬berichten unbedingt festgehalten werden.
Daß vorgekommene, vom Vorstande begangene Unregel¬mäßigkeiten oder Straftaten in der Bilanz (durch Abbuchung der Verluste) und in dem erläuternden Bericht (durch Mit¬teilung der näheren Umstände) nicht verschwiegen werden dürfen, versteht sich eigentlich von selbst Das Offenheits¬prinzip muß auch dann zur Geltung kommen, wenn Deckung für die veruntreuten Summen eingebracht wurde. Auch be¬stimmt § 314 des Handelsgesetzbuches was folgt: „Mitglieder des Vorstandes oder des Aufsichtsrates oder Liquidatoren wer- t den mit Gefängnis bis zu einem Jahre und zugleich mit Geld¬strafe bis zu 20000 Mk. bestraft wenn sie in ihren Darstellungen, in ihren Übersichten über den Vermögensstand der Gesellschaft oder in den in der Generalversammlung gehaltenen Vorträgen den Stand der Verhältnisse der Gesellschaft unwahr darstellen oder verschleiern.“
Nun plädiert zwar Professor Dr. Rehm-Straßburg in seinem in der „Deutschen Juristen-Zeitung“ Nr. 1 vom 1. Januar 1904 veröffentlichten Aufsatz über „Die Übertreibung des Offen¬heitsprinzips im Aktienwesen“ dafür, daß man unter Umständen nicht so offen, d. h. wahr zu sein braucht, wir möchten aber wissen, welche Umstände stichhaltig genug sein könnten, um das Offenheits- und Wahrheitsprinzip zu durchlöchern. Denn ist einmal in dieses Prinzip Bresche gelegt, so ist es schwer zu sagen, vor welcher Linie Halt gemacht werden soll. Es ist daher sehr gewagt, sich diesbezüglich eine einschränkende Auffassung anzueignen. Man muß vielmehr unterstellen, daß eine aktiengesellschaftliche Bilanz gar nicht offen genug sein kann und daß jede Gruppierung mit dem Zweck, der Bilanz bewußtermaßen eine andere materielle Gestalt zu geben, als sie verdient, die Indizien des Betrugs in sich schließt. Dem¬gegenüber verwirft Rehm nicht das Verschweigen von ver¬untreuten Summen seitens des Direktors, wenn dieser unter der
Bedingung, daß geschwiegen wird, Deckung liefert Er ver¬wirft diese Geheimhaltung deshalb nicht und nennt das Gegen¬teil „Offenheitsfanatismus“ und „Überspannung des Offenheits¬prinzips“ um deshalb, weil er sagt, daß, wenn durch die Un¬wahrheit möhf Unheil von der Gesellschaft abgewendet wird als durch die Wahrheit, der Aufsichtsrat nur im Interesse der Gesellschaft und mit der ihm vom Gesetz auferlegten „Sorg¬falt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ handelt, wenn er nicht die Wahrheit sagt Mit einer solchen Anheimgabe an den Auf¬sichtsrat, zu beurteilen, wann er von Unterschlagungen der Generalversammlung Mitteilung machen soll und wann nicht, wird ein sehr schlechtes Beispiel den übrigen Gesellschaften gegeben, und „böse Beispiele verderben oft gute Sitten“. Daran ändert nichts, daß Prof. Rehm in seinem Werke über „Bilanzen“ usw. (S. 853 ff. u. S. 870 ff.) lehrt, daß es „rechtlich zugelassene Bilanzverschleierungen und Bilanzfälschungen“, „strafrechtlich erlaubte Bilanzverhüllungen“ gibt ). Er versucht diese spitzfindige, und auch juristisch kaum haltbare Anschauung mit der Notwendigkeit der Wahrung des Geschäftsgeheimnisses zu beweisen, übersieht jedoch, daß überall, wo im Verkehr die Wahrung des Geschäftsgeheimnisses eine Rolle spielt, dieses Ge¬heimnis von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrs¬sitte getragen sein muß. Ein Geheimnis aber, dessen Gegen¬stand eine Straftat zu seinem Inhalte hat, muß unseres Erachtens gerade bei Aktiengesellschaften der Generalversammlung offen¬bart werden, auch dann, wenn das Gegenteil im Interesse der Gesellschaft liegen sollte. Es ist nicht möglich, die dem Auf¬sichtsrat auferlegte Sorgfalt von diesem Erfordernis zu trennen.
