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§ 1 – Kanonisches Recht und Kanonistik

A. Die Begriffe „Kanonisches Recht“ und „Kirchenrecht“


1. „Kanonisches“ Recht


  • Für das Recht der katholischen Kirche ist sowohl die Bezeichnung „kanonisches Recht“ als auch die Bezeichnung „Kirchenrecht“ gebräuchlich. Zwischen diesen beiden Ausdrücken besteht insoweit kein Unterschied.
  • Der Ausdruck „kanonisches Recht“ leitet sich ab von griech. kanèn = Richtschnur, Lineal, Regel, Norm. Der Ausdruck wurde schon früh für kirchliche Normen verwendet, um den Ausdruck für staatliche Normen (griech. nÒmoj bzw. lat. lex) zu vermeiden.
  • Mit dem Ausdruck „kanonisches Recht“ wird in erster Linie der „Codex des kanonischen Rechts (CIC)“ assoziiert. Das Kanonische Recht ist aber nicht auf den CIC begrenzt, sondern umfasst das gesamte kirchliche Recht. Z. B. stellt auch die für eine bestimmte Diözese geltende Wahlordnung für den Pfarrgemeinderat „kanonisches Recht“ dar.
  • Der Ausdruck „kanonisches Recht“ ist nicht nur in der katholischen Kirche üblich, sondern auch in den orthodoxen Kirchen und bei den Anglikanern.1
  • Im protestantischen Sprachgebrauch begegnet der Ausdruck „kanonischem Recht“ hingegen nicht; dort wird nur der Ausdruck „Kirchenrecht“ verwendet.





2. „Kirchenrecht“


  • Der Ausdruck „Kirchenrecht“ ist vieldeutig. Er wird nicht nur für das eigene Recht der verschiedenen christlichen Konfessionen verwendet, sondern z. T. auch für staatliche Bestimmungen, die sich mit Religion und Religionsgemeinschaften befassen („Religionsrecht“ = „Staatskirchenrecht“).
  • Z. B. gibt es an juristischen Fakultäten einiger deutscher Universitäten Lehrstühle für „Kirchenrecht“ (allerdings nicht als einziges Fach, sondern in Kombinationen wie z. B. „Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Kirchenrecht“). Dort befasst man sich in erster Linie mit staatlichem Recht, ggf. aber auch mit kirchlichem Recht.





3. „Recht“


  • Was die Bedeutung des Begriffs „Recht“ angeht, lässt sich zwischen „subjektivem“ und
    „objektivem Recht“ unterscheiden:
    ○ „subjektives Recht“ = die jemandem gewährleistete Befugnis, etwas Bestimmtes beanspruchen zu können = das Recht, das man „hat“
  • z. B. Menschenrechte, Grundrechte, Recht auf Privatsphäre

    1 Vgl. etwa http://www.canonlaw.org (interkonfessionell) oder http://canonlaw.anglican.org/Section15.htm (anglikanisch).





○ „objektives Recht“ = die einzelne Rechtsnorm; ebenso die „Rechtsordnung“, d. h. die Gesamtheit der für eine Gemeinschaft geltenden Rechtsnormen = das Recht, das „gilt“


