2.5 Ertrag
Der Vergleich der aramäischen Inschriften von Sfire mit den überlieferten hethi- tischen und assyrischen Verträgen macht deutlich, dass eine einseitige Vereinnahmung der aramäischen Vertragstexte für die assyrische Tradition nicht haltbar ist. Der prägende Einfluss Assurs ist zwar unschwer am Vertragsformular und in der mit dem assyrischen Reichsgott eröffneten Götterliste feststellbar. Daneben bestehen jedoch auch enge Beziehungen zur hethitischen Vertragsrechtstradition, die gerade dann besondere Beachtung verdienen, wenn es sich um Elemente handelt, die in neuassyrischen Verträgen nicht zu belegen sind. Zu nennen sind hier etwa die Segensformel in Sf I C, die Naturgottheiten am Ende der Götterliste, die Sicherheitsgarantie in Sf I B: 24f sowie die formalen Eigenschaften der Stipulationen. Schwieriger stellt sich die traditionsgeschichtliche Verortung der beiden Fluchgattungen dar, von denen mindestens eine auch in neuassyrischen Verträgen vertreten ist. Im Blick auf die hethitischen Kulturelemente ist es aber die Kumulation der Beobachtungen, durch die das Postulat einer von Hatti ausgehenden traditionsgeschichtlichen Verbindungslinie an Evidenz gewinnt.
Schließlich werden auch genuin aramäische Traditionen greifbar. Der aramäischen Tradition dürfte zunächst die Rezeption des hethitischen Notzeit- Mythologems in Nichtigkeitsflüchen zu verdanken sein. Hierhin gehört sodann die Verwendung des paronomastischen Infinitivs in den Vertragsbestimmungen. Dass das Verhältnis zwischen Assyrien und den Aramäern keine Einbahnstraße war, zeigt eindeutig die Entlehnung des aramäischen terminus technicus für „Vertrag" 'dy ins Akkadische.[1] Für die Fluchgattungen des Nichtigkeits- und des Vergleichsfluchs sowie für die Vorstellung vom „bösen Wort" ist eine vergleichbare Vermittlung immerhin gut begründet zu vermuten. Fasst man die Einzelbeobachtungen zusammen, so gibt sich das Vertragswerk von Sfire als ein
Amalgam aus genuin aramäischen sowie späthethitischen und neuassyrischen Traditionen zu erkennen.[2]
3. Der Sukzessionsvertrag Asarhaddons (EST)[3]
Problemstellung
Während die aramäischen Sfire-Inschriften in der Diskussion um die Herkunft der Vertragsrechtstraditionen im Deuteronomium bislang eher eine Nebenrolle
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[1] S. dazu u. S. 97-102.
[2] Damit bestätigt sich, was Morrow, Sefire Treaty, 97, im Anschluss an seine Analyse der Stipulationen als Ergebnis festhält: „The Sefire inscriptions represent an amalgam of different traditions."
[3] Die im Folgenden dargebotenen Umschriften des EST sind der Edition von Watanabe (ade - Vereidigung, 144-174) entnommen.
spielten, war es in erster Linie Asarhaddons Sukzessionsvertrag aus dem Jahre 672 (EST), der die vergleichende Forschung beherrschte. Der EST besitzt in der Tat eine Reihe von Vorzügen, die ihn für den Rechtsvergleich mit dem Deuteronomium als überaus geeignet erscheinen lassen. Erstens handelt es sich um einen Text derjenigen Administration, die im 7. Jh. über die levantinischen Kleinstaaten - unter ihnen das Königreich Juda - die Oberherrschaft ausübte. Einen weiteren Vorzug stellt die zeitliche Nähe zur mutmaßlichen Entstehungszeit des ältesten Deuteronomiums im ausgehenden 7. Jh. dar. Drittens verpflichtet der EST iranische Herrscher, die - wie die zeitgenössischen judäischen Könige - Vasallen des assyrischen Großkönigs waren. Der entscheidende Vorzug des EST ist aber sein ausgezeichneter Erhaltungszustand. Doch gerade dieser Aspekt birgt bei der Verwendung des EST als Vergleichstext die große Gefahr, diesen einen Text unter Absehung der insgesamt schlechten Quellensituation in seiner Aussagekraft zu überschätzen. Man muss sich klarmachen, dass die überlieferten EST-Tafeln die einzigen kompletten und im Original erhaltenen neuassyrischen Vertragstexte darstellen, wobei an die von Parpola genannte Zahl von mindestens 160 Vertragsabschlüssen in neuassyrischer Zeit erinnert sei. Angesichts dieser Diskrepanz stellt sich die Frage nach der Stellung des EST innerhalb der neuassyrischen Vertragsrechtstradition. Steht der EST, zumindest in den zentralen Formelementen, repräsentativ für andere neuassyrische Vasallenverträge und Treueide, oder ist er ein Vertragswerk sui generis, das aus der übrigen altorientalischen bzw. assyrischen Rechtsüberlieferung hervorsticht? Je nachdem, wie diese Frage entschieden wird, ergeben sich gewichtige Konsequenzen für oder gegen die These eines literarischen Einflusses dieses speziellen Textes auf das Deuteronomium, wie sie gegenwärtig die Forschungslandschaft dominiert. Um die Frage beantworten zu können, soll im Folgenden nach einer knappen
zeithistorischen Verortung des EST (II 3.2) seiner literarischen und historischen Bedeutung im Rahmen der neuassyrischen Vereidigungspraxis nachgegangen werden (II 3.3). Sodann sollen einzelne grammatische und inhaltliche Aspekte und Probleme der Stipulationen und Flüche angesprochen werden (II 3.4), um abschließend nach westlichen Einflüssen im neuassyrischen Vertragsrecht zu fragen (II 3.5).
