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§ 5 – Geschichte des Kirchenrechts

  • Literatur:
    ○ zur Geschichte der Quellen:
  • Péter Erdő, Die Quellen des Kirchenrechts, Frankfurt u. a. 2002
  • Jean Gaudemet, Les sources du droit de l’église en Occident du IIIe au VIIe siècle, Paris 1985
  • ders., Les sources du droit canonique, VIIIe au XXe siècle, Paris 1993
  • Georg May, Kirchenrechtsquellen, in: TRE, Bd. 19, S. 1-44
    ○ zur Geschichte der Kanonistik:
  • Péter Erdő, Geschichte der Wissenschaft vom kanonischen Recht, Münster 2006
  • Die Geschichte des Kirchenrechts lässt sich unter verschiedenen Rücksichten untersuchen:
    ○ die Geschichte der Rechtsquellen: Welche Rechtsnormen wurden von wem erlassen, und wo wurden sie veröffentlicht?
    ○ die Geschichte des Inhalts der Rechtsnormen: Wie haben sich die einzelnen Rechtsinstitute (z. B. die Ämter, die Pfarrei, die Sakramente usw.) im Laufe der Zeit entwickelt?
    ○ die Geschichte der Kanonistik, d. h. der Wissenschaft vom Kanonischen Recht


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  • Im Folgenden geht es vor allem um die erste Fragestellung (→ Quellen); außerdem werden einige Hinweise im Hinblick auf die dritte Fragestellung (→ Kanonistik) gegeben. Eine Darstellung der Geschichte der einzelnen rechtlichen Inhalte würde hingegen weit mehr Raum
    erfordern, als hier zur Verfügung steht.
  • Der Versuch einer Periodisierung unterscheidet meistens vier Epochen:
    1. das kanonische Recht vor Gratian (ius vetus; bis 1140),
    2. das Recht der Zeit von Gratian bis Trient einschließlich (ius novum; 1140-1563),
    3. das nachtridentinische Recht (1563-1917),
    4. das kodikarische Recht (seit 1917).

A. Das kanonische Recht vor Gratian (bis 1140)

  • Schon im NT finden sich rechtliche Anordnungen. Das NT als solches ist aber natürlich nicht eine Rechtsquelle im formellen Sinn.
  • In den ersten Jahrhunderten der Kirche hat das Gewohnheitsrecht (also das nicht schriftlich niedergelegte Recht) noch eine große Bedeutung.
  • Schriftliche Rechtsquellen kommen zunächst nur in einzelnen Teilen der Kirche auf, nicht gleich in der Gesamtkirche. Das kann nicht überraschen, denn es gab ja zunächst keine allgemein anerkannte höchste Autorität in der Kirche.
  • Die frühesten Quellen sind die „Kirchenordnungen“ der alten Kirche, vor allem die „pseudo-apostolischen Sammlungen“ (so genannt, weil sie sich auf die Apostel als ihre Verfasser beriefen)
    ○ Didache (Ende 1. Jh.), Traditio Apostolica (Hippolyt von Rom zugeschrieben, Anf. 3. Jh.), Didaskalie (Mitte 3. Jh., Syrien), Apostolische Konstitutionen (Ende 3. Jh.)
    ○ Einige dieser Dokumente haben nur teilweise rechtlichen Charakter.
    ○ Die wirklichen Verfasser dieser Quellen sind in den meisten Fällen nicht bekannt. Als „Rechtsquellen“ sind sie nicht deswegen zu qualifizieren, weil sie von einer Autorität mit Rechtssetzungsgewalt erlassen worden wären, sondern weil sie vermutlich vor allem das schriftlich niederlegten, was auch schon vorher gewohnheitsrechtlich praktiziert wurde.
  • Im Laufe der Zeit kommen weitere Rechtsnormen hinzu:
    ○ Beschlüsse von teilkirchlichen Bischofsversammlungen = Synoden
  • Durch diese Synode zog der Ausdruck canon für die kirchlichen Normen in den Sprachgebrauch der Kirche ein.
    ○ seit Nikaia (325) Beschlüsse der Ökumenischen Konzilien
    ○ rechtlich verbindliche Schreiben („Dekretalen“ = litterae decretales) der Päpste, mit einer gewissen Häufigkeit seit dem 5. Jh.
    ○ Gesetze der römischen Kaiser (und sonstiger staatlicher Autoritäten) für die Kirche
  • Aus heutiger Sicht wären solche Gesetze als Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheit zu werten. Aber im Römischen Reich, in dem Kaiser Theodosius im Jahre 380 den christlichen Glauben zur Staatsreligion gemacht hatte, sah man das anders.
  • Nach und nach beginnt man, diese Rechtsnormen zu sammeln.
  • Die Sammlungen, die in den ersten sechs Jahrhunderten entstanden, listen die Rechtsquellen einfach chronologisch auf, z. B.:
    ○ Syntagma Canonum Antiochenum (Antiochia, 4./5. Jh.)
    ○ Prisca (= Itala) und Versio Hispana (5. Jh.)
    ○ Collectio Dionysiana (vom Mönch Dionysius Exiguus, um 500, Rom); 802 in einer durch Papst Hadrian I. erweiterten Fassung (Collectio Dionysio-Hadriana) zum Gesetzbuch der Fränkischen Kirche gemacht


