§ 13 – Leitungsgewalt
- einschlägige Bestimmungen: cc. 129-144
○ Im folgenden werden aber weniger die einzelnen Canones, sondern vor allem grundsätzliche Fragen behandelt.
A. Terminologische Vorbemerkung zum Begriff „Gewalt“
- Zu den Aspekten, die in einer Gemeinschaft rechtlich geordnet sein sollten, gehört die Frage, von wem und wie dort Leitung ausgeübt wird. Dabei verwendet man üblicherweise das Wort „Gewalt“ (z. B. in der Demokratie: „Alle Gewalt geht vom Volk aus“).
- Der deutsche Ausdruck „Gewalt“ ist allerdings mehrdeutig. Er kann für die lateinischen Begriffe vis und potestas verwendet werden. Deren Bedeutung ist ganz verschieden:
○ vis = „Gewalt“ im faktischen Sinn (vgl. „Macht“, „Zwang“): - kann rechtmäßig sein (vgl. das „Gewaltmonopol des Staates“) oder rechtswidrig (z. B. „Gewaltverbrecher“)
- spielt im kirchlichen Recht kaum eine Rolle
- c. 125 § 1: Handlungen, die durch von außen zugefügten Zwang (vis) herbeigeführt wurden, gelten als nicht vorgenommen.
○ potestas = „Gewalt“ im rechtlichen Sinn („Vollmacht“): eine rechtliche Befähigung, die für die Vornahme bestimmter Handlungen erforderlich ist - Im folgenden ist nur „Gewalt“ im Sinne von potestas gemeint.
B. Die verschiedenen Arten von „potestas“ in der Kirche
- Unter den verschiedenen Arten von Gewalt in der Kirche ist an erster Stelle die der Kirche von Jesus Christus übertragene Gewalt zu nennen, also eine Gewalt, die im ius divinum positivum begründet ist.
○ Das Zweite Vatikanum fasst diese Gewalt unter dem umfassenden Ausdruck potestas sacra24 zusammen. Im Deutschen gibt es dafür verschiedene Übersetzungen („heilige Gewalt“, „heilige Vollmacht“, „Kirchengewalt“).
○ Der CIC verwendet demgegenüber keinen umfassenden Ausdruck für die gesamte der Kirche von Jesus Christus verliehene Gewalt. Vielmehr unterscheidet der CIC in diesem Zusammenhang zwischen potestas ordinis („Weihegewalt“) und potestas regiminis =
potestas iurisdictionis („Leitungsgewalt“, „Jurisdiktionsgewalt“, „Hirtengewalt“). - Neben Weihe- und Leitungsgewalt gibt es in der Kirche auch noch andere Arten von Gewalt:
○ Die Gewalt, die Eltern (oder Erziehungsberechtigte) – auch im kirchlichen Rechtsbereich – über ihre Kinder haben, beruht auf dem ius naturale.
○ Die Gewalt, die der Vorsitzende eines privaten kanonischen Vereins besitzt, beruht auf einer Übertragung seitens der Mitglieder (normalerweise auf dem Wege der Vereinsstatuten, die man durch den Vereinsbeitritt – zumindest implizit – anerkennt). In der kanonistischen Wissenschaft wird diese Art von Gewalt, die innerhalb einer Vereinigung ausgeübt wird, von manchen mit dem Ausdruck „Konsoziativgewalt“ bezeichnet. Im Gegensatz zur Kirchengewalt, die gewissermaßen „von oben“ kommt, kommt die Konsoziativgewalt „von unten“. - Nicht einfach ist die Charakterisierung jener Gewalt, die den Oberen und Kapiteln in Ordensgemeinschaften und sonstigen kanonischen Lebensverbänden sowie den Vorsitzenden von öffentlichen Vereinen zukommt (vgl. c. 596 § 1). Der CIC/1917 hatte im Hinblick auf
Ordensgemeinschaften von „Dominativgewalt“ gesprochen (can. 501 § 1 CIC/1917); dieser Ausdruck hatte aber keine inhaltliche Klärung gebracht. Der CIC/1983 verwendet für diese Art von Gewalt keinen besonderen Ausdruck.