  • „Objektives Recht“ und „subjektive Rechte“ hängen natürlich zusammen.
    ○ Z. B. lässt sich aus der Rechtsordnung der Kirche (= objektives Recht) das (subjektive) Recht eines Paares auf eine kirchliche Eheschließung ableiten, vorausgesetzt, dass die rechtlich vorgesehenen Erfordernisse gegeben sind (vgl. c. 1058)
  • Den subjektiven Rechten des einzelnen entsprechen immer Pflichten auf Seiten anderer.
    ○ Z. B. entspricht dem Recht auf ein kirchliches Begräbnis die Verpflichtung seitens der zuständigen Amtsträger, dieses Begräbnis zu gewähren (c. 1176 § 1).
  • Man kann dabei nicht nur von subjektiven Rechten einzelner sprechen, sondern auch von subjektiven Rechten der kirchlichen Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen, der insofern einer entsprechenden Pflicht unterliegt.
    ○ Z. B. hat die Gemeinschaft der Kirche ein Recht darauf, von den einzelnen entsprechend ihren jeweiligen Möglichkeiten materiell unterstützt zu werden. Dem entspricht die Pflicht der einzelnen, diese Unterstützung zu leisten (c. 222 § 1).
  • Ebenso wie der deutsche Begriff „Recht“ können sich auch Begriffe anderer Sprachen sowohl auf das objektive Recht als auch auf subjektive Rechte beziehen. Das gilt insbesondere auch für das Lateinische („ius“) und die romanischen Sprachen (z. B. „diritto“, „droit“, „derecho“).
  • Hingegen verwendet z. B. das Englische unterschiedliche Ausdrücke: Das subjektive Recht heißt „right“ (z. B. „human rights“), das objektive Recht „law“ (z. B. „canon law“). Andererseits ist dem englischen Wort „law“ eine Doppeldeutigkeit eigen, die es im Deutschen so nicht gibt,
    denn „law“ bezeichnet nicht nur das „Recht“, sondern auch das „Gesetz“, d. h. geschriebene Rechtsnormen allgemeiner Art.





B. Das Verhältnis zwischen Kanonischem Recht und staatlichem Recht


  • Die Ausdrücke „kanonisches Recht“ bzw. „Kirchenrecht“ setzen voraus, dass es auch in der Kirche ein ähnliches Phänomen geht, wie es aus dem staatlichen Bereich bekannt ist, eben das Phänomen „Recht“.
  • Die Antwort auf die Frage, ob das kanonische Recht wirkliches Recht ist oder nicht, hängt davon ab, wie man den Begriff „Recht“ definiert.
    ○ Rechtswissenschaftliche Lehrbücher setzen manchmal voraus, dass „Recht“ nur vom Staat ausgehen kann. Ein eigenes Recht anderer Gruppierungen wird allenfalls insoweit anerkannt, als es auf einer vom Staat abgeleiteten Rechtsetzungsbefugnis beruht. Nach solchen Definitionen könnte man die Normen, die die Kirche unabhängig von staatlicher Bevollmächtigung erlässt, nicht als „Recht“ bezeichnen.
    ○ Solche Definitionen geben aber nicht den üblichen Sprachgebrauch wieder. So, wie man das Wort „Recht“ normalerweise im Deutschen verwendet, lässt es sich durchaus auch auf die eigenen Vorschriften der Kirche anwenden.
    ○ Von der Sache her ist die Behauptung widersprüchlich, die Existenz von Recht setze den Staat voraus. Zutreffend ist vielmehr das Gegenteil: die Existenz eines Staates setzt bereits Recht voraus. Andernfalls würde die staatliche Gewalt letztlich auf bloß faktischer Macht beruhen.
  • Letztlich ist die terminologische Frage nicht entscheidend. Schon die Tatsache, dass es in der Kirche Bestrebungen gab, nicht einfach die staatliche Terminologie zu übernehmen (vgl. das oben zum Wort kanèn Gesagte), deutet darauf hin, dass der Kirche gar nicht daran gelegen ist, dass ihre Normen als Normen derselben Art angesehen werden wie die Normen des staatlichen Rechts.





