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2. Deuteronomium 28

Problemstellung

Neben Dtn 13 spielt Dtn 28 eine zentrale Rolle für die Frage nach der Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium. Das Kapitel stellt mit seiner Ankündigung von Segen und Fluch die Folgen von Gehorsam und Ungehorsam gegenüber den Geboten des vorangehenden deuteronomischen Gesetzes vor Augen, wobei der Fluch (28,15-68) mehr als dreimal so lang ist wie der Segen (28,1-14). Seit M. Noth 1938 zum ersten Mal hethitische Staatsverträge als Vergleichstexte für die Interpretation von Dtn 28 herangezogen hatte,[1] wird die Beziehung des Kapitels zum altorientalischen Vertragsrecht im Allgemeinen und zum 1958 edierten Sukzessionsvertrag Asarhaddons (EST) im Besonderen in der Forschung kontrovers diskutiert. Dabei ist der Befund an sich - zahlreiche formale und inhaltliche Parallelen zwischen Dtn 28 und altorientalischen Vertragstexten - unstrittig. Offen ist allein die Frage, wie sich die Parallelen erklären lassen. Die These, nach der die Parallelen durch ähnliche lebensweltliche Erfahrungen völlig unabhängig voneinander entstanden sind (coincidence)[2], stellt in der Forschung die Ausnahme dar.[3] Vorherrschend sind Erklärungsmodelle, die von einer Abhängigkeit der Fluchsequenz von altorientalischen Texten bzw. Traditionen ausgehen (uniqueness). Abhängigkeitsthesen treten in den verschiedensten Spielarten auf. Den einen Pol bildet die These eines dem Alten Orient gemeinsamen Fluchkanons, auf den die Verfasser von Dtn 28 zurückgreifen konnten.[4] Das Problematische dieser These, die die Annahme traditionsgeschichtlicher Verbindungslinien und Vermittlungswege bereits im Keim erstickt, ist, dass ein solcher Kanon erstens ein reines Postulat bleibt und zweitens jegliche Differenzierung der westlichen von der mesopotamischen Fluch- bzw. Vertragsrechtstradition nivelliert.[5] Den anderen Pol bildet die These, Dtn 28 sei von einem bestimmten altorientalischen Text literarisch ab- hängig,[6] ja stelle gar im Kern eine freie Übersetzung dieses Textes dar.[7] Hier liegt das Problem darin, dass konkrete Abhängigkeitsthesen zu Engführungen neigen, insofern andere Texte und Traditionen, die als Vorlage gedient haben könnten, von vornherein ausgeblendet werden. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich vermittelnde Thesen, die mit einer literarischen
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[1] Noth, Fluch.
[2] Vgl. zu dieser Terminologie o. S. 14.
[3] Vgl. etwa Houtman, Himmel, 147, der die Parallelen lediglich auf die „Frucht gemeinsamer Erfahrungen der Bewohner der [sic!] Alten Orients" zurückführen möchte.
[4] McCarthy, Treaty, 174: „Dtn 28 reflects the canon of ancient near eastern curses." Vgl. auch schon Hillers, Treaty-Curses, 41f.
[5] Vgl. dazu auch die Kritik bei Steymans, Deuteronomium 28, 10f.
[6] So schon Frankena, Vassal-Treaties, 151, der mit einer Kopie des EST in Jerusalem rechnet, die Dtn 28 als Vorlage gedient habe.
[7] So Steymans, Deuteronomium 28, 380. Steymans geht von der Existenz einer (aramäischen) Übersetzung des EST in Jerusalem aus.

