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§ 7 – Begründung des Kirchenrechts

A. Infragestellung des Kirchenrechts

  • Die Berechtigung der Existenz von Recht in der Kirche ist im Laufe der Geschichte wiederholt in Zweifel gezogen oder bestritten worden.
  • Martin Luther
    ○ 10.12.1520: Vor dem Elstertor zu Wittenberg verbrennt Luther die damalige Rechtssammlung der Kirche, das (später so bezeichnete) Corpus Iuris Canonici.
  • Das gleichzeitige Verbrennen der Bannandrohungsbulle ist heute mehr im Bewusstsein. Für Luther selbst stand aber das Verbrennen des Kirchenrechts im Vordergrund.
    ○ Darin drückte sich offensichtlich eine Ablehnung des damaligen Kirchenrechts aus. Das bedeutet aber nicht, dass Luther die Existenz von Kirchenrecht grundsätzlich abgelehnt hätte. Wie er sich das Kirchenrecht vorstellte, ist allerdings nicht leicht zu sagen.
  • Einer der größten Fachleute auf diesem Gebiet, Johannes Heckel, sprach vom „Irrgarten der Zweireichelehre“.12
  • Grundlegend ist Luthers Unterscheidung zwischen der ecclesia abscondita und der ecclesia universalis (visibilis). In der unsichtbaren ecclesia abscondita, zu der die wahrhaft Gläubigen gehören, braucht es kein Recht. In der sichtbaren Kirche (ecclesia visibilis) ist hingegen Recht notwendig; es stammt aber nicht von Gott, sondern von den Menschen und ist veränderbar.
    ○ Die faktische Entwicklung im protestantischen Bereich hat sich mit der Einführung des landesherrlichen Kirchenregiments schon zu Luthers Lebzeiten von dessen ursprünglichen Absichten entfernt.
  • Infragestellung des Kirchenrechts aus der Sicht des Staates
    ○ In der Zeit von Absolutismus und Aufklärung versuchten europäische Staaten, die Kirche wie irgendeinen Verein zu behandeln: Die Kirche habe Rechtsetzungsbefugnis nicht aus sich selbst heraus, sondern allenfalls aufgrund staatlicher Verleihung.
    ○ In der äußersten Zuspitzung wird die Kirche einfach eine Staatsanstalt aufgefasst.
  • „Josephinismus“ (nach Kaiser Joseph II. von Österreich [1765-1790]): Ausdehnung der absoluten Staatsautorität auf den gesamten Bereich kirchlichen Lebens mit Ausnahme von Fragen der Glaubensinhalte
  • Rudolph Sohm
    ○ 1841-1917, evangelisch, Jurist, Professor in Leipzig; Hauptwerk: „Kirchenrecht“, Bd. 1: 1892, Bd. 2: 1923; Neudruck 1970
    ○ Sohm beruft sich auf Luther
    ○ Seine Grundannahmen lauten:
  • 1. Die Kirche ist unsichtbar.