○ Einerseits kann diese Gewalt nur unter der Voraussetzung ausgeübt werden, dass die Mitglieder der Vereinigung sich ihr unterworfen haben, z. B. durch Ordensgelübde; insofern könnte man auch hier von „Konsoziativgewalt“ sprechen.
○ Andererseits handeln die betreffenden Amtsträger aber, da sie öffentlichen juristischen Personen des kanonischen Rechts vorstehen, „im Namen der Kirche“ (vgl. c. 116 § 1). Das ist letztlich nur möglich aufgrund einer Teilhabe an jener Gewalt, die Jesus Christus der
Kirche übertragenhat.
C. Die Unterscheidung zwischen Weihe- und Leitungsgewalt
- Im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Weihe- und Leitungsgewalt sind drei Unterscheidungskriterien von Bedeutung:
○ die Verlierbarkeit der Gewalt
○ die Übertragungsweise
○ der Anwendungsbereich
1. Verlierbarkeit
- Dass man innerhalb der Gewalt, die es in der Kirche von Jesus Christus herkommend gibt, verschiedene Formen unterscheiden kann, hat man im Laufe der Kirchengeschichte vor allem im Hinblick auf ihre Verlierbarkeit erkannt. Wenn ein Kleriker seinen Dienst aufgab (z. B. indem er sich von der Kirche lossagte), stellte sich die Frage, inwieweit seine Gewalt als Kleriker erhalten blieb und inwieweit nicht. Man erkannte, dass in dieser Hinsicht unterschieden werden
muss zwischen
○ Gewalt, die verloren ging (z. B. die Amtsgewalt als Pfarrer; wenn der Betreffende zurückkehrte, konnte er also ggf. erneut zum Pfarrer ernannt werden)
○ und Gewalt, die erhalten blieb (z. B. die Vollmacht, die Eucharistie zu feiern; wenn der Betreffende zurückkehrte, musste er nicht neu geweiht werden). - Denn das einmal gültig empfangene Weihesakrament wird niemals ungültig (vgl. c. 290; „character indelebilis“: vgl. c. 845 § 1). Daraus ergibt sich, dass auch die aufgrund des ius divinum mit dem Weihesakrament verbundene Gewalt nicht wieder entzogen werden kann.
○ Allerdings kann ihre Ausübung verboten werden. Genau das geschieht bei der „Laisierung“. Z. B. kann ein laisierter Priester nach wie vor gültig die Eucharistie feiern. Es ist ihm aber nicht mehr erlaubt. - Diejenigen Formen von Gewalt in der Kirche, die nicht aufgrund des ius divinum mit dem Weihesakrament verbunden sind, sind demgegenüber verlierbar.
○ Z. B. verliert man die mit einem Amt verbundene Gewalt, wenn man das Amt verliert (c. 143), z. B. durch Amtsverzicht, Versetzung, Amtsenthebung, Ablauf der Amtszeit. - Das gilt für alle Amtsträger, auch für den Papst. Wenn ein Papst auf sein Amt verzichtet, besitzt er von diesem Zeitpunkt an nicht mehr die mit seinem Amt verbundene Gewalt.
○ Delegierte Gewalt kann man z. B. verlieren durch Widerruf der Delegation, durch Ablauf der Zeit, für die man delegiert wurde usw. (siehe c. 142). - Vor diesem Hintergrund wird verstehbar, dass das kirchliche Recht von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Weihegewalt und Leitungsgewalt ausgeht.
2. Übertragungsweise
- Die verlierbare und die unverlierbare Gewalt werden in unterschiedlicher Weise übertragen:
- Die unverlierbare Art von Gewalt wird durch das Weihesakrament übertragen. Man spricht daher auch von Weihegewalt (potestas ordinis).