Als im Jahre 1904 der Direktor der Fabrik photographischer Apparate in Dresden, Hüttig, Unterschlagungen beging, ge¬fälschte Akzepte in Umlauf setzte und sich mit den auf diese Weise erbeuteten Mitteln bei anderen Unternehmungen be¬teiligte, erklärte der Vorsitzende des Aufsichtsrates, daß bereits im Jahre 1903 Unterschlagungen und Falschbuchungen des Direktors entdeckt worden seien. Der Aufsichtsrat sei indes zum Resultat gelangt, keine Anzeige zu erstatten, da der
Schuldige für die Unterschlagungen ausreichende Deckung bot und es nicht ratsam erschien, eine unnötige Beunruhigung in das Publikum zu tragen. Der als Fälscher entlarvte Direktor wurde daher beibehalten. Es stellten sich aber bald neue Unter-schlagungen heraus, die nun zur Anzeige führten! —
In einem andern Falle, der sich bei der Bedburger Woll¬industrie-Aktiengesellschaft im gleichen Jahre abspielte, stellte es sich heraus, daß die Bilanz per 31. Dezember 1902 eine bedeutende Überwertung der Aktiva enthielt, die auf falsche Inventuraufnahmen seitens des inzwischen verstorbenen General¬direktors der Gesellschaft, des Kommerzienrats Silverberg, zurück¬zuführen waren. Gleichwohl brachte der Aufsichtsrat die Sache nicht vor die Generalversammlung mit der Begründung, daß es für die Geschäftsinteressen gefährlich sei, mit halber Wahr¬heit (der Aufsichtsrat hatte nämlich mit der Revision begonnen und hierbei unliebsame „Entdeckungen“ gemacht) an die Öffent¬lichkeit zu treten, ferner weil man von der Erbin des ver¬storbenen Generaldirektors Deckung zu erhalten hoffte. Erst als die mit der Revision beauftragte Treuhandgesellschaft Aus¬führlicheres an die Oberfläche zog und einen Bericht abstattete, der auch noch Lücken aufwies, hielt sich der Aufsichtsrat für berechtigt, am 28. Februar 1904 eine diesbezügliche Notiz an die Presse zu versenden.
Beide Fälle sind einander ähnlich. In beiden war das Motiv der Verheimlichung die Aussicht, Ersatz für den Schaden zu erhalten, die sich aber als irrig erwies, und in beiden Fällen interpretierten die Aufsichtsräte die Sorgfalt, welche das Gesetz von ihnen bei Erfüllung ihrer Obliegenheiten verlangt, so, daß sie sich zur Geheimhaltung der Unregelmäßigkeiten verpflichtet fühlten. An diese beiden Fälle, welche die Handelszeitung des „Berl. Tageblattes“ in Nr. 183 vom n. April 1904 mitteilte, knüpfte das Blatt folgende Bemerkung:
„Der Aufsichtsrat wäre danach also in einen Konflikt ge¬raten zwischen dem Prinzip der Geheimhaltung und dem Offen¬heitsprinzip. Auf diesen Konflikt hat vor einiger Zeit Prof. Rehm-Straßburg in einer in der ,Deutschen Juristen-Zeitung* veröffentlichten Abhandlung hingewiesen, die den Titel führt: ,Die Übertreibung des Offenheitsprinzips im Aktienwesen*. Prof. Rehm kommt darin zu folgendem Resultat: »Pflicht und R. Beigel, Theorie und Praxis. j
Recht der Geheimhaltung bestehen noch, wo Mitteilung einer Tatsache für die Gesellschaft größere Übel im Gefolge hat als das Unterlassen der Mitteilung Nachteile für diejenigen, welche die Tatsachen nicht erfahren/
Die beiden oben angeführten Fälle können geradezu als Schulbeispiele für den von Professor Rehm konstruierten Fall gelten. Und da zeigt es sich denn, daß die rauhe Wirklichkeit derartige, am grünen Tisch konstruierte Theorien ad absurdum führt Gerade weil der Aufsichtsrat der beiden Gesellschaften das Offenheitsprinzip im Interesse derselben durchbrach, hat sich der entstandene Schaden womöglich noch vergrößert