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○ Collectio Hispana (= Isidoriana), Mitte 6. Jh., fälschlich Isidor von Sevilla zugeschrieben
○ Pseudoisidorische Dekretalen (um 850, Fälschung, Verfasser nennt sich „Isidor Mercator“)
 Sie enthalten unter anderem die (falsche) Urkunde über die „Konstantinische Schenkung“.
 Dass einzelne Teile falsch waren, fiel schon seit der Entstehungszeit auf; dass die Sammlung als ganze eine Fälschung war, wurde erst im 15. Jahrhundert nachgewiesen.
 Im oströmischen Reich entstehen die „Nomokanones“; sie enthielten sowohl weltliches (nomos) als auch kirchliches (kanon) Recht.
 Im Frühmittelalter entstehen die „Kapitularien“, Rechtssammlungen der fränkischen Könige über kirchliche und weltliche Angelegenheiten.
 Vor allem in der irisch-britischen Kirche werden „Bußbücher“ (libri paenitentiales) geschrieben, seit dem 6./7. bis etwa zum 10. Jh.
 Ab dem 9. Jahrhundert gibt es auch systematische Rechtssammlungen (die also nicht mehr chronologisch, sondern nach Themen geordnet waren), z. B.:
○ Collectio Dacheriana (Ende 8. Jh., Frankreich; benannt nach dem späteren Herausgeber im 17. Jh.)
○ Collectio Anselmo dedicata (Ende 9. Jh., Italien)
○ Libri duo de synodalibus causis (um 906, von Regino von Prüm)
○ Decretum des Bischofs Burchard von Worms (um 1020)
○ drei Sammlungen des Bischofs Ivo von Chartres (um 1095): Collectio Tripartita, Decretum und Panormia
 Die meisten Sammlungen aus der Zeit vor Gratian bauen jeweils auf älteren Sammlungen auf:
Sie wiederholen mehr oder weniger die Inhalte der älteren Sammlungen und fügen dann das ein oder andere hinzu.
 Inhaltlich gesehen gibt es seit der Konstantinischen Wende einen zunehmenden Einfluss des römischen Rechts auf das Kirchenrecht. Nach der Völkerwanderung üben demgegenüber mehr und mehr Elemente des germanischen Rechts ihren Einfluss auf das Kirchenrecht aus (Lehnswesen, Eigenkirchenwesen, Benefizium, vermehrte Zuhilfenahme des Eides u. ä.).
 Der Verlust der Einheit zwischen der Kirche des Ostens und des Westens führt dazu, dass sich seit dem 11. Jh. auch deren rechtliche Traditionen auseinanderentwickeln.
B. Von Gratian bis Trient (1140-1563)