- Mit dem Empfang des Weihesakraments erhält der Geweihte nicht nur aufgrund des ius divinum bestimmte Vollmachten (z. B. die Eucharistie zu feiern), sondern die Kirche hat an den Empfang des Weihesakraments weitere Vollmachten geknüpft (z. B. die mit der
Diakonenweihe verbundene Befähigung, den eucharistischen Segen zu erteilen). Solche Vollmachten sind – jedenfalls was die konkrete Ausgestaltung angeht – im ius mere ecclesiasticum begründet. Als von der Kirche begründet sind sie nicht unverlierbar mit dem
Empfang des Weihesakraments verbunden, sondern können auch wieder entzogen werden. - Soweit Gewalt in der Kirche nicht durch den Empfang des Weihesakraments, sondern auf anderen Wegen übertragen wird, spricht man von einer Übertragung durch „kanonische Sendung“ (missio canonica).
○ Der Ausdruck missio canonica wird in einem etwas anderen Sinn auch im Bereich des Lehrrechts (→ munus docendi) verwendet, z. B. missio canonica für einen Religionslehrer oder einen Dozenten der Theologie.
○ Die „kanonische Sendung“ kann auf verschiedene Weisen erfolgen: - unmittelbar durch Gott („missio divina“): Das gilt für den Papst und dasBischofskollegium: Sobald jemand zum Papst geworden ist, erhält er kraft göttlichenRechts die mit dem Papstamt verbundene Gewalt.
- durch Menschen (missio canonica im engeren Sinne), und zwar:
- durch menschliches Handeln im Einzelfall:
- durch Amtsübertragung: Z. B. erhält der Generalvikar die mit diesem Amtverbundene Gewalt durch seine Ernennung.
- durch Delegation: Z. B. ist die Errichtung eines Domkapitels dem ApostolischenStuhl vorbehalten (c. 504). Der Papst kann die für die Errichtung erforderlicheGewalt aber z. B. an den Diözesanbischof delegieren, so dass dieser dasDomkapitel selber errichten kann.
- von Rechts wegen
- aufgrund von Gesetzen: z. B. durch „Suppletion“ im Falle von Irrtum oder Zweifel(c. 144) oder durch Ersitzung (c. 197)
- aufgrund von Gewohnheitsrecht: Diese Art der Übertragung von Gewalt war vorallem in den ersten Jahrhunderten der Kirche von Bedeutung.
3. Anwendungsbereich
- Die verschiedenen Arten von Gewalt in der Kirche lassen sich auch danach unterscheiden, für welche Handlungen sie erforderlich sind:
a) Ausübung von Leitung - Bei der durch kanonische Sendung übertragenen Gewalt geht es um die Ausübung von Leitung. Man spricht daher von Leitungsgewalt (potestas regiminis = potestas iurisdictionis).
- Leitungsgewalt ist z. B. erforderlich für das
○ Erlassen eines Gesetzes
○ Errichtung einer Diözese
○ Ernennung eines Pfarrers
○ Erteilen einer Dispens
○ Fällen eines Gerichtsurteils
○ usw.
b) Sakramente - Die aufgrund des ius divinum mit dem Empfang des Weihesakraments verbundene Weihegewalt ist für die Feier bestimmter Sakramente erforderlich:
- Drei Sakramente erfordern lediglich Weihegewalt:
○ Die Feier des Weihesakraments setzt die Bischofsweihe voraus.
○ Die Feier der Eucharistie und der Krankensalbung setzen die Priesterweihe voraus. - Zwei Sakramente setzen nach geltendem Recht neben dem Empfang der Priesterweihe auch eine besondere Befugnis („facultas“), voraus. Das gilt für die Firmung und das Bußsakrament.
○ Bischöfe erhalten diese Befugnis mit ihrer Weihe. Priestern kann sie verliehen werden. - von Rechts wegen: Z. B. besitzt ein Priester, der einen Erwachsenen tauft, von Rechts wegen auch die Befugnis, ihn zu firmen (c. 883, 2°). Ein Pfarrer besitzt von Rechts wegen Beichtbefugnis (c. 968 § 1).