Abgesehen davon, daß es den einzelnen Mitgliedern des Aufsichtsrats unmöglich ist, in derartigen Fällen, wie den oben aufgezählten, zu entscheiden, welches das größere Übel für die Gesellschaft ist: die Geheimhaltung oder die Mitteilung an die Öffentlichkeit, widerspricht ein derartiges Durchbrechen des Offenheitsprinzips völlig dem Geiste des Gesetzes. Das Handels-gesetzbuch hat zwar die Pflichten und Rechte des Aufsichts¬rates, wie die Praxis ergibt, nicht scharf genug präzisiert, immer¬hin gibt es dem Aufsichtsrat eine ganze Reihe von Anweisungen, wie er in Fällen wie Hüttig und Bedburg zu handeln hat Der § 246, Absatz 2, legt dem Aufsichtsrat die Pflicht auf, eine Generalversammlung einzuberufen, so oft dies im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist. Der § 247 gibt dem Aufsichts¬rate das selbständige Klagerecht gegen die Vorstandsmitglieder. Der Aufsichtsrat braucht in den Fällen, wo es sich um seine Verantwortlichkeit handelt, nicht einmal einen Beschluß der Generalversammlung abzuwarten, er kann sogar gegen den Be¬schluß der Generalversammlung von seinem Klagerecht Ge¬brauch machen. Das Gesetz hat auch dem Aufsichtsrat die Pflicht aufgelegt, sich um die Qualifikation der von der Gesellschaft anzustellenden oberen Beamten zu kümmern. Wie sollte man da einen Aufsichtsrat entschuldigen, der einen als Fälscher ent¬larvten Direktor — angeblich im Interesse der Gesellschaft — beibehält?“
Der oberste deutsche Gerichtshof, das Reichsgericht in Leipzig, hat sich jüngst gegen die Rehmsche Lehre über das Offenheitsprinzip ausgesprochen und entschieden (Urt d. R.-G. IV. Str.-Sen. vom 24. Okt. 1905), daß, wenn bei einer Aktien- 18
Gesellschaft Veruntreuungen seitens des Vorstandes vorge¬kommen sind, dieselben vom Aufsichtsrat im Geschäftsbericht selbst dann erwähnt werden müssen, wenn für die der Gesell¬schaft aus ihnen entstandenen Ersatzansprüche Deckung vor¬handen ist. Aus den Gründen heißt es:
„Der Geschäftsbericht einer Aktiengesellschaft soll zur Er¬läuterung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung dienen. Er soll nicht nur den aus diesen Vorlagen in den Um¬rissen zu erkennenden Vermögensbestand der Gesellschaft, son¬dern daneben auch die Verhältnisse der Gesellschaft entwickeln und so einen Überblick über deren Stand zunächst bei Ab¬schluß des Geschäftsjahres geben. Für die Beurteilung der Frage, was hiernach im einzelnen der Erwähnung oder Be¬sprechung im Geschäftsbericht bedarf, müssen die Erwägungen maßgebend sein, die im besonderen Falle die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzustellen gebietet (§§ 241, Abs. 1, 249, Abs. 1, H.-G.-B.). Die Verhältnisse des vorliegenden Falles lassen es nicht rechtsirrig erscheinen, wenn die Strafkammer annahm, daß hier die umfangreichen Veruntreuungen des Direktors der Gesellschaft nicht unerwähnt bleiben durften, selbst wenn für die daraus der Gesellschaft gegen jenen erwachsenen Ersatzansprüche Deckung vorlag. Denn auch dann handelte es sich um ein für die Entlastung der Gesellschaftsorgane und die Neuwahl des Aufsichtsrates bedeutsames und hier um so wichtigeres Vorkommnis, als der Vorstand vom Aufsichtsrat in seiner Stellung belassen worden war.
