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§ 10 – Rechtserhebliches Handeln

A. Rechtserheblichkeit
 Für das kirchliche Recht sind nicht alle möglichen Handlungen relevant, die in der Kirche vorgenommen werden, sondern nur bestimmte Handlungen. Wenn für eine Handlung irgendwelche Rechtsnormen bestehen, spricht man von „rechtserheblichem Handeln“.
 Die Rechtserheblichkeit einer Handlung kann vor allem darin bestehen, dass
○ das Recht zu der Handlung verpflichtet oder sie verbietet,
 sei es generell oder bei Vorliegen bestimmter Bedingungen,
○ oder dass Bestimmungen über die Strafbarkeit der Handlung bestehen,
○ oder dass Bestimmungen über die Rechtswirkungen der Handlung bestehen,
 z. B. hinsichtlich der Gültigkeit, Wirksamkeit oder Aufhebbarkeit der Handlung.
 In dem voranstehend Gesagten kann sich der Ausdruck „Handeln“ sowohl auf ein Tun als auch auf ein Unterlassen beziehen.
○ Ein rechtserhebliches Unterlassen ist z. B. das Nicht-Erscheinen eines vor Gericht Geladenen (c. 1592 § 1).
 Die rechtserheblichen Handlungen lassen sich unterscheiden in Rechtsakte und Realakte.
○ Ein Rechtsakt ist eine Willensäußerung, die von ihrer Natur her auf eine rechtliche Veränderung abzielt.
 Der CIC behandelt die Rechtsakte in cc. 124-128 unter der Überschrift actus iuridici.
 In der kanonistischen Literatur wird actus iuridicus häufig mit „Rechtshandlung“ übersetzt. Die Übersetzung „Rechtsakt“ ist aber besser; der Ausdruck „Rechtshandlung“ wird in der deutschen Rechtssprache nämlich eher als Oberbegriff für Rechtsakte und Realakte verwendet.
 Ein Rechtsakt, der schriftlich vorgenommen wird, wird typischerweise in einem Dokument niedergelegt, das mit einer Unterschrift versehen wird. Rechtsakte sind aber auch mündlich möglich.

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 Beispiele für Rechtsakte:
 Errichtung einer Pfarrei
 Gewährung einer Dispens
 Wahl eines Kirchenvorstands
 Abschließen eines Vertrags
 Verzicht eines Amtsinhabers
 Verwaltungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bischofs
 Rechtsakte sind entweder gültig oder ungültig.
○ Ein Realakt ist eine Handlung, die nicht auf eine rechtliche, sondern eine rein faktische
Veränderung abzielt
 Beispiele für Realakte:
 Bau einer Kirche
 Ermordung eines Menschen
 Ablegen des Glaubensbekenntnisses
 Halten einer Predigt
 Feier eines Begräbnisses
 Da Realakte nicht auf rechtliche Wirkungen abzielen, stellt sich dabei nicht die Frage der Gültigkeit oder Ungültigkeit.
○ Einen besonderen Typ von Handlungen stellt das sakramentale Handeln dar. Die Wirkung sakramentalen Handelns geht nicht einfach aus der Willensäußerung des Handelnden hervor, sondern beruht auf göttlichem Geschehen. Insofern unterscheidet sich sakramentales Handeln von Rechtsakten. Da aber auch sakramentales Handeln gültig oder ungültig sein kann, ähnelt es doch eher den Rechtsakten als den Realakten.


B. Fehlerhafte Handlungen
Die verschiedenen Arten rechtserheblichen Handelns zu untersuchen, ist vor allem bedeutsam, um die verschiedenen Arten von Fehlern unterscheiden zu können, mit denen Handlungen behaftet sein können.

