3.4 Die syntaktische Funktion der Stipulationen
Genauso strittig wie die Gattungsfrage des EST ist die Frage, ob die Stipulationen der Paragraphen 4-36 syntaktisch selbständig sind, oder nicht vielmehr die Einleitung zu den Fluchklauseln der Paragraphen 37-56 darstellen. Das Problem ist nicht zuletzt für den später erfolgenden Textvergleich mit Dtn 13 von Belang, der auch formgeschichtliche Aspekte einschließen soll.
Im EST sind wie in anderen assyrischen ade-Texten zwei durch die Partikel summa „wenn" eingeleitete Satzarten anzutreffen. Dabei ist die Bestimmung der summa-Sätze im Indikativ unstrittig: „Alle diese Sätze sind eindeutig Protasen zu den Stipulationen und nicht zu den Flüchen."[1] Kennzeichnend ist für die wenigen im EST bezeugten zweifelsfreien Konditionalsätze - neben dem indikativischen Modus - der von den übrigen Stipulationen abweichende Tempusgebrauch. An Stelle des Präsens stehen die Prädikate der Protasen der Konditionalsätze entweder im Perfekt oder im Stativ. In den Apodosen, den eigentlichen Stipulationen, erscheinen dann wiederum Prädikate im Präsens mit Affirmativ[2]-Endung.[3]
Schwierigkeiten bereitet dagegen die Interpretation der summa-Sätze im Affirmativ. Der Umstand, dass diese wie Konditionalsätze mit summa „wenn" eingeleitet werden, könnte dazu verleiten, sie ebenfalls als Wenn-Dann-Satzgefüge aufzufassen. Dem steht aber entgegen, dass Prädikate in normalen Konditionalsätzen im Assyrischen wie im Babylonischen nicht im Affirmativ erscheinen. Vielmehr markieren summa (lä )-Sätze mit Prädikaten im Affirmativ regelhaft eine eidliche Aussage.[4] In der 2. Pers. handelt es sich dann entsprechend um Ge- bzw. Verbote: „In Vasallenverträgen werden Gebote und
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[1] A.a.O., 188.
[3] Eine Ausnahme bildet § 18, der auch in der Apodosis indikativische Prädikate bietet. Auch die Apodosis von § 7 zeigt den Indikativ; allerdings macht Z. 85 deutlich, dass die Textvariante la tusasbatäni „bei Gott, ihr sollt ergreifen lassen" exakt der indikativischen Forderung tusasbatä „ihr sollt ergreifen lassen" entspricht (vgl. Streck, Flüche, 187).
[4] Vgl. von Soden, Grundriss, § 185 a: „Der Eid ist eine verkürzte Selbstverfluchung für den Fall der Eidesverletzung. Hieraus erklärt sich die häufige Verwendung negierter Ausdrücke in ihm für positive Aussagen und positiver Ausdrücke für negative Aussagen, ebenso wahrscheinlich der ganz überwiegende Gebrauch des Subjunktivs auch in Haupt- und Bedingungssätzen [...]" Vgl. auch a.a.O., § 185 g und h.
Verbote in der Form eines Bedingungssatzes mit summa und dem Prs. mit
Subjunktiv-Endung ausgedrückt [...], wobei bei einem Verbot keine Negation, bei einem Gebot lä erscheint."[1]
Dagegen hat Watanabe geltend gemacht, dass die summa-Sätze im Affirmativ mit der 2. Person nicht als Eide fungieren könnten, da die implizierte Selbstverfluchung die 1. Person voraussetze. Sie kommt zu dem Ergebnis: „Da im VTE[= EST]-Text tatsächlich die Flüche als Nachsätze folgen, sollte man die summa-Sätze im Subjunktiv (2. Pl.) als Protasis der Fluchklausel gegenüber der Apodosis, den Flüchen, betrachten."[2] Watanabe übersetzt die Schutzbestimmung in § 4 (Z. 49a.50) daher wie folgt:[3]
„<Solltet ihr> ihn [= Assurbanipal] nicht in Stadt und Land 50beschützen ... (summa ... lä tanassaräsüni)"