- durch besondere Verleihung: z. B. wenn der Diözesanbischof einen Domkapitularbeauftragt, Firmungen zu spenden; oder wenn ein Priester, der nicht Pfarrer ist, eine Beichtbefugnis erhält
○ Die Firm- bzw. Beichtbefugnis betrifft nicht nur die Erlaubtheit, sondern auch die Gültigkeitdes Sakraments (cc. 882, 966 § 1).
○ Über die rechtliche Natur der facultas äußert sich der CIC nicht. Sicherlich handelt es sichnicht einfach um Weihegewalt, denn die facultas wird ja im Falle von Priestern nicht durchdie Weihe übertragen. In der Kanonistik gibt es zwei Theorien: - 1. Die facultas ist eine Erscheinungsform von Leitungsgewalt. Firmung und Bußeerfordern also nicht nur Weihe-, sondern auch Leitungsgewalt.
- = die früher (bis etwa zum CIC/1983) übliche Theorie; dagegen wird eingewandt, die beiden Arten von Kirchengewalt würden zu sehr voneinander getrennt
- 2. Der Priester besitzt bereits kraft seiner Weihe alle erforderliche Gewalt, um die Firmung und das Bußsakrament zu feiern. Diese Gewalt ist aber mit einer Art innerer „Sperre“ versehen, die erst aufgehoben werden muss, damit die Gewalt gültig ausgeübt
werden kann. Dieses Aufheben der „Sperre“ geschieht durch den Empfang der facultas.
- = die modernere Theorie; man kann aber fragen, ob diese Theorie nicht lediglich ein seltsames Phänomen (das Zusammenwirken beider Gewalten) durch ein anderes (die „Sperre“) ersetzt
○ Die komplizierte Struktur von Firmung und Buße ergibt sich aus der Praxis der Kirche (Ecclesia fecit, ergo potuit): Im Falle von Priestern hat sich die Kirche, wenn es um die Feier der Firmung oder des Bußsakraments ging, nicht einfach mit dem Empfang der
Priesterweihe begnügt, sondern etwas Zusätzliches verlangt. Ob ähnliche zusätzliche Anforderungen auch im Falle der Eucharistie, der Krankensalbung und des Weihesakraments gestellt werden könnten, ist theologisch nicht geklärt. Jedenfalls hat es die Kirche bislang nicht getan, sondern bei diesen Sakramenten die bloße Weihegewalt für
ausreichend gehalten. - Zwei Sakramente erfordern keinerlei Art von Gewalt, nämlich Taufe und Ehe.
○ Gültig taufen kann jeder Mensch (c. 861 § 2).
○ Zwei Getaufte können miteinander das Sakrament der Ehe eingehen, ohne dass es dazu irgendeiner Art von Gewalt bedürfte. - Aufgrund des rein kirchlichen Rechts ist dazu bei Katholiken die kanonische Ehe-schließungsform gemäß c. 1108 erforderlich, zu der die Assistenz eines dazu bevollmächtigten Klerikers – oder ausnahmsweise gemäß c. 1112 § 1 eines dazu bevollmächtigten Laien – gehört. Die Befugnis zur Eheschließungsassistenz bezeichnet
der CIC ebenfalls als „facultas“ (c. 1111). Sie ist aber anderer Art als die facultas für die Feier von Firmung und Buße. Die Eheschließungsassistenz ist nicht als Ausübung von
Leitungsgewalt, sondern als eine Art besonderer Zeugenschaft anzusehen. - Wenn man das voranstehend über die sieben Sakramente Gesagte den drei Weihestufen zuordnet, ergibt sich:
○ Die Diakonenweihe vermittelt im Hinblick auf Sakramente keinerlei Weihegewalt.
○ Mit Ausnahme des Weihesakraments wird die für die Feier von Sakramenten erforderliche Gewalt durch die Priesterweihe vermittelt. (Das betrifft also die Sakramente der Firmung, Eucharistie, Buße und Krankensalbung.) Für die Ausübung der Weihegewalt ist dabei ggf.
eine bestimmte facultas erforderlich.