Abhängigkeit nicht von einem bestimmten, sondern von einem x-beliebigen neuassyrischen Vertrag rechnen,[1] oder von einer traditionsgeschichtlichen Abhängigkeit[2] ausgehen, die den verschiedenen Lokalausprägungen im Vertragsrecht, speziell der aramäischen und assyrischen Tradition, gerecht wird. Für die eigene traditionsgeschichtliche Analyse bedeutet dies, dass sie auf einer möglichst breiten Quellenbasis unter Rücksichtnahme auf lokale Differenzen der Traditionsbereiche vorzunehmen ist. Wegen seines ausgezeichneten Erhaltungszustandes sowie forschungsgeschichtlicher Vorgaben gebührt dabei dem neuassyrischen EST besondere Aufmerksamkeit, wobei stets zu fragen ist, ob die Parallelen mit dem EST Eigenheiten eben dieses Textes oder der neuassyrischen Vertragsrechtstradition im Allgemeinen spiegeln. Ein besonderes Augenmerk gilt darüber hinaus möglichen Einflüssen der westlichen Vertragsrechtstradition, die in der jüngeren Forschung wegen der Dominanz der assyrischen Quellen vernachlässigt worden ist.

Der traditionsgeschichtlichen Analyse geht eine literarische Analyse voraus, deren Ziele es sind, erstens den ältesten Kern von Dtn 28 zu rekonstruieren, der den Ausgangspunkt für den Textvergleich bildet, und zweitens diesen Kern in der Kompositionsgeschichte des Deuteronomiums zu verorten, um so Aufschluss über seine Datierung zu erlangen. Letztere ist wichtig für den in Kap. V der Arbeit erfolgenden Versuch, den komplexen Rezeptionsprozess aufzuhellen, in dem die Aufnahme von Vorstellungen und Sprachformen des altorientalischen Vertragsrechts die Entstehung des Gedankens, Jhwh habe mit Israel am Horeb einen Bund geschlossen, begleitet hat.

Literarische Analyse von Dtn 28

Im Folgenden soll der Kernbestand von Dtn 28 ermittelt werden. Ausgehend von einer Aufbauanalyse soll gezeigt werden, dass das Kapitel, grob betrachtet, in einem dreistufigen Wachstumsprozess entstanden ist. Anschließend soll die älteste Stufe auf weitere redaktionelle Eingriffe hin überprüft werden, wobei textkritische Probleme, sofern sie von Relevanz sind, in diesem Zusammenhang besprochen werden.[3] Das Problem der Datierung des rekonstruierten

Kapitelkerns sowie die Frage, ob dieser Kern bereits Teil des Urdeuteronomiums war, sollen schließlich im Zusammenhang einer kompositionsgeschichtlichen Verortung des Kapitels im Deuteronomium behandelt werden.

Aufbau und Kern des Kapitels​



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[1] So z.B. Weinfeld, Traces, 423.
[2] So etwa Jeremias, Kultprophetie, 168f.
[3] Vgl. zu diesem Verfahren o. S. 113, Anm. 39.

Der Aufbau des Kapitels ergibt sich aus den zahlreichen bedingenden und begründenden Einleitungs- und Schlusssätzen, die G. Seitz eingehend analysiert hat.[1] Neben ihrer gliedernden Funktion dienen sie auch der thematischen Verbindung von Dtn 28 mit dem vorangehenden Gesetzbuch, insofern sie Segen und Fluch an den Gehorsam bzw. Ungehorsam gegen die Gebote Jhwhs knüp- fen.[2] Die Sätze erlauben außerdem Rückschlüsse auf die komplizierte Entstehungsgeschichte des Kapitels, da sie zeitweilige Endpunkte der Überlieferung markieren und damit Teilsammlungen voneinander abheben. Von daher liegt es nahe, das für die traditionsgeschichtliche Analyse belangreiche Problem, ob in Dtn 28 von Anfang an dem Fluch ein entsprechender Segen gegenüberstand, an dieser Stelle anzusprechen. Folgende bedingende und begründende Aussagen sind in Dtn 28 anzutreffen:[3]