Der zeithistorische Kontext des EST[1]
Im Jahr 672[2] verfügte der assyrische König Asarhaddon, dass sein Sohn Assurbanipal nach seinem Tod König von Assyrien und dessen älterer Bruder Samas-sumu-ukin König von Babylonien werden sollte.[3] Aus diesem Anlass fand im selben Jahr eine groß angelegte Vereidigung sowohl der Assyrer als auch der assyrischen Vasallen statt. In einem vergleichbaren Vorgang war einige Jahre zuvor Asarhaddon selbst seinem älteren Bruder Urdu-Mullissu vorgezogen worden, woraufhin es zu heftigen Machtkämpfen zwischen den Söhnen Sanheribs gekommen war, die dieser schließlich mit dem Leben bezahlen musste.[4] Die Erfahrung, dass die Vereidigung, die Sanherib anlässlich der Kronprinzenwahl veranlasst hatte, in dieser brenzligen Situation das Königtum Asarhaddons zu bewahren half, mag sein eigenes Vorgehen mitbestimmt haben.[5] Die Vereidigung des Jahres 672 ist im Inschriftenwerk und in der königlichen Korrespondenz gut dokumentiert. Darüber hinaus sind Fragmente von mindestens neun Exemplaren[6] der Vereidigungstafeln mit „Stadtherren" (sum. LUEN.URU, akk. bei äli) aus dem Zagrosgebiet erhalten, die 1955 im „Thronraum" des Nabu-Heiligtums von Nimrud, dem assyrischen Kal'u, entdeckt worden sind.[7] Diese Tafeln weichen in dreifacher Hinsicht von den übrigen überlieferten neuassyrischen Vereidigungstafeln ab: 1. sind sie (mit Gottessiegeln) gesiegelt; 2. haben sie im Vergleich zu den anderen Tafeln eine
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[1] Vgl. dazu ausführlich Watanabe, ade -Vereidigung, 2-5, sowie Cancik-Kirschbaum, Assyrer, 86-88.
[2] Watanabe, ade -Vereidigung, 3, vermutet, dass der Tod der Gattin Asarhaddons „den unmittelbaren Anlass" für die Thronfolgeregelung bot.
[3] Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass die Primogenitur auch in Assyrien die übliche Praxis dargestellt haben dürfte, dass aber im Gegensatz zum Hethiterreich keine (rechtsverbindliche) Thronfolgeregel bezeugt ist, vgl. Ben-Barak, Succesion, 96, sowie Cancik-Kirschbaum, Assyrer, 81f. Im Telipinu-Edikt lautet die Regel: „Let the first-born son of the king be king. If there is no first-born son, let a son of the second place become king. If, however, there is no king's son, let them take a husband for the first-born daughter and let him become king." (zitiert nach Ben-Barak, Succesion, 96)
[4] Vgl. dazu Cancik-Kirschbaum, Assyrer, 81-83.
[5] Vgl. Radner, Vorbild, 366.
[6] Vgl. zu dieser Zahl Farber, Rezension, 163.