Auch Otto sieht in der direkten Anrede „eine nicht zu rechtfertigende Differenz zwischen Sprecher und grammatischem Subjekt".[4] Dieser Einwand trifft jedoch zumindest in EST § 57, der von den Vereidigten selbst gesprochenen Eidformel, ins Leere, weil dort Sprecher und grammatisches Subjekt identisch sind:[5]
„Bei Gott, wir wollen gegen Asarhaddon . nicht Rebellion und Aufstand unternehmen (summa anenu ... neppasüni)." (EST § 57 Z. 494-498)[6]
Da sich die übrigen als Eide verstandenen summa-Sätze mit grammatischem Subjekt in der 2. Pers. Pl. in Modus- und Tempusgebrauch nicht von § 57 unterscheiden, ist die Kritik von Watanabe und Otto m.E. nicht gerechtfertigt. Nach Parpola sprechen vielmehr vor allem zwei Beobachtungen für die Interpretation der summa-Sätze im Affirmativ als Eide: Erstens fehlt die Partikel summa in einigen Stipulationen des EST und ist mithin „semantically redundant"[7] (vgl. etwa Z. 283); zweitens erscheint gelegentlich an Stelle einer Affirmativ- eine Indikativform (als Textvariante z.B. in § 7 Z. 85), woraus deutlich wird, dass die Formen mehr oder minder äquivalent sind, mit dem Unterschied, dass die Affirmativform vielleicht als „more solemn and binding" galt.[8] Die Stipulationen mit (summa +) Prädikat im Affirmativ sind daher wie folgt zu verstehen: „In 1st person verbal forms, it marks solemn promises or assertions, in 2nd and 3rd person forms, solemn pledges or assertions, depending on the tense of the
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[1] Riemschneider, Lehrbuch, 186; vgl. für das Hebräische Gesenius/Kautzsch/Bergsträsser, Grammatik, § 149. Auch im Hebräischen sind eidliche Aussagen in der direkten Anrede belegt (vgl. etwa 1Sam 3,17)
[2] Watanabe, ade-Vereidigung, 29. Vgl. schon Frankena, Vassal-Treaties, 125.
[3] Watanabe, ade-Vereidigung, 146f.
[4] Otto, Deuteronomium, 65.
[5] Die eigene Übersetzung basiert auf der Umschrift von Watanabe, ade-Vereidigung, 166.
[6] Vgl. auch die summa-Sätze in der 1. Pers. in SAA II 4.
[7] Parpola/Watanabe, Treaties, XL.
[8] Ebd.
verb."[1] Im Gegensatz zu Watanabe übersetzt Parpola die Schutzbestimmung in § 4 als Gebot (SAA II 6: 50):
„You shall protect him [= Assurbanipal] in country and in town ... (summa ... tanassaräsüni)"
Während Parpola in acht Sätzen mit Prädikat im Affirmativ weiterhin summa mit „if" wiedergibt, hat Streck überzeugend dargelegt, dass auch bei diesen angeblichen Konditionalsätzen die Interpretation als Eide möglich und angeraten ist. Im Gegensatz zu den zweifelsfreien Konditionalsätzen und in Übereinstimmung mit den von Parpola als Gebote und Verbote aufgefassten summaSätzen bieten sie ohne Ausnahme die drei Kennzeichen: 1. einfaches summa; 2. Prädikate im Affirmativ und 3. im Präsens. Das Problem, dass in diesen Fällen ein intendiertes konditionales Verhältnis nicht grammatikalisch umgesetzt wird, löst Streck, indem er zwischen Bezeichnetem und Gemeintem unterscheidet. So stehen etwa in § 6 die Verben, die in Parpolas Überseztung auf ein Wenn-Dann- Satzgefüge verteilt werden, tatsächlich asyndetisch nebeneinander:[2]
„Bei Gott, ihr sollt kein unziemliches Wort hören und (es) dann verbergen (summa ... tasammani tupazzaräni)."
Mit Streck gilt es demnach festzuhalten:[3]
„Der Sukzessionsvertrag unterscheidet klar zwischen Konditionalsätzen im Indikativ mit Verb im Perfekt und durch summa eingeleiteten Stipulationen im Affirmativ und Verb im Präsens."
Letztere sind als Eide syntaktisch nicht auf die folgenden Flüche angewiesen, sondern von diesen unabhängig.
