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II. Vasallenvertrag und Treueid - Ein Überblick über die Vereidigungspraxis im Alten Orient

Die Vereidigungspraxis im Alten Orient

Grundlegende Vorbemerkungen

Antike Herrschaftsverbände im östlichen Mittelmeerraum1 regelten ihre binnen- und zwischenstaatlichen Verhältnisse mit Hilfe schriftlicher Abkommen, die durch einen Eid bekräftigt wurden und mit dem Rechtsterminus „Vertrag"[1] [2] bezeichnet werden können.[3] Der Organisationsform derjenigen Gesellschaften entsprechend, denen wir eine Rechtsüberlieferung verdanken, kam in diesem Zusammenhang dem Herrscher die Hauptrolle zu, der über Verträge auf der einen Seite seine Untertanen und auf der anderen Seite weniger mächtige und von ihm abhängige Herrscher auf seine Person vereidigte. Die aus dem Alten Orient erhaltenen Vertragstexte kann man grob in innerstaatliche bzw. interne und zwischenstaatliche bzw. externe Verträge aufteilen.[4] Die moderne Rechtsterminologie aufnehmend, handelt es sich bei den internen um staatsrechtliche, bei den externen dagegen um völkerrechtliche Verträge.[5] Erstere werden „von
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[1] Vgl. zu diesem Kulturraum Hagedorn, Moses, 45-48.

[2] Steiger, Vertrag, 842f, definiert „Vertrag" als „ein rechtliches Instrument zur Regelung des
Verhältnisses von unterschiedlichen Trägern eigener Herrschaftsbefugnisse zueinander".​

[3] Eine Zusammenstellung der überlieferten Vertragstexte bieten Neumann, Staatsverträge, 321-327, und Müller/Sakuma, Staatsverträge, 328-337.
[4] Barre, Treaties, 654, gebraucht die Opposition „international" und „domestic treaties".
[5] Was die Verwendung der modernen Termini „Staat" und „Völkerrecht" in Bezug auf einschlägige altorientalische Phänomene angeht, so hat Ziegler, Völkerrecht, 949, zu Recht klargestellt: „Einwände, die immer wieder gegen die Verwendung der Begriffe Staat und V. [= Völkerrecht, CK] in bezug auf ma. [= mittelalterliche, CK] oder antike Herrschaftsverbände erhoben werden, sind nicht stichhaltig. Auch eine altorientalische Monarchie, eine antike Polis oder ein frühma. Stammesverband als höchste Organisationsform der auf einem bestimmten Gebiet ansässigen Bevölkerung, die, aus eigenem Recht lebend, sich als autonome Gruppe versteht und zu anderen derartigen Gruppen in friedliche oder kriegerische Beziehungen tritt, ist ein ,souveräner' Staat i.S. eines möglichen V.-Subjekts." Dieser Sicht hat sich auch Preiser, Ausbildung, 228, angeschlossen.

Herrschaftsträgern innerhalb eines Staates"[1] geschlossen, letztere regeln das Verhältnis „zwischen Staaten oder sonstigen Völkerrechtssubjekten".[2] Geben die internen Verträge im Alten Orient stets ein Machtgefälle zu erkennen, insofern sie in der Regel Untertanen auf den Herrscher verpflichten, so können die externen bzw. völkerrechtlichen Verträge weiterhin in paritätische und nichtparitätische Verträge eingeteilt werden, je nachdem, in welchem Verhältnis die vertragschließenden Herrscher zueinander stehen. Da die Bundestheologie im Deuteronomium in erster Linie von asymmetrischen Vertragsverhältnissen beeinflusst zu sein scheint, ist im Folgenden eine Beschränkung auf die internen und die nicht-paritätischen externen Verträge angeraten.

