Bedeutung der Bilanz für die Rechnungskontrolle
Der Betrieb einer jeden Wirtschaft, gleichviel ob in privater oder fiskalischer Regie, wird mit Bezug auf Vermögensveränderungen und Erfolg dem Werte nach durch das Rechnungswesen zum Ausdruck gebracht. Im Laufe des Geschäftsjahres befindet sich das Rechnungswesen im permanenten Fluß: da gilt es, die täglichen Geschäftsvorkommnisse der mannigfaltigsten Art, den Zuwachs und den Abgang von fungiblen Sachen, den mittelbaren und unmittelbaren Gewinn und Verlust richtig zu verbuchen, die Waren genau auszukalkulieren, die Fakturenbücher in Ordnung zu bringen, das Rechenverhältnis mit den Geschäftsfreunden durch Belastung und Gutschrift der Leistungen 'pro und contra auf den Kontokorrenten täglich laufend zu halten und vieles andere mehr. Nur am Geschäftsjahresschluß tritt eine Weile Stillstand ein, in dem Sinne, daß sämtliche Personenkonti saldiert und die Bestandskonti nach vorgenommener Aufnahme der marktgängigen Artikel sowie Bewertung der keinen Marktpreis habenden Gegenstände berichtigt, abgeschlossen und mit den Abschlußergebnissen zur Bilanz gebracht werden, wo sie für den Abschlußtag den Vermögenszustand und den Geschäftsgewinn, den das abgelaufene Jahr gebracht hat, ersehen lassen. Demnach kann, auf das kaufmännische Rechnungswesen übertragen, die Bilanz mit Fug und Recht als der „ruhende Pol in der. Erscheinungen Flucht“ angesehen werden. Von der Treue und Offenheit, mit der dieser Nachweis geführt wird, hängt es ab, ob in der Bilanz Klarheit und Wahrheit herrscht oder ob sie nur eitel Blendwerk darstellt Nicht mit Unrecht wird daher die Bilanz Sprichwörtlich als das Gewissen des zur Buchführung Verpflichteten bezeichnet '
R. Beigel, Theorie und Praxis.
* * ‘Mit dem in der Bilanz gelieferten Nachweis ist jedoch die Sache noch nicht abgetan, denn es können in den Buchungen und folglich auch in der Bilanz Irrtümer, auch beabsichtigte Unrichtigkeiten enthalten sein, unter deren Einfluß das Wirtschaftsbild beeinträchtigt, verschoben, in falscher Beleuchtung erscheint So können, abgesehen von Rechenfehlern, fehlerhafte Übertragungen aus den Dokumenten in die Geschäftsbücher dadurch entstehen, daß eine Zahl falsch abgeschrieben oder daß ein Geschäftsposten übersehen oder zweimal gebucht wird. Auch kann es sich ereignen, daß der Buchhalter eine unrichtige Auffassung von einem Vorgang hat und diesen infolgedessen auf falsche Konti bringt Es können ferner Verwechslungen bei Verwendung der verschiedenen Rechnungen, Versehen bei den Überträgen von Folio zu Folio, Auslassungen, dolose Schiebungen und Buchungsmanipulationen der verschiedensten Art vorkommen, die das Bilanzbild nicht bloß zu entstellen, sondern gänzlich zu verzerren befähigt sind. Die wichtige Frage, ob das Rechnungswesen samt Bilanz richtig oder falsch ist, kann daher nur eine sachliche Nachprüfung des einschlägigen Materials beantworten. Darum bildet die Kontrolle einen der wichtigsten Grundpfeiler im Betrieb einer Wirtschaft.
In der Staatswirtschaft wird diese Kontrolle von einer Rechnungskammer oder einem Rechnungshof, in der Privatwirtschaft von einem Revisor oder einem sonstigen Kontrollorgan ausgeübt.
Bei der Aktiengesellschaft bildet der Aufsichtsrat die Kontrollinstanz. Das Handelsgesetzbuch schreibt in dieser Beziehung vor:
§ 246. „Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung der Gesellschaft in allen Zweigen der Verwaltung zu überwachen und sich zu dem Zwecke von dem Gange der Angelegenheiten der Gesellschaft zu unterrichten. Er kann jederzeit über diese Angelegenheiten Berichterstattung von dem Vorstande verlangen und selbst oder durch einzelne von ihm zu bestimmende Mitglieder die Bücher und Schriften der Gesellschaft einsehen sowie den Bestand der Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren untersuchen. Er hat die Jahresrechnungen, die Bilanzen und die Vorschläge zur Gewinnverteilung zu prüfen und darüber der Generalversammlung Bericht zu erstatten.