  • Gratian: Kirchenrechtler, tätig in Bologna
  • Originaltitel seines Werkes: Concordia discordantium canonum; später als Decretum Gratiani bezeichnet
    ○ entstanden um 1142
    ○ = sowohl Quellensammlung als auch Kommentar und Lehrbuch
    ○ Versuch einer systematischen Harmonisierung der kirchlichen Gesetze
  • nach scholastischer Methode
  • vergleichbar dem, was Petrus Lombardus einige Jahre später auf dem Gebiet der dogmatischen Theologie unternahm
    ○ damit Beginn der Etablierung des kanonischen Rechts als einer selbständigen Disziplin
    (Gratian = „Vater der Kanonistik“)
    ○ = eine privates Werk; keine offizielle Anerkennung
    ○ Das Decretum Gratiani diente als Modell für die nachfolgenden Sammlungen.
  • Kommentierung des Decretum Gratiani durch die „Dekretisten“ ○ Erläuterungen (glossae):


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  • zunächst Glossen (glossae interlineares, glossae marginales)
  • später selbständig veröffentlicht (als apparatus glossarum oder einfach glossae)
    ○ später systematische Kommentare („Summen“, summae)
    ○ Dekretisten: Rolandus von Bologna (Mitte 12. Jh.), Stephan von Tournai (+ 1203), Sicard von Cremona (+ 1205), Huguccio von Pisa (+ 1210), Johannes Zemecke, genannt Johannes Teutonicus (+ 1246), Laurentius Hispanus (+ 1248), Verfasser der Glossa 1ordinaria (= der wichtigste Kommentar zum Decretum Gratiani) u. a.
  • Sammlungen päpstlicher Dekretalen aus der Zeit nach Veröffentlichung des Decretum Gratiani
    ○ nach und nach quinque compilationes, die die litterae decretales der Päpste sammelten
    ○ Sie wurden 1234 auf Veranlassung Papst Gregors IX. durch Raimund von Peñafort im Liber Extra (weil „außerhalb“ des Decretum Gratiani; offizieller Name: „Dekretalen Gregors IX.“) zusammengefasst
  • Der hl. Raimund von Peñafort OP gilt als der Patron der Kanonisten.
  • Der Liber Extra ist das erste offiziell von einem Papst für die gesamte Kirche erlassene Rechtsbuch.
    ○ 1298 Liber Sextus (weil Fortsetzung der fünf Bücher des Liber Extra) auf Veranlassung Papst Bonifaz VIII.
    ○ 1314 „Klementinen“ auf Geheiß Papst Clemens V., promulgiert von Johannes XXII.: Beschlüsse des Konzils von Vienne (1311-1312) und Dekretalen aus der Zeit nach 1298
    ○ spätere Dekretalen unter den Titel „Extravaganten“ hinzugefügt
  • Kommentierung der Dekretalen durch die „Dekretalisten“: Bernhard von Pavia (+ 1213), Richard de Lacy, genannt „Anglicus“ (+ 1227), Sinnibaldus Fliscus (= Innozenz IV., + 1254), Heinrich von Segusia, genannt Hostiensis, Verfasser der Summa aurea (+ 1271), Johannes Andreae (+ 1348)
    ○ Das 12. und 13. Jh. gelten als die Blütezeit des mittelalterlichen kanonischen Rechts. Die Wiederentdeckung des alten römischen Rechts im weltlichen Rechtsbereich wirkt sich erneut auch auf das Kirchenrecht aus.
  • seit dem 14. Jahrhundert Rückgang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem kanonischen Recht; größere Praxisorientierung
    ○ Responsa oder Consilia, die Rechtsauskünfte auf praktische Fragen geben
    ○ Bußsummen (Summa de casibus, Summa confessorum)
  • 1520 Verbrennung des Corpus iuris canonici durch Luther
  • 1580: Der Papst empfiehlt das Corpus iuris canonici als approbierte Sammlung für die kirchliche Rechtslehre und Praxis und veranlasst eine offizielle Ausgabe.
    ○ Die Bezeichnung „Corpus iuris canonici“ ist für diese Sammlung erst seit dem 17. Jahrhundert anzutreffen. Sie wurde offenbar in Analogie zum Corpus iuris civilis gewählt, das der oströmische Kaiser Justinian (527-565) veröffentlicht hatte.
    ○ Das Corpus iuris canonici umfasst:
  • das Decretum Gratiani (= privat)
  • die Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra) (= offiziell)
  • den Liber Sextus Bonifaz` VIII. (= offiziell)
  • die Klementinen (nach Klemens` V.) (= offiziell)
  • zwei Sammlungen von „Extravaganten“ (= privat)
  • die Extravagantes Joannis XXII
  • die Extravagantes communes
    ○ lange in Gebrauch, im Grunde bis zum CIC/1917
  • im 15./16. Jh. über 200 mal gedruckt
    ○ heute gebräuchliche Ausgabe von Emil Friedberg (Leipzig 1879/81, Neudruck Graz 1955)
  • genügt nicht den Ansprüchen einer kritischen Ausgabe; eine kritische Neuausgabe des Decretum Gratiani ist seit 1952 in Vorbereitung.