Die Frage, wie das Nebeneinander der beiden Konstruktionen in neuassyrischen Verträgen zu erklären ist, kann nicht mit Bestimmtheit beantwortet werden. Interessant ist aber, dass ein vergleichbares Phänomen auch in den aramäischen Sfire-Inschriften zu beobachten ist, „where paronomastic constructions with infinitive absolutus alternate with simple verbal forms".[4] Was aber die wenigen summa-Sätze im Indikativ im EST angeht, so kann ihnen in den meisten Fällen doch eine syntaktische Funktion zugewiesen werden. So dürften die Protasen mit perfektischen Prädikaten die Vorzeitigkeit in der Zukunft zum Ausdruck bringen.[5] So in EST § 7, der bestimmt, wie sich die Vereidigten verhalten sollen, wenn Asarhaddon gestorben sein wird (Z. 83-85):[6]
„Wenn (summa) Asarhaddon ... stirbt (ana simti ittalak), dann sollt ihr - bei Gott - Assurbanipal ... den Thron ergreifen lassen."
An anderen Stellen könnten indikativische Vordersätze erscheinen, um in einem
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[1] A.a.O., XXXIX.
[2] Streck, Flüche, 190.
[3] Ebd.
[4] Parpola/Watanabe, Treaties, XL; vgl. zum paronomastischen Infinitiv o. S. 76f sowie u. S. 148-150.
[5] Vgl. Streck, Flüche, 188, der ferner auf eine entsprechende Funktion von summa-Sätzen im Altbabylonischen sowie ki-Sätzen im Spätbabylonischen aufmerksam macht.
[6] Übersetzung in Anlehnung an Streck, Flüche, 188. S. außerdem EST §§ 14; 18; 22; 26 Z. 302-305.
Paragraphen einen Unterfall („Falls .") zu markieren.[1] [2] Dabei bezeichnet der Stativ den Zustand oder die Lage, in dem bzw. der sich die Vereidigten jeweils befinden. So in EST § 26:411
„Wenn jemand gegen Asarhaddon ... Rebellion und Aufstand unternimmt (etapas) (und) sich auf den Königsthron setzt (ittüsib), dann sollt ihr euch - bei Gott - nicht über sein Königtum freuen .. Falls ihr ihn nicht ergreifen und töten könnt (lä masakunu), willigt - bei Gott - nicht in sein Königtum ein .."
Gliederung sowie grundlegende Forderungen des EST
Der EST lässt sich wie folgt grob gliedern:
| Siegelbeischrift: „Siegel Assurs ..." | |
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§ 1
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Präambel: „Vertrag (ade) Asarhaddons ..." |
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§ 2
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Eidgötterliste |
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§ 3
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Vereidigung bei den genannten Göttern: „Schwört jeweils (tit[amma]) bei ." |
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§ 4-36
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Stipulationen Wiederholung der Präambel (41-45) Die Loyalität gegenüber Assurbanipal betreffende „Gebote" (46-372) Die ade(-Tafel) betreffende „Gebote" (373-396) |
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§ 37-106
|
Fluchklauseln Die ade-Tafel betreffende Flüche („Standard Curse Section") (397-493) Eidformel (494-512) Die ade betreffende Flüche („Ceremonial Curse Section") (513-663) |
|
§ 107
|
Kolophon mit Datum und Titel der ade |
Im Hinblick auf den Vergleich zwischen dem EST und dem Deuteronomium sind insbesondere die Loyalitätsbestimmungen in den Paragraphen 4-31 von Interesse. Die Vielzahl an Bestimmungen lässt sich auf wenige Grundforderungen reduzieren, die bereits in den Paragraphen 4-6 vorweggenommen werden. Es handelt sich um die aus anderen Verträgen und Treueiden hinlänglich bekannten Standardbestimmungen, nämlich die des Schutzes, der Ausschließlichkeit sowie der Information bzw. Anzeige. Die Paragraphen 4-6 heben sich insofern von den §§ 7ff ab, als sie gezielt auf das Königtum (sarruttu) Assurbanipals bezogen sind. Erst § 7, der in einem der wenigen echten Konditionalsätzen regelt, was geschehen soll, nachdem Asarhaddon gestorben ist, erweitert die Loyalitätsforderung auch auf Samas-sumu-ukln, der das Königtum über Babylonien ergreifen soll.[3] Aber zunächst bestimmt § 4, dass nach dem Ableben
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[1] Im Hebräischen werden dagegen Oberfall und Unterfälle unterschieden, indem Ersterer mit ky „wenn" und Letztere mit 'm „falls" eingeleitet werden; vgl. Liedke, Gestalt, 31-34.
[2] Übersetzung in Anlehnung an Streck, Flüche, 188. S. außerdem EST § 12 Z. 138-144 und - allerdings mit perfektischem Prädikat - § 15 Z. 177-179.