    12 Johannes Heckel, Im Irrgarten der Zweireichelehre, München 1957.


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  • 2. In der Urkirche gab es kein Kirchenrecht.
    ○ „Menschlicher Kleinglaube hat gemeint, die Erhaltung der Kirche Christi durch menschliche Mittel, durch die Aufrichtung der hölzernen Säulen und Balken menschlicher Rechtsordnung sichern zu müssen … Überall hat das Kirchenrecht sich als einen Angriff auf das geistliche Wesen der Kirche erwiesen … Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich. Das Wesen des Kirchenrechtes steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch.“ (Kirchenrecht I 700)
    ○ Sohms Protest richtet sich in erster Linie gegen das Recht seiner eigenen, der evangelischen Kirche.
    ○ Aus Sicht der katholischen Theologie ist Sohms Position nicht annehmbar, da die katholische Theologie die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die Sohm von Luther übernommen hat, so nicht mitmacht.
  • Im evangelischen Bereich führte in der Nazizeit die Umgestaltung der Kirchenverfassung nach nationalsozialistischen Maßstäben zu einer erneuten Infragestellung des Kirchenrechts. Die Erfahrungen der Nazizeit machten deutlich, dass die Kirche „die Gestalt ihrer Botschaft und
    ihrer Ordnung [nicht] ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“ darf (3. These der Barmer Erklärung).
    ○ Evangelischerseits haben sich in der Folgezeit vor allem drei Autoren um eine theologische Grundlegung des (evangelischen) Kirchenrechts bemüht: Johannes Heckel, Erik Wolf und Hans Dombois.
  • Den Entwürfen dieser Autoren ist allerdings gemeinsam, dass sie sich auf einer ziemlich abstrakten Ebene bewegen, die kaum Berührungspunkte mit dem faktisch vorhandenen evangelischen Kirchenrecht hat.
  • In der katholischen Kirche kam es zu einer verstärkten Infragestellung des Kirchenrechts besonders durch kirchenrechtskritische Tendenzen in ersten Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
    ○ Sie gingen allerdings mit einer vorher in diesem Umfang nie erlebten Produktion neuer Rechtsnormen einher.

B. Begründungsansätze
1. Rechtsphilosophische Begründung: ubi societas, ibi ius

  • Eine systematische Auseinandersetzung mit der Problematik der Begründung des Kirchenrechts begann etwa in der Mitte des 18. Jh. Das Ziel der Überlegungen bestand darin, der Unterwerfung der Kirche durch den absolutistischen Staat entgegenzutreten. Man versuchte, aus der sozialen Gestalt der Kirche abzuleiten, dass die Kirche von sich aus ein eigenes Recht besitzen muss. Solche Überlegungen kamen als erstes in Deutschland in der „Würzburger Schule“ auf und wurden Anfang des 19. Jh. in der römischen Schule des sog. „Ius Publicum Ecclesiasticum“ weiterentwickelt.
  • Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das Axiom ubi societas ibi ius. Davon ausgehend wird die Kirche als eine societas beschrieben, und zwar näherhin als eine societas perfecta. Gemeint ist eine societas iuridice perfecta (= eine in rechtlicher Hinsicht vollständige Gesellschaft), d. h. eine Gesellschaft, die alle notwendigen und angemessenen Mittel besitzt, um ihr Ziel zu erreichen. Vorausgesetzt wird dabei – dem Sprachgebrauch damaliger Rechtswissenschaftler folgend –, dass auch der Staat eine solche societas perfecta darstellt.


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Die Kirche tritt damit dem Staat gleichberechtigt gegenüber; das Kirchenrecht ist nicht etwa aus der Autorität des Staates abgeleitet.

  • Die Lehre von der Kirche als societas perfecta kann man nicht angemessen beurteilen, wenn man nicht ihre ursprüngliche Zielsetzung im Blick behält: Es ging um die Verteidigung gegenüber dem staatlichen Allmachtsanspruch. Dann ist ohne weiteres verständlich, dass nicht eine theologische, sondern eine philosophische Argumentation vorgelegt wird. Staatlichen Ansprüchen konnte man nicht mit Argumenten entgegentreten, die den Glauben voraussetzen.
  • Es bestand aber die Gefahr, die dargestellte philosophische Begründung des Kirchenrechts schon als ausreichend anzusehen und nach einer theologischen Begründung nicht mehr zu fragen. Um das Kirchenrecht aus innerkirchlicher Sicht zu begründen, ist die Argumentation mit
    dem Axiom ubi societas ibi ius aber nicht ausreichend.