  • Problematisch würde es aber, wenn man aus der Entscheidung für eine bestimmte Terminologie normative Forderungen ableiten wollte:
    ○ Z. B. wäre es nicht hinnehmbar, wenn ein Staat mit Berufung darauf, dass die Kirche kein eigenes „Recht“ haben könne, die Kirche daran hindern wollte, ihre eigenen Angelegenheiten in selbständiger Weise zu ordnen, und verlangen würde, dass die Kirche sich bei der Ordnung ihrer Angelegenheiten an jene Vorgaben des staatlichen Rechts hält, wie sie etwa für die Statuten von Vereinen bestehen.
    ○ Umgekehrt wäre es ebensowenig akzeptabel, wenn man behaupten würde, die Kirche habe wie der Staat ein eigenes „Recht“ und deswegen müssten für das Recht der Kirche – abgesehen vom unterschiedlichen Ursprung der Normen – genau dieselben Merkmale
    gelten wie für das staatliche Recht, z. B. im Hinblick auf die Erzwingbarkeit. Vielmehr muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass das Recht der Kirche ein Recht eigener Art ist.
  • Letztlich ist also nicht die Terminologie entscheidend, sondern die Fakten.
    ○ Ähnlichkeit mit dem staatlichen Recht:
  • ein System von Normen, die Befolgung verlangen
  • Vorhandensein von Mitteln zur Durchsetzung dieser Normen
    ○ Unterschiede zum staatlichen Recht:
  • andere Quelle der Normen
  • anderes (nicht nur innerweltliches) Ziel der Rechtsordnung
  • andere Mittel, die Einhaltung der Normen durchzusetzen: im wesentlichen nur Sanktionen „geistlicher“ Art
  • Im Übrigen wäre es einseitig, als Analogie für das Kirchenrecht allein das staatliche Recht zur Hand zu nehmen; vielmehr kann es hilfreich sein, auch andere Analogien zu Rate zu ziehen. Ist die Kirche unter rechtlicher Rücksicht eher dem Staat ähnlich oder eher Greenpeace?
    Wenn man solche Fragen vorurteilsfrei angeht, wird man vermutlich feststellen, dass das Recht der Kirche unter manchen Rücksichten eher staatlichem Recht ähnlich ist und unter anderen Rücksichten eher dem Recht einer auf freiwilligem Beitritt basierenden Organisation.





C. Einteilung

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  • Im Laufe ihrer Geschichte ist der Kirche zunehmend bewusst geworden, dass es innerhalb ihrer Rechtsnormen zwei verschiedene Stufen gibt: Einerseits Normen, die der Kirche unverfügbar vorgegeben und daher in ihrem Kern unwandelbar sind, und andererseits Normen, die entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen von der Kirche unterschiedlich gestaltet werden können.





  • Kurz gesagt, fasst man diese beiden Stufen unter den Begriffen „göttliches Recht“ (ius divinum) und „menschliches Recht“ zusammen.
  • Es gibt also eine Hierarchie der Rechtsnormen (vgl. im Bereich des staatlichen Rechts die Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und einfacher Gesetzgebung).
  • Das menschliche Recht wird durch das göttliche Recht legitimiert, limitiert und normiert2:
    ○ Legitimation: Das menschliche Kirchenrecht hat seinen Existenzgrund im göttlichen Recht.
    ○ Limitation: Das menschliche Recht darf zum göttlichen Recht nicht in Widerspruch treten.
    ○ Normierung: Das menschliche Kirchenrecht ist von seinem Inhalt her nicht beliebig, sondern muss inhaltlich vom göttlichen Recht geprägt sein.





1. Göttliches Recht



a) Unterscheidung zwischen „Naturrecht“ und „positivem göttlichen Recht“
Innerhalb des göttlichen Rechts lassen sich zwei Teilbereiche unterscheiden, je nachdem, ob es um Rechtsnormen geht, die sich aus der Schöpfung ergeben, oder um Rechtsnormen, die von der Offenbarung in Jesus Christus abhängig sind.



(1) Naturrecht


  • Als „Naturrecht“ bezeichnet man jenen Teil des den Menschen vorgegebenen Rechts, der mit den Mitteln der Vernunft zu erkennen ist, auch ohne den Rückgriff auf eine göttliche Offenbarung
  • Dabei fallen aber nicht alle moralischen Normen unter den Begriff „Recht“, sondern nur jene, die sich auf die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens beziehen.
  • Das Naturrecht hat eine hohe Bedeutung im Bereich des staatlichen Rechts; das gilt vor allem für die Menschenrechte
  • Innerhalb des Kirchenrechts ist das Naturrecht nicht von so ausschlaggebender Bedeutung, weil sich ja auch die Kirche selbst nicht schon aus der Natur des Menschen ergibt.
  • Beispiele für naturrechtliche Normen im CIC:
    ○ alle Normen, bei denen es um den Schutz der Menschenwürde geht; z. B. c. 220: „Niemand darf den guten Ruf, den jemand hat, rechtswidrig schädigen oder das persönliche Recht eines jeden auf den Schutz der eigenen Intimsphäre verletzen.“
    ○ einige Normen des Eherechts (da das Sakrament der Ehe – im Gegensatz zu den anderen Sakramenten – bereits ein natürliches Rechtsinstitut voraussetzt); z. B. das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft zwischen Eltern und ihren Kindern (c. 1091)



