2.3 Ein judäischer Treueid als Vorbild für Dtn 13* und 28*?
Die Beobachtung, dass sich die in Dtn 13* und 28* identifizierten Parallelen zum altorientalischen Vertragsrecht nicht allein einer Tradition - geschweige denn einem bestimmten Vertragstext - zuschlagen lassen, legt einen längeren Rezeptions- bzw. Adaptionsprozess nahe, in dem die ehedem fremden Traditionen der eigenen angepasst, als Eigen angenommen wurden und - verzögert und in modifizierter Gestalt - in die dtr Bundestheologie Eingang fanden. Damit gerät eine Lösungsmöglichkeit in den Blick, die in der Forschung selten vertreten wird,[1] die aber - wie sich zeigen wird - literatursoziologisch am plausibelsten ist und zudem den Vorteil hat, sowohl die traditionsgeschichtliche Mischgestalt als auch die „verspätete" Rezeption in den dtr Kapiteln Dtn 13* und 28* am besten zu erklären. Ausgangspunkt ist die begründete Annahme, dass das Königreich Juda bereits lange Zeit vor der Adaption der Vertragsmetapher im Deuteronomismus an der im Alten Orient üblichen Praxis partizipiert hat, nationale und internationale Beziehungen mit Hilfe von internen und externen Verträgen auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Wenn aber judä- ische Treueide bzw. Vasallenverträge vorhanden waren, ist die in der Forschung vorherrschende Annahme wenig wahrscheinlich, dass diese keinen Einfluss auf die Ausbildung der offenkundig am „politischen" Vertragsrecht orientierten Bundestheologie gehabt hätten.
Wenn ein judäischer Vertragstext die in Dtn 13* und 28* rezipierten vertragsrechtlichen Vorstellungen und Sprachformen bereitgestellt haben sollte, kommt von der Textgattung eher ein Treueid in Frage. Dafür spricht, dass sich Juda zwar gelegentlich und mitunter freiwillig in aramäische Abhängigkeit begeben hat und seit ca. 730 Vasall des assyrischen Großkönigs war, dass es aber keinerlei Belege für den umgekehrten Fall gibt, dass das kleine Königreich andere Staaten in ein Vasallenverhältnis gezwungen hätte (und sei es mit assyrischer Unterstützung wie im Fall des Bar-ga'yah von Ktk in den Sfire-Inschriften). Eher dürften, insbesondere seit sich Juda in der Hiskijazeit zu einer mittleren Macht entwickelte, paritätische Verträge auf judäische Initiative ausgetauscht worden sein, deren Ziel in der Bildung anti-assyrischer Koalitionen lag.[2] Deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass je ein genuin judäisches Vasallenvertragsformular entwickelt worden ist. Eine ganz andere Sachlage ergibt sich jedoch in Bezug auf judäische Treueide, die sicherlich in Analogie zur üblichen altorientalischen Verwaltungspraxis auch im königszeitlichen Juda vorauszusetzen sind. In diese Richtung deuten auch Spuren einer innerstaatlichen Vereidigungspraxis im Alten Testament selbst,[3] die das Fehlen einschlägiger epigraphischer
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[1] Vgl. aber Fohrer, Vertrag, 21; Levin, Verheißung, 125f; Aurelius, Ursprung, 16.
[2] Möglicherweise gehört der Bericht von der babylonischen Gesandtschaft zu Hiskija in das Vorfeld eines solchen Bündnisses (vgl. 2Kön 20).
[3] Vgl. zu den in Frage kommenden biblischen Stellen auch Lemaire, Serments, 140-144.