2. Das Kirchenrecht als Folge des „inkarnatorischen Prinzips“

  • Auf die Frage, warum die Kirche eigentlich eine societas perfecta sei, lautet die klassische Antwort des Ius Publicum Ecclesiasticum: weil Christus sie so gewollt hat. Diese Antwort lässt aber keinen inhaltlichen Grund erkennen; sie wirkt eher voluntaristisch. Außerdem kann diese Argumentation auf die Kirche genauso wie auf den Staat angewandt werden; dann wird aber nicht deutlich, dass es sich beim Kirchenrecht – wenn es auch wirkliches Recht ist – um ein Recht eigener Art handelt.
  • Um die soziale Gestalt der Kirche inhaltlich zu begründen, hat man eine Analogie zwischen der zweifachen Natur Jesu Christi (als wahrer Gott und wahrer Mensch) und der Kirche hergestellt. Die Kirche sei gewissermaßen eine Weiterführung der Inkarnation Jesu Christi. Gemäß einem „inkarnatorischen Prinzip“ (John Henry Newman, 1801-1890) könne die Kirche ihr inneres Wesen nur in einer äußeren gesellschaftlichen Form verwirklichen. Dadurch entstehe auch die Notwendigkeit von Recht.
  • Diese Analogie zwischen der Inkarnation und der Sichtbarkeit der Kirche betont das Zweite Vatikanum in Lumen Gentium, Nr. 8:
    ○ „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge (socialis compago) der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum
    seines Leibes (vgl. Eph 4,16).“
  • Das Verdienst dieser Ansätze besteht darin, dass die soziale Natur der Kirche nicht einfach faktisch aus dem Willen Christi abgeleitet, sondern theologisch begründet wird. Dass sich aus der sozialen Natur der Kirche die Notwendigkeit von Kirchenrecht ergibt, wird aber letztlich nach wie vor mit dem Axiom ubi societas, ibi ius begründet. Die Begründung des Kirchenrechts bleibt also im Kern sozialphilosophisch, nicht theologisch.


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3. Theologische Begründung

  • Vertreter einer theologischen Begründung des Kirchenrechts gehen von der Feststellung aus, dass die rechtliche Dimension der Kirche nicht etwas nachträglich zum Wesen der Kirche Hinzugefügtes ist, sondern dass die Sendung Jesu Christi, die sich in der Kirche fortsetzt, von Anfang an eine rechtliche Dimension hat. Bei der Frage, wie sich das Kirchenrecht begründen lässt, handelt es sich deshalb um eine dogmatische Frage, die in den Bereich der Ekklesiologie gehört.
  • Der Versuch einer theologischen Begründung des Kirchenrechts ging vor allem von Klaus Mörsdorf (1909-1989) aus. Er argumentiert mit der rechtlichen Dimension von „Wort und Sakrament“. Die Verkündigung Jesu hat von ihrem Wesen her eine rechtliche Dimension, weil sie mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftritt. Ebenso wohnt den von Jesus Christus eingesetzten Sakramenten von Anfang an eine rechtliche Dimension inne, und die Sakramente bringen von ihrem Wesen her rechtliche Folgen hervor. Der von Jesus Christus grundgelegte rechtliche Anspruch von Wort und Sakrament erfordert im Laufe der Geschichte eine Konkretisierung durch das von der Kirche geschaffene Recht.

C. Systematische Überlegungen

  • Der Versuch, zu beschreiben, was Kirchenrecht ist (vgl. oben § 1), gelangt sehr bald zu der Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem („rein kirchlichem“) Recht. Angesichts dessen legt es sich nahe, auch beim Versuch einer Begründung des Kirchenrechts diese
    Unterscheidung zu beachten.
  • Innerhalb des göttlichen Rechts kommt es dabei näherhin auf das positive göttliche Recht an.
    ○ Dass es auch ein mit der Schöpfung gegebenes Naturrecht gibt (z. B. die Unzulässigkeit, einen Menschen zu ermorden), gilt innerhalb wie außerhalb der Kirche gleichermaßen. Die Notwendigkeit, die Existenz von Naturrecht zu begründen, ist also keine spezifisch kirchenrechtliche Fragestellung, sondern betrifft alle Menschen, auch wenn die meisten Menschen heute in diesem Zusammenhang nicht den Ausdruck „Naturrecht“ verwenden, sondern andere Bezeichnungen, vor allem den Ausdruck „Menschenrechte“.