1a whyh 'm smw' ismr bqwl „Und es wird geschehen, wenn du auf
  yhwh 'lhyk [...] die Stimme Jhwhs, deines Gottes, genau hörst [.]"
2b [...] ky isiir bqwl yhwh 'lhyk „[.] wenn du auf die Stimme Jhwhs, deines Gottes, hörst."
9b [. ] ky tsmr 't mswt yhwh 'lhyk [.] „[.] wenn du die Gebote Jhwhs, deines Gottes, bewahrst [.]"
13b.14 [.] ky tsm' 'l mswt yhwh 'lhyk [.] „[.] wenn du auf die Gebote Jhwhs, deines Gottes, hörst [.]"
15a whyh 'm l' tsm" bqwl yhwh 'lhyk [.] „Und es wird geschehen, wenn du auf die Stimme Jhwhs, deines Gottes, nicht hörst [.]"
45b [...] ky l' sm't bqwl yhwh 'lhyk [.] „[.] denn du hast nicht auf die Stimme Jhwhs, deines Gottes, gehört
[.]"
47 t"t 'sr l' 'bdt't yhwh 'lhyk [.] „[.] weil du Jhwh, deinem Gott, nicht gedient hast [.]"
58 'm l' tsmr l'swi't kl dbry htwrh hz't hktwbym bspr hzh [.] „Wenn du nicht alle Worte dieser Tora, die in diesem Buch geschrieben sind, bewahrst [.]"

62b [... ] ky l sm't bqwl yhwh „[•••] denn du hast nicht auf die

'lhyk Stimme Jhwhs, deines Gottes,

gehört."​


Vor allem drei Beobachtungen sind wert, festgehalten zu werden:

(1.) Deutlich einleitenden Charakter haben V. 1a, V. 15a und V. 58.

(2.) V. 2b und V. 9b erfüllen allem Anschein nach keine gliedernde Funktion.

(3.) Die Verse 13b.14 sowie 45b haben abschließenden Charakter.

Die Einleitungssätze in V. 1f und V. 15 bereiten dem Verständnis am wenigsten Schwierigkeiten, weil sie schlicht dazu dienen, Segen und Fluch einzuleiten.
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[1] Vgl. Seitz, Studien, 261-268.
[2] Vgl. a.a.O., 261.
[3] Vgl. zu diesem Überblick a.a.O., 261f.

Anders liegen die Dinge in V. 45b (bzw. 45f) und V. 58, die die Fluchsequenz V. 15-68 mehrfach unterbrechen. Wenden wir uns zuerst dem Stück V 45f zu, so fällt auf, dass V. 45 eine chiastische Wiederaufnahme von V. 15 darstellt:[1]

V. 15a whyh 'm l' lsmr bqwl yhwh 'lhyk
lsmr l'swi 't kl mswtyw w"qtyw
'sr 'nky mswk hywm
„Und es wird geschehen, wenn du auf die Stimme Jhwhs, deines Gottes, nicht hörst, zu bewahren (und) zu tun alle seine Gebote und Satzungen, die ich dir heute gebiete, A
V. 15b wb'w 'lyk kl hqllwt h'lh whsygwk dann werden all diese Verfluchungen über dich kommen und dich erreichen." B
V. 45a wb'w 'lyk kl hqllwt h'lh wrdpwk whsygwk 'd hsmdk „Und es werden all diese Verfluchungen über dich kommen und dich erreichen, bis du vernichtet bist, B'
V. 45b ky l' sm't bqwl yhwh 'lhyk lsmr mswtyw w"qtyw 'sr swk denn du hast nicht auf die Stimme Jhwhs, deines Gottes, gehört, zu bewahren seine Gebote und Satzungen, die er dir geboten hat." A'