In der Forschungsliteratur werden die nicht-paritätischen externen Verträge in der Regel als „Vasallenverträge" (englisch: „vassal treaties") bezeichnet.[3] Das Wort „Vasallenvertrag" ist eine anachronistische Begriffsbildung, die das mittelalterliche Konzept der „Vasallität" auf antike Verhältnisse überträgt. Nach H. Steiger sind Anachronismen erlaubt, insofern sie in Bezug auf den Vergleichsgegenstand eine „funktionale Adäquanz"[4] zu erkennen geben. Diese ist m.E. bei der Übertragung des Konzepts der Vasallität - welche schon in der Mediävistik eher eine Metapher als eine Rechtsinstitution darstellt[5] - auf die Vereidigungspraxis abhängiger Herrscher im Alten Orient im Großen und Ganzen gegeben. Das Wort Vasall (vassus/vasallus) leitet sich von keltisch *was/gwas ab, das wörtlich „Knecht" bedeutet.[6] Damit entspricht es aber der antiken Terminologie, die das Abhängigkeitsverhältnis ebenfalls als „Knechtschaft" (akk. ardutu )[7] und die beteiligten Parteien mit der entsprechenden Opposition „Herr" (belu )[8] und „Knecht" (ardu)[9] bezeichnet.[10] Auch was die konkrete Ausgestaltung des Abhängigkeitsverhältnisses angeht, sind Gemeinsamkeiten nicht von der Hand zu weisen. Der Vasall schuldet seinem Herrn Loyalität, die sich in der Übernahme von Pflichten (z.B. Tributzahlungen und militärische Hilfe) oder im Verzicht auf Rechte (z.B. eine eigenständige Außenpolitik) manifestieren kann. Der Herr

gewährt dem Vasallen im Gegenzug Protektion[11] - ein Tauschgeschäft, das vor allem im Assyrerreich zu beobachten ist. Die Unterschiede ergeben sich aus den
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[1] Steiger, Vertrag, 843.
[2] Ebd.
[3] Vgl. schon Korosec, Staatsverträge, 5 u.ö.
[4] Steiger, Vertrag, 843.
[5] Vgl. Reuter, Vasallität, 646: „Vasallität betrachtet man am besten als Metapher, nicht als eine Rechtsinstitution, die das gemeinsame Element bei verschiedenartigen Verhältnissen ausdrückt und unterstreicht."
[6] Vgl. a.a.O., 645.
[7] Vgl. CAD A II, 252f (ardutu 2).
[8] Vgl. CAD B, 194f (belu 1 b).
[9] Vgl. CAD A II, 250 (ardu 2 c).
[10] Für die einschlägige Terminologie in den hethitischen Quellen s. Korosec, Staatsverträge, 51.
[11] Zu den Pflichten und Rechten des Vasallen und des Herrn vgl. Reuter, Vasallität, 644.

verschiedenen Organisations- bzw. Regierungsformen der antiken und mittelalterlichen Gesellschaft. Die in der Regel zentral und monarchisch regierten altorientalischen Herrschaftsverbände waren keine Lehnsgesellschaften. Eine dem mittelalterlichen Partikularismus entsprechende Lehnspyramide mit Vasallen und Aftervasallen ist ihnen daher fremd. Die Vereidigung ist nach Ausweis der altorientalischen Quellen vielmehr ein ausschließlich dem König vorbehaltenes Herrschaftsinstrument.

Neben dem Terminus „Vasallenvertrag" begegnet in der Forschungsliteratur der weniger spezifische Begriff „Treueid", englisch: „loyalty oath", der von I. J. Gelb zur urkundlichen Charakterisierung des EST vorgeschlagen worden ist[1] und in der Folge für einige Konfusion in Bezug auf das neuassyrische Vertragskorpus gesorgt hat.[2] Auf die antiken Vertragstexte bezogen, birgt der Terminus freilich schwerwiegende Probleme. Auf der einen Seite legt er nahe, dass sich die einschlägigen Urkunden nachgerade durch den Eid von anderen Vertragstexten abheben. Der Eid ist aber ein konstitutives Element aller altorientalischen Vertragstexte und eignet sich folglich nicht als Differenzmerkmal. Auf der anderen Seite läuft der Terminus „Treueid" in Abgrenzung zu „Vertrag" Gefahr, den völkerrechtlichen Charakter verschiedener Texte, z.B. auch des EST, zu nivellieren. Um die mittlerweile etablierten Begriffe „Vasallenvertrag" und „Treueid" dennoch zu bewahren, plädiere ich dafür, die beiden Urkundenformen, die eine gemeinsame Terminologie aufweisen (im Neuassyrischen werden interne und externe Verträge etwa mit dem Wort ade bezeichnet) und sich auch formal und inhaltlich cum grano salis entsprechen, strikt und ausschließlich aufgrund der beiden Kategorien Rechtsbereich und Adressaten zu unterscheiden:

Erstens ist im Hinblick auf den Rechtsbereich zu fragen: Spiegeln die Urkunden ein innerstaatliches oder ein zwischenstaatliches eidliches Abkommen?