1. Positives göttliches Recht

  • Die Frage, warum es in der Kirche ein positives göttliches Recht gibt, führt zu Jesus Christus, auf den aus katholischer Sicht diese Art von Recht zurückgeht. Die erste Antwort auf diese Frage muss also lauten: Es gibt diese Art von Recht in der Kirche, weil Jesus Christus die Kirche in dieser Weise ins Leben gerufen hat. Christus hat seinen Jüngern nicht völlige Freiheit gelassen, wie sie das von ihm Begonnene weiterführen wollten, sondern aus seiner Verkündigung und seinem Tun ergeben sich Vorgaben, denen über die Zeit seines irdischen Lebens hinaus eine bleibende Verbindlichkeit innewohnte.
  • Zumindest haben seine Jünger ihn von Anfang an in diesem Sinne verstanden, und die katholische Kirche versteht ihn nach wie vor so.
    ○ Als ein Beispiel dafür lässt sich anführen, wie Paulus die Einsetzung der Eucharistie beschreibt (1 Kor 11,23-25):
    „Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach:


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Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!“ Offensichtlich fühlt Paulus sich nicht frei, irgendwelche Anweisungen über die Feier der Eucharistie zu geben, sondern er fühlt sich verpflichtet, das weiterzugeben, was er selbst
empfangen hat.
○ Ähnliches lässt sich, wenn auch mit manchen Unterschieden, für die übrigen Sakramente
feststellen.
○ Das positive göttliche Recht ist nicht auf die Sakramente beschränkt. Es gibt auch andere Aspekte, die die Kirche als ihr unverfügbar vorgegeben betrachtet, da sie ihr von Jesus Christus bleibend vorgegeben sind, insbesondere die wichtigsten Ämter, die es in der Kirche gibt, d. h. das Amt des Papstes als des Nachfolgers des hl. Petrus und das Amt der Bischöfe als Nachfolger der Apostel, sowohl als einzelne wie auch als Bischofskollegium. Die Kirche fühlt sich nicht berechtigt, diese Ämter abzuschaffen.
○ Die Behauptung, dass bestimmte Strukturen und Handlungen der Kirche unverfügbar vorgegeben sind, setzt nicht voraus, dass sich die Kirche dessen jeweils von Anfang an bewusst war. Offensichtlich ist das Bewusstsein der Kirche über die ihr unverfügbar vorgegebenen Strukturen und Aspekte erst nach und nach im Laufe der Jahrhunderte gewachsen.
 In einem zweiten Schritt lässt sich fragen, warum Jesus Christus solche Vorgaben gemacht hat, d. h. warum er seine Kirche so und nicht anders ins Leben gerufen hat.
○ Eine naheliegende Antwort lautet: Es wäre unmöglich, den göttlichen Ursprung der Kirche als einer über die Jahrhunderte hin sichtbaren Institution nachzuweisen, wenn es nicht sichtbare Elemente gibt, die die Kontinuität zwischen dem von Jesus Christus Begonnenen und der Kirche, wie sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellt, belegen und dadurch garantieren.
○ Tatsächlich hat die Erfahrung gezeigt, dass es ohne diejenigen sichtbaren Elemente, die die katholische Kirche als unverfügbar ansieht, nicht möglich ist, die Einheit der Kirche zu bewahren.
 In gewisser Weise könnte man sagen, wenn es keinen Papst gibt, ist sozusagen jeder Gläubige sein eigener Papst. Dann fehlen aber klare Kriterien dafür, um angeben zu können, ob man noch zu derselben Kirche gehört oder nicht. Die wahre Kirche Jesu Christi, zu der dem Glauben nach alle Christen gehören, wird dann etwas nicht mehr Verifizierbares, sondern letztlich Unsichtbares.
 Wenn die Einheit der Gläubigen, um die Christus vor seinem Tod gebetet hat (Joh 17,22) nur in den Herzen der Gläubigen besteht, wird es für uns Menschen unmöglich, diese unsichtbare Einheit von einer nicht existierenden Einheit zu unterscheiden. Wirkliche Einheit erfordert aus Sicht der katholischen Kirche sichtbare Elemente dieser Einheit. Und solche sichtbaren Elemente der Einheit lassen sich nicht ohne verbindliche
Normen bewahren.
 Daraus ergibt sich, dass das positive göttliche Recht ein notwendiges Merkmal der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche ist. In diesem Sinne ist das Kirchenrecht ist nicht etwas nachträglich zur Kirche Hinzugetretenes, sondern ohne Kirchenrecht würde es die katholische Kirche nicht geben.
 Für das Voranstehend Gesagte ist es letztlich nicht ausschlaggebend, ob man die von Jesus Christus der Kirche unverfügbar vorgegebenen Strukturen und Aspekte mit dem Ausdruck „Recht“ bezeichnet oder einen anderen Ausdruck wählt. ○ Andere Konfessionen lehnen den Ausdruck „göttliches Recht“ (ius divinum) in der Regel ab; das gilt vor allem für die evangelischen Autoren. Das müsste an sich noch keine größeren Schwierigkeiten bereiten, denn faktisch gehen sie ebenfalls aus, dass es für die