[3] Folgerichtig wird in § 8 das schon in § 4 in Bezug auf Assurbanipal ausgesprochene Schutzgebot auf seine leiblichen Brüder ausgeweitet.
Asarhaddons sein Sohn Assurbanipal den assyrischen Thron besteigen und das Königtum über die Vereidigten ausüben soll. Das folgende Gebot, Assurbanipal überall zu schützen (nasäru), ist auf den Erhalt seines Königtums gerichtet (Z. 61). Auf das Königtum Assurbanipals zielen auch die das Grundgebot des Schutzes explizierenden Forderungen in den Paragraphen 5-6 (vgl. Z. 68 und 74), wobei den Vereidigten geboten wird:
keine Aufstände (epsu bärtu) zu unternehmen (summa ... teppasänessüni);
keinen anderen König (sarru sanumma) einzusetzen (summa ... tasakkanäni);
keine bösen Worte (abutu lä de'iqiu [Var. —äbtu] lä banitu [Var. de'iqiu]) zu hören und zu verheimlichen (summa ... tasammani tupazzaräni)
Den Paragraphen 5-6 korrespondiert der von den Vereidigten gesprochene Paragraph 57, der - jeweils durch ein die Eidformeln einleitendes summa voneinander abgetrennt - die drei Forderungen der Paragraphen 5-6 wiederholt. Die Vereidigten verpflichten sich auch dort (Z. 494-510):
keine Aufstände (si'u bärtu) zu unternehmen (summa . neppasüni);
keine bösen Worte (amät lemutti lä —äbtu lä banitu) zu hören und zu verheimlichen (summa . nisammuni nupazzarüni);
keinen anderen König (sarru sanumma) einzusetzen (summa . nisakkanüni).
Bei den in den Paragraphen 5-6 sowie zusammenfassend in § 57 erscheinenden grundlegenden Loyalitätsforderungen, die in den §§ 7-31 ausgeführt und zum Teil auf die konkrete Situation der medischen Adressaten bezogen werden (vgl. etwa § 16),[1] handelt es sich um die im altorientalischen Vertragsrecht breit belegten Standardbestimmungen, an die auch terminologisch angeknüpft wird. Im Folgenden sollen die Anzeigegebote noch einmal näher betrachtet werden, da diese die größte Nähe zu den in Dtn 13 zusammengestellten Stipulationen zeigen. Wie oben dargestellt, ist dieses Gebot schon in einem eblaitischen Vertrag aus dem 24. Jh. belegt und von Mari über Hatti bis in Rechtstexte des achä- menidischen Reiches zu verfolgen. Im EST begegnet es in den Paragraphen 6, 10, 12, 13 und 57, jeweils in leicht abgewandelter Gestalt und Abzweckung.
In der Bestimmung in § 6 geht es, wie gesagt, um „böse Worte", die die Ausübung des Königtums Assurbanipals betreffen. In diesem Zusammenhang erscheint eine Liste mit Menschen, die als mögliche Quelle einer Verschwörung in Frage kommen und die dem künftigen König auszuliefern sind. Die Liste endet, wie alle entsprechenden Personenlisten im EST, mit einem verallgemeinernden
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[1] Dass die §§ 7-31 die in den §§ 4-6 vorangestellten grundlegenden Loyalitätsbestimmungen ausführen, zeigt sich daran, dass die wichtigsten Stichworte aus 4-6 in 7-31 wieder aufgenommen werden: nasäru „schützen": Z. 50; 65; 100; 168; sarru/belu sanimu „ein anderer König/Herr": Z. 72; 129; 196f; abütu la —äbtu „böses Wort": 67f; 73f; 107; 183; 186f; bärtu „Aufstand": 67; 133; 145; 159; 186; 198.