○ Das einzige Sakrament, für dessen Feier die Bischofsweihe erforderlich ist, ist das Weihesakrament. - Das gilt zumindest für das geltende Recht. Im Laufe der Geschichte ist es bisweilen vorgekommen sein, dass auch Priester kraft besonderer Bevollmächtigung das Weihesakrament gespendet haben. Die Gültigkeit dieser Weihespendungen vorausgesetzt, ist zu folgern, dass auch beim Weihesakrament eine ähnliche Strukturwie bei Firmung und Buße vorliegt. Insgesamt ergibt sich daraus, dass unter den drei
Weihestufen letztlich nur die Priesterweihe Weihegewalt vermittelt, nicht die Diakonen- oder Bischofsweihe.
○ Man könnte allerdings auch die Position vertreten, dass das ius divinum keine unwandelbare Zuordnung der Weihegewalt zu den einzelnen Weihestufen festlegt, sondern in dieser Hinsicht einen gewissen Spielraum lässt, der die verschiedenen historischen Entwicklungen verständlich machen kann.
c) Sonstige liturgische Handlungen
- Die aufgrund des ius mere ecclesiasticum zusätzlich mit dem Empfang des Weihesakraments verbundene Gewalt ist erforderlich für bestimmte nicht-sakramentale liturgische Handlungen, z. B. die Feier der Abtsweihe, Jungfrauenweihe, Kirchweihe, Altarweihe, Weihe der hl. Öle, Erteilung des eucharistischen Segens usw.
- Vom Kriterium der Verlierbarkeit her betrachtet, gleicht dieser Gewalt nicht der Weihegewalt, sondern der Leitungsgewalt.
D. Die Befähigung zur Übernahme von Leitungsgewalt
- Der Besitz von Weihegewalt ist schon vom Begriff her an die Übertragung des Weihesakraments gebunden.
- Nicht so klar ist zu erkennen, ob und inwieweit das Weihesakrament auch eine Voraussetzung ist, um Leitungsgewalt auszuüben: Können nur Kleriker oder auch Laien Leitungsgewalt ausüben?
○ Es geht hier um eine Frage nach dem ius divinum: Wie muss die Leitung der Kirche aussehen, um dem Willen Christi zu entsprechen? - Die Frage wurde kontrovers diskutiert. Es war die wichtigste Frage bei der Vollversammlung der Codexreformkommission im Jahre 1981.
○ Eine Stellungnahme der Glaubenskongregation25 vertrat die Position, nur die von ihrem Wesen her hierarchischen Ämter (uffici intrinsecamente gerarchici) seien Klerikern vorbehalten. - Um welche Ämter es dabei geht, wird nicht ganz klar. Es liegt nahe, nur an den Papst und die Diözesanbischöfe zu denken.
- Argumente für die Behauptung, nur Kleriker könnten Leitungsgewalt ausüben:
○ Das Zweite Vatikanum hat die Einheit der Kirchengewalt betont; es hat nicht die Ausdrücke potestas ordinis und potestas regiminis/iurisdictionis verwendet, sondern nur den Ausdruck
potestas sacra.
○ Es hat gelehrt, dass die Bischofsweihe zusammen mit dem munus sanctificandi auch das munus docendi und das munus regendi überträgt (LG 21 Abs. 2). Das munus regendi, zu dem die Ausübung von Leitungsgewalt gehört, scheint also im Weihesakrament begründet zu liegen. - Argumente für die Behauptung, auch Laien könnten Leitungsgewalt ausüben:
○ Im Laufe der Kirchengeschichte haben immer wieder Laien Leitungsgewalt ausgeübt, ohne dass es als unrechtmäßig angesehen worden wäre
- Es kam vor, dass ein Laie zum Papst gewählt wurde und die päpstliche Gewalt ausübte, noch bevor er zum Diakon geweiht war.
- Es gab Äbtissinnen, die nach Art von Bischöfen die Leitung über die an das Kloster angeschlossenen Pfarreien ausübten.
