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§ 4 – Die Verpflichtungskraft kirchenrechtlicher Normen

A. Geltungsanspruch


  • 1. Offizielle Aussagen zum Geltungsanspruch des CIC
    Eine Bischofssynode im Jahre 1967 hatte zehn Leitprinzipien für die Überarbeitung des CIC beschlossen. Das erste dieser Prinzipien lautete: „Bei der Reform des Rechts muss der rechtliche Charakter des neuen Codex, den die soziale Natur der Kirche erfordert, im vollen
  • Umfang beibehalten werden.“ Johannes Paul II. schrieb in der AK Sacrae disciplinae leges, gegen Ende: „Kirchliche Gesetze erfordern ihrer Natur nach Beachtung“.
  • → Die kirchenrechtlichen Normen sprechen nicht nur Empfehlungen aus, sondern stellen Forderungen auf, d. h. sie verlangen Befolgung.





2. Unterschiedlicher Geltungsanspruch der einzelnen kirchenrechtlichen Normen


  • Faktisch haben längst nicht alle Canones des CIC den Charakter solcher rechtlich verbindlicher Normen. Im Einzelnen gibt es unter den Canones des CIC eine große Bandbreite.

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  • Rechtsnormen
    ○ auf bestimmte Handlungen bezogen
  • Gebote und Verbote, d. h. Normen, die direkt ein bestimmtes Verhalten fordern (ein Handeln: Gebote / ein Unterlassen: Verbote); dadurch Aufstellen von Pflichten und Einräumen von Rechten
    ○ Beispiel für ein Verbot: c. 1215 § 1: „Keine Kirche darf ohne ausdrücklich und schriftlich erteilte Zustimmung des Diözesanbischofs erbaut werden.“
    ○ Beispiel für ein Gebot: c. 1217 § 1: „Nach ordnungsgemäßer Vollendung des Baues ist die neue Kirche unter Einhaltung der liturgischen Gesetze baldmöglichst zu weihen oder wenigstens zu segnen.“
    ○ Formulierungen für Ge- und Verbote:
  • meist: Konjunktiv. Dadurch wird eine wirkliche Rechtspflicht statuiert, nicht bloß eine Empfehlung, ein Rat o. ä.
  • Die deutsche Übersetzung des CIC gibt den Konjunktiv meist mit „haben zu“ + Infinitiv wieder (vgl. CIC, lat.-dt., Vorwort zur ersten Aufl., Nr. 3)
  • ähnlich im Englischen: „is to“ + Infinitiv; das ist aktivisch gemeint, z. B. c. 284 „Clerics are to wear ecclesiastical dress …“
  • Im Italienischen wird (wie im Lateinischen) einfach der Konjunktiv verwendet.
  • Die spanische Übersetzung verwendet „haber de“ oder „deber“.
  • Neben dem Konjunktiv verwendet der CIC aber auch vielerlei andere
    Formulierungen, um Pflichten zu statuieren (debere, teneri …).
  • Umgekehrt gibt es auch Beispiele dafür, dass der Konjunktiv nicht eine Pflicht imstrengen Sinn, sondern eher eine Empfehlung zum Ausdruck bringt (z. B. c. 630§ 5).
  • Eine Pflicht kann indirekt auch dadurch beschrieben werden, dass jemandanderem ein Recht zuschrieben wird.
  • Normen über Sanktionen für die Verletzung von Ge- und Verboten
    ○ Strafen
  • z. B. Exkommunikation, Predigtverbot, Suspension, Entlassung aus demKlerikerstand
    ○ Androhung der Nichtigkeit
  • Eine Norm, die eine Handlung für nichtig erklärt, beinhaltet zweierlei: 1. Die Handlung ist verboten.
    2. Wer sie trotzdem vornimmt, erreicht damit nicht die angestrebten rechtlichen Folgen.


