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1. Die Fragestellung

Ausgehend von den eingangs formulierten Fragen und den referierten forschungsgeschichtlichen Problemanzeigen ergibt sich für die vorliegende Untersuchung die folgende dreifache Fragestellung:

(1.) Woher stammen die in den bundestheologischen Texten rezipierten vertragsrechtlichen Vorstellungen und Sprachformen? Hier gilt es, mit Hilfe einer vergleichenden Untersuchung die Traditionsverhältnisse in Dtn 13* und 28* genau zu bestimmen (Kap. III 1.3 und 2.3). Dabei ist im Hinblick auf die Feststellung von möglichen Abhängigkeiten gelegentlich eine Testfrage hilfreich, die M. Malul für den Rechtsvergleich („comparative method") eingeführt hat, nämlich die nach „coincidence" bzw. „uniqueness". Konkret ist dabei zu fragen:[1]

„[A]re the similarities and/or differences discovered between the sources/phenome- na the result of parallel developmens [sic.!], independent of each other and, therefore, coincidental, or do they point to an original phenomenon unique to the sources under comparison?"

Die Unterscheidung von coincidence und uniqueness erlaubt allerdings keine Antwort auf die Frage nach dem Grad der Abhängigkeit (literarische oder bloß traditionsgeschichtliche Abhängigkeit). Außerdem ist zu beachten, dass Gemeinsamkeiten, die aufgrund der entdeckten uniqueness auf eine Abhängigkeit schließen lassen, ebenso dem Überlieferungszufall geschuldet sein können. Von daher ist es aussagekräftiger, wenn man Abhängigkeiten nicht mit einem einzelnen Vertragstext (z.B. dem EST), sondern - quellenmäßig breiter - mit dem Textbefund einer ganzen Vertragsrechtstradition (in diesem Fall: der neuassyrischen) begründet. Nicht zuletzt diesem Vorsatz dient der den eigentlichen
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[1] Malul, Method, 93.

Analysen in Kap. III vorangehende Überblick über die Vereidigungspraxis im Alten Orient (Kap. II 1) sowie die ausführliche Untersuchung der aramäischen Sfire-Inschriften (Kap. II 2) und des neuassyrischen EST (II 3), die beide jeweils repräsentativ für die westlich-aramäische bzw. neuassyrische Vertragsrechtstradition stehen können.

In Bezug auf die Frage nach den Wurzeln der Bundestheologie hat die vergleichende Forschung zuerst ausschließlich Parallelen zu den (älteren) hethitischen und zuletzt zu den (jüngeren) assyrischen Vertragstexten geltend gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse ist zu fragen, ob nicht beide Beobachtungen ihr partielles Recht haben, das heißt, ob die Bundestheologie nicht vielleicht verschiedene - westliche und mesopotamische - Wurzeln hat. Da die Parallelen zu den geographisch und chronologisch abgelegenen hethitischen Vasallenverträgen in der gegenwärtigen Forschung als „ein weiterhin ungelöstes historisches Rätsel"[1] gelten, ist hier eine plausible Rekonstruktion von Kontaktzonen und Vermittlungswegen gefordert, die zu erklären vermag, wie Elemente der hethitischen Vertragsrechtstradition in das Alte Testament gelangen konnten. Malul, der die Aufdeckung der historischen Kontaktbedingungen als „corro- boration" bezeichnet,[2] sieht darin zu Recht eine notwendige Voraussetzung für den Textvergleich, der Abhängigkeitsverhältnisse zu Tage bringen soll:[3]

„The existence of an appropriate corroboration is the preliminary condition for a detailed study of the similarities and differences between the sources under comparison in the light of the methodological test for coincidence versus uniqueness."

Es wird sich zeigen, dass eine mögliche Lösung des Rätsels der biblischen Parallelen mit den hethitischen Vasallenverträgen eng verbunden ist mit der traditionsgeschichtlichen Bewertung der aramäischen Inschriften von Sfire, die vielfach in der Tradition der älteren hethitischen Texte stehen.

(2.) Wann ist die Bundestheologie ausgebildet worden? Der Überblick über die Forschungsgeschichte hat deutlich gemacht, dass die aufgrund von external evidence gewonnenen Datierungsvorschläge der Bundestheologie mehrfach durch den textimmanenten Befund im Alten Testament in Zweifel gezogen oder gar widerlegt worden sind: Die Datierung in die Mosezeit aufgrund der hethi- tischen Vertragstexte durch die Einsicht, dass die einschlägigen Vergleichstexte in das Umfeld der dtn/dtr Literatur und somit in eine viel spätere Zeit gehören; die Datierung in die spätvorexilische Zeit aufgrund der neuassyrischen Vertragstexte durch die Einsicht in die Tiefendimension des Deuteronomiums mit seinen auch im Gesetzeskern anzutreffenden exilisch-dtr Anteilen. Als Konsequenz folgt hieraus, dass die zeitliche Verortung der Bundestheologie unabhängig von den altorientalischen Referenztexten allein aufgrund textimmanenter Gesichtspunkte erfolgen sollte. Auf die konkreten Texte bezogen
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[1] Lohfink, Bund, 104; vgl. schon McCarthy, Treaty, 286f.
[2] Vgl. Malul, Method, 99: „s it possible to prove the existence of the right conditions for the creation of a historical connection between the two cultures under comparison?"
[3] A.a.O., 110f.