In 28,45f ist wegen der offensichtlichen Querbezüge zu V. 15 vielfach der ursprüngliche Abschluss des in V. 15 einsetzenden ältesten Fluchteils gesehen worden.[2] Demgegenüber hat Seitz überzeugend dargelegt, dass es sich bei den V. 45-47 um eine mit Bedacht komponierte Überleitung zum folgenden Abschnitt handelt. Das entscheidende Argument dafür, dass das Stück nicht zu dem vorangehenden, sondern zu dem nachfolgenden Fluchteil gehört, liefern die unterschiedlichen Tempora: V. 45b ist im Gegensatz zu V. 15a ('m l tsmc) und in Übereinstimmung mit der Einleitung zum begründeten Fluch in V. 47 per- fektisch formuliert (ky l sm't), was einen „Wechsel der Situation" nahelegt, „da vor dem Ungehorsam nicht mehr als vor einer Möglichkeit gewarnt, sondern dieser als Gegebenheit konstatiert wird".[3] [4] Bemerkenswert ist zudem ein Vergleich der beiden Promulgationssätze in V. 15 und V. 45. Das 'sr swh in V 45 hebt durch die perfektische Formulierung nicht nur die in V. 15 mit dem Partizip mswk sowie die Zeitangabe hywm implizierte Historisierung in die Zeit vor der Landnahme auf (vgl. auch 28,21bg.36aa), sondern meidet, indem nun nicht wie in V. 15 das mosaische Ich ('nky), sondern Jhwh selbst die Gebote gegeben hat, auch die Mose-Fiktion. Dazu fügt sich das Fehlen jeglicher historisierender Bemerkungen in 28,45-57,333 einem Abschnitt, der eine große Nähe zum Jeremia-
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[1] Vgl. a.a.O., 263.
[2] Vgl. etwa Puukko, Deuteronomium, 222; Steuernagel, Deuteronomium, 151.
[3] Seitz, Studien, 263.
[4] Die Landgabeformel in V. 52bg steht bezeichnenderweise ebenfalls im Perfekt.

buch zu erkennen gibt.[1] In Bezug auf V. 45f stellt Seitz zusammenfassend fest: „v. 45f. bilden demnach ein ausgesprochenes Zwischenstück. Sie schließen den bedingten Fluch v. 15-44 ab, vermitteln aber zugleich den Anschluss der begründeten Fluchdrohung v. 47-57."[2] Hieraus folgt, dass V. 45f zusammen mit dem nachfolgenden Abschnitt V. 47-57 auf einer literarisch späteren Ebene liegen als der Einleitungssatz in V. 15.[3]

Der Neueinsatz in V. 58 hebt den letzten Abschnitt (V. 58-68) noch einmal insofern von den vorangehenden ab, als hier plötzlich von einem Torabuch (spr htwrh, vgl. V. 61) die Rede ist, womit ein weiterer Perspektivenwechsel einhergeht: „[D]ie Anrede richtet sich also nicht an die Zuhörer Moses, sondern an die Leser des Dtn."[4] Damit zeigt der dritte Abschnitt eine besondere Nähe zu Dtn 29f, wo ebenfalls anachronistisch von einem Torabuch die Rede ist (vgl. 29,19.20.26; 30,10).[5]

Anhand der bedingenden und begründenden Aussagen lässt sich Kapitel 28 somit wie folgt grob gliedern:[6]

1-14 15-44​
bedingter Segen bedingter Fluch Mose-Landnahme-Fiktion:
Mose spricht am Vorabend der Landnahme
45-57​
begründeter Fluch (mit Überleitung in V. 45f) Aufgabe der Mose-Landnahme-Fiktion (Enthistorisierung)
58-68​
bedingter Fluch „Torabuch": Mose verliest die Flüche am Vorabend der Landnahme


Aus der Betrachtung der bedingenden und begründenden Aussagen ergibt sich für die Entstehungsgeschichte von Dtn 28, dass der umfangreiche Fluchteil in mindestens drei Schüben entstanden sein dürfte, wobei die V. 15, 45f und 58 je einen Neueinsatz markieren. In den Bedingungssätzen in V. 1f und V. 15 werden dementsprechend häufig die primären Einleitungen zu Segen und Fluch erblickt.[7]