(2) positives göttliches Recht = Offenbarungsrecht


  • Als „positives göttliches Recht“ bezeichnet man jenen Teil des göttlichen Rechts, der in seinem Kern auf Jesus Christus zurückgeht.
  • Das heißt nicht, dass Jesus in einer Art Gesetzgebungsakt die einzelnen Normen des positiven göttlichen Rechts „erlassen“ hat. Vielmehr hat die Kirche erst im Laufe der Jahrhunderte nach und nach erkannt, welche Normen ihr unverfügbar vorgegeben sind.
  • Das positive göttlichen Recht ist nur im Glauben erkennbar, und zwar auf der Grundlage der Heiligen Schrift, wie sie in der kirchlichen Überlieferung verstanden und vom kirchlichen Lehramt verbindlich ausgelegt wird





2 Vgl. A. Hollerbach, Göttliches und Menschliches in der Ordnung der Kirche, in: FS Erik Wolf, S. 225f.





  • Die meisten Normen des positiven göttlichen Rechts, die sich im CIC finden, sind auch irgendwie als solche kenntlich gemacht; Beispiele:
    ○ die Sakramente (c. 840: „von Christus dem Herrn eingesetzt“)
    ○ der Papst als Inhaber des Petrusamtes (c. 331: „der Bischof der Kirche von Rom, in dem das vom Herrn einzig dem Petrus, dem Ersten der Apostel, übertragene und seinen Nachfolgern zu vermittelnde Amt fortdauert“)
    ○ die Bischöfe als Nachfolger der Apostel (c. 375: „die Bischöfe, die kraft göttlicher Einsetzung durch den Heiligen Geist, der ihnen geschenkt ist, an die Stelle der Apostel treten“)
    ○ die Unterscheidung zwischen geistlichen Amtsträgern („Klerikern“) und Laien (c. 207 § 1: „kraft göttlicher Weisung“)



b) allgemeine Merkmale des göttlichen Rechts


  • Bei allen Normen des göttlichen Rechts stellt sich das Problem ihrer nicht einfachen Erkennbarkeit.
    ○ Dieses Problem stellt sich übrigens auch im Hinblick auf das Gewohnheitsrecht. Damit stellt es sich bei allen Teilen des kanonischen Rechts mit der alleinigen Ausnahme des gesatzten Rechts.
    ○ Zwar sind bestimmte Normen des CIC ausdrücklich als „göttliches Recht“ gekennzeichnet. Aber wenn eine Norm von ihrem Inhalt her zum göttlichen Recht gehört, hat sie unmittelbar Geltung, unabhängig davon, ob sie in kirchlichen Dokumenten (wie dem CIC) ausdrücklich
    aufgenommen ist oder nicht.
  • Dass der CIC eine bestimmte Rechtsnorm als „göttliches Recht“ kennzeichnet, stellt eine Äußerung des kirchlichen Lehramts dar. Das heißt nicht mit Notwendigkeit, dass es sich um eine unfehlbare Äußerung handelt. Faktisch sind allerdings einige der betreffenden Aussagen im Laufe der Geschichte der Kirche als Dogmen definiert worden.
    ○ Für die Frage, welches die Normen des göttlichen Rechts sind, ist nicht so sehr die Kanonistik zuständig, sondern
  • was das Naturrecht angeht, die Philosophie und Moraltheologie,
  • was das positive göttliche Recht angeht, die Dogmatik; denn dabei handelt es sich im Grunde um Glaubensfragen.
  • Das göttliche Recht ist in seinem Kern menschlicher Veränderung entzogen.
    ○ Beim Versuch, die Normen des göttlichen Rechts zu erkennen, kann die Kirche aber Fortschritte machen. Auch Rückschritte sind – solange keine unfehlbaren Definitionen vorliegen – nicht ausgeschlossen.
    ○ Die Normen des göttlichen Rechts liegt nicht in einer unveränderlichen sprachlichen Form vor. Auch bei der sprachlichen Ausformulierung durch die Kirche kann es Fortschritte (und Rückschritte) geben.
  • Das göttliche Recht ist für seine Konkretisierung auf menschliche Ausgestaltung angewiesen.
    ○ Beispiele:
  • Die Unauflöslichkeit der Ehe gilt als eine Norm des göttlichen Rechts. Damit ist aber noch nicht ohne weiteres klar, für welche Ehen diese Norm gilt. Dazu bedarf es der Konkretisierung durch das menschliche Kirchenrecht.
  • Aus der Lehre, dass das Weihesakrament von Christus eingesetzt ist, ergibt sich noch nicht unmittelbar, mit welchen äußeren Zeichen dieses Sakrament gespendet wird (vgl. die Festlegungen durch Papst Pius XII.).