Er hat eine Generalversammlung[*] zu berufen, wenn dies im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist
Weitere Obliegenheiten des Aufsichtsrates werden durch den Gesellschaftsvertrag bestimmt
Die Mitglieder des Aufsichtsrates können die Ausübung ihrer Obliegenheiten nicht andern übertragen/4
Diese Bestimmung zeigt, daß man sich über die Wichtigkeit des Kontrollwesens gerade bei den Aktiengesellschaften völlig klar war. Darum wurde in § 249 des Handelsgesetzbuchs weiter verordnet:
„Die Mitglieder des Aufsichtsrates haben bei der Erfüllung ihrer Obliegenheiten• die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden.
Mitglieder, die ihre Obliegenheiten verletzen, haften der Gesellschaft mit den Vorstandsmitgliedern als Gesamtschuldner für den daraus entstehenden Schaden.“
Wie ist es nun in der Praxis mit dieser dem Aufsichtsrate auferlegten Pflicht zur Revision der Bilanz und der Jahresrechnungen bestellt? Kann der Aufsichtsrat diese seine Revisionspflicht mit gutem Gewissen erfüllen? Darf er als Wächter des gesellschaftlichen Rechnungsgebäudes angesehen werden? Ist er befähigt, vor den Eingangspforten dieses Gebäudes, so . da Soll und Haben heißen, quasi Doppelposten zu stehen? Mit anderen Worten: Hat der Aufsichtsrat die Zeit, die Lust und die Fähigkeit, den Inhalt der einzelnen Konti samt Belegen zu prüfen, die Fehlerquellen aufzusuchen, sodann den bewilligten Krediten nachzugehen, die Bilanzansätze und Abschreibungen auf ihre Richtigkeit hin unter die kritische Lupe zu nehmen? Wir antworten darauf: Nein und abermals Nein!1) Tausendfältig hat die Erfahrung gelehrt, daß die vom Gesetz berufene Schildwache ihre Pflicht nicht erfüllt: Sie schläft bald absichtlich, bald unabsichtlich, hier mit geschlossenen, dort mit offenen Augen. Vorgänge, wie sie sich in Kassel, Leipzig, Dresden, Rheinau e tutti quanti im Jahre 1902 abspielten, sprechen Bände über diesen Schlaf. Welches Unheil eine Verletzung der Kontrollpflicht anzurichten vermag, das haben die vielen Zusammenbruche von Aktiengesellschaften gezeigt, unter deren Trümmern Millionen deutschen Nationalvermögens begraben wurden. Dieser Zusammenhang wird verständlich, wenn man weiß, daß der hauptsächlichste Prozentsatz der gesamten Güterproduktion in Deutschland den Aktiengesellschaften zufällt Überall, wohin man auf den Gebieten großgewerblicher oder großindustrieller Unternehmungen schauen mag, sind sie kraft ihrer Kapitalsmacht und der leitenden Intelligenzen tonangebend, oder sie haben sich die Alleinherrschaft gesichert Damit hängt weiter zusammen, daß sich ein neuer Mittelstand gebildet hat, der, sei es, daß ihm die Fähigkeit und das Verantwortlichkeitsgefühl zum Betrieb eines eigenen Unternehmens abgeht, oder daß ihm die Möglichkeit gerade durch die Existenz der alles umfassenden Aktiengesellschaften zur Ansammlung großer Vermögen geraubt ist, es nun vorzieht, in unbeschränkter Freiheit zu leben und sich womöglich im Lichte der Dividenden zu sonnen. Und gerade aus diesem Grunde zieht jeder „Krach“ einer Aktiengesellschaft unübersehbar weite Kreise in seinen Strudel.
Zugegeben soll werden, daß die Zahl der Unregelmäßigkeiten im Verhältnis zu der außerordentlich großen Zahl von Aktiengesellschaftenx) in Deutschland nicht so beträchtlich ist. Aber die Vorkommnisse an sich haben doch Bedeutung genug, um die Frage, wie sie vermieden werden können, zur Erörterung zu stellen, zumal sie in engem Zusammenhang mit der Frage der Regreßpflicht des Aufsichtsrates steht, dem das Gesetz, wie erwähnt, die Pflicht der Prüfung des Rechnungswesens auferlegt hat. Zwischen dieser dem Aufsichtsrate auferlegten Obliegenheit und der Möglichkeit, die Verantwortung hierfür zu tragen, liegt die Kollision, die, auch abgesehen von Fällen der mala fides, wie ein Verhängnis wirkt, und zu den folgenschwersten Unregelmäßigkeiten geführt hat Dazu tritt, daß sich der konstante Brauch herausgebildet hat, immer nur von einer Bilanzrevision zu sprechen, als ob nur diese und nichts anderes bei der Revision in Betracht käme. Die Folge ist, daß sehr oft in diesem Wortsinne revidiert, d. h. eben nur
*) In Preußen allein im Jahre 1905 genau 2554 Gesellschaften mit einem nominellen Aktienkapital von 6622 Millionen Mark.
