SCHLÜSSEL ZUR MACHT
Nichts erschreckt uns mehr als das Unerwartete und das Unvorhersehbare. Deswegen haben wir vor Erdbeben und Wirbelstürmen so viel Angst: Wir wissen nicht, wann sie zuschlagen. Ist es passiert, warten wir voll Angst auf das nächste Mal. Unberechenbares menschliches Verhalten hat, wenn auch in geringerem Maße, denselben Effekt auf uns.
Das Leben am Hof ist ein langes, trauriges Schachspiel, das von uns verlangt, unsere Figuren und Formationen aufzubauen, einen Plan zu entwerfen, diesen zu verfolgen und den unseres Gegners zu parieren. Doch manchmal ist es besser, Risiken einzugehen und einen höchst kapriziösen, unvorhersehbaren Zug zu machen.
JEAN DE LA BRUYERE, 1645-1696
Tiere folgen festgelegten Verhaltensmustern, und deswegen können wir sie jagen und töten. Nur der Mensch verfügt über die Fähigkeit, bewusst sein Verhalten zu ändern, zu improvisieren und von ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Doch die meisten Menschen machen sich nicht klar, dass sie diese Fähigkeit haben. Sie verbleiben im Alltagstrott, geben sich der animalischen Natur hin, die sie immer wieder dieselben Zwangshandlungen wiederholen lässt. Das tun sie, weil es wenig Anstrengung kostet und weil sie irrtümlicherweise annehmen, dass auch sie in Ruhe gelassen werden, wenn sie andere nicht aufscheuchen. Merken Sie sich: Eine Person an der Macht flößt den Menschen um sie herum absichtlich ein gewisses Maß an Furcht ein, um die Initiative zu behalten. Manchmal müssen Sie ohne Vorwarnung zuschlagen, den anderen Schauer über den Rücken jagen, wenn sie es am wenigsten erwarten. Dieses Mittels haben sich die Mächtigen seit Jahrhunderten bedient.
Filippo Maria, der letzte Herzog von Mailand aus der Familie Visconti im 15. Jahrhundert, tat bewusst das Gegenteil dessen, was jeder von ihm erwartete. Beispielsweise ließ er plötzlich einem Höfling seine ganze Aufmerksamkeit zukommen, und wenn der Mann dann erwartete, in ein höheres Amt befördert zu werden, strafte er ihn genauso plötzlich mit größter Missachtung. Verwirrt wandte sich der Mann vielleicht vom Hof ab, aber dann rief der Herzog ihn überraschenderweise zurück und behandelte
ihn wieder gut. Abermals verwirrt fragte sich der Höfling, ob er seine Erwartung, befördert zu werden, zu offensichtlich zur Schau gestellt hatte, was vielleicht den Herzog beleidigt hatte, und tat daraufhin so, als wäre er an solch einer Ehre nicht mehr interessiert. Dann rügte ihn der Herzog wegen seines mangelnden Ehrgeizes und schickte ihn fort.
Dabei ist es ganz einfach, mit so einem Filippo umzugehen: Nehmen Sie nie an, dass Sie wissen, was er will. Versuchen Sie nicht zu erraten, was ihm gefallen wird. Bringen Sie niemals Ihren Willen ein, beugen Sie sich einfach seinem Willen. Dann warten Sie ab, was passiert. Inmitten all der Konfusion und Unsicherheit, die er hervorrief, regierte der Herzog überlegen, unhinterfragt und in Frieden.
Die Menschen versuchen ständig, die Motive hinter Ihren Handlungen herauszufinden und Ihre Berechenbarkeit gegen Sie zu wenden. Machen Sie einen völlig unerklärlichen Zug, und Sie zwingen sie in die Defensive.
Führe wenn möglich den Feind immer in die Irre, überrasche ihn, gib ihm Rätsel auf... diese Taktik bringt immer den Sieg ein, und eine kleine Armee kann so eine viel größere zerschlagen.
GENERAL STONEWALL JACKSON, 1824-1863
Eine Zeit lang arbeitete Picasso mit dem Kunsthändler Paul Rosenberg zusammen, dann erklärte er ihm eines Tages ohne ersichtlichen Anlass, dass er ihm keine Werke mehr überlassen würde. Picasso erklärte später: »Die nächsten 48 Stunden versuchte Rosenberg herauszufinden, warum. Hielt ich etwas für einen anderen Kunsthändler zurück? Ich arbeitete und schlief einfach weiter, während Rosenberg seine Zeit mit Grübeln verbrachte. Nach zwei Tagen war er wieder da und sagte sichtlich ängstlich und nervös: >Wie dem auch sei, mein guter Freund, Sie werden mich doch nicht fallen lassen, wenn ich Ihnen so viel mehr [er nannte eine wesentlich höhere Summe] für jene Gemälde anbiete als das, was ich Ihnen bislang dafür bezahlt habe, oder?<«
Unberechenbarkeit ist nicht nur eine Einschüchterungswaffe: Wenn Sie Ihre Verhaltensmuster von Tag zu Tag ändern, erregen Sie Aufsehen und wecken Interesse. Die Leute sprechen über Sie, unterstellen Ihnen Motive und liefern Erklärungen, die nichts mit der Wahrheit zu tun haben, dank
derer sie aber ständig an Sie denken. Je kapriziöser Sie sich geben, desto mehr Respekt werden Sie letztlich erheischen. Nur definitiv Subordinierte verhalten sich berechenbar.
Symbol: ein Sturm, den man nicht vorhersieht.
Plötzliche Ausschläge des Barometers, unerklärliche Änderungen der Richtung und Stärke. Es gibt keine Verteidigung: Ein Zyklon sät Terror und Konfusion.
Garant: Der kluge Regent ist so rätselhaft, daß er nirgendwo zu verweilen scheint, so unerklärlich, daß niemand ihn finden kann... Er verweilt nichthandelnd über den anderen, während seine Gefolgsleute sich unter ihm fürchten. (Han Fei-tzu, chinesischer Philosoph, 3. Jh. v. Chr.)
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