2. Menschliches Recht


  • Der CIC spricht von „rein kirchlichem“ Recht (vgl. c. 11: „Legibus mere ecclesiasticis …“).
  • Im Gegensatz zum göttlichen Recht, das in seinem Kern unveränderlich ist, ist das menschliche Kirchenrecht prinzipiell veränderlich. Es gibt viele Dinge, die zwar irgendwie geordnet sein sollten, die aber im Detail so oder so geordnet werden könnten.
    ○ Beispiel: Ist es sinnvoll, in allen Diözesen zu verlangen, dass es eine Gliederung in Dekanate gibt?
  • Das heißt aber nicht, dass das menschliche Kirchenrecht beliebig verändert werden könnte. Es muss sich an den Vorgaben des göttlichen Rechts orientieren, es muss inhaltlich vernünftig und sachlich angemessen sein, es muss in der Lage sein, der Kirche und den einzelnen Christen zu helfen, ihr Ziel zu erreichen.
  • Innerhalb des menschlichen Rechts lässt sich unterscheiden zwischen Gewohnheitsrecht und gesatztem Recht; Kriterium: die Schriftform.



a) Gewohnheitsrecht


  • Es ist praktisch in allen menschlichen Gesellschaften so, dass sich das Recht zunächst in Form von Gewohnheitsrecht entwickelt hat und erst im Laufe der Zeit nach und nach Schriftform angenommen hat. Das gilt auch für die Kirche.
  • Im staatlichen Recht spielt das Gewohnheitsrecht heute nur noch eine sehr geringe Rolle.
  • Verglichen damit hat im kirchlichen Recht das Gewohnheitsrecht etwas mehr Bedeutung; insgesamt ist die Bedeutung des Gewohnheitsrechts aber auch in der Kirche ziemlich gering.
    ○ Der CIC enthält in c. 5 sowie in cc. 23-28 Normen über die Entstehung und Geltung von Gewohnheitsrecht.
    ○ Auch eine Reihe von Einzelvorschriften weisen ausdrücklich auf die Geltung des Gewohnheitsrechts hin, z. B. c. 952 § 2: „Wo ein derartiges Dekret [über die Höhe der Messstipendien] fehlt, ist das in der Diözese geltende Gewohnheitsrecht zu beachten.“



b) gesatztes Recht


  • Statt von „gesatztem Recht“ spricht man auch von Gesetzesrecht. Genau genommen gehören zu diesem Teil des menschlichen Rechts nicht nur die Gesetze, sondern auch andere schriftliche Rechtsquellen (z. B. Ausführungsverordnungen, Statuten, Verträge).
  • Das gesatzte Recht macht den Großteil des geltenden kirchlichen Rechts aus. An erster Stelle gehört dazu der CIC. Daneben gibt es aber noch zahlreich andere Quellen.
  • Gesetzgeber sind in der Kirche der Papst und die Bischöfe, sei es als einzelne oder in bestimmten Gruppierungen (z. B. Konzil, Bischofskonferenz).