Mit Recht hat die Strafkammer den Einwand zurückge¬wiesen, daß es unter den obwaltenden Umständen Pflicht des Aufsichtsrates gewesen sei, im Geschäftsberichte Mitteilungen über die Veruntreuungen zu unterlassen, weil derartige Mit¬teilungen den Zusammenbruch der Gesellschaft zur notwentigen Folge hätten haben müssen. Der Geschäftsbericht, so wurde dieser Einwand begründet, sei nur für die Aktionäre bestimmt und habe nur diesen Rechenschaft zu geben. Deren mutma߬licher Wille und deren Interesse habe für die Gesellschafts¬organe die oberste Richtschnur zu bilden. Ihr Wille habe nur dahin gehen können, daß von den Vorkommnissen nichts in die Öffentlichkeit dringe, damit ihr Aktienbesitz nicht gefährdet werde. Das kapitalistische Interesse der Aktionäre sei be¬
friedigt, wenn Veruntreuungen gedeckt seien; von solchen noch Kenntnis zu erhalten, daran bestehe für sie kein Interesse. Sei anzunehmen, daß für andere (Aktienerwerber oder Kreditgeber) solche Kenntnis von Bedeutung sei, so liege demgegenüber für die Gesellschaftsorgane ein Notstand vor.
Diese Auseinandersetzungen beruhen auf Rechtsirrtum. Daraus, daß die Veröffentlichung des Geschäftsberichts nicht gesetzlich ebenso vorgeschrieben ist, wie die Veröffentlichung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung (§ 256, Abs. 1, H.-G.-B.), ist nicht zu folgern, daß der Geschäftsbericht nur dem Interesse der Aktionäre diene und nur für diese bestimmt sei. Nach Abs. 2 des § 265 ist er zum Handelsregister einzureichen und schon so der Einsicht jedermanns zugänglich. (§ 9, Abs. 1, H.-G.-B.). Üblichermaßen versenden außerdem die Aktienge-sellschaften ihre Geschäftsberichte an viel weitere Kreise als den der Aktionäre. Und die Vorschriften, zu deren Befolgung die Gesellschaftsorgane im öffentlichen Interesse an gesunder Entwicklung des Aktienwesens, wie zum Schutze des Publikums gegen unlautere Machenschaften überhaupt, unter Strafandrohung (im § 314, Abs. 1, Nr. 1, H.-G.-B.), angehalten werden, treffen ebenso die Darstellungen über den Stand der Verhältnisse der Gesellschaft in den Gesellschaftsberichten, wie die Übersichten über deren Vermögensstand in den Bilanzen. Unter allen Um¬ständen aber erheischte schon das Interesse der Aktionäre hin¬sichtlich der zu fassenden Beschlüsse aus den dargelegten Rück¬sichten die Bekanntgabe der Veruntreuungen. Einer besonderen Widerlegung der gänzlich verfehlten Hereinziehung eines Not¬stands ist man hiernach überhoben.“
Wie die Wahrheit vom rechtlichen, so ist die Klarheit vom formalen Standpunkte aus als ein wesentliches Erfordernis der Bilanz zu betrachten. Von der Klarheit und Übersicht der Darstellung hängt es ab, ob der Aufbau (Struktur) der Bilanz ein solcher ist, daß ein Einblick in die Vermögenslage der Ge¬sellschaft im einzelnen wie im ganzen sich aus ihr gewinnen läßt oder nicht
Das Schweizerische Obligationsrecht bestimmt in Art 656 was folgt:
„Die Bilanz ist so klar und übersichtlich aufzu¬stellen, daß die Aktionäre einen möglichst sichern
Einblick in die wirkliche Vermögenslage der Gesellschaft erhalten.“
Mit Bezug auf die Bilanzklarheit bietet jede Gattung von Aktiengesellschaften für die richtige Bilanzierung eigenartige Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten werden wesentlich da¬durch erhöht, daß kein fester Rahmen für die Bilanz besteht ), in welchem in einer bestimmten Ordnung die Aktiv- und Passiv¬posten eingefügt werden können. Bei sehr vielen Aktienge¬sellschaften ist die Bilanz so gehalten, als ob diese nur dazu da wäre, um Rätsel aufzugeben. Man ist bei ihnen auf das Raten und Vermuten angewiesen. Und das kann doch unmöglich der Zweck gewesen sein, aus welchem das Gesetz (§ 265 H.-G.-B.) die Veröffentlichung der Bilanz (PublikationspfEcht) vorschrieb.
