1.6 Ertrag
Abschließend gilt es, den Ertrag des chronologisch und geographisch weitgesteckten Überblicks in einigen Thesen zu sichern, wobei jeweils mögliche Konsequenzen für die Frage nach der Rezeption des Vertragsrechts im Alten Testament benannt werden sollen:
(1.) Vereidigungen auf die Person des Königs waren im Alten Orient ein gebräuchliches Instrument der Herrschaftssicherung, welches innen- wie außenpolitisch verwendet wurde. Sieht man von den selten belegten paritätischen Verträgen ab, die hier unberücksichtigt bleiben können, so sind hinsichtlich des Rechtsbereichs sowie der Adressaten zwei Textgattungen zu unterscheiden: Erstens Vasallenverträge, die eine Vereidigung ehedem unabhängiger Herrscher oder Volksstämme darstellen; und zweitens Treueide, mit denen die direkten Untertanen vereidigt wurden. Beide Arten der Vereidigung fanden vor Götterbildern statt und waren von symbolischen Handlungen, nämlich einem Drohritus der Selbstverfluchung, begleitet und in schriftlicher Form niedergelegt. - Da sich beide Textgattungen hinsichtlich des Formulars sowie der grundsätzlichen Loyalitätsforderungen kaum unterscheiden, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob ein Vasallenvertrag oder ein Treueid der alttestamentlichen Bundestheologie als Vorbild diente.
(2.) Die Analyse der Loyalitätsbestimmungen der Vasallenverträge und Treueide zeigt, dass ein phraseologisch weitgehend einheitliches, standardisiertes Repertoire an Geboten existierte, welches sich von den syrischen Stadtstaaten Ebla und Mari über das Hethiterreich bis ins neuassyrische Reich verfolgen lässt. - Um die Herkunft entsprechender Gebote im Alten Testament ermitteln zu können, ist es daher zwingend notwendig, auf formale, inhaltliche oder sprachliche Details zu achten, die etwas über den traditionsgeschichtlichen Ursprung dieser grundsätzlich zählebigen Forderungen verraten.
(3.) Vor allem die im Inneren der staatlichen Verwaltung eingesetzten Treueide scheinen nach Ausweis speziell der neuassyrischen Quellen nicht nur die staatliche Elite, sondern die gesamte Bevölkerung betroffen zu haben. Im Hethiterreich scheint es sogar eine monatlich wiederholte Vereidigung auf den König gegeben zu haben. Am Beispiel der syrischen Stadtstaaten (z.B. Ebla und Mari) wird ferner deutlich, dass sich Vereidigungen auf den König nicht auf die Großreiche beschränken lassen. Aus der Tatsache, dass die Formel ade sa sarri auch noch in spätbabylonischen und persischen Quellen begegnet, ergibt sich, dass die Vereidigungspraxis entgegen anderer Stimmen in der Forschung das assyrische Reich überlebt hat. - Aus alledem folgt für Israel und Juda als „normale" altorientalische Gesellschaften, dass auch dort mindestens die Beamtenschaft regelmäßig auf den König vereidigt worden sein dürfte.
(4.) Im krassen Gegensatz zu den quellenkritisch rekonstruierten Ausmaßen der Vereidigungspraxis steht die magere Zahl der tatsächlich überlieferten Verträge. Den von S. Parpola hochgerechneten gut 160 Vertragsschlüssen in neuassyrischer Zeit[1] stehen lediglich 14 erhaltene neuassyrische Verträge in zumeist fragmentarischem Zustand gegenüber. Dabei ist zu beachten, dass die allermeisten erhaltenen Vertragstafeln vermutlich Archivabschriften sind, da ihnen eine Siegelung fehlt. Westlich des Euphrat sind lediglich die aramäischen Sfire-Inschriften mit einem Vasallenvertrag aus dem 8. Jh. erhalten. Archivabschriften sind in diesem Gebiet aufgrund der vergänglichen Schreibmaterialien ohnehin nicht zu erwarten. - Die Quellenlage macht deutlich, dass einer traditionsgeschichtlichen Untersuchung der Verträge enge Grenzen gesetzt sind. Deshalb sind Abhängigkeitsthesen, die auf konkrete Verträge abzielen, mit
Skepsis zu betrachten. Statt mit einer Abhängigkeit von einem ganz bestimmten, zufällig überlieferten Vertragstext sollte eher aufgrund einer breiteren Quellenbasis mit Einflüssen eines Kulturraumes gerechnet werden.
(5.) Grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen allen bekannten Vertragstexten machen deutlich, dass Assyrien und der östliche Mittelmeerraum (im Westen bis Griechenland) einen weitgehend einheitlichen Kulturraum bildeten. Dennoch deuten spezifische Eigenheiten (Differenzen im Formular, unterschiedliche Fluchgattungen und Formulierungsgewohnheiten) der (spät)hethitischen und aramäischen auf der einen und der assyrischen Verträge auf der anderen Seite darauf hin, dass sich im 1. Jahrtausend zwei Lokalausprägungen bzw. Traditionsstränge im Vertragsrecht voneinander abgrenzen lassen - eben eine westlich-aramäische und eine mesopotamische bzw. neuassyrische Vertragsrechtstradition. - Diese Einsicht ist für die Frage nach der Herkunft der Traditionen im Deuteronomium zu beachten, die eben nicht alle einer gemeinorientalischen Vertragsrechtstradition entspringen, sondern differenziert betrachtet werden sollten.
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[1] Vgl. Parpola, Treaties, 162, Anm. 7.
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