Zeugnisse[1] wenigstens ein Stück weit ausgleichen können.[2]
Das Alte Testament ist per se nicht an der Überlieferung rein administrativer Vorgänge interessiert, insofern diese keine theologische Relevanz haben. Eine Ausnahme ist 2Kön 11. Das Kapitel beinhaltet eine vor-dtr Erzählung von der Inthronisation des Joasch von Juda.[3] Nachdem die Gewaltherrschaft der Königin Atalja beendet ist, schließt der Priester Jojada zwischen dem König und dem Volk einen Vertrag (bryt). In V 17 lässt sich recht sicher der entscheidende Satz rekonstruieren, der später im Sinn der dtr Bundestheologie bearbeitet worden ist. Der ursprüngliche Text lautete:[4]
wykrt yh'wydr d hbryt byn hmlk wbyn h'm
„Und Jojada schloß den Vertrag zwischen dem König und dem Volk."
Die determinierte Form hbryt „der Vertrag" legt nahe, dass die Vereidigung der Bevölkerung auf den König ein durchaus gebräuchliches Instrument der Loyalitätssicherung im Rahmen der Thronbesteigung war.[5] [6]
Daneben gibt es Erwähnungen von Vereidigungen, die aus einem bestimmten Anlass und auf einen konkreten Inhalt hin vorgenommen worden sind. Jer 34,8-22125 berichtet von einer unter Zidkija von Juda ausgesprochenen und später widerrufenen Sklavenbefreiung während der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier. Für unsere Fragestellung ist von Interesse, dass die Sklavenbefreiung
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[1] Ähnlich ist es mit israelitischen bzw. judäischen Königsinschriften, die nicht überliefert, aber sicherlich vorauszusetzen sind, vgl. Witte, Geschichtswerke, 57, Anm. 15. Die Existenz von Monumentalinschriften im antiken Israel und Juda ist durch die Siloah-Inschrift (Renz/Röllig, Handbuch I, 178-189) sowie Stelenfragmente aus Samaria (a.a.O., 135) und Jerusalem (a.a.O., 189-191) gesichert.
[2] Ein weiteres markantes Beispiel für solch eine indirekte Bezeugung ist die babylonische Prophetie. Diese ist in altbabylonischen Quellen nicht belegt, aber man erfährt in den Mari-Texten von ihrer Existenz (vgl. Charpin, Archives, 177-179 [Brief 371]; vgl. a.a.O., 179: „Aucun texte de Babylonie ne documente l'existence d'un apilum de Marduk, ni d'aucun autre dieu. On pourrait donc penser que Yarim-Addu utilise ici un vocable propre a Mari et a l'ouest pour designer une sorte de pretre qui portait un autre nom en Babylonie. On se rappellera cependant la lettre de la deesse Istar-Kititum adressee au roi d'Esnunna Ibäl-pi-El II [publiee par M. Ellis dansM.A.R.I. 5], qui montre que les ,propheties' existaient egalement dans les royaumes amo- rites de l'est."). Wenn babylonische Prophetie aber sogar in der mesopotamischen Peripherie bekannt war, hat es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine babylonische Prophetie mit einschlägigen schriftlichen Äußerungen gegeben; dass diese nicht in überlieferten Quellen bezeugt ist, darf nicht zu dem Schluss führen, es habe sie niemals gegeben. Wenn nun babylonische und judäische Treueide nicht überliefert sind, aber ihre Existenz im Alten Testament verbürgt ist, bedeutet das für die Frage nach den Wurzeln der Bundestheologie, dass man nicht so tun darf, als habe es babylonische und judäische Vertragstexte nicht gegeben.
[3] Vgl. Würthwein, Könige 2, 344-352.
[4] Rekonstruktion nach Würthwein, a.a.O., 345 und 350.
[5] Levin, Atalja, 93, schließt, dass es sich hierbei „um einen förmlichen Bestandteil der Königserhebung gehandelt hat".