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○ Das Corpus Iuris Canonici ist auch online zugänglich.9
C. Das nachtridentinische Recht (1563-1917)

  • Zwischen 1314 (Klementinen) und dem CIC/1917 gab es keine offiziellen Rechtssammlungen mehr.
  • Das Konzil von Trient erließ neben lehrmäßigen Dokumenten auch rechtliche Anordnungen („Reformdekrete“).
  • seit dem 18. Jh. private Sammlungen päpstlicher Bullen
    ○ vor allem das Magnum Bullarium Romanum (32 Bde.), für die Zeit von 440 bis 1758, erschienen 1733-1762
    ○ Prima Bullarii Romani continuatio, 19 Bde., erschienen 1842-1857
    ○ Altera continuatio, 9 Bde., erschienen 1840-1856
    ○ weitere Bullarien für einzelne Päpste oder eine Reihe von Päpsten
  • private Sammlungen von Erlassen der verschiedenen Kurienbehörden
    ○ Thesaurus Resolutionum SC Concilii, 167 Bde., für die Zeit zwischen 1700 und 1908, erschienen ab 1739
  • Die „Konzilskongregation“ ist mit Abstand die bedeutendste Kongregation dieser Zeit. Ihr wurde 1564 die Aufgabe übertragen, das tridentinische Recht zu interpretieren und damit weiterzuentwickeln. 1587 bekam sie außerdem die Aufsicht über teilkirchliche Synoden und die Verantwortung für die Rom-Besuche der Bischöfe.
    ○ Ius Pontificium SC de Propaganda Fide (8 Bde.), erschienen 1839-1858
    ○ Decreta authentica SC Sacrorum Rituum, (8 + 5 Bde.), erschienen 1807-1858 und 1898-1901
  • Bedeutung der Partikularsynoden
    ○ Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 59 Bde., erschienen 1901-1927
  • 1865 schuf der Apostolische Stuhl ein Amtsblatt, zunächst unter dem Titel Acta Sanctae Sedis. 1909 wurde der Titel geändert in Acta Apostolicae Sedis; so heißt das Amtsblatt bis heute.
    ○ Es ist auch online zugänglich: http://www.vatican.va/archive/aas/index_it.htm
  • wachsende Unübersichtlichkeit; die Praefatio zum CIC/1983 spricht von einem „ungeheuren Berg aufeinandergetürmter Gesetze“

D. Das kodikarische Recht (seit 1917)
1. der CIC/1917

  • Die wachsende Unübersichtlichkeit des geltenden Rechts führte zur Forderung nach einer Kodifizierung.
    ○ Der Wunsch kam immer wieder zur Sprache, bereits auf dem Konzil von Trient, verstärkt im
    19. Jh., vor allem seit der Ankündigung des Ersten Vatikanum (1869/70)
    ○ Vorbilder: die Codices des staatlichen Rechts, angefangen mit dem französischen Code civil („Code Napoléon“) von 1804
    ○ zunächst negative, verschleppende Haltung der römischen Kurie