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Kirche von Jesus Christus her kommende, verbindliche Vorgaben gibt (vgl. die 3. These der Barmer Theologischen Erklärung).
○ Die lehrmäßigen Probleme zwischen der katholischen und protestantischen Sichtweise bestehen demgegenüber vor allem in der Frage, welches genau die unverfügbaren, von Jesus Christus her kommenden Vorgaben sind (Ist ein Bischofsamt, in apostolischer Sukzession, nötig? Muss es ein Papstamt geben? usw.).
2. Konkretisierung des positiven göttlichen Rechts durch das menschliche Recht

  • Das von Jesus Christus der Kirche unverfügbar Vorgegebene ist nicht immer klar genug abgrenzbar, um im Leben der Kirche umsetzbar sein, solange es nicht von einer menschlichen Autorität gedeutet wird. Die Normen des positiven göttlichen Rechts verlangen daher nach
    einer Auslegung und Abgrenzung durch das rein kirchliche Recht.
    ○ Die ersten Beispiele dafür finden sich bereits im Neuen Testament, z. B. im Hinblick auf die
    Frage der Unauflöslichkeit der Ehe.
  • Paulus schreibt (1 Kor 7,10-15):
    Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau soll sich vom Mann nicht trennen – wenn sie sich aber trennt, so bleibe sie unverheiratet oder versöhne sich wieder mit dem Mann – und der Mann darf die Frau nicht verstoßen. Den Übrigen sage ich, nicht der Herr: Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und sie willigt ein, weiter mit ihm zusammenzuleben, soll er sie nicht verstoßen. Auch eine
    Frau soll ihren ungläubigen Mann nicht verstoßen, wenn er einwilligt, weiter mit ihr zusammenzuleben. … Wenn aber der Ungläubige sich trennen will, soll er es tun. Der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht wie ein Sklave gebunden; zu einem Leben in Frieden hat Gott euch berufen.
  • Zunächst gibt Paulus einfach eine Lehre Christi wieder (positives göttliches Recht), nämlich die Unmöglichkeit der Wiederheirat nach Trennung. Dann geht er auf den Zweifelsfall ein, ob das auch für eine Ehe zwischen einem christlichen und einem nichtchristlichen Partner gilt. Bei seiner Antwort beruft er sich nicht auf eine Weisung des Herrn, sondern formuliert: „Den Übrigen sage ich, nicht der Herr“ (rein kirchliches Recht). Die Frage nach der Reichweite der Norm des ius divinum verlangte also nach einer Abgrenzung durch das ius humanum.
    ○ Ähnliche Abgrenzungen sind auch in anderen Fragen nötig, z. B.:
  • Durch welche Handlungen wird das Weihesakrament gespendet?
  • Wie müssen Brot und Wein beschaffen sein, um für die Feier der Eucharistie in Frage zu kommen? Muss das Brot aus Weizen sein? Muss der Wein Alkohol enthalten?
  • Wie wird das Amt des Papstes übertragen?
  • Eine der wichtigsten rechtlichen Entscheidungen der Kirche ist die Festlegung des Kanons der Heiligen Schrift.
    ○ Es ist kein Zufall, dass für das Verzeichnis der Bücher der Heiligen Schrift dasselbe Wort verwendet wird wie für die kirchlichen Rechtsnormen, eben „Kanon“.
    ○ Denn die Entscheidung darüber, welche der Schriften der frühen Christenheit als „Heilige Schrift“ anzusehen sind, hat eine rechtliche Dimension. Primär handelt es sich um eine Entscheidung des kirchlichen Lehramts (munus docendi); die Entscheidung hat aber auch rechtliche Folgen (munus regendi), etwa dafür, welche Schriften bei der Feier der Liturgie verwendet werden können.
    ○ Deswegen führt jeder Versuch, mit Hilfe der Heiligen Schrift gegen die Existenz von Kirchenrecht zu argumentieren, zu einem Selbstwiderspruch. Wenn es in der Kirche kein


