Skip to main content

§ 8 – Gesetze und Gewohnheitsrecht

  • In diesem Paragraphen der Vorlesung geht es um cc. 7-30.

A. Gesetze

1. Merkmale des kanonischen Gesetzes

  • Bezeichnungen:
    ○ Ob es sich bei einem Dokument um ein kirchliches Gesetz handelt, ist nicht davon abhängig, dass die Überschrift des Dokument diesen Begriff enthält. Tatsächlich ist die Terminologie sehr vielfältig.
  • Die vom Papst erlassenen Gesetze sind vor allem im CIC enthalten.
  • Die übrigen päpstlichen Gesetze werden gewöhnlich entweder als „Apostolische Konstitution“ oder als „Motu proprio“ bezeichnet.


57

  • Der CIC verwendet für Gesetze auch den Ausdruck „Allgemeine Dekrete“ (decreta generalia; siehe cc. 29-30, 455 § 1).
  • Gesetze der Bischofskonferenz werden im Deutschen häufig als „Partikularnormen“ bezeichnet.
  • Besonders vielfältig sind die Bezeichnungen für die Gesetzgebung der deutschen Diözesanbischöfe. Man findet z. B. die Ausdrücke „Gesetz“, „Ordnung“, „Verordnung“, „Statut“, „Richtlinien“, „Dekret“, „Anordnung“, „Anweisung“ u. a. ○ Das heißt allerdings nicht, dass man allein aus der Verwendung solcher Begriffe darauf schließen kann, dass es sich um ein Gesetz handelt. Vielmehr werden die meisten dieser Ausdrücke auch für andere Arten von Dokumenten verwendet.
  • Z. B. werden die Ausdrücke „Apostolische Konstitution“ und „Motu Proprio“ auch für andere Arten von päpstlichen Dokumenten verwendet.
  • Ein „allgemeines Dekret“ hat nicht notwendig Gesetzescharakter, sondern es kann sich auch um eine Ausführungsverordnung (decretum generale exsecutorium; cc. 31-33) handeln.
  • Bei einem „Statut“ handelt es sich meistens nicht um ein Gesetz, sondern um Satzungsrecht ohne Gesetzescharakter.
  • usw.
    ○ Diese Vielfalt der verwendeten Ausdrücke ist zu bedauern. Solange diese Situation besteht, ist es um so wichtiger, die Wesenselemente zu kennen, die ein kirchliches Gesetz ausmachen.
  • Wesenselemente des kirchlichen Gesetzes sind:
    ○ der Gesetzgeber: Es muss sich dabei um eine kirchliche Autorität mit gesetzgebender Gewalt handeln
    ○ der Adressat: Ein Gesetz richtet sich nicht nur an eine Einzelperson, sondern an eine bestimmte Gruppe von Personen, z. B.
  • an die ganze lateinische Kirche
  • oder an ein Bistum
  • oder an alle Kleriker eines Bistums
  • usw.
    ○ der normative Gehalt des Gesetzes, verbunden mit einem Anspruch auf Befolgung: Ein Gesetz will nicht nur lehren oder Ratschläge erteilen, sondern ein bestimmtes Verhalten anordnen.
    ○ der allgemeine Geltungsanspruch: Ein Gesetz bezieht sich nicht nur auf einen Einzelfall, sondern auf eine Gesamtheit gleichartiger Fälle.
    ○ die Promulgation (= Gesetzesverkündigung): Das Gesetz muss den Adressaten bekannt gemacht worden sein.
  • siehe c. 7: „Ein Gesetz tritt ins Dasein, indem es promulgiert wird.“

2. Gesetzgeber

  • Kraft eigener Autorität können Gesetze erlassen:
    ○ der Papst
    ○ der einzelne Diözesanbischof
  • ebenso die ihm gleichgestellten Leiter von Teilkirchen (c. 381 § 2 i. V. m. c. 368), z. B. ein Gebietsabt
    ○ bestimmte Gremien, die vorwiegend aus Bischöfen zusammengesetzt sind:
  • das Bischofskollegium
  • das Partikularkonzil (Plenar- oder Provinzialkonzil)