[7] Vgl. dazu Oates/Oates, Nimrud, 203-207.
beachtliche Größe (das besterhaltene Exemplar misst etwa 30 x 45 cm);[1] 3. sind sie gegen die Gepflogenheiten so beschrieben, dass man, wenn sie aufgestellt sind, beide Tafelseiten lesen kann. Die genannten Unterschiede zu den anderen Vereidigungstafeln dürften allerdings dem Umstand geschuldet sein, dass die überlieferten EST-Tafeln die einzigen Originaltafeln eines Vertrags, alle anderen Tafeln aber lediglich ungesiegelte Archivabschriften bzw. -vorlagen dar- stellen.[2] Warum ausgerechnet die Tafeln mit den medischen Vasallen auf uns gekommen sind, ist umstritten. Vielleicht sind sie der babylonisch-medischen Koalition zum Opfer gefallen, die im Jahr 612 Kal'u zerstörte.[3] Ein weiteres Fragment einer Tafel der Vereidigung von 672 ist in der Stadt Assur gefunden worden.[4] Das Großereignis ist aber auch in verschiedenen Königsinschriften bezeugt. Nach dem Rassam-Zylinder versammelte Asarhaddon „die Leute von Assyrien, klein und groß, vom Oberen und vom Unteren Meere" und ließ sie zum Schutz von Assurbanipals Königtum „einen Vertrag bei [...] den großen Göttern beschwören und machte die Bindungen stark".[5] Aus der so genannten „Treaty Inscription" geht hervor, dass neben den assyrischen Untertanen auch die Vasallenländer („all the lands")[6] den Eid auf die beiden Thronfolger abzulegen hatten. Der Vereidigung der medischen Vasallen, die möglicherweise mehrere Tage in Anspruch genommen hat,[7] ging nach Auskunft der königlichen Korrespondenz anscheinend die Vereidigung der assyrischen Staatsbeamten um einige Wochen voraus.[8] Aus den Briefen sowie dem EST ergibt sich ferner,
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[1] Vgl. dazu Parpola/Watanabe, Treaties, XLVIII.
[2] Radner, Vorbild, 373f, teilt die überlieferten ade-Tafeln dem Format und Aufbewahrungsort nach in zwei Gruppen: „Gesiegelte, auf ihrer Unterseite aufgestellte Exemplare, die zumindest im Fall der Nimruder Tafeln in einem Heiligtum aufbewahrt wurden, und ungesiegelte, um die Breitachse zu drehende Stücke, die wohl zu Referenzzwecken in den staatlichen Archiven gelagert waren." Dass in diesem Zusammenhang auch mit Exzerpten zu rechnen ist, machen die Texte 3 und 12 aus SAA II deutlich. - Es verbietet sich in jedem Fall, dem EST aufgrund der genannten formalen Unterschiede innerhalb der neuassyrischen Vertragsrechtsüberlieferung eine Sonderrolle einzuräumen (so aber wohl Steymans, Bedeutung, 334f).
[3] Vgl. Lanfranchi, Esarhaddon, 109: „That in Kal'u were found only the broken tablets of the ade of the Median ,city lords' may perhaps depend from the fact that the Medians themselves occupied the city after their rebellion." Vgl. auch schon Liverani, Medes, 62. Nach Steymans, Bedeutung, 343, befanden sich die ade-Tafeln der medischen Stadtherren schlicht deshalb in Kal'u, weil die Stadt der Sammelplatz der Tribute der östlichen Vasallen war.
[4] Dabei handelt es sich nicht zwingend um ein exaktes Duplikat der Vereidigungstafeln aus Kal'u. Der EST § 21 entsprechende Abschnitt, der Assurbanipal beim Namen nennt, erweist das Fragment zwar als der Thronfolgevereidigung von 672 zugehörig, doch der Paragraph enthält allgemeine Forderungen, wie sie in den ersten Paragraphen des EST schon einmal vorkamen (vgl. etwa § 4) und wie sie vermutlich auch in der zu postulierenden ade-Version für die assyrischen Untertanen zu erwarten wären.
[5] Borger, Beiträge, 208.
[6] SAA II 14: i 7f: „At that time, when that treaty was imp[osed] and it was said: ,The king my lord has imposed an oath on all [the lands] ."
[7] Vgl. Watanabe, ade-Vereidigung, 3; vgl. dagegen Streck, Flüche, 166, Anm. 3.
[8] Vgl. dazu o. S. 44f.
dass die Vereidigung nachts in Anwesenheit der Götter und der (vergöttlichten) Sterne erfolgte[1] und mit drastischen Selbstverfluchungsritualen einherging, die sich in den umfassenden Fluchformeln des EST zum Teil spiegeln.