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Recht gäbe, könnte es auch keine Heilige Schrift geben. Es gäbe nur verschiedene Schriften aus der Ursprungszeit des Christentums, unter denen sich jeder Gläubige bei seiner Argumentation nach eigenem Ermessen bedienen könnte.
3. Sonstige Normen des rein kirchlichen Rechts

  • Die Notwendigkeit, die Normen des göttlichen Rechts auszulegen und zu deuten, kann zwar einen Teil der Normen des rein kirchlichen Rechts begründen, aber längst nicht alle. Zwar dürfen Normen des rein kirchlichen Rechts nicht zum göttlichen Recht in Widerspruch treten; das bedeutet aber nicht, dass es möglich sein muss, alle Normen des rein kirchlichen Rechts aus den Normen des göttlichen Rechts abzuleiten.
  • Es braucht deswegen über das bislang Gesagte hinaus weitere Begründungen dafür, dass es in der Kirche Recht gibt.
  • In dieser Hinsicht behält das alte Axiom ubi societas, ibi ius nach wie vor seine Berechtigung.
    ○ Zu diesem Thema schrieb Johannes Paul II. in der AK Sacrae disciplinae leges, mit der er den CIC promulgierte:
    „… der Kodex des kanonischen Rechts wird in der Tat von der Kirche dringend benötigt. Denn weil auch sie nach Art eines sozialen und sichtbaren Gefüges gestaltet ist, braucht sie Normen, Gesetze, damit ihre hierarchische und organische Struktur sichtbar wird; damit die Ausübung der ihr von Gott übertragenen Ämter und Aufgaben, insbesondere die der kirchlichen Gewalt und der Verwaltung der Sakramente, ordnungsgemäß wahrgenommen wird; damit die gegenseitigen Beziehungen der Gläubigen in einer auf Liebe fußenden Gerechtigkeit gestaltet werden, wobei die Rechte der einzelnen gewährleistet und festgesetzt sind; damit schließlich die gemeinsamen Initiativen, die unternommen werden, um das christliche Leben immer vollkommener zu führen, durch die kanonischen Bestimmungen unterstützt, gestärkt und gefördert werden.“
  • Dieses Zitat lässt erkennen, dass sich verschiedene Funktionen des Rechts unterscheiden lassen:
    ○ Das Kirchenrecht soll der Kirche helfen, besser die Ziele zu erreichen, die ihr von Christus aufgegeben sind.
  • In dieser Hinsicht schreibt der Papst in derselben AK:
    „Unter diesen Umständen scheint es hinreichend klar, dass es keinesfalls das Ziel des Kodex ist, im Leben der Kirche den Glauben, die Gnade, die Charismen und vor allem die Liebe zu ersetzen. Im Gegenteil, Ziel des Kodex ist es vielmehr, der kirchlichen Gesellschaft eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma den Vorrang einräumt und zugleich ihren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert.“
    ○ Zu den Weisen, wie das Kirchenrecht der Kirche helfen soll, ihre Sendung besser zu erreichen, gehört also unter anderem die Herstellung von Ordnung. Die Sendung der Kirche, z. B. die Bestellung von Amtsträgern, die Feier des Gottesdienstes, die Verkündigung des Wortes Gottes, die Verwaltung des Kirchenvermögens, würde erschwert, wenn es dafür keine verbindliche Ordnung gäbe.
  • Insofern kann es nicht überraschen, dass auch die nichtkatholischen Kirchen und Gemeinschaften – unter welchen Bezeichnungen auch immer – nicht ohne ein Kirchenrecht auskommen.