9 Siehe dazu die Links unter: www.kirchenrecht-online.de –> Rechtsquellen –> Quellen des früheren Rechts.

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○ in der Folgezeit mehrere private Versuche, einen „Codex“ zusammenzustellen; sie wurden von der Kurie aber nicht akzeptiert
 1904: Pius X. erteilt den Auftrag einer Kodifizierung; hauptverantwortlich: Kardinal Pietro Gasparri
 1917: Veröffentlichung des Codex Iuris Canonici unter Benedikt XV.
○ → „pio-benediktinischer Codex“ (= initiiert von Pius X., veröffentlich von Benedikt XV.)
○ im Unterschied zum Corpus Iuris Canonici eine authentische, d. h. vom Papst als oberstem Gesetzgeber approbierte und promulgierte Sammlung
○ wesentliche Funktion: die Sammlung des geltenden Rechts; aber auch Tendenzen zu einer Reform
 Von den 2414 Canones waren immerhin 854, das heißt mehr als ein Drittel, ganz neu hinzugekommen, ohne dass sich dafür Quellen anführen ließen.
 Trotzdem war das Hauptanliegen die Systematisierung, nicht die Reform; vgl. can. 6 CIC/1917: „Der Codex hält an der bisher geltenden Disziplin in den meisten Fällen fest, wenn er auch zweckdienliche Veränderungen einführt.“ In etlichen Bereichen war der CIC/1917 im Grunde schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens veraltet.
○ Es war verboten, den CIC/1917 in andere Sprachen zu übersetzen.
 Es gibt aber eine Art Paraphrasierung auf Deutsch: Heribert Jone, Gesetzbuch der Lateinischen Kirche, 3 Bände, 2. Aufl., Paderborn 1950-1953
 Neuerdings gibt es auch
 eine französische Übersetzung (unter www.catho.org)
 eine englische Übersetzung (gedruckt, von E. Peters)
○ der CIC/1917 hat nicht aufgenommen:
 das Recht der katholischen Ostkirchen
 das Staatskirchenvertragsrecht
 Gasparri gab auch eine mit Quellen versehene Fassung des CIC/1917 heraus.
○ Außerdem veröffentlichte er den Wortlaut der Quellen in neun Bänden (Codicis Iuris Canonici fontes. Hrsg. v. Pietro Gasparri. 9 Bde. Romae 1923–1939)
 Darin enthalten sind aber nur jene Quellen, die nicht im Corpus Iuris Canonici oder in den Dekreten des Konzils von Trient zu finden sind.
 Bis zum CIC/1917 hatten die einzelnen Quellen nicht nur die eigentliche Rechtsnorm enthalten, sondern auch viele Details über die Entstehungsgeschichte und Motivation der Normen. Das änderte sich durch den CIC/1917 radikal: Er beschränkte sich ganz auf die dispositiven Aussagen. Diese Abstraktion führte einerseits zur einer enormen Reduzierung der Textmenge, andererseits zu einer deutlichen Formalisierung.
○ Etwa seit der Veröffentlichung des CIC/1917 ist es auch zu einem deutlichen Bruch zwischen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem geltenden kanonischen Recht und der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte des kanonischen Rechts gekommen. Die an kirchlichen Institutionen arbeitenden Kanonisten beschäftigten sich von da an ganz überwiegend mit der Kommentierung und Anwendung des CIC. Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des kanonischen Rechts wurde hingegen nun vorwiegend anderswo durchgeführt, vor allem von Mediävisten an staatlichen Universitäten (z. B. das Stephan Kuttner Institute of Medieval Canon Law, früher Berkeley, California, jetzt der Uni
München angegliedert).
2. Gesetzgebung seit dem CIC/1917

  • Am CIC/1917 selbst wurde so gut wie nichts verändert.