Urkundenform und Geltungsbereich des EST
In Bezug auf die literarische und historische Bedeutung des EST gehen die Meinungen in der Forschung weit auseinander. Die Vielzahl der Lösungsversuche lässt sich dabei im Wesentlichen auf drei Thesen reduzieren, die zunächst referiert und anschließend kritisch auf ihren Ertrag hin überprüft werden sollen.
(1.) Am Anfang steht die auf den Erstbearbeiter D. J. Wiseman zurückgehende Interpretation des EST als „vassal treaties" (= VTE)[2]. Sie ist in jüngerer Zeit von S. Parpola noch einmal bekräftigt worden.[3] Demnach sei der EST als internationales Abkommen zwischen Herrschern formuliert und zeige dementsprechend eine große Nähe zu den klassischen Vasallenverträgen wie dem Assur-nerän-Vertrag und den Sfire-Inschriften. EST Z. 393f fordere zudem die Akzeptanz der assyrischen Suprematie, wie dies im Zusammenhang mit der Etablierung eines Vasallenverhältnisses zu erwarten sei.[4] Da Parpola für „at least four, and possibly as many as seven" der vereidigten Stadtherren den Nachweis erbringen kann, dass diese in einem Zeitraum von gerade einmal drei Jahren assyrische Vasallen geworden sind, hält er es für denkbar, dass die überlieferten EST-Tafeln „were meant to function as ,vassal-treaties'".[5]
(2.) Gegen die Interpretation des EST als Vasallenvertrag ist Widerspruch eingelegt worden, wobei sich dieser - die rechtlich-politische Funktion und den Geltungsbereich der gefundenen EST-Tafeln betreffend - in zwei diametral entgegengesetzten Thesen niedergeschlagen hat. Gemeinsamer Ausgangspunkt der Thesen ist die von I. J. Gelb eingeforderte Wiedergabe des akkadischen
Ausdrucks ade mit „loyalty oath".[6] K. Watanabe sieht im EST einen Standardtext, der geeignet war, In- und Ausländer gleichermaßen zu vereidigen.[7] Demnach hätten etwa Mitglieder der städtischen Verwaltung einer beliebigen assyrischen Stadt dieselben Stipulationen und Flüche akzeptiert wie die me- dischen Vasallen.[8] Dass ausgerechnet die Vereidigungstafeln der medischen
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[1] Vgl. Streck, Flüche, 166.
[2] Wiseman, Vassal-Treaties, 3.27f. Dem hat sich Frankena, Vassal-Treaties, 134f, angeschlossen.
[3] Vgl. Parpola/Watanabe, Treaties, XXXf.
[4] Gegen diese Deutung der Bestimmung hat sich zu Recht Otto, Deuteronomium, 18, ausgesprochen.
[5] Parpola/Watanabe, Treaties, XXXI.
[6] Vgl. Gelb, Rezension, 161.
[7] Watanabe, ade-Vereidigung, 3 und 178.
[8] Damit scheint auch Otto, Deuteronomium, 19, zu rechnen, wenn er behauptet, nicht nur die Vasallen, sondern auch die Notabeln des assyrischen Reiches hätten bei ihrer Vereidigung den Text gesprochen, „der kein anderer als der der VTE [= EST] ist".
Stadtherren entdeckt worden sind, sei nach Watanabe dem Zufall geschuldet.[1]
(3.) Die dritte These stammt aus der Feder M. Liveranis. Er stellt angesichts der im EST erscheinenden spezifischen Schutzbestimmungen die Frage:[2]
„Did the Medes take the oath in their capacity as vassals, together with all other vassals, or did they swear allegiance in a more specific capacity - namely as an armed guard stationed in the Assyrian palace?"