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[1] Vgl. bereits Wolff, Kerygma, 318f.
[2] Seitz, Studien, 264; vgl. auch Steymans, Deuteronomium 28, 226f.
[3] Vgl. Seitz, Studien, 266.
[4] Steuernagel, Deuteronomium, 154; vgl. auch Seitz, Studien, 267.
[5] Anachronistisch sind die Belege eines spr mit Toraworten in den Kap. 28-30 insofern, als erst der sachlich (und möglicherweise auch literarisch) auf einer Ebene liegende Abschnitt 31,9ffvon einer Verschriftung der Tora durch Mose berichtet, wobei „Dtn 31,9a [...] die letzte Konsequenz aus der dt Fiktion der Moserede [zieht]: Mose hat nicht nur geredet, sondern auch geschrieben." (Perlitt, Bundestheologie, 117). Vgl. zum Übergang von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit im Deuteronomium Hossfeld/Reuter, rps, 939f. Die Verschriftungs- theorie des spät-dtr Deuteronomiums entspricht im Übrigen ganz den Gepflogenheiten des altorientalischen Vertragswesens (vgl. Sonnet, Book, 106.) und verstärkt somit den Gedanken, Jhwh habe sich und Israel vertraglich verpflichtet.
[6] Vgl. Seitz, Studien, 262.
[7] Vgl. etwa a.a.O., 267, wo Seitz damit freilich „ein literarisches und kein überlieferungsgeschichtliches Urteil" fällt. Dieser Unterscheidung eingedenk, ist es dann auch kein Widerspruch, wenn Seitz, a.a.O., 271-273, (jetzt eben: überlieferungsgeschichtlich) die brwk -Reihe für älter als die }rwr -Reihe hält (gegen Steymans, Deuteronomium 28, 228, Anm. 4).

Hiergegen hat in jüngerer Zeit H. U. Steymans Einspruch erhoben mit dem Argument, die fest verankerten Promulgationssätze in V. 1ag und V. 15ag setzten bereits die Mose-Fiktion voraus.[1] Hieraus aber auf den sekundären Charakter der Einleitungen zu schließen, ist nur dann zwingend, wenn erstens Dtn 28 Bestandteil des Urdeuteronomiums und zweitens dieses noch nicht als Moserede stilisiert war. Beide Voraussetzungen sind in der gegenwärtigen Diskussion zweifelhaft geworden.[2] Gravierender aber ist, dass Steymans immense Probleme hat, die Verknüpfung der Flüche mit dem Gesetzeskorpus zu gewährleisten. In seinem abschließenden „Versuch einer Redaktionsgeschichte von Dtn 28" stellt er bezüglich der Verbindung der Flüche zum Gesetzesteil zwei Lösungswege vor, einen mit und einen ohne V. 15.[3] Der letztlich bevorzugte erste Lösungsweg verzichtet auf die durch den Promulgationssatz historisierte konditionale Einleitung in V. 15. Demnach wäre das deuteronomische Gesetz durch einen für seine joschijanische Fassung zu postulierenden Bedingungssatz „als lange Protasis gestaltet"[4] gewesen, der die Flüche in Dtn 28,20-44* als Apodosis unmittelbar gefolgt wären. Wenn Steymans als Analogie für eine derartige Verbindung von Bestimmungen und Flüchen die Struktur des EST anführt, dann ist zu bedenken, dass diese einzige Parallele auf wackeligen Füßen steht, da sich die Stipulationen des EST plausibler als vom Fluchteil unabhängige Eidsätze interpretieren lassen.[5] Der Vergleich mit der Stuktur des EST ist aber schon deshalb problematisch, weil es sich beim EST nicht um ein Gesetz, sondern um ein Vertragsformular handelt; das deuteronomische Gesetz, zu dem Dtn 28 die Apodosis bilden soll, ist indes in seiner ursprünglichen Gestalt nirgends als Vertrag ausgewiesen.[6]