○ Beispiele


  • Nichtigkeitsandrohung: C. 1291 sagt, dass eine Veräußerung von
    Kirchenvermögen, die ohne die erforderliche Erlaubnis vorgenommen wird, ungültig (= nichtig) ist.
  • Strafandrohung: c. 1377: „Wer ohne die vorgeschriebene Erlaubnis
    Kirchenvermögen veräußert, soll mit einer gerechten Strafe belegt werden.“
  • In den beiden voranstehenden Beispielen wird ein und dieselbe Handlung sowohl mit Nichtigkeit als auch mit Strafe bedroht. Das ist relativ selten. Häufiger wird entweder nur die Nichtigkeit oder nur eine Strafe angedroht.
  • Für die meisten rechtswidrigen Handlungen sind überhaupt keine Sanktionen vorgesehen.
    ○ Die Sanktionierung ist ein deutlicher Hinweis dafür, dass eine Norm mit dem Anspruch erlassen wurde, eine wirkliche Rechtspflicht hervorzubringen. Allerdings kann nicht umgekehrt geschlossen werden, dass Normen ohne Sanktionierung keine wirklichen Rechtspflichten statuieren wollen.
  • Empfehlungen
    ○ z. B. c. 280: „Den Klerikern wird eine gewisse Pflege des Gemeinschaftslebens sehr empfohlen …“ (valde commendatur).
    ○ Gerade die Formulierungen, die eine Aussage ausdrücklich als Empfehlung kennzeichnen, machen deutlich, dass es sich bei anderen Aussagen nicht nur um Empfehlungen handelt.
    ○ Rechtsnormen, die die Rechtsstellung von bestimmten Personen, Gremien oder Institutionen beschreiben.
  • Z. B. beschreibt c. 455 § 1 die Gesetzgebungsgewalt der Bischofskonferenz.
    ○ Rechtsnormen, die ihrerseits auf andere Rechtsnormen bezogen sind und diese Normen erläutern, ausweiten oder einschränken
  • erläuternde Rechtssätze
  • Z. B. erläutert c. 134 § 1 den Ausdruck „Ordinarius“.
  • einschränkende Rechtssätze
  • Z. B. bestimmt c. 288, dass die Pflichten der Kleriker bei ständigen Diakonen nur mit einigen Einschränkungen bestehen.
  • verweisende Rechtssätze
  • Z. B. verweist c. 672 im Hinblick auf die Pflichten und Rechte von Ordensleuten auf einige entsprechende Vorschriften für Kleriker.
  • Daneben finden sich in kirchenrechtlichen Dokumenten auch Aussagen, die man nicht als Rechtsnormen bezeichnen kann.
    ○ moralische Normen
  • z. B. c. 222 § 2: „Sie [die Gläubigen] sind auch verpflichtet, die soziale Gerechtigkeit zufördern und, des Gebotes des Herrn eingedenk, aus ihren eigenen Einkünften dieArmen zu unterstützen.“
  • Diese Pflicht bestünde genauso, wenn es diesen Canon nicht gäbe.
    ○ dogmatische Aussagen
  • z. B. die einleitenden Canones über jedes der sieben Sakramente (cc. 849, 879 usw.)
  • Viele der dogmatischen Aussagen im CIC wurden mehr oder weniger wörtlich vomZweiten Vatikanum übernommen.
  • Im Allgemeinen wird die Aufnahme solcher Aussagen in den CIC positiv beurteilt. Zwarhandelt es sich dabei nicht um Rechtsnormen. Solche Aussagen haben aber die positiveinzuschätzende Wirkung, dass die theologische Grundlage des Kirchenrechtsdeutlicher hervortritt.





B. Verhältnis von Recht und Moral


  • Ebenso wie die rechtliche Ordnung stellt auch die moralische Ordnung ein System von Normen dar, die Befolgung verlangen. Damit stellt sich die Frage, wie Recht und Moral zusammenhängen und sich unterscheiden. Die Behandlung dieser Frage gehört vor allem in den Bereich der (Rechts-)Philosophie und der Moraltheologie. Im Folgenden soll es darum gehen, aus der Perspektive des Kirchenrechts einige Elemente zur Beantwortung dieser Frage zu liefern.


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1. Beschränkung des Rechts auf den zwischenmenschlichen Bereich und auf äußerlich feststellbares Verhalten