Entsprechend leicht gelingt ihm eine Erklärung für die Tatsache, dass ausschließlich die an die Meder adressierten ade -Tafeln entdeckt wurden. Der Grund ist: „there were no similar oaths with other ,vassals'." [3]
Alle drei vorgestellten Interpretationen haben auf der einen Seite ein Wahrheitsmoment, bergen jedoch auf der anderen Seite auch ihre Probleme. An Parpolas These, die EST-Exemplare hätten der Etablierung eines Vasallenverhältnisses gedient, ist problematisch, dass die Texte kein Wort über die Ausgestaltung der Beziehungen der beiden beteiligten Staaten verlieren.[4] Wenig überzeugend ist auch die mit der These implizierte Vorstellung, dass ein Vasallenfürst erst drei Jahre, nachdem er das assyrische Joch auf sich genommen hat, offiziell vereidigt wurde. In dieser Hinsicht gab es nach assyrischem Verständnis keinen rechtsfreien Raum: Entweder man war - seit der Vereidigung[5] - Knecht des assyrischen Königs, oder man galt noch als dem Chaos verhafteter Feind.[6] Dass die erstmalige Auferlegung der ade ein Akt war, der „as soon as possible"[7] vonstatten ging, zeigen z.B. assyrische Briefe, aus denen hervorgeht, dass quasi noch auf dem Schlachtfeld die Besiegten in Eid genommen wurden.[8]
Was sodann die These von Watanabe betrifft, beim EST handele es sich um einen allgemeingültigen Standardtextes, so hat G. B. Lanfranchi einleuchtende Textbeobachtungen aufgelistet, die sie als zweifelhaft erscheinen lassen: Erstens setzen EST Z. 288-295 voraus, dass die Vereidigten Angehörige einer regierenden Dynastie sind, deren Territorium und Untertanen im Fall des Eidbruchs Ziel von Strafmaßnahmen sind. Ein vergleichbarer Abschnitt findet sich auch in dem Vasallenvertrag, den Asarhaddon Baal von Tyrus auferlegt hat (vgl. SAA II 5: IV,14'-15'). Zweitens machen verschiedene Fluchformeln (EST Z. 440-444; 530-533; 567) ebenfalls nur dann Sinn, wenn die Vereidigten über ein eigenes Gebiet verfügten, welches nicht Teil des assyrischen Reiches war, „since this would imply that the Assyrian king would be asking for damages to his own
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[1] Watanabe, ade-Vereidigung, 4.
[2] Liverani, Medes, 59.
[3] A.a.O., 62.
[4] Vgl. a.a.O., 58; Lanfranchi, Esarhaddon, 103.
[5] Vgl. Radner, Vorbild, 353 u. 356.
[6] Auch bei den Hethitern war man entweder Vasall oder Feind, vgl. Beckman, Law, 768f.
[7] Lanfranchi, Esarhaddon, 104.
[8] Vgl. a.a.O., 104f.
territory".[1] Dazu stimmt drittens, dass gelegentlich von „Städten" oder „Distrikten" der Vereidigten die Rede ist (vgl. EST Z. 40B; 599f; 546f). Und viertens wird an einer Stelle damit gedroht, dass der Thron der Vereidigten gestürzt werde (EST Z. 659). Aus den Einzelbeobachtungen zieht Lanfranchi zu Recht die folgende Konsequenz:[2]
„These examples clearly show that the text of the ade which were adjured by the Zagric ,city lords' cannot be considered, in its entirety, as a standard formulary to be used indifferently for all the imperial officials asked to swear the oath. Instead, it must be considered a particular text, which was specifically prepared for independent dynasts, either as a totally original creation, or as the fusion of a hypothetical standard text, designed to be valid for all officials, with specific clauses formulated for independent dynasts."
In dieses Bild fügen sich gut die Referenzen auf die Vereidigung von 672 in der königlichen Korrespondenz, die von den erhaltenen EST-Tafeln abweichende Vereidigungstexte für die assyrische Beamtenschaft vorauszusetzen scheinen.[3]
Die Kritik gegenüber Liverani und seiner Idee von der medischen Leibwache am assyrischen Hof ist auffallend deutlich artikuliert worden, vielleicht deshalb, weil sie der alttestamentlichen Wissenschaft einen der wichtigsten Referenztexte zu entziehen drohte. Die Kritik ist allerdings nicht immer gerechtfertigt. Das betrifft etwa den Hauptvorwurf, der dahin geht, dass es der Text des EST als abwegig erscheinen lasse, in seinen Adressaten Leibgardisten und nicht Herrscherpersönlichkeiten von teilautonomen Territorien zu sehen, deren Nachkommenschaft in den Eid mit einbezogen wird (vgl. EST § 25).[4] Diese schon an der Präambel des EST abzulesende Erkenntnis ist jedoch auch Liverani nicht entgangen. Auch nach ihm sind die Leibgardisten keineswegs die direkten Adressaten des EST. Vielmehr leisten die Stadtherren stellvertretend den Eid „concerning the loyalty of their men, while personally remaining in their 'distant' lands".[5] Das Problematische an Liveranis These ist hingegen, dass die EST-Tafeln mit medischen Stadtherren seiner Meinung nach die einzigen Exemplare darstellen sollen, die je existiert haben. Dagegen spricht erstens die Schilderung der Vereidigung von 672 im Inschriftenwerk, etwa auf dem „Rassam-Zylinder", die einen nahezu globalen Akt voraussetzt;[6] zweitens die Anspielungen und Paraphrasen in den Gebrauchstexten wie etwa der königlichen Korrespondenz; und drittens das Fragment VAT 11534 aus Assur, das mit EST § 21 identisch ist,[7] wobei offen bleibt, ob das Fragment den Teil eines Treueids oder eines Vasallenvertrags darstellt, ob es also an In- oder Ausländer gerichtet war. In Bezug auf Liveranis Grundthese, nach der Untertanen der medischen Stadtherren
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[1] A.a.O., 102.