58

  • die Bischofskonferenz, allerdings nur für bestimmte Sachgebiete, für die sie Gesetzgebungskompetenz besitzt
  • Im Prinzip kann gesetzgebende Gewalt delegiert werden. Der CIC lässt eine Delegation gesetzgebender Gewalt aber nur von seiten des Papstes oder des Bischofskollegiums zu (siehe c. 135 § 2).
    ○ Faktisch verleiht der Papst manchmal Erlassen der Römischen Kurie Gesetzeskraft. Das geschieht dadurch, dass er solchen Erlassen seine „besondere Bestätigung“ (approbatio specifica, oder approbatio in forma specifica) gewährt (siehe dazu AK Pastor bonus, Art. 18).
  • Z. B. heißt es am Ende der Instruktion über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester von 1997: „Der Papst hat die vorliegende Instruktion am 13. August 1997 in forma specifica approbiert und deren Promulgation angeordnet.“ ○ Außerdem hat der Päpstliche Rat für Gesetzestexte an der päpstlichen Gesetzgebungsgewalt teil; denn die Interpretationen dieses Rates haben Gesetzeskraft (c. 16 § 2).

3. Der Werdegang eines Gesetzes

  • Der Werdegang eines Gesetzes beginnt mit der Ausarbeitung seines Inhalts. Dafür gibt es keine festen Verfahrensvorschriften. Sinnvollerweise bedienen sich die Gesetzgeber des Rates von Fachleuten. Wenn das Gesetz bestimmte Personen oder Institutionen betrifft (z. B. Katholische Universitäten), legt es sich nahe, dass der Gesetzgeber sich auch mit den jeweiligen Betroffenen (oder zumindest einem Teil von ihnen oder ihren gewählten Vertretern) berät, bevor das Gesetz erlassen wird.
  • Nachdem der Gesetzestext feststeht, kann der Gesetzgeber den Beschluss fassen, dass dieser Text als Gesetz erlassen werden soll.
    ○ Die Bischofskonferenz benötigt zu einem solchen Beschluss eine Zweidrittelmehrheit (c. 455 § 2).
  • Wenn dieser Beschluss gefasst ist, wird eine Gesetzesurkunde unterzeichnet, z. B. durch den Papst, den Vorsitzenden der Bischofskonferenz oder den Diözesanbischof.
  • In bestimmten Fällen bedarf der Beschluss, um wirksam zu werden, einer Überprüfung durch eine übergeordnete Autorität.
    ○ Gesetze des Partikularkonzils und der Bischofskonferenz bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der recognitio durch den Apostolischen Stuhl (cc. 446, 455 § 2). Dabei geht es darum, dass der Apostolische Stuhl die Rechtmäßigkeit des betreffenden Gesetzes überprüft.
    ○ Für die Gesetzgebung des einzelnen Diözesanbischofs ist keine Überprüfung durch eine übergeordnete Autorität erforderlich.
  • Ggf. wird ein Termin für das Inkrafttreten festgelegt. Wenn kein Termin festgelegt wird, richtet
    sich das Inkrafttreten nach c. 8; das heißt, das Gesetz tritt nach Ablauf einer bestimmten Frist nach der Promulgation in Kraft, und zwar
    ○ bei gesamtkirchlichen Gesetzen: nach drei Monaten
    ○ bei partikularen Gesetzen: nach einem Monat
  • Der Gesetzgeber kann sich auch dazu entscheiden, ein Gesetz zunächst nur probeweise (ad experimentum) in Kraft zu setzen.
  • Sodann erfolgt die Promulgation (siehe dazu c. 8).
    ○ Gesamtkirchliche Gesetze werden herkömmlich in den Acta Apostolicae Sedis promulgiert.
  • In den letzten Jahren (seit 2013) werden gesamtkirchliche Gesetze häufig im Osservatore Romano promulgiert. Der Grund dafür liegt offenbar in den langen Verspätung (über ein Jahr), mit der die Hefte der AAS erscheinen.