- Aufgrund des Ottonischen Systems, in dem die Bischöfe auch weltliche Gewalt hatten, kam es zu Inhabern bischöflicher Gewalt, die nicht geweiht waren (und sich z. T. auch gar nicht weihen lassen wollten, z. B., um sich nicht an den Zölibat zu binden).
- Diese Praxis wurde allerdings vielfach doch als missbräuchlich angesehen.
○ Der Gesetzgeber kann Handlungen von Laien von Rechts wegen mit rechtlichen Wirkungen verknüpfen, die an sich die Ausübung von Leitungsgewalt erfordern. - Z. B. kann ein Ordensoberer, der Laie ist, Angehörige seines Ordens entlassen. Die Entlassung enthält von Rechts wegen die Dispens von den Gelübden (c. 701). Die Gewährung einer solchen Dispens erfordert – theologisch gesehen – sicherlich den Einsatz von Leitungsgewalt.
Wenn der Gesetzgeber das Handeln von Laien mit rechtlichen Folgen verknüpfen kann, die den Einsatz von Leitungsgewalt erfordern, ist aber kaum noch ein Unterschied zu sehen im Vergleich zu einer Übertragung von Leitungsgewalt an den betreffenden Laien. Der
Vorbehalt von Leitungsgewalt für Kleriker wird dadurch ziemlich theoretisch. - Die Positionen in dieser Kontroverse lassen sich nicht leicht in das Schema „konservativ“ – „progressiv“ einordnen.
○ Die Ansicht, auch Laien könnten Leitungsgewalt ausüben, ist historisch gesehen eher „vorkonziliar“, inhaltlich aber eher „progressiv“.
○ Die Ansicht, die Ausübung von Leitungsgewalt sei Klerikern vorbehalten, liegt eher auf der Linie des Zweiten Vatikanums, ist in den inhaltlichen Konsequenzen aber eher „konservativ“. - Die Vorschriften des CIC lassen in der Frage nach der Ausübung von Leitungsgewalt durch Laien keine klare Linie erkennen, sondern sind widersprüchlich.
○ c. 274 § 1: Nur Kleriker können Ämter erhalten, zu deren Ausübung Leitungsgewalt erforderlich ist.
○ c. 1421 § 2: Unter bestimmten Bedingungen kann auch ein Laie Richter werden und somit ein Amt erhalten, zu dessen Ausübung Leitungsgewalt erforderlich ist. - Zwischen diesen beiden canones besteht ein klarer Widerspruch. Darin spiegeln sich die unterschiedlichen Auffassungen in der Codexreformkommission.
○ c. 129 §§ 1 und 2: Zur Übernahme von Leitungsgewalt sind die Kleriker befähigt; Laien können bei der Ausübung der Gewalt mitwirken (cooperari). - Es wird nicht ganz klar, welchen Charakter dieses „Mitwirken“ hat: Übt der Mitwirkende im Grunde auch selber Leitungsgewalt aus oder nicht?
○ Eine ähnliche „mittlere“ Lösung nennt c. 517 § 2: Ein Priester leitet die Seelsorge, ein Diakon oder Laie wird an den Seelsorgsaufgaben beteiligt (participatio). - Faktisch hat sich in der Kirche die Position durchgesetzt, wonach auch Laien Leitungsgewalt ausüben können. Insbesondere unter Papst Franziskus hat die Übertragung entsprechender Aufgaben zugenommen.
○ Im Ehenichtigkeitsverfahren können seit dem MP Mitis Iudex (2015) innerhalb eines dreiköpfigen Richterkollegiums zwei Laien tätig sein.
○ Papst Franziskus hat Laien auch zu Mitgliedern jener Dikasterien der Römischen Kurie ernannt, die Leitungsgewalt ausüben.
E. Arten von Leitungsgewalt
- c. 135 § 1: gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt
○ Es gibt also auch in der Kirche eine „Gewaltenunterscheidung“. Das heißt aber nicht, dass es in der Kirche ein System der „Gewaltentrennung“ gäbe (wie in demokratischen Staaten).