Zweitens ist im Hinblick auf die Adressaten zu fragen: Sind die Vertragspartner direkte Untertanen oder abhängige Herrscher bzw. Volksstämme des vereidigenden Königs?

In Anlehnung an M. Giorgieri schlage ich folgende Definitionen für die Textgattungen „Vasallenvertrag" und „Treueid" vor:[3]

Vasallenverträge sind juristisch-administrative Urkunden außenpolitischer Natur, die dem Zweck dienten, das Verhältnis des Königs zu abhängigen Herrschern bzw. Volksstämmen auf eine rechtliche Grundlage zu stellen.

Treueide sind juristisch-administrative Urkunden innenpolitischer Natur, die dem Zweck dienten, das Verhältnis des Königs zu seinen
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[1] Gelb, Rezension, 161f.
[2] Vgl. nur den Doppeltitel „Treaties and Loyalty Oaths" zu den von Parpola/Watanabe edierten neuassyrischen Vertragstexten, vgl. dies., Treaties (= SAA II); vgl. auch die kritischen Worte a.a.O., XV.
[3] Giorgieri, Treueide, 324 sowie 325f, Anm. 17.

eigenen Untertanen, sei es die staatliche Elite oder die gesamte Bevölkerung, auf eine rechtliche Grundlage zu stellen.

Vasallenverträge und Treueide funktionierten im Alten Orient nach ein und demselben Prinzip, auf das an dieser Stelle in aller gebotenen Kürze einzugehen ist. V. Korosec erbrachte am Beispiel der hethitischen Quellen den Nachweis, dass nach altorientalischem Verständnis ein Vertrag aus im Wesentlichen zwei, oft auch terminologisch getrennten Elementen besteht: Den eigentlichen Vertragsbestimmungen bzw. -stipulationen (Rechte und Pflichten des/der Vereidigten) und deren Bekräftigung durch den Eid bei den (im Fall der externen Verträge auch ausländischen) Göttern, deren Namen in der Regel in den Vertragstexten genannt werden.[1] Der Eid als bedingte Selbstverfluchung fordert eine mehr oder minder ausgeführte Fluchformel als weiteren festen Bestandteil der Verträge, insofern er „eine Hypostase derjenigen Gottheit [ist], bei der er geleistet wird und die im Falle des Eidbruches den Vereidigten vernichtet".[2] Wenn bei Vertragsbrüchen dann in der Regel an Stelle des Götterfluchs die Selbsthilfe des militärisch überlegenen Oberherrn als Rechtsmittel zu beobachten ist, so bedeutet dies keinen Widerspruch, da nach altorientalischer Geschichtsauffassung die Götter hinter Sieg und Niederlage stehen.[3] Die genannten Elemente (beeidete Vertragsbestimmungen, Götterliste und Fluchformeln) sind in Verträgen des gesamten Mittelmeerraumes belegt. M. Weinfeld hat wiederholt auf gemeinsame Züge wie z.B. die verwandte Terminologie, die sich von Mesopotamien über die Levante und Anatolien bis Griechenland[4] belegen lasse, aufmerksam gemacht und von einem „gemeinsamen Erbe" („common heritage") gesprochen.[5] Da Vasallenverträge per definitionem eine internationale Textform darstellen, ist gerade bei ihnen vermehrt mit Interdependenzen zu rechnen.[6] Unbeschadet der offensichtlichen Gemeinsamkeiten kann aber aufgrund von Eigenheiten auf dem Gebiet des Vertragsformulars, der verwendeten Fluchgattungen sowie allgemein
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[1] Nach Korosec, Staatsverträge, 34, setzen sich die altorientalischen Staatsverträge aus zwei Elementen zusammen: „[Einerseits der Aufstellung von Vertragsbestimmungen (riksu, is'iul) durch den einen Vertragsteil, anderseits durch deren Beschwörung (mamitu, lingais) seitens des anderen."
[2] So treffend Giorgieri, Treueide, 324. - Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 21, stellt bezüglich der Rechtsgesinnung der antiken Verträge zu Recht fest: „Was die Einhaltung der Staatsverträge anlangt, so war die Eidesleistung eine dem Vertragsschluss selbst innewohnende Garantie. Eine stärkere Bindung als die durch den Schwur, mit dem man sich für den Fall des Wortbruchs selbst verflucht, ist für Menschen, für die Götter eine Realität darstellen, kaum denkbar. Wer die Qualität der Rechtsgesinnung deshalb verneinen wollte, müsste das Recht aus der überwiegenden Menschheitsgeschichte streichen."
[3] Vgl. auch Cooper, Law, 248f.
[4] Vgl. zu Griechenland Barre, God-List, passim; Brown, Israel, 253-289; Rollinger, Verschriftlichung.
[5] Vgl. Weinfeld, Covenant Terminology; ders., Loyalty Oath; ders., Heritage.
[6] Der Frage nach einer historischen Erklärung der Gemeinsamkeiten im altorientalischen Vertragsrecht hat sich jüngst Weeks, Admonition, bes. 174-182, gewidmet, der im Hinblick auf konkrete Abhängigkeiten skeptisch ist.