[6] Vgl. auch Neh 5,12f: Nehemia vereidigt die Vermögenden, indem er eine Zeichenhandlung vollzieht, die den bedingten Fluch als demonstratio ad oculos darstellt. Der qhl antwortet mit „Amen" (mn) (vgl. Brown, Israel, 272f).
offensichtlich auf der Grundlage einer eidlichen Abmachung zwischen König und Volk vollzogen wurde. Der ursprüngliche Text ist nachträglich mit Bestimmungen aus Dtn 15 verbunden worden.[1] Der in den Versen 8b-9a*.10-13a.18* und eventuell 21* zu suchende Grundbestand[2] berichtet, dass Zidkija von Juda das ganze Volk in Jerusalem unter Eid auf eine Sklavenbefreiung in Jerusalem verpflichtete (krt [...] bryt ' kl h'm 'sr byrwslm Iqrw Ihm drwr, V. 8). Beamte und Volk, die dem Bund beigetreten waren ('sr b'w bbryt, V. 10]), verwirklichten zunächst die Freilassung, machten sie aber später - vermutlich während der Belagerungspause von 588 (vgl. V. 21*)[3] - wieder rückgängig. Das auf den Eidbruch reagierende Prophetenwort in V 18 gewährt einen schönen Einblick in das Selbstverfluchungssritual, dem sich die Vereidigten zu unterziehen hatten, das eine große Nähe zu entsprechenden hethitischen und aramäischen Zeremonien aufweist:
„Ich mache die Männer, die meinen Bund (bryty) übertreten und die Worte des Bundes (dbry hbryt), den sie vor mir geschnitten hatten ('sr krtw Ipny), nicht gehalten haben, dem Kalb gleich, das sie in zwei Hälften zerschnitten haben ('sr krtw Isnym) und zwischen dessen Stücken sie hindurchgegangen sind."[4]
Wenn in Jer 34,8-22* der politische Akt einer Sklavenfreilassung mit einer Vereidigung der Jerusalemer Bürgerschaft einhergeht, so macht dies deutlich, dass der judäische König noch stärker als die Monarchen der zeitgenössischen Großreiche andere politische Kräfte im Staat einzubinden hatte.[5] Diese Beobachtung spricht für einen vermehrten Einsatz eidlich abgesicherter Abkommen zwischen König und Volk bzw. der staatlichen Elite im judäischen Staat.[6]
Aufgrund der in Kap. II der Arbeit referierten innerstaatlichen Vereidigungspraxis in anderen altorientalischen Gesellschaften und der hier zusammengestellten Belege aus dem Alten Testament kann gefolgert werden, dass es in Juda Vereidigungen auf den König gab, sei es bei Regierungsantritt (2Kön 11*), sei es im Zusammenhang mit konkreten (sozial-) politischen Aktionen des judäischen Königs (Jer 34*).[7] Obgleich somit das Alte Testament die Existenz judäischer
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[1] Vgl. zum Verhältnis von Jer 34,8-22 und Dtn 15 Kessler, Staat, 217, Anm. 20.
[2] Die Rekonstruktion folgt Wanke, Jeremia 2, 321.
[3] Vgl. dazu Hardmeier, Prophetie, 271-273.
[4] Vgl. zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund auch oben S. 67-69.
[5] Vgl. auch Otto, Restitution, 156 mit Anm. 174.
[6] Auch der im Vergleich zu Dtn 13* und 28* jüngere bundestheologische Text Dtn 29,9ff orientiert sich bei der Darstellung der Bundesschlusszeremonie eher an der innenpolitischen Institution der Bevölkerungseide als an einer Vasallenvereidigung, bei der der abhängige Herrscher das Selbstverfluchungsritual stellvertretend für seine Untertanen vollzieht. Die Terminologie mit (br (29,11) zeigt überdies eine gewisse Nähe zu dem Vereidigungsritual in Jer 34*.
[7] Für die Annahme, dass der judäische König wenigstens von seinen Beamten einen Treueid einforderte, spricht darüber hinaus die typologische Klassifizierung des judäischen Beamtentums als „patrimonial", womit es - im Gegensatz zum modernen Beamtentum - „auf der persönlichen Bindung an den Herrscher" beruht (so in Anlehnung an die Webersche Typologie Rüterswörden, Beamte, 252), die ohne Zweifel per Treueid garantiert war. Dagegen spricht nicht, dass die judäischen Könige seit ca. 730 selbst eidpflichtige „Knechte" der mesopotamischen Großkönige waren, denn die Vereidigung von direkten Untertanen war eine rein innenpolitische Angelegenheit, an der auch der Vasallenstatus nichts änderte; eingeschränkt war lediglich die Außenpolitik der Vasallenkönige.