59

○ Die Partikularnormen der Deutschen Bischofskonferenz werden nach Art. 16 Abs. 2 des Statuts der DBK vom 15.3.2011 dadurch promulgiert, „dass der Vorsitzende das Dekret den einzelnen Diözesanbischöfen zustellt“.
 Dieser Promulgationsmodus ist sehr unglücklich. Für den normalen Katholiken ist es nämlich nicht leicht möglich, herauszufinden, ob diese Promulgation stattgefunden hat. Sinnvoll wäre, dass die DBK ein eigenes Amtsblatt herausgibt.
○ Diözesangesetze werden üblicherweise in den Amtsblättern der Diözesen promulgiert.
 Nach Ablauf der Frist zwischen Erlassen und Inkrafttreten, der „Gesetzesschwebe“ (vacatio legis), tritt das Gesetz in Kraft.
 Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Gesetz von den Adressaten rezipiert wird. Dabei geht es nicht um einen formalen Vorgang, sondern um die Faktenfrage, ob das Gesetz in der Praxis im allgemeinen befolgt wird oder nicht. Ein Gesetz, das insgesamt nicht rezipiert wird, verliert dadurch seine Verpflichtungskraft (bzw. erhält sie gar nicht erst).
 Bischöfe können gegen ein päpstliches Gesetz vorstellig werden, indem sie von ihrem „Remonstrationsrecht“ Gebrauch machen. Solange der Papst nicht über die Remonstration entschieden hat, verpflichtet das Gesetz nicht.

4. Der Geltungsbereich kirchlicher Gesetze

  • Die Vorschriften in cc. 9-22 über den Geltungsbereich kirchlicher Gesetze betreffen sowohl die Gesetze des CIC als auch die außerhalb des CIC erlassenen Gesetze.
  • c. 9: Gesetze betreffen Zukünftiges, nicht Vergangenes.
  • c. 10: Gesetze betreffen nur dann die Gültigkeit einer Handlung, wenn das ausdrücklich gesagt wird.
    ○ D. h.: Wenn ein Gesetz eine Handlung verbietet, dabei aber nicht Ausdrücke wie invalidus, nullus o. ä. benutzt, ist die Handlung zwar rechtswidrig, aber nicht ungültig.
  • Z. B. sind in c. 425 §§ 1 und 2 die erforderlichen Eigenschaften des Diözesanadministrators aufgezählt.
  • In § 1 heißt es, dass gültig (valide) nur ein mindestens 35jähriger Priester bestellt werden kann. Die Wahl eines Laien oder eines Diakons oder eines jüngeren Priesters (unter 35 Jahre) wäre also ungültig.
  • In § 2 heißt es, dass ein Priester zu bestellen ist, der sich durch Wissen und Klugheit auszeichnet. Hier steht kein Hinweis auf die Gültigkeitsrelevanz. Einen Priester zu wählen, der sich nicht durch Klugheit auszeichnet, würde die Wahl also unerlaubt, aber nicht ungültig machen.
    ○ „Inhabilitierende“ Gesetze (leges inhabilitantes) beziehen sich unmittelbar auf eine Person und erklären, dass diese Person eine Handlung nicht gültig vornehmen kann. „Irritierende“ Gesetze (leges irritantes) machen nicht diesen Umweg über die handelnde Person, sondern beziehen sich direkt auf die betreffende Handlung und erklären sie für ungültig. Die Unterscheidung zwischen irritierenden und inhabilitierenden Gesetzen ist rechtlich unerheblich, da die Folgen dieselben sind: die Handlung, um die es geht, ist ungültig.
  • c. 11: Adressatenkreis
    ○ Es geht hier um den Adressatenkreis rein kirchlicher Gesetze (leges mere ecclesiasticae).
  • Das ius divinum gilt hingegen für alle Menschen.
    ○ Rein kirchliche Gesetze gelten nur für Katholiken, d. h. katholisch Getaufte und Getaufte, die zur katholischen Kirche konvertiert sind.
  • Hintergrund: die ökumenische Einstellung des CIC. Bei nichtkatholischen Christen geht der CIC davon aus, dass sie in ihrem Gewissen den Vorschriften ihrer eigenen Konfession verpflichtet sind.