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○ Es kam an zwei Stellen zu Streichungen (cann. 1099 § 2, 2. Halbsatz, sowie can. 2319 § 1 n. 1, ab „contra …“).
 Aber im Laufe der Zeit kamen doch etliche neue Gesetze hinzu. Sie sind gesammelt in der Reihe „Leges Ecclesiae post Codicem iuris canonici editae“, hrsg. von Javier Ochoa, ab Band 7 hrsg. von Domingo Andrés Gutiérrez.
○ Darin sind solche Dokumente abgedruckt, die vom Apostolischen Stuhl herausgegeben wurden.
○ Die Reihe wird auch nach dem CIC/1983 weitergeführt. Sie umfasst bislang 10 Bände.
○ Die Reihe ist im Hinblick auf die Auswahl der Texte sehr großzügig: Viele aufgenommene Dokumente sind nicht Gesetze, sondern z. B. Ausführungsverordnungen, Verwaltungsakte für Einzelfälle oder lehramtliche Stellungnahmen.
 Projekt einer Kodifikation des Rechts der katholischen Ostkirchen; geplanter Name: „Codex iuris canonici orientalis“ (CICO); letzter Entwurf von 1948
○ Dieser CICO wurde nicht als ganzer veröffentlicht, sondern zwischen 1949 und 1957 in einzelnen Teilen in Form von vier Motu proprio, die zusammen etwa 60 Prozent des geplanten Stoffes ausmachten
 Sehr gesetzgebungsintensiv war die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanum.
○ Die wichtigeren Dokumente aus dieser Zeit sind auch auf Deutsch veröffentlicht in der Reihe „Nachkonziliare Dokumentation“ (1967-1977, insgesamt 58 Hefte).
3. Der CIC von 1983

  • Die Entstehung des CIC/1983, die sich in vier Phasen einteilen lässt, wurde bereits in § 3 A dargestellt.
  • Die Vorbereitung des CIC/1983 ist in der Zeitschrift „Communicationes“ dokumentiert.
    ○ Siehe dazu die Übersicht in: Comm 36 (2004) 183-235; seitdem sind weitere Sitzungsprotokolle veröffentlich (über die Vorbereitung von Buch V und VII des CIC/1983).
    ○ Siehe auch die Übersicht auf der Seite:
  • https://www.iuscangreg.it/cic_preparazione.php?lang=DE
    ○ Zur Entstehung der einzelnen Canones siehe auch: Incrementa in progressu 1983 Codicis iuris canonici, Montreal 2005 (= enthält den vollen Text der einzelnen Entwicklungsstadien)
  • Der Päpstliche Rat für Gesetzestexte hat eine Ausgabe des CIC herausgegeben, in der angegeben ist, auf welche Quellen die einzelnen Canones zurückgehen. Auf diese Weise gelangt man
    ○ zum CIC/1917
  • Mit Hilfe der mit Quellen versehenen Ausgabe zum CIC/1917 kann man dann weitere Quellenforschung durchführen. So gelangt man
  • zum Corpus Iuris Canonici
  • und von dort zu älteren Quellen
  • zum Konzil von Trient
  • zu anderen Quellen des CIC/1917. Sie sind in der Sammlung „Codicis Iuris Canonici fontes“, hrsg. v. Pietro Gasparri, 9 Bde. Romae 1923–1939, im Wortlaut veröffentlicht.
    ○ zum Zweiten Vatikanum
    ○ zu sonstigen Quellen, darunter vor allem Gesetzen aus der Nachkonzilszeit, die das Zweite Vatikanum rechtlich umsetzten.
  • Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der einzelnen Canones ist eine wichtige Hilfe für deren Auslegung. Dabei ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich ein Canon zwar historisch auf eine bestimmte Quelle stützt, die betreffende Vorschrift aber inhaltlich irgendwie


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abgeändert wurde. Entscheidend ist der im CIC enthaltene Text. Der Rückgriff auf dessen Entstehungsgeschichte ist für die Auslegung nur dann eine Hilfe, wenn der Text des CIC Zweifel offenlässt.
4. Der CCEO

  • 1972 Einsetzung einer Reformkommission für das Recht der katholischen Ostkirchen
  • 1990 Veröffentlichung des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium
  • Dokumentation der Reformarbeit:
    ○ Eine zusammenfassende Dokumentation erfolgte bereits während der Entstehungszeit des
    CCEO in der Zeitschrift „Nuntia“ (erschienen 1975-1990).
    ○ Die detaillierten Sitzungsprotokolle werden seit dem Jahre 2008 in der Zeitschrift „Communicationes“ veröffentlicht.