der Phraseologie eine durch hethitische und aramäische Verträge repräsentierte westliche von einer mesopotamischen bzw. neuassyrischen Vertragsrechtstradition abgegrenzt werden.[1]

Das vorliegende Kapitel gliedert sich grob in einen eher diachron angelegten ersten Teil, der zeitlich von den ersten Vasalleneiden im 3. Jt. bis in die Nachgeschichte der neuassyrischen ade-Vereidigungen im 6. Jh. reicht, und einen eher synchron angelegten zweiten Teil, der vor allem Quellen aus dem 1. Jt. in den Blick nimmt. Im ersten Teil, der zugleich einen groben Überblick über die Vereidigungspraxis im Alten Orient[2] geben soll (II 1), stehen - der eklektisch verfahrenen Rezeption des Vertragsrechts im Alten Testament entsprechend - grundlegende Loyalitätsforderungen im Mittelpunkt, die in den altorientalischen Vasallenverträgen und Treueiden das Verhältnis zwischen König und Vasallen bzw. Untertanen regeln sollten. Gerade die in diesem Zusammenhang anzutreffende Trias von Ausschließlichkeits-, Schutz- und Informations- bzw. Anzeigegebot ist ein sprechendes Beispiel für das gemeinsame Erbe der altorientalischen Vertragsrechtstradition. Im Anschluss an den eigentlichen Überblick sollen im zweiten Teil die für den späteren Textvergleich wichtigsten Texte, die aramäischen Inschriften von Sfire (II 2) sowie der neuassyrische Sukzessionsvertrag Asarhaddons (EST) (II 3), eingehender untersucht werden, wobei zahlreiche Interdependenzen im altorientalischen Vertragsrecht im 1. Jt. offen gelegt werden sollen. Am Beispiel des aramäischen Ausdrucks 'dy „Vertrag" soll abschließend die prägende Kraft der aramäischen Tradition, die sowohl das neuassyrische als auch das judäische Vertragsrecht (bzw. die biblische Bundestheologie) beeinflusst hat, hervorgehoben werden (II 4).


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[1] So auch der gemeinsame Nenner der Beiträge des Sammelbandes I trattati nel mondo antico (vgl. Steymans, Rezension, 206). Vgl. zu den terminologischen Differenzen die Übersicht bei Tadmor, Alleanza, 20. Zu den Unterschieden der beiden Traditionen s. auch u. S. 5278.
[2] Obwohl es auch in Ägypten eine den nachfolgend besprochenen vorderorientalischen Gesellschaften vergleichbare Vereidigungspraxis gegeben haben muss (vgl. z.B. Weinfeld, Loyalty Oath, 413), liegen keinerlei einschlägige ägyptische Quellen vor; offen ist, ob entsprechende Urkunden niemals existiert haben (so z.B. Tadmor, Treaty, 140) oder ob sie bislang nur nicht gefunden worden sind (so z.B. Neumann, Staatsvertrag, 880). Vgl. dazu ausführlich Weeks, Admonition, 99-112.