heißt das, dass in Dtn 13 und 28 die literarkritisch ermittelten Kapitelkerne im Buch Deuteronomium kompositionsgeschichtlich zu verorten sind, wobei es vor allem um die Frage geht, ob Dtn 13* und 28* dem Urdeuteronomium oder seiner (exi- lisch-)dtr[1] Überformung angehören (s. Kap. III 1.2 und 2.2). Um diese Frage im weiteren Verlauf der Untersuchung beantworten zu können, ist schon an dieser Stelle ein Wort zu dem dabei vorausgesetzten Bild von der Entstehung des Deuteronomiums angeraten.

Was Teil des Urdeuteronomiums ist und was nicht, erschließt sich hauptsächlich aufgrund von drei weithin anerkannten Textbeobachtungen:[2] Erstens der Anrede Israels mit dem singularischen „Du"; zweitens der Bezugnahme auf das rechtsgeschichtlich ältere Bundesbuch, das in entscheidenden Punkten re- formuliert wird; und drittens der Forderung der Kultzentralisation auf den einen, von Jhwh erwählten Kultort. Was demgegenüber stilistisch und thematisch aus dem Rahmen fällt, steht im Verdacht, nachgetragen zu sein. Dtr Herkunft sind nicht zuletzt diejenigen Texte, die als integralen Bestandteil Anspielungen auf die bevorstehende Landnahme enthalten (z.B. die Landnahmeformel), denn das Urdeuteronomium kennt die fiktive Verankerung der Gesetzesproklamation in den Gefilden Moabs am Vorabend der Landnahme noch nicht, die insbesondere in den Rahmenkapiteln vorausgesetzt ist.[3] Zu beachten ist allerdings, dass schon das Urdeuteronomium eine „leichte" Historisierung in Form der Mose-Fiktion gekannt zu haben scheint, insofern Mose stets als Sprecher vorausgesetzt ist[4] und die wohl älteste Buchüberschrift Dtn 4,45*[5] den Ägyptenbezug über eine „lockere Zeitangabe"[6] herstellt.[7] Mit der opinio communis der Forschung ist nicht zuletzt aufgrund der vorauszusetzenden religionspolitischen Kontextbedingungen von einer Entstehung des Urdeuteronomiums als königliches

Reformprogramm in joschijanischer Zeit auszugehen,[8] obgleich die von G. Hölscher[9] begründete abweichende These einer exilischen Datierung des
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[1] Die Zuschreibung „deuteronomistisch" (dtr) ist vor allem innerhalb des Deuteronomiums umstritten. In der vorliegenden Arbeit bezeichnet der Begriff dtr in Bezug auf das Deuteronomium seine späteren Überarbeitungen, die sich vom „deuteronomischen" (dtn) Kern, dem so genannten Urdeuteronomium, abheben lassen und das Buch in einen größeren (dtr) Erzählzusammenhang einordnen; s. dazu den Exkurs bei Gertz, Tora, 244f.
[2] Vgl. z.B. Kratz, Komposition, 121f, sowie Gertz, Tora, 247f.
[3] Vgl. dazu Lohfink, Kerygmata, bes. 90f.
[4] Vgl. dazu Hossfeld, Dekalog, 51-54.
[5] Vgl. Veijola, Deuteronomium, 122f.
[6] A.a.O., 123, Anm. 5.
[7] Vgl. dazu auch Gertz, Deuteronomium 1-3, 122f.
[8] Vgl. zu den religionsgeschichtlichen Befunden Uehlinger, Kultreform, und zu 2Kön 22f Hard- meier, König Joschija. Vgl. ferner Levin, Joschija, 351-353; Veijola, Deuteronomium, 2; Gertz, Tora, 249-251.
[9] Vgl. Hölscher, Komposition, bes. 227-230, der für seine exilische Datierung u.a. den „ideologische[n] Charakter der deuteronomischen Gesetzgebung" (a.a.O., 228) geltend macht. Vgl. die Kritik bei Gertz, Gerichtsorganisation, 15, der in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass es in der Königszeit ebenfalls „realitätsferne Utopien" gegeben haben könne.