Treueide bestätigt und sogar einen mit der Vereidigung einhergehenden Selbstverfluchungsritus überliefert, bleibt die Frage nach der konkreten traditionsgeschichtlichen Gestalt solcher Dokumente doch vorerst auf Analogien angewiesen. Sollten der dtr Bundestheologie judäische Treueide Pate gestanden haben, ergeben sich die traditionsgeschichtlichen Merkmale in erster Linie aus Dtn 13* und 28* selbst. Um an dieser Stelle einem Zirkelschluss zu entgehen, ist den alttestamentlichen Texten freilich eine external evidence an die Seite zu stellen, die den alttestamentlichen Befund bestätigt. Die umfangreichen und recht gut erhaltenen aramäischen Vertragstexte von Sfire, deren traditionsgeschichtlichen Wurzeln in dieser Arbeit bereits nachgegangen worden ist, scheinen mir in dieser Hinsicht die geeigneten Referenztexte zu sein. Sie führen vor Augen, welche Gestalt ein Vasallenvertrag im 8. Jh. in einem levantinischen Klientelkönigreich hatte, das auf der einen Seite vom assyrischen Großreich abhängig und auf der anderen Seite im Umfeld anderer abhängiger Kleinstaaten gelegen war, die einen eigenen kulturellen Hintergrund hatten. Die aramäischen Inschriften von Sfire sollen daher im Folgenden als traditionsgeschichtliches Modell für das postulierte judäische Formular dienen. Der traditionsgeschichtliche Befund der Sfire-Inschriften stellte sich wie folgt dar:[1]
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[1] Vgl. dazu o. S. 57-77.
(1.) Wie nicht anders zu erwarten, enthält das aramäische Dokument genuin aramäische Traditionen: den terminus technicus für „Vertrag" 'dy, die Gattung der Nichtigkeitsflüche sowie die Verwendung des paronomastischen Infinitivs in den Stipulationen.
(2.) Sodann lässt sich der neuassyrische Einfluss nicht verkennen: am Formular (z.B. die zweiseitige Präambel, die direkt in die Götterliste übergeht, sowie die Stellung der Flüche), an der Götterliste, die mit Assur und Mulissu anhebt und eine ganze Reihe von weiteren mesopotamischen Gottheiten folgen lässt, sowie anhand einzelner sprachlicher Entlehnungen aus dem Akkadischen.
(3.) Schließlich können eine Reihe von Elementen der (spät)hethitischen Tradition identifiziert werden: eine Segensformel sowie eine Sicherheitsgarantie für Vertragstreue, die Naturgottheiten am Ende der Götterliste, das Notzeitmytho- logem in den Nichtigkeitsflüchen, die Gattung der Vergleichsflüche sowie formale und inhaltliche Spezifika der Stipulationen.
Damit zeigen die Sfire-Inschriften einen ähnlichen traditionsgeschichtlichen Befund wie Dtn 13* und 28*, wo ebenfalls eigene mit assyrischen und aramäischen Komponenten vermischt sind. Der kleine Schönheitsfehler, dass die Sfire-Inschriften keinen Treueid, sondern einen Vasallenvertrag darstellen, wiegt nicht schwer, da sich beide Textgattungen in den hier relevanten Gesichtspunkten nicht unterscheiden.[1] Folglich hätte ein judäischer Treueid vermutlich eine ähnliche Mischgestalt wie die Sfire-Inschriften und käme damit als Vorbild für Dtn 13* und 28* durchaus in Frage.
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[1] Das ergibt ein Vergleich der Sfire-Inschriften mit hethitischen und assyrischen Treueiden. In den Sfire-Inschriften sind besonders die Schutzbestimmungen für König und Dynastie in Sf III sowie die ausführliche Fluchsequenz mit ihren Vergleichen hervorzuheben, die jeder Zeit auch in einem Treueid hätten vorkommen können.
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