Dieser Buntscheckigkeit, Willkür und Bilanzverwilderung ist es zuzuschreiben, wenn es dem Publikum so schwer wird und auch dem Fachmanne nur selten gelingt, sich aus den veröffentlichten. Bilanzen ein annähernd klares Bild von der Vermögenslage der Gesellschaften zu machen. Zweckmäßig hätte die Befugnis und die Verpflichtung zur Aufstellung von Bilanzschemata für die Hauptgruppen der Aktiengesell¬schaften dem Bundesrat übertragen werden sollen. Wenn es möglich gewesen ist, für Versicherungsgesellschaften wichtige Grundsätze der Bilanzierung gesetzlich festzulegen *), und es gelungen ist, für Hypothekenbanken ein einheitliches Schema für den gleichen Zweck zu schaffen8), so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dieselbe Aufgabe auch für alle andern Arten von Aktiengesellschaften lösbar wäre.
Diese andern Arten müßten mit Bezug auf ihre Bilanzen in sieben Hauptgruppen geschieden werden. Es hätten zu gehören:
Zur Gruppe I Sämtliche industriellen Gesellschaften.
Zur Gruppe II Die Gasanstalten und Elektrizitätswerke.
Zur Gruppe HI Die gewöhnlichen Banken und Finanzinstitute.
Zur Gruppe TV Die Emissionshäuser.
Zur Gruppe V Die Verkehrs- und Transportgesellschaften.
Zur Gruppe VI Die Versicherungsgesellschaften.
Zur Gruppe VII Die gemeinnützigen und Verkehrsanstalten.
Jede dieser sieben Haupterwerbsgruppen hätte in der Bilanz
in Ansehung der Eigenart ihrer Betriebsform ihre speziellen Konti klar und übersichtlich auszuweisen.
In sämtlichen Bilanzschemata aber hätte der Grundsatz
vorzuherrschen, daß die immobilen Posten des Aktivver¬mögens wie des Passivvermögens streng getrennt von den mobilen zu halten sind.
Unter immobilen Posten des Aktivvermögens sind alle Werte zu verstehen, die nicht zur Veräußerung, son¬dern den Zwecken der Gesellschaft dienen. Hierher gehören: Grundstücke, Gebäude, Maschinen, Werkzeug, Geräte und der¬gleichen. Ferner die ideellen Werte, wie Patente, Verlags¬rechte, Firmenwert
Zu den mobilen Posten des Aktivvermögens zählt man: Geld, Guthaben an Banken, Wechsel, Effekten, Zinsscheine, den Vorrat an Waren, die Fabrikate und Rohmaterialien und die Außenstände, soweit diese jederzeit oder innerhalb einer Frist von drei Monaten einziehbar sind.
Immobile Posten des Passivvermögens sind diejenigen Werte, welche nicht zurückgefordert werden können, oder die erst in längerer, im voraus bestimmter Frist rückzahlbar sind. Zur erstem Kategorie gehören: das eingezahlte Aktienkapital, die verschiedenen Reservefonds, der Amortisations- oder Er¬neuerungsfonds sowie die Unterstützungskasse für das Personal. Zur letztem Kategorie zählt man: Hypothekenschulden und Obligationskapitale.