Vielmehr gibt es Amtsträger, die alle drei Arten von Leitungsgewalt zugleich innehaben, nämlich den Papst, das Bischofskollegium und die Diözesanbischöfe sowie die ihnen Gleichgestellten (c. 381 § 2 i. V. m. c. 368).
○ Die Ausübung der verschiedenen Arten von Leitungsgewalt wird in je eigenen Paragraphen dieser Vorlesung behandelt: - gesetzgebende Gewalt: in § 8 („Gesetze und Gewohnheitsrecht“)
- ausführende Gewalt: in § 11 H und J („Verwaltungshandeln“)
- richterliche Gewalt: in § 15 („Rechtsprechung“)
- c. 131 § 1: ordentliche und delegierte Gewalt:
○ ordentliche Gewalt = mit einem Amt verbunden
○ delegierte Gewalt = unabhängig von einem Amt - hoheitliche und nichthoheitliche Gewalt
○ hoheitliche Gewalt: kommt dem Papst und den Bischöfen sowie einigen ihnen gleichgestellten Amtsträgern zu, ebenso ihren jeweiligen Stellvertretern
○ nicht-hoheitliche Gewalt: kommt Amtsträgern zu, die den Bischöfen untergeordnet sind. - Die nichthoheitliche Leitungsgewalt wird im CIC nicht deutlich angesprochen. Z. B. wird die Gewalt des Pfarrers über seine Pfarrei nicht als potestas bezeichnet. Dennoch handelt es sich von der Sache her auch hier um Leitungsgewalt, näherhin um ausführende Gewalt. Die Vorschriften des CIC über die potestas regiminis beziehen
sich aber vom Zusammenhang her im Allgemeinen nur auf hoheitliche Leitungsgewalt, also z. B. nicht auf die Leitungsgewalt des Pfarrers.
F. Ausübung von Leitungsgewalt im forum externum und forum internum
- forum externum = „äußerer Bereich“ = nicht geheim
- forum internum = „innerer Bereich“ = geheim
○ Was im Bußsakrament geschieht, gehört immer zum forum internum (sog. forum internum sacramentale).
○ Der geheime Bereich außerhalb des Bußsakraments wird als forum internum non sacramentale bezeichnet. - Z. B. kann in Todesgefahr (c. 1079 § 3) und im Dringlichkeitsfall (c. 1080 § 1) der Beichtvater im forum internum von geheimen Ehehindernissen dispensieren, sei es innerhalb oder außerhalb des Bußsakraments.
G. Die einzelnen Inhaber ordentlicher Leitungsgewalt
- Inhaber ordentlicher Leitungsgewalt in vollem Umfang (d. h. Inhaber von ordentlicher gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt):
○ der Papst
○ das Bischofskollegium
○ der Diözesanbischof und die ihm Gleichgestellten - weitere Inhaber ordentlicher gesetzgebender Gewalt
○ das Partikularkonzil
○ die Bischofskonferenz (für bestimmte Angelegenheiten) - weitere Inhaber ordentlicher ausführender Gewalt
○ die Dikasterien des Apostolischen Stuhls
○ die Bischofskonferenz (für bestimmte Angelegenheiten)
○ Generalvikar und Bischofsvikar
○ die höheren Oberen der klerikalen Ordensinstitute päpstlichen Rechts und der klerikalen Gesellschaften des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts (siehe cc. 596 § 2, 732) - siehe dazu die Definition der Ausdrücke
- „Ordinarius“ (c. 134 § 1)
- „Ortsordinarius“ (c. 134 § 2)
- vgl. auch die Vorschriften mit dem Ausdruck „Diözesanbischof“ (c. 134 § 3)
- weitere Inhaber ordentlicher richterlicher Gewalt
○ auf der Ebene der Gesamtkirche: die Gerichte des Apostolischen Stuhls
○ auf Diözesanebene: der Gerichtsvikar und die Richter
○ für ordensinterne Streitigkeiten: der ordensinterne Ordinarius (c. 1427) H. Die Suppletion fehlender ausführender Leitungsgewalt (c. 144) - In bestimmten Situationen ergänzt die Kirche fehlende ausführende Leitungsgewalt („Ecclesia supplet“).