Der zweite von Steymans vorgestellte Lösungsweg rechnet mit dem Bedingungssatz in Dtn 28,15 als Bindeglied zwischen dem Gesetzesteil und den
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[1] Vgl. Steymans, Deuteronomium 28, 228f.
[2] S. o. S. 16.
[3] Steymans, Deuteronomium 28, 379f. - Grätz, Wettergott, 112, betont (mit Verweis auf Braulik, Deuteronomium I, 6ff) zu Recht das tertium non datur der diesbezüglichen Lösungsmöglichkeiten: „V.15 bzw. eine ähnliche ursprüngliche Einleitung ist in jedem Fall nur dann verzichtbar, wenn das originäre Deuteronomium - unter der Voraussetzung, dass die Flüche zu diesem gehörten - als Ganzes in einer Gestalt Protasis (Gesetze) - Apodosis (Flüche) entworfen worden ist." Grätz zufolge zeigt auch eine der wenigen Analogien zu den Fluchformen in 28,20ff, Num 5,21ab, dass diese Flüche, bei denen es sich nach Steymans um „Sprechakte" handelt (Deuteronomium 28, 202ff), als Vollzug der in V. 15b angekündigten qllwt zu betrachten sind (Grätz, Wettergott, 112).
[4] Steymans, Deuteronomium 28, 379.
[5] S. dazu o. S. 88-91. Wenn Steymans, Vertragsrhetorik, 100, neuerdings ausgerechnet mit dieser Interpretation das Fehlen von Einleitungssätzen in Dtn 28 verteidigen will, so steht er vor dem Problem, dass sich im vorfindlichen Deuteronomium nicht einmal Spuren von ursprünglichen Eidsätzen ausmachen lassen, als deren Explikation dann die Flüche in Dtn 28* ausgegeben werden könnten.
[6] Nach Veijola, Deuteronomiumsforschung, 291, wäre eine solche Protasis-Apodosis-Konstruk- tion im Hebräischen schon rein syntaktisch nicht möglich.

Flüchen. Diese Lösung ist von Otto aufgegriffen und seiner eigenen These dienstbar gemacht worden. Nach Otto stellt Dtn 28,15aa* die Verbindung zwischen den in Dtn 13,2-10* vermuteten Stipulationen und dem von Steymans in Dtn 28,20-44* rekonstruierten Grundbestand an Flüchen dar, womit zugleich die gewagte Hypothese einer Protasis-Apodosis-Struktur zwischen Gesetzesteil und Flüchen umgangen wird: „Die Flüche in Dtn 28,20-44* sind also nicht als Apodosis der Rechtssätze in Dtn 13,2-10* zu verstehen, sondern wollen die Einhaltung der Stipulation gewährleisten."[1] Doch auch gegenüber dieser These sind Zweifel angebracht. Einmal abgesehen davon, dass sich das kl mswtyw „alle Gebote" auf lediglich zwei Stipulationen bezöge,[2] ist auch die Beschränkung auf Dtn 28,15aa* wenig plausibel, da der Vers m.E. keinerlei Angriffsfläche für literarkritische Operationen bietet. Weit gewichtiger ist jedoch der Einwand, dass die Wahl der zweiten Lösungsmöglichkeit ganz erhebliche Konsequenzen für die Rekonstruktion der Grundschicht von Dtn 28 hat, auf die Steymans selbst bereits aufmerksam gemacht hat, wenn er ausführt: [3]

„Dies [d.h. die Annahme, V. 15 sei die ursprüngliche Einleitung der Fluchsequenz in 28,20-44*; CK] eröffnet die Möglichkeit auch V 1.2a2.3-6.16-19 dem ältesten Stadium zuzurechnen. Die westsemitischen Sefire-Verträge enthielten ja auch wie manche altorientalische Gesetzeskodizes einen kurzen Segen und einen längeren Fluchteil. Also wäre Raum für die bärük- und 'ärür-Formeln vor 28,20-44* gegeben. Wenn hethitischen und aramäischen Zeugnissen entsprechend von Anfang an auch ein Segen dem Fluch gegenüber gestanden hat, waren im Gegensatz zum assyrischen ade die Einleitungsformeln zur Abgrenzung der Schicksalsalternativen unverzichtbar. Für diese Sicht spricht, dass man nicht mit einer Einleitung am Anfang der Stipulationen rechnen muss, die sie als Protasis zur Apodosis der twllq ausgewiesen hätte und die womöglich jetzt im Deuteronomium nicht mehr vorhanden ist."

Ottos Postulat eines ursprünglichen Zusammenhangs zwischen Dtn 13,2-10* und 28,15ff*, verbunden mit dem Verzicht auf 28,1f.3-6.16-19, ist angesichts dieser Überlegungen mehr als zweifelhaft und im Verein mit den zuvor genannten Gegenargumenten abzulehnen.