[2] Ebd.
[3] Vgl. dazu o. S. 46-49.
[4] Vgl. Steymans, Beobachtungen, 11-13, besonders 58-60; Rüterswörden, Dtn 13, 186; Parpola, Law, 1055, Anm. 35.
[5] Liverani, Medes, 61.
[6] S. o. S. 80.
[7] Vgl. dazu auch Steymans, Beobachtungen, 11; Rüterswörden, Dtn 13, 186f.
spezielle Aufgaben im assyrischen Reich wahrgenommen haben sollen, was sich ja zweifelsohne auch in einzelnen Stipulationen des EST spiegelt,[1] plädiert Lanfranchi für zwei relativierende Präzisierungen der These, die das insgesamt zutreffend vorgestellte Szenario einer militärischen Unterstützung der assyrischen Armee durch Untertanen der Vasallen ins rechte Licht rücken. Erstens ist die Annahme, die im EST vorausgesetzte Nähe der Vereidigten (besser: ihrer Untertanen) zum Kronprinzen mache ihre Identifikation mit der Leibgarde des Kronprinzen wahrscheinlich, nicht die einzige Lösungsmöglichkeit. Die Voraussetzung wäre etwa auch erfüllt, wenn medische Soldaten schlicht in der vom Kronprinzen geführten Armeesektion (kisir sarrüti) gedient hätten.[2] Die zweite Relativierung besagt, dass in beiden Fällen - gleich, ob in der Leibgarde oder der Armeesektion des Kronprinzen - kaum ausschließlich Meder gedient haben werden.[3]
„If Median soldiers were in the Assyrian army, or Median bodyguards were at the Assyrian court, they were mingled with other national groups, and in any case they were surrounded by a large number of Assyrian soldiers. Consequently, it cannot be excluded that other rulers, be they kings, ,city lords', sheiks, or anything else, were requested to swear the ade in the name of their subjects who were serving at the Assyrian court."
Abschließend soll noch kritisch auf Versuche eingegangen werden, dem EST im Kontext der assyrischen Vertragsrechtsüberlieferung aufgrund seiner Verwendung im Rahmen der Thronfolgeregelung eine (auch gattungsmäßige) Sonderrolle zuzuschreiben. Nach H. Tadmor ist der EST das Ergebnis eines in zwei Stufen abgelaufenen Vorgangs. In einem ersten Schritt habe die assyrische Administration im 8. Jh. neben dem aramäischen Lehnwort im Akkadischen ade[4] auch den Vasalleneid („loyalty oath") als Vertragsform „by way of the Aramaic intermediaries"[5] rezipiert, der ausweislich der hethitischen und ak- kadischen Verträge des 2. Jahrtausends „a well established Western institution" darstelle.[6] Der Vasalleneid sei in der Folge derart modifiziert worden, dass mit ihm neben abhängigen Herrschern auch die eigenen Untertanen vereidigt werden konnten - ein Vorgang, der nach Tadmor in direktem Zusammenhang mit der nicht regulären Thronfolge von Sanherib (705-681) auf Asarhaddon (681-669) zu
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[1] Vgl. Liverani, Medes, 59f.
[2] Vgl. Lanfranchi, Esarhaddon, 107.
[3] A.a.O., 108. - Steymans, Bedeutung, 344-349, hat sich, die Sicht Lanfranchis fortschreibend, dafür ausgesprochen, dass auch Manasse von Juda die ade von 672 beeiden musste, da er - wie die iranischen Stadtherren - als tributpflichtiger Vasall Arbeitskräfte und vielleicht auch Soldaten bereitzustellen hatte, wobei seine ade-Tafel nicht in Kal'u, sondern in Ninive, dem Ort der Tributablieferung der westlichen Vasallen, zu suchen wäre. Ob eine solche ade-Tafel allerdings eine identische Gestalt wie die erhaltenen EST-Tafeln aufweisen würde, ist eine Frage, die sich angesichts der Annahme, dass es nicht den einen Standardtext gegeben hat, aufdrängt, die aber letztlich nicht zu beantworten ist.