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1. Fehler, die bei allen Arten von Handlungen möglich sind:
a) Rechtswidrigkeit
 Eine Handlung heißt „rechtswidrig“, wenn das Recht – grundsätzlich oder unter den jeweiligen Bedingungen – verbietet, sie vorzunehmen.
○ Zwischen den Ausdrücken „rechtswidrig“ , „widerrechtlich“, „unzulässig“, „unerlaubt“ oder
„verboten“ gibt es keine rechtlich relevanten Unterschiede.
 Allerdings lässt der Ausdruck „verboten“ eher daran denken, dass ein ausdrückliches Verbot besteht.
 Der Ausdruck „unerlaubt“ erweckt den Eindruck, dass es um eine erlaubnisbedürftige Handlung geht.
 Ob eine Handlung rechtswidrig ist oder nicht, hängt von Umständen ab, die ihr zeitlich vorausliegen oder gleichzeitig mit ihr vorliegen. Eine rechtswidrige Handlung kann nicht nachträglich rechtmäßig werden, und umgekehrt kann eine einmal rechtmäßig vorgenommene Handlung nicht nachträglich rechtswidrig werden.
b) Strafbarkeit
 Ein Teil der rechtswidrigen Handlungen sind auch strafbar.
○ Siehe dazu vor allem die Strafnormen in Buch VI des CIC (cc. 1364-1399).
 Eine Handlung, die nicht rechtswidrig ist, kann auch nicht strafbar sein. Umgekehrt gibt es aber Handlungen, die zwar rechtswidrig, aber nicht strafbar sind.
○ Z. B. ist das schuldhafte Versäumen des sonntäglichen Gottesdienstes (c. 1247) nicht strafbar.
○ Wenn aber der Pfarrer schuldhaft versäumt, den sonntäglichen Gottesdienst für seine Pfarrei zu halten bzw. halten zu lassen, macht er sich der Amtspflichtverletzung schuldig und kann dafür bestraft werden (c. 1389 § 2).


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c) Schadenersatzpflicht
 Wer einem anderen durch eine rechtswidrige Handlung Schaden zugefügt hat, ist schadenersatzpflichtig (c. 128).

2. Fehler, die bei Rechtsakten auftreten können Die nachfolgend behandelten Fehler können bei Realakten nicht auftreten, weil sie in irgendeiner
Weise die Wirkungen der Handlung betreffen.
a) Unwirksamkeit
 Ein Rechtsakt, der nicht die von ihm angezielte rechtliche Veränderung hervorbringt heißt „unwirksam“.
○ Der CIC verwendet, wenn es um die Frage der Wirksamkeit geht, vor allem die Ausdrücke vis und effectus.
 Eine unwirksame Handlung kann später wirksam werden.
○ Z. B. wird gemäß c. 267 § 2 eine Exkardination aus einer Teilkirche erst wirksam, wenn anschließend die Inkardination in eine andere Teilkirche erfolgt ist.
 In der deutschen Rechtssprache ist für diese Zwischenzeit der Ausdruck „schwebende Unwirksamkeit“ üblich. Im kanonistischen Sprachgebrauch ist dieser Ausdruck allerdings nicht gebräuchlich.
○ Ähnlich ist ein von der Bischofskonferenz erlassenes Gesetz (noch) unwirksam, solange es nicht die in c. 455 § 2 verlangte recognitio des Apostolischen Stuhls erhalten hat.
 Umgekehrt ist es auch möglich, dass eine wirksame Handlung später unwirksam wird, z. B. weil sie von der zuständigen kirchlichen Autorität aufgehoben wird oder weil die Wirksamkeit der Handlung von vornherein auf eine bestimmte Frist beschränkt war.
○ Wenn z. B. ein Gesetz ad experimentum für fünf Jahre erlassen wird und anschließend nichts weiter getan wird, verliert das Gesetz nach Ablauf dieser Frist seine Wirksamkeit.
 Im Zusammenhang mit Gesetzen oder anderen Rechtsnormen wird allerdings üblicherweise nicht von „Wirksamkeit“, sondern von „Geltung“ gesprochen.
b) Ungültigkeit = Nichtigkeit
 Ein Rechtsakt, der an einer Rechtswidrigkeit leidet und deswegen nicht die von ihm angezielte rechtliche Veränderung hervorbringt, heißt „ungültig“ (= „nichtig“).
○ Es geht bei der Ungültigkeit also gewissermaßen um die Verknüpfung von zwei verschiedenen Eigenschaften: Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit.
○ Der CIC verwendet, wenn es um die Frage der Gültigkeit geht, vor allem die Ausdrücke validus und nullus.
○ Gesetze betreffen nur dann die Gültigkeit einer Handlung, wenn sie darauf ausdrücklich hinweisen (c. 10).
 Das gilt jedenfalls für rein kirchliche Gesetze. Bei Normen des göttlichen Rechts und Normen, die die Wesensbestandteile eine Handlung beschreiben, hat der kirchliche
Gesetzgeber nicht immer deren Gültigkeitsrelevanz ausdrücklich erwähnt.
○ Beispiele für Ungültigkeit:
 Ablegen von Ordensgelübden ohne ein vorausgegangenes wenigstens zwölfmonatiges Noviziat (c. 656, 2° i. V. m. c. 648 § 1)