Bezug auf „alle Schwarzköpfigen (= Menschen)". Die Bestimmung in § 10 vervollständigt die Liste potentieller Verschwörer um Angehörige der Vereidigten und religiöse Experten. Sie lautet:[1]
„Bei Gott (summa), ihr sollt nicht ein ungutes, unfreundliches, unziemliches Wort, das für Assurbanipal, den Kronprinzen vom ,Nachfolgehaus', den Sohn Asarhad- dons, Königs von Assyrien, nicht korrekt, nicht gut ist, sei es aus dem Mund seines Feindes oder aus dem Mund seines Freundes oder aus dem Mund seiner Brüder, der Brüder seines Vaters, der Söhne der Brüder seines Vaters, seiner Familie, der Nachkommen seines Vaterhauses oder aus dem Mund eurer Brüder, eurer Söhne, eurer Töchter oder aus dem Mund eines Propheten/Orakelpriesters, eines Ekstatikers, eines sä'ilu-Priesters oder aus dem Mund aller ,Schwarzköpfigen' überhaupt hören (und es dann) verheimlichen, sondern zu Assurbanipal, dem Kronprinzen vom ,Nachfolgehaus', dem Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, kommen (und es) sagen."
§ 12 geht insofern über die §§ 6 und 10 hinaus, als er von einem Aufstand handelt, der darauf abzielt, den Thronfolger Assurbanipal zu töten. Dementsprechend ist der geforderte Umgang mit den Aufständischen verschärft, die entweder auszuliefern oder - sei es selbständig oder mit Hilfe des Königs - zu eliminieren sind:[2]
„Bei Gott (summa), weder soll euch irgendeiner in Bezug auf Assurbanipal, den [Kronp]rinzen vom ,Nachfolgehaus', den Sohn Asarhaddons, Königs von Assyrien, eures Herrn, der für ihn einen Vertrag (ade) mit euch geschlossen hat, von Rebellion (und) Aufstand, (nämlich) ihn zu töten, zu ermorden (oder) zu vernichten berichten, noch sollt ihr (es) aus dem Munde irgendeines hören, sondern ihr sollt die Aufständischen ergreifen und zu Assurbanipal, dem Kronprinzen vom ,Nachfolgehaus', bringen."
Es folgen zwei Unterfälle, deren Vordersätze im Indikativ/Stativ stehen:
„Falls (summa) ihr sie ergreifen (und) töten könnt (masakunu), sollt ihr sie - bei Gott - ergreifen (und) töten (und) ihren Namen (und) Samen im Land vernichten. Falls (summa) ihr sie nicht ergreifen (und) töten könnt (lä masakunu), sollt ihr - bei Gott - Assurbanipal, den Kronprinzen vom ,Nachfolgehaus', informieren, an seiner Seite stehen (und) die Aufständischen ergreifen (und) töten."
Der folgende Paragraph 13 rechnet mit der Möglichkeit, dass die Vereidigten mit den Aufständischen gemeinsame Sache machen. In diesem Fall werden sie aufgefordert - quasi in der Funktion als Doppelspione - alles, was sie in dieser Position hören, es sei gut oder böse, Assurbanipal zu berichten.
Obwohl das Anzeigegebot auch in den assyrischen Quellen die schon rein statistisch am häufigsten belegte Forderung darstellt, handelt es sich bei den entsprechenden Geboten im EST um die ausführlichsten und differenziertesten im ganzen assyrischen Vertragskorpus. Lediglich der einschlägige Abschnitt im Treueid der Zakutu (SAA II 8) reicht in dieser Hinsicht annähernd an die Bestimmungen des EST heran. Diese Beobachtung ist allerdings insofern zu
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[1] Die eigene Übersetzung basiert auf der Umschrift von Watanabe, ade -Vereidigung, 148.
[2] Die eigene Übersetzung basiert auf der Umschrift von Watanabe, ade -Vereidigung, 150.
relativieren, als bei den übrigen Vereidigungstafeln die Sektionen mit den Loyalitätsbestimmungen entweder überhaupt nicht oder sehr schlecht erhalten sind. Somit könnte auch in diesem Punkt eine vermeintliche Eigenheit der erhaltenen EST-Tafeln ihrem ausgezeichneten Erhaltungszustand und der Tatsache, dass sie die einzigen überlieferten Originale darstellen, geschuldet sein.