D. Kanonistik


  • Als „Kanonistik“ bezeichnet man die Wissenschaft vom kanonischen Recht; wer diese Wissenschaft betreibt, heißt „Kanonist“
    ○ Demgegenüber wird der Ausdruck „Kirchenjurist“ nur für evangelische Kirchenrechtler verwendet.
  • Die Entstehung der Kanonistik als eigenständiger Wissenschaft wird gewöhnlich mit dem Decretum Gratiani (um 1142) angesetzt, verfasst von dem Mönch Gratian, dem „Vater der Kanonistik“. Natürlich wurden auch schon vorher kanonistische Fragen behandelt, aber doch nicht in so systematischer Weise.


  • Aufgaben der Kanonistik:
    ○ Beschäftigung mit den Grundlagenfragen des Kirchenrechts (Wesen und theologische Begründung des Kirchenrechts)
    ○ Sammlung und Ordnung des Rechtsstoffes
    ○ historische und systematische Deutung der kirchenrechtlichen Normen
    ○ Reflexion über die Anwendung der Normen
    ○ Behebung von Mängeln (z. B. Widersprüche, Rechtslücken)
    ○ Anregungen für die Weiterentwicklung der Normen
  • Die Kanonistik ist eine theologische Disziplin und hat im Hochschulwesen ihren Ort daher – abgesehen von speziellen kanonistischen Fakultäten – primär an den theologischen Fakultäten. Das schließt natürlich nicht aus, dass man sich auch an juristischen Fakultäten mit Kanonistik beschäftigt.
  • Die Kanonistik gilt im kirchlichen Hochschulrecht als eigenes Fach (so wie Philosophie und Theologie) mit eigenen akademischen Graden: Lic. iur. can. und Dr. iur. can.
    ○ Voraussetzung für das Lizentiatsstudium ist in Deutschland entweder das Diplom in Theologie oder ein abgeschlossenes Jurastudium, zusammen mit einer Ergänzung durch ein gewisses Maß an theologischen Studien.
    ○ Das Lizentiatsstudium dauert drei Jahre und umfasst ca. 12-15 einzelne kanonistische Fächer.
    ○ Das Doktorat im kanonischen Recht setzt das Lizentiat im kanonischen Recht voraus. In Deutschland besteht zwar die Möglichkeit, nach einem Diplom in Theologie anschließend sofort – also ohne den Weg über ein Lizentiat – das Doktorat in Theologie zu erwerben. Im kanonischen Recht führt hingegen kein Weg um das Lizentiat herum. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass jemand gerade durch den Erwerb des Lizentiats im kanonischen Recht zum „Kanonisten“ wird.
    ○ Die entsprechenden Titel im englischsprachigen Raum lauten: JCL und JCD.
    ○ Der Titel „Dr. iur. utr.“ (= doctor iuris utriusque, d. h. „Doktor beider Rechte“) ist ein Titel des staatlichen Hochschulrechts. Er wird erworben durch ein Jurastudium, zu dem einige
    kanonistische Bestandteile hinzukommen.
  • Diese Möglichkeit besteht in Deutschland an den juristischen Fakultäten der Universitäten Köln, Potsdam und Würzburg.
    ○ Akademische Grade im Kanonischen Recht können nur erworben werden an einer kanonistischen Fakultät oder einem ihr gleichberechtigten Institut.


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  • Weltweit gibt es ca. 40 solche Institutionen, davon sieben in Rom.
  • In Deutschland:
  • an der Uni München: das Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik (Lic. iur. can. und Dr. iur. can.)
  • an der Uni Münster: das Kanonistische Institut (nur Lic. iur. can.)
  • typische Einsatzfelder für Kanonisten:
    ○ an den Diözesangerichten (für die Ämter eines Richters, Bandverteidigers und Kirchenanwalts wird das Lizentiat im kanonischen Recht vorausgesetzt – cc. 1421 § 3, 1435)
    ○ in den Ordinariaten in der Abteilung für kirchliches Recht
    ○ an den theologischen Fakultäten
  • weltweit ca. 75 kanonistische Zeitschriften