Wendet man sich jetzt wieder der Argumentation Steymans' zu, dann ist es nur konsequent, dass dieser mit dem Verzicht auf die Einleitungssätze in 28,1f.15 die folgenschwere These verbindet, nach der ausschließlich der Fluch, nicht aber der Segen, ein primärer Bestandteil des Kapitels gewesen sei. Steymans begründet seine Entscheidung mit der Beobachtung, dass sich der Abschnitt 28,16-44 von 28,3-14 und 28,45-68 dadurch unterscheide, „dass er durch keine geprägten Wendungen mit dem Einleitungsvers verknüpft ist"[4]. Doch diese im Prinzip zutreffende Beobachtung ist m.E. in einem entscheidenden Punkt zu präzisieren:
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[1] Otto, Deuteronomium, 66.
[2] Vgl. auch Veijola, Deuteronomiumsforschung, 294f.
[3] Steymans, Deuteronomium 28, 379f.
[4] Steymans, Deuteronomium 28, 232.

Nicht allein der Abschnitt 28,16-44, sondern auch 28,3-6 unterscheiden sich nämlich in dieser Hinsicht von 28,7-14 und 45-68 - beides Abschnitte, die aufgrund von kompositionskritischen Erwägungen aus dem Grundbestand des Kapitels herausfallen.[1] Demnach spricht die Untersuchung der formelhaften Wendungen nicht gegen die Ursprünglichkeit der brwk-Reihe in 28,3-6. Wenn Steymans schließlich die Fluchsequenz 28,20-44 aufgrund fehlender Lexemverbindungen zu V. 15 aus dem Kontext hervorheben möchte,[2] so ist auch hier zu betonen, dass lexematische Verknüpfungen zu den Einleitungen auch in den Versen 3-6 und 16-19 vergeblich gesucht werden.[3] Alles in allem ist der Versuch, die brwk-Reihe in 28,3-6 und die 'rwr-Reihe in 28,16-19 (mitsamt den

Einleitungen in 28,1f.15) aus dem Grundbestand des Kapitels herauszulösen, nicht überzeugend.[4]

Der Nachweis, dass der Kern des Kapitels allein in 28,1-44 zu suchen ist, wohingegen in 28,45-57 und 28,58-68(69) ausweislich der wiederholten Ein- bzw. Überleitungen sowie inhaltlicher Perspektivenwechsel spätere Teilsammlungen anschließen, ermöglicht es, die folgende literarkritische Überprüfung auf die Verse 1-44 zu beschränken.


[HR=3][/HR]
[1] S. o. S. 173-176.
[2] Steymans, Deuteronomium 28, 232.


[3] Die recht verschieden gebrauchten Formen von bW in V. 2a und V. 6a vermögen die Annahme einer
Anknüpfung wohl kaum zu tragen (so aber Steymans, Deuteronomium 28, 229f mit Anm. 6).​

[4] Vgl. auch Veijola, Deuteronomiumsforschung, 291: „Das Nebeneinander von Segen und Fluch ist so konstitutiv für die Alternativpredigt des Dtn (Dtn 6,14f.17f; 7,12ff; 8,19f; 11,13-15.16f.26-28; 30,19), dass man sie in dem Grand finale des Themas unmöglich voneinander trennen und unterschiedlichen Redaktionen zuordnen kann." - Der Deuteronomiumskommentar von Nielsen ist im Hinblick auf die Frage nach der Ursprünglichkeit des Segens schwer zu fassen. Auf der einen Seite versucht Nielsen zu begründen, dass, wolle man das Urdeuteronomium wieder entdecken, „von 27,9-10* direkt zu 28,15" weiterzugehen sei, wofür er auch Argumente nennt (Nielsen, Deuteronomium, 255). Auf der anderen Seite führt in seiner Übersetzung die das Urdeuteronomium bildende Schicht jedoch erst von V. 1* über V. 8 zu V. 15ff (vgl. a.a.O., 249), womit die Alternative von Segen und Fluch wieder gegeben wäre.