60

  • Dabei geht die katholische Kirche hinsichtlich der orthodoxen Kirchen davon aus, dass deren Bischöfe, da sie in der apostolischen Sukzession stehen, kirchliche Leitungsgewalt besitzen und dass daher die von ihnen erlassenen Gesetze auch wirkliche Verpflichtungskraft ausüben.13
    ○ Aber: Wer einmal katholisch war, bleibt auch katholisch (semel catholicus semper catholicus). Katholiken, die eine andere Religion oder Konfession angenommen haben (oder die überhaupt keiner Religion mehr angehören wollen), gelten als Apostaten, Häretiker oder Schismatiker. Sie alle unterstehen weiterhin dem CIC.
    ○ Außerdem verpflichten kirchliche Gesetze nach c. 11 nur Personen, die hinreichenden Vernunftgebrauch besitzen und mindestens sieben Jahre alt sind.
  • c. 12-13: territorialer Geltungsanspruch:
    ○ Terminologie:
  • lex universalis („allgemeines Gesetz“, „gesamtkirchliches Gesetz“): gilt für die gesamte Kirche oder zumindest die gesamte lateinische Kirche
  • lex particularis („partikulares Gesetz“): gilt für einen Teil der Kirche (z. B. ein Bistum, eine Kirchenprovinz, das Gebiet einer Bischofskonferenz)
  • Wer sich in der Fremde aufhält, ist im Prinzip weder an die Gesetze seiner Heimat noch an die Gesetze seines Aufenthaltsgebiets gebunden.
  • c. 14: Zweifel
    ○ Rechtszweifel, d. h. man weiß nicht, ob das Gesetz für einen konkreten Fall gilt oder nicht: Dann verpflichtet das Gesetz nicht.
    ○ Tatsachenzweifel, d. h. man weiß nicht, ob die vom Gesetz gemeinte Tatsache wirklich vorliegt oder nicht: Das Gesetz verpflichtet, je nachdem, ob die Tatsache faktisch vorliegt oder nicht; es besteht aber die Möglichkeit einer Dispens seitens des Ordinarius,
  • c. 15: Unkenntnis und Irrtum
    ○ Dass jemand ein Gesetz nicht kennt (ignorantia) oder sich darüber irrt (error), befreit ihn nicht von der Pflicht zu Einhaltung.
  • Die Strafbarkeit der Übertretung ist aber unter Umständen eingeschränkt (cc. 1323, 2°, 1324 § 1, 9°), vorausgesetzt, dass es sich nicht um absichtlich herbeigeführte Unwissenheit handelt (ignorantia crassa vel supina).
  • c. 16: Authentische Interpretation
    ○ Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass ihr allgemeine Verpflichtungskraft zukommt.
    ○ Der Papst hat den Päpstlichen Rat für Gesetzestexte ermächtigt, authentische Interpretationen vorzulegen.
  • Näheres dazu in § 2 B 4.
  • cc. 17-18: Kriterien für die Auslegung kirchlicher Gesetze:
    ○ Kirchliche Gesetze sind zu verstehen nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang.
    ○ Für Zweifelsfälle gibt es mehrere Auslegungskriterien:
  • bestes Kriterium: die Gewohnheit (c. 27)
  • im Falle von Strafgesetzen, der Einschränkung von Rechten oder der Festlegung von Ausnahmen: enge Auslegung (interpretatio stricta, c. 18), d. h. wenn man zweifelt, ob das Gesetz (z. B. die Strafnorm oder die Ausnahmebestimmung) für einen bestimmten Fall gilt oder nicht, ist anzunehmen, dass es nicht gilt
     Z. B. verliert ein Pfarrer, der eine Ehe eingeht, automatisch sein Amt als Pfarrer (c. 194 § 1, 3°). Die Zweifelsfrage, ob in Deutschland auch das Eingehen einer gleichgeschlechtlichen Ehe als Eheschließung anzusehen ist, ist aufgrund der engen Auslegung der Rechtseinschränkung zu verneinen. Der Pfarrer verliert also 13 Siehe dazu: Zweites Vatikanum, Unitatis redintegratio, Nr. 16.


61

nicht automatisch sein Amt. (Das schließt aber nicht aus, dass der Bischof einschreitet und den Pfarrer durch Dekret seines Amtes enthebt.)