Westliche Einflüsse im assyrischen Vertragsrecht
Wenn es auch nicht überzeugt, die Urkundenformen des Vasallen- oder des Treueids aufgrund von argumenta e silentio als von den westlichen Nachbarn importierte Konzepte zu begreifen,[1] so zeigen sich die neuassyrischen ade- Texte gleichwohl in Einzelelementen von der westlichen Tradition beeinflusst. Auch in dieser Hinsicht bietet sich der EST wegen seines ausgezeichneten Erhaltungszustandes als Anschauungsmaterial an. Westliche Einflüsse sind vor allem im Bereich der Fluchsequenz des EST postuliert worden, die die umfangreichste Ansammlung von Flüchen im Alten Orient darstellt. Dass die Flüche auf zwei getrennte Abschnitte vor und nach dem Loyalitätseid § 57 verteilt sind, stellt eine Besonderheit des EST dar. Während sich die Flüche der §§ 37-56 auf den Schutz der ade-Tafel beziehen, gewährleisten die Flüche der §§ 58-106 die Einhaltung der Vertragsbestimmungen. Das Nebeneinander der beiden Fluchabschnitte spricht nach M. Krebernik für eine unterschiedliche traditionsgeschichtliche Herkunft der Sektionen.[2] In diese Richtung deuten zwei weitere Beobachtungen formgeschichtlicher und sprachlicher Art. Streck hat in Anlehnung an Hillers und Watanabe eine formale Typologie der im EST belegten Flüche erstellt.[3] Oberstes Kriterium ist das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Vergleichs, wobei Streck noch einmal zwischen einem einfachen und einem selbständigen Vergleich sowie dem Vorkommen eines Demonstrativs, das auf ein begleitendes Ritual verweist, unterscheidet. Als zweites Kriterium dienen die Fluchsubjekte, eingeteilt in die Kategorien „Gott", „Nicht-Gott" und „Göttergruppe". Aus der Typologie geht hervor, dass die Vergleichsflüche niemals einen namentlich genannten Gott, sondern stets entweder die Göttergruppe oder Nicht-Gott als Subjekt haben. In den Flüchen ohne Vergleich tritt dagegen überwiegend ein bestimmter, namentlich genannter Gott als Subjekt in Erscheinung. Interessant ist aber vor allem die räumliche Trennung der beiden Flucharten:[4]
„[W]ährend sich die Flüche ohne Vergleich mit namentlich genanntem Gott besonders vor dem feierlichen Treueschwur auf Assurbanipal befinden (§§ 37-56), finden sich Vergleichsflüche ausschließlich nach dem Schwur (§§ 58-106) und werden dort nur vereinzelt durch Flüche ohne Vergleich unterbrochen."
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[1] So die Thesen von Tadmor und Otto, s. o. S. 85-87.
[2] Vgl. Krebernik, Deuteronomiumskommentar, 29.
[3] Vgl. Streck, Flüche, 168-170.
[4] A.a.O., 170f.
Die traditionsgeschichtliche Analyse der Flüche in den Sfire-Inschriften hatte ergeben, dass die Vergleiche ihre traditionsgeschichtlichen Wurzeln vermutlich in der hethitischen Vereidigungspraxis haben und durch nordsyrisch-aramäische Vermittlung nach Mesopotamien und Palästina gelangt sein dürften, wofür nicht zuletzt die Beobachtung spricht, dass die Gattung im Neuassyrischen erstmals in einem Vasallenvertrag mit einem aramäischen Herrscher (SAA II 2) auf- taucht.[1] In Bezug auf die Vergleiche im EST ist ferner auf die von den Flüchen ohne Vergleich abweichende Sprache (assyrisch statt babylonisch; Aramaismen) aufmerksam gemacht worden. All dies spricht für eine traditionsgeschichtliche Verortung der Vergleichsflüche in EST §§ 58-106 im Westen.[2] Ähnliches ist oben in Bezug auf die in hethitischen Vasallenverträgen und Treueiden elabo- riert gebrauchte Vorstellung vom „bösen Wort" vermutet worden.[3]
In all diesen Fällen ist aufgrund der schmalen Quellenlage keine letzte Sicherheit zu gewinnen. Vor allem bleiben die dahinter stehenden Rezeptionsvorgänge größtenteils hypothetisch. Vor diesem Hintergrund ist es ein glücklicher Umstand, dass mit dem aramäischen Vertragsbegriff 'dy eine eindeutig beweisbare sprachliche Entlehnung aus dem Aramäischen den vermuteten und später noch einmal aufzugreifenden Traditionstransfer vom (aramäischen) Westen nach Mesopotamien sowie in das Alte Testament auf eine sichere Grundlage stellt. Vor der folgenden terminologischen Untersuchung ist jedoch wiederum kurz der Ertrag des vorangegangenen Abschnitts zu sichern.
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[1] S. oben S. 68.
[2] Dies soll später am Beispiel von EST § 63f im Detail nachgewiesen werden (s. u. S. 209-216).
[3] S. oben S. 76.
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