[4] S. dazu u. S. 97-102.
[5] Tadmor, Treaty, 145.
[6] Vgl. Tadmor, Aramaization, 457.
sehen sei.[1] Für die vorliegenden EST-Tafeln ergibt sich daher, dass diese „were born of necessity, resulting from an extraordinary situation - an exception rather than the rule".[2] Tadmors These, mit dem Begriff ade sei auch das Vertragskonzept rezipiert worden, kann inzwischen als widerlegt gelten, da in dieser Hinsicht schon eine ältere mesopotamische Tradition vorhanden war.[3] Seine zweite Annahme, dass sich die Ausweitung der Vereidigung auf die eigenen Untertanen der spezifischen historischen Situation der nicht regulären Thronfolge verdanke, ist jüngst von E. Otto neu begründet worden. Dabei übergeht Otto den inzwischen obsolet gewordenen ersten Schritt der Tadmor- These und rechnet mit einer direkten Rezeption der Treueidgattung,[4] die überdies die Entlehnung des Terminus ade plausibler erkläre.[5] Im Gefolge von F. Starke, dessen gattungsgeschichtliche These in dieser Arbeit schon referiert und in Zweifel gezogen worden ist, postuliert auch Otto einen festen Zusammenhang zwischen der Urkundenform „Treueid" und einem bestimmten „Sitz im Leben", eben dem Fall der nicht regulären Thronfolge.[6] „[D]ie Loyalitätseide der neuassyrischen Zeit knüpfen an eine bereits junghethitisch im 13. Jh. belegte Gattung der Treueide bei irregulärer Thronfolge an."[7] Aus der Sondergattung „Nachfolgeeide"[8], die eben fest in den historischen Zusammenhang einer nicht regulären Thronfolge gehört, ergibt sich nach Otto ferner der für eine mögliche Abhängigkeit des Deuteronomiums vom EST wichtige terminus ad quem,
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[1] Vgl. Tadmor, Treaty, 146, der darin „a significant transformation in the use oft the ade in Assyria proper" sieht: „the loyalty oath was applied not only to foreign but also to internal relations: it came to express the loyal relationship between the emperor and his subjects in cases of irregular succession." Schon Tadmor hat in diesem Zusammenhang auf hethitische Treueide aufmerksam gemacht, vgl. ders., Aramaization, 458.
[2] Tadmor, Treaty, 148.
[3] Vgl. Radner, Vorbild, 353-356. Vgl. schon Parpola, Treaties, 181, der auf die Verträge aus Ebla und Emar aufmerksam macht.
[4] Vgl. Otto, Deuteronomium, 31: „Es wird also aus dem Westen nicht das Konzept der Vasallenverträge übernommen [...], sondern die Treueidgattung."
[5] Vgl. Otto, Deuteronomium, 31, Anm. 96, der gegen Parpola (s. u. S. 101, Anm. 454) einwendet: „Die Verwendung des Terminus ade in (nicht erhaltenen) aramäisch abgefassten Verträgen der Assyrer erklärt keineswegs, warum die Terminologie der Vasallen in einer so zentralen politischen Angelegenheit der imperialen Herren, die in der Sache ihr Strukurmodell durchgesetzt haben, im Akkadischen verdrängt haben soll. Plausibler ist es, dass mit dem Begriff auch eine Sache übernommen wurde, nur nicht der Vasallenvertrag, sondern der Loyalitätseid." - Doch bliebe auch dann unerklärt, warum der Terminus für „Treueid" die bestehenden akkadischen Termini für „Vertrag" verdrängt, zumal der Begriff zuerst im Zusammenhang mit Vasallenverträgen (SAA II 2; Sfire-Inschriften) erscheint.
[6] Diese Schlussfolgerung in Bezug auf die neuassyrischen Vereidigungstafeln hatte schon Starke, Charakterisierung, 81, gezogen: „Für die in Frage stehenden neuassyr. ade-Urkunden wird man dementsprechend die Folgerung ziehen, dass alle diejenigen als Treueide in Betracht kommen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der irregulären Thronfolge Asarhaddons und Assurbanipals stehen."
[7] Otto, Deuteronomium, 21.