die Bilanz im Vergleich mit den Buchresultaten, nicht aber im Zusammenhang mit dem Inhalte der Konti geprüft wird« Vielleicht war es nicht Zufall, sondern Ohnmacht, vor der man sich mit der Revisionspflicht gestellt sah, wenn man nicht Buchf ührungs-, sondern Bilanzrevision sagte und schließlich bewußt oder unbewußt darnach handelte. Von einer solchen mechanischen Auslegung des Wortes ist freilich der Grundgedanke der Revision so weit entfernt, wie der Himmel von der Erde! Mitnichten vermag ein bloßer Vergleich der Bilanzposten mit den Bücherabschlüssen das zu bieten, was man von einer wahren Revision erwartet. Und man erwartet von ihr die Garantie, daß sämtliche geschäftlichen Vorgänge getreu verrechnet, das vorhandene Vermögen genau nach seinem augenblicklichen Wert dargestellt und der Erfolg objektiv zum Ausdruck gebracht werde. Denn die durch die täglichen Geschäftsvorfälle täglich eintretenden Vermögensbestandsveränderungen werden auf den Hauptbuchkonti einregistriert, ebenso der dar mit zusammenhängende Gewinn und Verlust Da die Posten der Jahresschlußbilanz nichts mehr und nichts weniger als die Saldi der Hauptbuchkonti sind, so ergibt sich hieraus imperativ der unzertrennliche Zusammenhang zwischen der Bilanz und der für Aktiengesellschaften vorgeschriebenen doppelten Buchhaltung J).
Das Erfordernis einer scharfen Prüfung der Bilanz in diesem Zusammenhänge, wie der Prüfung überhaupt, mag früher, als .in den Aktiengesellschaften nur ein kleiner Teil des Volksvermögens investiert war, nicht so scharf hervorgetreten sein. Bei dem heutigen Konzentrations- und Aufsaugungsprozeß, wo zwei Drittel unserer Volkswirtschaft in dem Interessenkreis der Aktiengesellschaften aufgehen, ist die Kontrolle über das Rechnungswesen dieser Gesellschaften ein unverkennbares, unab- weisliches, das Wohl und Wehe der Aktionäre wie der Gläubiger und der Obligationsinhaber tief berührendes Erfordernis. Es ist daher ausgeschlossen, daß mit einer solchen Kontrolle die Bilanzrevision im engsten Sinne des Wortes gemeint sein
*) Es ist schwer zu begreifen, jrie Prof. Rehm in seinem Werke über „Bilanzen“ . ▼on einer „isolierten“ Bilanz, „auf die das Bilanzrecht sein Augenmerk richtet“, sprechen und weiter behaupten konnte, dafl erst auf Grund der Bilanz das Bilanzkonto zu bilden sei, denn genau das Umgekehrte ist bei Aktiengesellschaften wahr.
kann. In der Tat ist vom Gesetzgeber gewollt und vom Gesetz (§ 246 H.-G.-B.) vorgeschrieben eine Revision im weitesten Wortsinne, nämlich des gesamten Rechnungswesens, von welchem auch die Bilanz getragen wird.
Für das große Publikuip — Aktionäre wie Gläubiger — bietet die Bilanz den einzigen Maßstab zur Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Maßstab ist oft sehr schwer zu gebrauchen, bedenkt man die Verschiedenheit seiner Struktur und die Schwierigkeit der Urteilsbildung darüber, ob bei seiner Konstruktion Treu und Glauben obgewaltet haben oder nicht Denn auch für den besten Kenner der Zahlen gibt es kein „Sesam, öffne dich“, das den Zugang zur Bilanzwahrheit auftut wenn die Erläuterung fehlt Die Kunst des Bilanzlesens stößt an allen Ecken und Enden auf fast unübersteigbare Hindernisse. Fehlt dann noch im innern Betrieb die nötige Moral und dazu die administrative Kontrolle, so daß es selbst dem Ehrlichsten schwer gemacht ist ehrlich zu bleiben, dann bedeutet die Bilanz gar nichts und ist keinen Pfifferling wert
[*] Vergl. den Aufsats des Verfassen in den „Kaufm. Mitteilungen0 der Straßb. Po* Nr. 653 vom 21. Juli 1901 „Was soll und was kann der Anfsichtsrat einer Aktiengesellschaft an Kontrollarbeit leisten“.
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