Zu den mobilen Posten des Passivvermögens rechnet man alle diejenigen Schulden, deren Rückzahlung von den Gläubigem sofort oder innerhalb einer Frist von drei Monaten eingefordert werden kann. Hierher gehören: Akzepte, Lieferantenforde¬rungen, aufgenommene Baardarlehen.
Das Merkmal einer gesunden Bilanz besteht darin, daß möglichst wenig immobile Bilanzposten vorhanden sind, sodann, daß sämtliche mobilen Passivposten durch die mobilen Aktiv¬posten gedeckt sind1)« Der Zustand der Bilanz ist in diesem Falle ein „liquider“.
Auf die Liquidität der Bilanz ist bei Aktiengesellschaften ein großer Wert zu legen, weil nur so im Bedarfsfälle Bestände ohne Einbuße versilbert werden können. Diese Liquidität darf nicht nach hergebrachter Schablone, d. h. so dargestellt werden, als ob man sie erst erraten müßte, sondern sie muß aus der Bilanz, mindestens aber aus dem Geschäftsbericht her¬vorgehen. Dies ist nur zu erreichen, wenn die Gesellschaften verpflichtet würden, jedes ihrer größeren Engagements, gleich¬gültig ob sie dem Effekten-, Konsortial-, Kontokorrent- oder Wechselgeschäft angehören, namentlich, das heißt kontomäßig und mit Ziffernangabe, sei es in der Bilanz selbst oder im Ge¬schäftsbericht, anzuführen.
Bei Fabriken ist darauf zu achten, daß die eingekauften Rohstoffe nicht mit dem Lager fertiger Produkte zusammen¬geworfen werden. Die Bilanzklarheit erheischt vielmehr strikte Trennung dieser beiden Kategorien und getrennte Angabe der Rohmaterialien und der verkaufsfähigen Erzeugnisse.
Die Maßregel verhindert (immer vorausgesetzt, daß der Aufsichtsrat seine Pflicht tut), daß abnorme Ein- und Verkäufe von Rohstoffen oder Fertigfabrikaten gemacht werden können, wie dies gewöhnlich zu Spekulationszwecken zu geschehen pflegt, ohne von dem kontomäßig getrennten Nachweis verraten zu werden. Gewiß wird das Bilanzschema den unlautere Ge¬schäften den „Garaus“ nicht zu machen vermögen; aber das Versteckspielen mit abnormen Summen, das durch das heutige Bilanzchaos und besonders durch das Zusammenwerfen der Konti gefördert wird, würde bei dem festen Gefüge eines sachlich gegliederten Bilanzschemas erheblich erschwert werden.
*) Andri-Sayous stellt in seinem in der „Revue d’^conomie politique“ (Februar 1899) veröffentlichten Artikel: „Les banquet allemandes en cas de crise ou de guerre“, den deutschen Banken das Zeugnis aus, daß sie es bisher trefflich verstanden hätten, die Liquidität ihrer Bilanzen dem Werdegang der heimischen Volkswirtschaft entsprechend zu regulieren. Er berechnet das Prozentualverhältnis der liquiden Mittel zu den Verbindlichkeiten bei den deutschen Banken ftr die Jahre 1891—1899 wie folgt: 1891:95%, 1892:91%, 1893:88%, 1894:83%, 1895:73%» I80:75%, 1897:79%, 1898:76%, 1899:78%; vergl. Les Ban¬des de Dlpöts“, S. 298, Anm. 1.
Die Bilanz einer Aktiengesellschaft darf auf keinen Fall sich als eine Sphinx darbieten; sie muß vielmehr dargestellt werden, so klar, daß auch der gebildete Laie sich aus ihr ein Urteil über die Vermögenslage bilden kann, und so wahr, daß auf die Richtigkeit der aufgestellten Aktiva und Passiva, sowie der ausgewiesenen Überschüsse mit Sicherheit gezahlt werden kann.
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