○ Es geht bei der Suppletion niemals um Weihegewalt. - Die für die Feier von Sakramenten erforderliche Weihegewalt wird aufgrund des iusdivinum durch das Weihesakrament vermittelt. Die Kirche hat daher keine Möglichkeit,diese Weihegewalt auch auf anderen Wegen zu vermitteln.
○ Es geht bei der Suppletion (gemäß der positiv-rechtlichen Festlegung in c. 144 § 1) nur umausführende Leitungsgewalt, nicht um gesetzgebende oder richterliche Gewalt. - Leitungsgewalt wird durch missio canonica übertragen. Die Suppletion ist also – ebenso wiedie Amtsübertragung oder die im Einzelfall erteilte Delegation – eine Form der missiocanonica, näherhin eine missio canonica von Rechts wegen.
- Es geht bei der Suppletion um Situationen, in denen anscheinend Leitungsgewalt ausgeübt wird, obwohl der Ausübende an sich – gäbe es nicht c. 144 – nicht über die nötige Leitungsgewalt verfügt. Es geht bei der Suppletion also darum, Schein und Wirklichkeit in
Übereinstimmung zu bringen. Im einzelnen geht es gemäß c. 144 um zwei verschiedene Konstellationen:
○ ein allgemeiner tatsächlicher oder rechtlich anzunehmender Irrtum
- „tatsächlich“: die Leute irren sich wirklich
- „rechtlich anzunehmen“: die gegebenen Umstände sind derart, dass die Leute sich irren könnten
○ ein positiver und wahrscheinlicher Rechts- oder Tatsachenzweifel - „positiv“: es gibt Gründe für und gegen das Vorliegen der Leitungsgewalt
- „wahrscheinlich“: das Vorliegen von Leitungsgewalt ist nicht unwahrscheinlich, d. h., ein gewissenhafter Mensch würde nicht zu der Überzeugung gelangen, dass vermutlich keine Leitungsgewalt vorhanden ist
- Wer über den Besitz von Leitungsgewalt im Zweifel ist, muss zunächst im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchen, den Zweifel zu beheben, bevor er erlaubterweise vom supplet Ecclesia Gebrauch machen darf.
- Gemäß c. 144 § 2 wird die Vorschrift über die Suppletion auch angewendet auf die Firmbefugnis, die Beichtbefugnis und die Befugnis zur Eheschließungsassistenz.
○ Vorausgesetzt, dass die Firm- und Beichtbefugnis eine Form von Leitungsgewaltdarstellen, sind sie bereits von c. 144 § 1 erfasst. Bei der gesonderten Erwähnung in c. 144§ 2 handelt es sich dann nur um eine Klarstellung. - Beispiel für Suppletion:
○ Einem Ordenspriester wurde für fünf Jahre eine Beichtbefugnis erteilt. Die Befugnis läuftab, ohne dass der Priester daran denkt. Er hört weiter Beichten. Sowohl er selbst als auch die Pönitenten nehmen an, dass alles seine Ordnung hat. Es liegt ein allgemeiner Irrtum vor. Die Kirche ergänzt daher gemäß c. 144 § 2 die fehlende Beichtbefugnis. - Kein Beispiel für Suppletion:
○ Jemand, der nicht Priester ist, setzt sich in den Beichtstuhl und tut so, als würde er dieAbsolution erteilen. Die Pönitenten müssen den äußeren Umständen nach annehmen,dass der Betreffende Priester ist. Es liegt also ein allgemeiner Irrtum vor. Trotzdem erfolgtkeine Suppletion; denn das ist nur bei fehlender ausführender Leitungsgewalt oder fehlender facultas möglich, nicht aber bei fehlender Weihegewalt.
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