  • weiteres Kriterium gemäß c. 6 § 2: die kanonische Tradition
  • weitere Kriterien gemäß c. 17:
  • Parallelstellen
  • z. B. auch der CCEO
  • Zweck und Umstände des Gesetzes
  • z. B. die Entstehungsgeschichte des Gesetzes
  • die Absicht des Gesetzgebers
  • Z. B. hatte der Papst mit dem Erlassen des CIC die Absicht, das Zweite Vatikanische Konzil rechtlich umzusetzen (er bezeichnete den Codex sogar als das „letzte Konzilsdokument“). Daraus ergibt sich, dass die Bestimmungen des Codex im Zweifelsfall konzilskonform auszulegen sind.
  • c. 19: Rechtslücken
    ○ Wenn es über eine bestimmte Frage kein Gesetz (und kein Gewohnheitsrecht) gibt, bedeutet das noch nicht eine Rechtslücke. Denn vielleicht kann man in der betreffenden Frage auch ganz gut ohne ein Gesetz auskommen. „Rechtslücke“ bedeutet vielmehr: Es gibt kein Gesetz, aber es wird notwendigerweise eines gebraucht, um eine bestimmte Frage zu beantworten.
    ○ Rechtslücken können geschlossen werden durch:
  • Gesetze für ähnlich gelagerte Fälle
  • allgemeine Rechtsprinzipien
  • kanonische Billigkeit (aequitas canonica)
  • die Rechtsauffassung und Rechtspraxis der Römischen Kurie
  • die ständige Ansicht der Fachgelehrten

B. Gewohnheitsrecht

1. Begriff und Unterscheidungen

  • Nicht jede Gewohnheit kann zu Gewohnheitsrecht werden, sondern nur solche Gewohnheiten, die in der Absicht praktiziert werden, Recht zu schaffen (siehe c. 25). Eine Gewohnheit, für die das gilt, kann man als „Rechtsgewohnheit“ bezeichnen.
    ○ Der fortdauernde Verstoß gegen ein Gesetz aus Gleichgültigkeit oder mangelnder Disziplin schafft noch nicht eine Rechtsgewohnheit.
  • Innerhalb der Rechtsgewohnheiten kann man danach unterscheiden, ob sie von der zuständigen Autorität gutgeheißen („approbiert“) sind oder nicht. Approbierte Rechtsgewohnheiten werden als „Gewohnheitsrecht“ bezeichnet. Sie üben Verpflichtungskraft aus (ebenso wie Gesetze).
  • Nach dem Verhältnis zwischen Gewohnheitsrecht und Gesetz ist zwischen gesetzwidrigem Gewohnheitsrecht (consuetudo contra legem), außergesetzlichem G. (c. praeter legem) und gesetzmäßigem G. (c. secundum legem) zu unterscheiden.
  • Das Kriterium für die Existenz von Gewohnheitsrecht, ist die Gutheißung („Approbation“) der Gewohnheit durch den kirchlichen Gesetzgeber.
    ○ c. 23: „Nur die durch eine Gemeinschaft von Gläubigen eingeführte Gewohnheit, die vom Gesetzgeber genehmigt worden ist, hat die Kraft eines Gesetzes.“
    ○ Dabei kann eine Gewohnheit, die dem ius divinum widerspricht oder die „unvernünftig“ ist (c. 24), niemals approbiert werden.


62

  • Die Approbation von Gewohnheitsrecht kann der Gesetzgeber ausdrücklich vornehmen. Normalerweise geschieht die Approbation aber nicht ausdrücklich, sondern stillschweigend aufgrund des Fristenlaufs:
    ○ C. 26: Eine gesetzwidrige oder außergesetzliche Rechtsgewohnheit wird normalerweise nach 30 Jahren rechtsverbindlich.
  • Wenn der Gesetzgeber die Entstehung von Gewohnheitsrecht verhindern will, muss er die Rechtsgewohnheit rechtzeitig widerrufen.
    ○ Wenn z. B. eine Rechtsgewohnheit alle 29 Jahre widerrufen wird, geht sie niemals in Gewohnheitsrecht über.
    ○ Beispiel für einen Widerruf von Gewohnheiten am Ende einer Instruktion aus dem Jahre 199714: „Partikulargesetze und geltendes Gewohnheitsrecht, die diesen Normen entgegenstehen, sowie etwaige Befugnisse, die der Heilige Stuhl oder irgendeine andere ihm untergebene Autorität ‚ad experimentum’ gewährt hat, sind widerrufen.“
    ○ Der Gesetzgeber kann einem Gesetz auch von vornherein eine Klausel hinzufügen, die die Entstehung von Gewohnheitsrecht verbietet. In diesem Fall kommt erst eine hundertjährige oder unvordenkliche Gewohnheit dagegen an (c. 26).
  • „unvordenklich“ heißt: Man erinnert sich nicht genau, wie lange es die Gewohnheit schon gibt. Auch wenn es sie z. B. erst 90 Jahre gibt, aber man das nicht mehr so genau weiß, wird sie behandelt wie eine hundertjährige Gewohnheit.
    ○ Noch weitgehender wirkt eine Verwerfungsklausel (Reprobationsklausel). Dadurch wird bisheriges widergesetzliches Gewohnheitsrecht widerrufen und zukünftiges auf immer verhindert (c. 24 § 2).