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○ Zu den Aufgaben des Kirchenrechts gehört es, die Rechte der einzelnen zu schützen, Beschwerdeverfahren vorzusehen und Verfahrensweisen für die Lösung von Konflikten zu etablieren.
 Das gilt in der Kirche ebenso wie in anderen menschlichen Gemeinschaften.
 Die Erfahrung zeigt, dass der Gegenbegriff zu „Recht“ in diesem Sinne nicht „Liebe“ ist, sondern eher „Macht“ und „Willkür“. Wo es kein Recht gibt, ist es auch nicht möglich „Unrecht“ als solches anzuklagen. Wo es kein Recht gibt, setzt sich in der Regel nicht derjenige durch, der die größere Liebe hat, sondern der Stärkere.
 Die Aufgabe des Kirchenrechts, die Rechte der einzelnen Gläubigen zu schützen, ist vor allem seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verstärkt ins Bewusstsein getreten. Das heißt allerdings nicht, dass in dieser Hinsicht alles schon zum Besten bestellt ist. Im kirchlichen Gerichtswesen besteht zwar ein gutes Rechtsschutzsystem; hingegen ist der Rechtsschutz im Bereich des Verwaltungshandelns noch ziemlich mangelhaft. ○ Das Kirchenrecht hat auch eine erzieherische Aufgabe. Die Mehrzahl der Ge- und Verbote des Kirchenrechts sind nicht mit Sanktionen verbunden. Sie wollen das Gewissen der Gläubigen ansprechen und zielen auf ihre Einsicht, dass das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe besser erfüllt werden kann, wenn man sich an die Rechtsnormen der Kirche hält, als wenn man sie verletzt. Das schließt nicht aus, dass es besondere Situationen geben kann, in den es moralisch zulässig oder sogar geboten sein kann, zur Verwirklichung der Gottes- und Nächstenliebe eine rechtliche Norm zu verletzen (siehe dazu § 4, Abschnitt B und C).
 Ein Versuch, die Zielsetzung des Kirchenrechts in zusammenfassender Weise zu beschreiben, findet sich in c. 1752 CIC/1983, wo gesagt wird, dass das Heil der Seelen (salus animarum) in der Kirche stets das oberste Gesetz sein müsse.
○ Diese Formulierung ist aber problematisch, weil sie individualistisch wirkt.
○ Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil finden sich vermehrt Autoren, die als Zielsetzung die Förderung der kirchlichen communio angeben. Dabei wird der Begriff communio in einem Sinn verstanden, der sowohl das Wohl des einzelnen als auch das Wohl der Kirche als ganzer umfasst.