Zentralisationsprogramms ebenfalls gute Gründe auf ihrer Seite hat.[1]

Abgesehen von der Ermittlung der kompositionsgeschichtlichen Orte von Dtn 13* und 28* im Gesamtzusammenhang des Deuteronomiums ergibt sich ein Anhaltspunkt für die Datierung der Bundestheologie auch aufgrund ihrer spezifischen Konzeption im Vergleich zu den Vertragskonzeptionen, wie sie sonst in den altorientalischen Quellen greifbar werden (s. Kap. IV).

(3.) Die Frage nach dem Rezeptionsprozess, an dessen Ende die ausgebildete Bundestheologie steht, hat die Befunde der literarischen und traditionsgeschichtlichen Analysen von Dtn 13 und 28 als Ausgangspunkt. Die entsprechenden Ergebnisse aus Kap. III (und IV) vorwegnehmend, sieht man sich in Kap. V mit einem doppelten Problem konfrontiert: Erstens mit dem traditionsgeschichtlichen Befund, nach dem neben der neuassyrischen auch die westlich-aramäische Vertragsrechtstradition in Dtn 13* und 28* markante Spuren hinterlassen hat; zweitens mit dem literarhistorischen Befund, nach dem schon die Kapitelkerne von Dtn 13 und 28 als exilisch-dtr einzustufen sind. Der disparate traditionsgeschichtliche Befund stellt vor die Aufgabe, der gegenwärtig florierenden These einer literarischen Abhängigkeit (oder gar Übersetzung) der beiden Kapitel von einem bestimmten Vertragstext ein weniger statisches Rezeptionsmodell entgegenzustellen, das den verschiedenen eingeflossenen Traditionen gerecht wird. Aus dem literarhistorischen Befund ergibt sich ferner das Phänomen einer „verspäteten" Rezeption, insofern die bundestheologischen Texte in einer Zeit entstanden sind, in der die maßgeblichen aramäischen und neuassyrischen Vorbilder keinerlei politische Relevanz mehr besaßen. Sowohl das Phänomen einer „verspäteten" Rezeption als auch die Einsicht in die traditionsgeschichtliche Disparität der bundestheologischen Texte sprechen für einen komplexen, mehrstufigen Rezeptionsprozess, der sicherlich schon in vorexilischer Zeit eingesetzt hat und - wie sich zeigen wird - im Alten Testament nicht analogielos ist.

Die Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Alten Testament ist das Ergebnis kultureller Kontakte. Die neuere kulturwissenschaftliche Forschung hat für die Untersuchung derartiger Kontaktphänomene eine Reihe von Elementen namhaft gemacht, von denen die folgenden drei für die vorliegende Fragestellung von Interesse sind:[2]

Das erste Element bilden die Kontaktmedien in Form von Artefakten, Texten oder Sprache, deren Existenz den Kontakt überhaupt erst offen
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[1] Vgl. zu den Argumenten Kaiser, Einleitung, 132-134, sowie Kratz, Komposition, 136-138.
[2] Die vorgestellten Elemente sind vom Sonderforschungsbereich 295 „Kulturelle und sprachliche Kontakte: Prozesse des Wandels in historischen Spannungsfeldern Nordostafrikas/ Westasiens" der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entwickelt worden, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit entstanden ist. Das Modell ist unter http://www.uni-mainz.de/Organisa- tionen/sfb/295/Das_Forschungsprogramm/2.html zu finden. Neben den drei genannten werden als weitere Elemente „Handlungsmotivationen" und „Kontaktdynamik" angeführt, die jedoch bei den altertumsbezogenen Disziplinen schwer zu ermitteln sind.

legt (z.B. internationale Verträge oder Königsinschriften).

Als zweites Element gelten die Kontaktträger (Einzelpersonen bzw. gesellschaftliche Gruppierungen), von denen der Kontakt getragen wird (z.B. Diplomaten oder der Stand der Hofschreiber).

Das dritte Element ist der Kontakttyp, womit Teilbereiche bzw. Netzwerke menschlichen Handelns gemeint sind, innerhalb derer sich der Kontakt abspielt (z.B. die Diplomatie oder die Schreiberschule). Dieses dritte Element kann jedoch als das institutionelle Umfeld der Kontaktträger im zweiten Element inbegriffen sein.

Die vorgestellte Begrifflichkeit aufnehmend, sollen die einschlägigen biblischen und außerbiblischen Quellen in Kap. V auch daraufhin befragt werden, ob sie Informationen über Medien und Träger der kulturellen Kontakte preisgeben, die für die Rezeption des Vertragsrechts im Alten Testament seit vorexilischer Zeit eine Rolle gespielt haben könnten. Die Frage nach dem potentiellen Trägerkreis soll schließlich auch in Bezug auf die Ausbildung der Bundestheologie im dtr redigierten Deuteronomium in exilischer Zeit gestellt werden.