2. Beispiele für Gewohnheitsrecht
Einige Beispiele für Gewohnheitsrecht, die man in der Literatur finden kann:

  • Die in Deutschland erlassenen staatlichen Vorschriften über die kirchliche Vermögensverwaltung, die an sich einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen darstellen, sind zum Teil von der Kirche gewohnheitsrechtlich akzeptiert worden.15
  • Kleriker, die als Universitätsprofessoren arbeiten, können Anzug und Krawatte tragen, anstatt sich an die Kleidungsvorschriften für Kleriker zu halten.16
  • In vielen Ordensgemeinschaften stimmt der Obere, wenn er seinen Rat anzuhören hat bzw. dessen Zustimmung braucht, auch selbst mit ab. Das widerspricht einer authentischen Interpretation von 1985, ist aber möglicherweise gewohnheitsrechtlich zulässig (die Frage ist
    umstritten).17
  • Die Zuständigkeit für die Erteilung der Trauerlaubnis gemäß c. 1071 liegt nicht, wie man vom Wortlaut her erwarten müsste, bei dem Ordinarius, der für den Trauungsort oder den trauenden Geistlichen zuständig ist, sondern beim Ordinarius des Wohnsitzes der Brautleute.18
  • Nicht nur Kirchen (c. 556), sondern auch Kapellen können einen „Rektor“ haben (→ ein Gewohnheitsrecht praeter legem).19
  • Ein Vertragsschluss eines Bistums mit der zuständigen staatlichen Autorität des Gebiets erfordert gewohnheitsrechtlich die Zustimmung des Apostolischen Stuhls.20

    14 Kleruskongregation, Instruktion Ecclesiae de mysterio, vom 15.8.1997: AAS 89 (1997) 852-877.
    15 R. Althaus, Rezeption, S. 703.
    16 R. Althaus, Rezeption, S. 495, Anm. 1.
    17 H. Pree, in: Münsterischer Kommentar zu c. 127, Rn. 3 (Mai 1998); B. Esposito, in: Periodica 95 (2006)
    37-68.
    18 H. J. F. Reinhardt, Die Kirchliche Trauung, 2. Aufl., S. 101, Rn. 245.
    19 J. Paarhammer, in: Münsterischer Kommentar, vor c. 556 (Nov. 1989), Nr. 2.


63

C. Vergleich von Gesetz und Gewohnheitsrecht

  • Sowohl Gesetz als auch Gewohnheitsrecht schaffen kirchliches Recht. Beides steht grundsätzlich auf einer Stufe. Es gibt also nicht eine prinzipielle Überordnung des einen oder des anderen.
  • Bei beiden Arten von Normen besteht eine Interaktion zwischen Gemeinschaft und Autorität:
    ○ Beim Gewohnheitsrecht ist es die Gemeinschaft, die den Inhalt festlegt. Die Autorität gewährt dazu ggf. ihre Approbation.
    ○ Beim Gesetzesrecht ist es die kirchliche Autorität, die den Inhalt festlegt. Im Handeln der Gemeinschaft zeigt sich ggf. die Rezeption.
  • Die rechtliche Vollmacht, aus der die Verpflichtungskraft herrührt, ist in beiden Fällen die von Christus dem Papst und den Bischöfen übertragene Vollmacht. Im Falle des Gesetzesrechts kommt diese Vollmacht beim Erlassen des Gesetzes zum Einsatz, im Falle des Gewohnheitsrechts bei der Approbation der Gewohnheit.