[8] So a.a.O., 27.
insofern nämlich die im 13. Jh. entstandene Gattung mit dem Ende des Assyrerreiches im Jahre 612 auch schon wieder ihr Ende gefunden habe.[1]
Doch für Ottos neuassyrische Nachfolgeeide gelten im Prinzip die gleichen Einwände wie schon für die vermeintlichen hethitischen Vorbilder. Ein Blick auf die innerstaatliche Vereidigungspraxis in Mesopotamien macht deutlich, dass die Treueidgattung zeitlich vor und sachlich unabhängig vom Fall der nicht regulären Thronfolge existierte.[2] Auch wenn die entsprechenden Vereidigungstafeln nicht überliefert sind, sollte der EST nicht vorschnell aufgrund von argumenta e silentio als eigene Sondergattung abgegrenzt werden. Skepsis meldet in dieser Hinsicht schon die Beobachtung an, dass die von Starke und Otto verglichenen Paragraphen der vermeintlichen junghethitischen und neuassyrischen Sondergattung Standardbestimmungen aller Verträge und Treueide spiegeln und die von Otto als potentielles Bindeglied angeführten
Vergleichsflüche,[3] die vor allem in hethitischen Treueiden vorkommen, eben auch in einem assyrischen Vasallenvertrag belegt sind (vgl. SAA II 2). Im Hinblick auf den Vergleich zwischen dem EST und dem Deuteronomium ist überdies zu fragen, ob sich aus der Sondergattung „Nachfolgeeid" irgendwelche Konsequenzen bei der Ausgestaltung der für den Vergleich in Betracht kommenden Textinhalte (der Loyalitätsbestimmungen oder der Flüche) ergeben - eine Frage, die angesichts der Tatsache, dass dem EST kein in seinem Erhaltungszustand ebenbürtiger assyrischer Vertragstext an die Seite gestellt werden kann, nicht mit Sicherheit zu beantworten ist. Das wenige Erhaltene scheint aber eher für die Annahme zu sprechen, dass sich der EST formal und phraseologisch gut in die übrige assyrische Vertragsrechtsüberlieferung einfügt.
Den Ertrag der verschiedenen referierten Thesen verbindend, sei zusammenfassend festgehalten: Mit Parpola ist der völkerrechtlich-zwischenstaatliche Charakter des EST zu betonen, der aus der Präambel, der Götterliste sowie zahlreichen Stipulationen und Flüchen eindeutig hervorgeht.[4] Der Urkundenform nach ist folglich von einem „Vertrag" zu sprechen. Bei den Adressaten handelt es sich um östliche Vasallen, die stellvertretend für ihre Untertanen vereidigt wurden, wobei diese möglicherweise in einem Arbeitskommando (pirru) oder der assyrischen Armee ('urädu ),[5] vielleicht sogar in der Nähe des Kronprinzen, dienten. Bietet sich aufgrund des Rechtsbereichs sowie der Adressaten die Urkundenform „Vasallenvertrag" an, so ist gegen Parpola festzustellen, dass der EST sehr wahrscheinlich nicht die Etablierung eines Vasallenverhältnisses in die Wege leitete. Sieht man einmal von den für Vasallenverträge und Treueide
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[1] Vgl. dazu a.a.O., 32.
[2] S. dazu o. S. 40 u. 49. In Assyrien gibt es erste Hinweise auf Treueide schon im 9. Jh., in Babylonien im 8. Jh.
[3] Vgl. Otto, Deuteronomium, 28f.
[4] Vgl. auch Lanfranchi, Esarhaddon, 102, sowie Steymans, Vertragsrhetorik, 95: „[D]ie Normadressaten sind Herrscher mit eigenen Dynastien und deren Untertanen, nicht Funktionäre des assyrischen Staates."
[5] Vgl. EST § 16 und dazu Liverani, Medes, 59, und Steymans, Bedeutung, 342-344.
typischen Standardbestimmungen ab, mit denen die Loyalität zum assyrischen Königshaus garantiert werden soll, dient der EST allein dem Zweck, medische Stadtherren und deren Untertanen auf die beiden Thronfolger des assyrischen Königs zu vereidigen. Will man den Terminus „Vasallenvertrag" vermeiden und dem vorherrschenden Vertragsthema gerecht werden, bietet sich die Bezeichnung „Sukzessionsvertrag" an.[1]
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[1] Die Bezeichnung „Sukzessionsvertrag" („succession treaty") erscheint erstmals bei Parpola/ Watanabe, Treaties (= SAA II 6); sie wird aufgenommen von Krebernik, Deuteronomiumskommentar, 28, Anm. 3, und Streck, Flüche, 165.
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