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 Errichtung einer Pfarrei ohne die vorausgehende Anhörung des Priesterrats (c. 515 § 2 i. V. m. c. 127)
 Ungültige Handlungen sind definitionsgemäß immer rechtswidrig.
○ Umgekehrt kommt es vor, dass ein Rechtsakt zwar rechtswidrig, aber doch gültig ist.
 Z. B. muss man, um Diözesanrichter zu werden, das Doktorat oder wenigstens das Lizentiat des kanonischen Rechts erworben haben (c. 1421 § 3). Wenn der Bischof (ohne eine entsprechende Dispens eingeholt zu haben) jemanden ernennt, der diese Qualifikation nicht erfüllt, handelt der Bischof zwar rechtswidrig, aber doch gültig, denn die genannte Norm über die Voraussetzungen für das Richteramt enthält keine Nichtigkeitsklausel.
 Ungültige Handlungen sind definitionsgemäß auch immer unwirksam.
○ Umgekehrt kann es vorkommen, dass eine Rechtsakt zwar rechtmäßig und gültig, aber trotzdem unwirksam ist.
 Z. B. wird, wie schon gesagt, eine Exkardination aus einer Teilkirche erst wirksam, wenn anschließend die Inkardination in eine andere Teilkirche erfolgt ist. Während der Zwischenzeit ist die Exkardination nicht etwa ungültig, schon deswegen nicht, da sie ja nicht rechtswidrig ist. Sie ist aber noch nicht wirksam, solange nicht die nachfolgende Inkardination erfolgt ist.
 Die Terminologie des CIC ist im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen „Ungültigkeit“ und „Unwirksamkeit“ an einigen Stellen nicht konsequent.
○ Z. B. ist in c. 688 § 2 von „Gültigkeit“ die Rede („ut valeat“), obwohl dort besser von „Wirksamkeit“ gesprochen werden sollte.
c) Heilbare bzw. unheilbare Nichtigkeit (= „Nicht-Existenz“)
 Unter den ungültigen Handlungen kann man danach unterscheiden, ob die Ungültigkeit darauf beruht
○ dass etwas vom rein kirchlichen Recht Gefordertes fehlt
○ oder dass ein Wesenselement der Handlung oder etwas vom göttlichen Recht Gefordertes fehlt.
 Handlungen, die deswegen ungültig sind, weil ihnen ein Wesenselement oder ein Gültigkeitserfordernis des göttlichen Rechts fehlt, werden in der kanonistischen Literatur bisweilen als „inexistent“ bezeichnet.
○ Der CIC spricht hingegen meist einfach von ungültigen Handlungen, ohne näher zu unterscheiden.
 Ungültige Handlungen, bei denen etwas vom rein kirchlichen Recht Gefordertes fehlt, können geheilt werden („heilbare Nichtigkeit“). Hingegen können inexistente Handlungen nicht geheilt werden („unheilbare Nichtigkeit“).
○ Der Begriff „Heilung“ ist hier in einem strengen Sinn gemeint. Durch ein Dekret der zuständigen kirchlichen Autorität wird im Nachhinein verfügt, dass die Handlung in jeder Hinsicht als eine von Anfang an (ex tunc) gültige Handlung angesehen wird, nicht nur vom Zeitpunkt der Heilung an (ex nunc).
 Beispiel für heilbare Nichtigkeit:
○ Der Bischof hat eine Pfarrei errichtet, ohne den Priesterrat angehört zu haben. Die Errichtung ist daher gemäß c. 515 § 2 i. V. m. c. 127 ungültig. Sie kann aber vom Apostolischen Stuhl geheilt werden, da die Anhörung des Priesterrats nicht ein Wesenselement der Errichtung darstellt.
 Beispiele für unheilbare Nichtigkeit:


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○ Der Bischof hat einen Priester zum Pfarrer ernannt, ohne zu wissen, dass der betreffende kurz vorher gestorben ist. Die Ernennung ist ungültig (inexistent) und kann auch nicht geheilt werden.
○ Eine Handlung, die unter Zwang vorgenommen wird, dem der Handelnde auf keine Weise widerstehen kann (vis absoluta), gilt gemäß c. 125 § 1 „als nicht vorgenommen“ (pro infecto habetur); sie ist nichtig (inexistent) und kann nicht geheilt werden.
d) Aufhebbarkeit
 auch „Anfechtbarkeit“ oder „Vernichtbarkeit“ genannt
 In einige Fällen können gültige und wirksame Rechtsakte später aufgehoben werden, so dass sie ihre Wirksamkeit verlieren.
○ Alle Handlungen, sowohl amtliche als auch private, können durch richterliches Urteil aufgehoben werden, wenn sie aufgrund schwerer, widerrechtlich eingeflößter Furcht oder aufgrund arglistiger Täuschung vorgenommen wurden (c. 125 § 2).
 In einigen Fällen führen Furcht oder Täuschung allerdings von vornherein zur Nichtigkeit (vgl. cc. 656, 4° und 658 im Hinblick auf das Ablegen von Ordensgelübden; cc. 1098 und 1103 im Hinblick auf das Eingehen einer Ehe).
○ Auch die Tatsache, dass eine Handlung aus Unkenntnis oder Irrtum vorgenommen wurde, kann ihre Aufhebbarkeit zur Folge haben (c. 126).
○ Auch die Amtsübertragung an eine Person, die zum Zeitpunkt der Amtsübertragung nicht die vom kanonischen Recht geforderte Eignung aufwies, kann aufgehoben werden (c. 149 § 2).

3. Die Ungültigkeit sakramentaler Handlungen
 Die Begriffe „Gültigkeit“ und „Ungültigkeit“ werden nicht nur auf Rechtsakte, sondern auch auf Sakramente angewendet, allerdings in einem etwas anderen Sinn: Ein Sakrament wird gültig genannt, wenn mit dem äußerlich erkennbaren menschlichen Handeln das dem Sakrament
eigene göttliche Handeln einhergeht; andernfalls heißt es ungültig = nichtig.
 Nach diesem Sprachgebrauch bleibt für eine Unterscheidung zwischen „Gültigkeit“ und „Wirksamkeit“ bei Sakramenten kein Raum.
○ Sakramente, die gültig, aber noch unwirksam sind, kann es also nicht geben.
 Streng genommen handelt es sich bei der Ungültigkeit von Sakramenten immer um unheilbare Nichtigkeit. Wenn das göttliche Handeln sich nicht ereignet hat, kann es nämlich nicht nachträglich von Menschen hervorgebracht werden.
○ Beispiel: Der Bischof hat einen Ungetauften zum Diakon geweiht. Die Weihe ist kraft göttlichen Rechts nichtig (inexistent) (vgl. c. 1024) und kann auch nicht geheilt werden.
 Der CIC verwendet die Begriffe „Heilung“ („convalidatio“ oder „sanatio“) allerdings auch im Hinblick auf das Ehesakrament.
○ Beispiele:
 Eine wegen Konsensmangels nichtige Ehe kann dadurch, dass der betreffende Partner später den Konsens leistet, später gültig gemacht, also in einem gewissen Sinne „geheilt“ werden.
 Eine wegen fehlerhafter Einhaltung der kanonischen Eheschließungsform nichtige Ehe könnte durch ein Dekret des Diözesanbischofs geheilt werden.


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○ Bei diesen „Heilungen“ einer Ehe geht es aber nicht um Heilungen im strengen Sinn. Die Ehe kommt dabei nämlich nicht von dem Zeitpunkt an zustande, als die Partner den Ehewillen erklärten (ex tunc), sondern erst vom Zeitpunkt der Heilung an (ex nunc).
○ Deswegen sind diese Arten von Heilung einer Ehe auch dann möglich, wenn zunächst etwas vom göttlichen Recht her Notwendiges fehlte.
○ Wenngleich durch die Heilung einer Ehe die Ehe selbst erst zum Zeitpunkt der Heilung zustande kommt (ex nunc), kann doch verfügt werden, dass die kanonischen Wirkungen der Ehe (z. B. die „Ehelichkeit“ der vorher gezeugten Kinder) schon von einem früheren Zeitpunkt an (ex tunc) eintreten. Diese Form der Heilung nennt der CIC „Heilung in der Wurzel“ (sanatio in radice; cc. 1161-1165).