  • Rechtsnormen beziehen sich nur auf das äußerliche feststellbare zwischenmenschliche Verhalten, nicht auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst oder auf sein Verhältnis zu Gott.
    ○ So gesehen könnte man bei einzelnen Vorschriften des CIC fragen, ob sie wirklich rechtlichen Charakter haben
  • z. B. c. 210: „Alle Gläubigen müssen je nach ihrer eigenen Stellung ihre Kräfte einsetzen, ein heiligen Leben zu führen sowie das Wachstum der Kirche und ihre ständige Heiligung zu fördern.“
  • Wenn man zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Norm keinen rechtlichen Charakterträgt, muss das nicht notwendigerweise bedeuten, dass man die Aufnahme einersolchen Norm in den CIC kritisiert. Es könnte ja sein, dass es für die Aufnahme einereher „moralischen“ Norm in den Codex gute Gründe gibt.
    ○ Das Rechtsnormen sich nicht auf rein innerliche Vorgänge (Gedanken, Wünsche usw.) beziehen, bedeutet nicht, dass innere Vorgänge in jedem Fall rechtlich belanglos wären.
  • Z. B. geht es bei den Strafminderungs- und Strafbefreiungsgründen (cc. 1323-1324)zum Teil um rein innerliche Vorgänge.
  • Ebenso ist der Ehewille eine rein innere Gegebenheit, die dennoch entscheidenderechtliche Bedeutung hat; vgl. c. 1057 § 1: „matrimonium facit partium consensus …“:die Ehe kommt durch den (inneren) Ehewillen zustande, nicht durch die (äußere) Willenserklärung.
  • Es geht in rechtlichen Normen aber nicht darum, innere Vorgänge vorzuschreiben odermit Sanktionen zu belegen.
  • Moralische Normen unterliegen nicht diesen Einschränkungen. Sie können sich auch aufinnere Vorgänge und auf das Verhältnis des Menschen zu Gott oder zu sich selbst beziehen.





2. Die unterschiedliche Verpflichtungsweise von moralischen und
rechtlichen Normen



  • Rechtsnormen haben auch insofern einen „äußerlichen“ Charakter, als sie bereits dann befolgt sind, wenn jemand sich äußerlich gesehen der Norm entsprechend verhält. Demgegenüber richten sich moralische Normen unmittelbar an das menschliche Gewissen, also an das Innere des Menschen.
  • Angesichts dessen kann es sein, dass sich jemand rechtlich gesehen normgemäß verhält, aber zugleich doch unmoralisch handelt.
  • Dazu kann es z. B. kommen, wenn die Rechtsnorm schon als solche unmoralisch ist (z. B. Rechtsnormen, die die Sklaverei zuließen). Ein Mensch, dessen Gewissen richtig ausgebildet ist, müsste das erkennen.
  • Es kann auch sein, dass es über ein moralisch nicht zulässiges Verhalten überhaupt keine Rechtsnorm gibt (z. B. Selbstmord).
  • Schließlich ist denkbar, dass jemand bei einer Handlung an sich rechtlich und moralisch gesehen einwandfrei vorgeht, dabei aber doch gegen sein (irrendes) Gewissen handelt und sich insofern unmoralisch verhält.
  • Weil Rechtsnormen sich auf das äußerlich feststellbare menschliche Zusammenleben beziehen, muss es im Prinzip möglich sein, zu überprüfen, ob jemand sich den Rechtsnormen entsprechend verhält oder nicht. Dementsprechend ist eine rechtliche Beurteilung menschlichen Verhaltens an sich möglich und auch notwendig. Demgegenüber müssten für eine moralischen Bewertung des Verhaltens eines bestimmten Menschen auch subjektive Momente berücksichtigt werden (War der Betreffende sich klar, was er tat? War er wirklich frei?). Um eine zuverlässige moralische Beurteilung einer bestimmten Handlung vornehmen zu können, müsste man ins Innere des Menschen hineinschauen können. Eine zuverlässige moralische Beurteilung eines anderen Menschen ist daher prinzipiell unmöglich.
    ○ Das heißt nicht, dass es unzulässig wäre, eine moralische Beurteilung menschlichen Verhaltens wenigstens zu versuchen. Vielmehr ist das in vielen Situationen notwendig. Z. B. kennt das kanonische Strafrecht (cc. 1323-1324) Schuldminderungs- und -befreiungsgründe, die auf die innere Situation des Menschen Bezug nehmen (Unwissenheit, Handeln aus schwerer Furcht usw.). Für die Frage, ob solche Umstände vorliegen, ist der Beurteilende aber letztlich immer auf äußere Indizien angewiesen. Einemoralische Beurteilung behält darum notwendigerweise einen Rest an Unsicherheit.
  • Aus dem Gesagten ergibt sich auch ein Unterschied im Hinblick auf die Erzwingbarkeitrechtmäßigen bzw. moralischen Verhaltens:
    ○ Mit Hilfe der Androhung rechtlicher Sanktionen (z. B. Nichtigkeitsandrohung oder Strafen)kann man möglicherweise erreichen, dass jemand, der sich andernfalls rechtswidrigverhalten hätte, in Anbetracht der Sanktionen rechtmäßig handelt.
    ○ Hingegen sind Sanktionen nicht in der Lage, ein moralisches Verhalten hervorzubringen.Nur aufgrund der Androhung von Sanktionen – d. h. ohne innere Überzeugung – normgemäß zu handeln, stellt noch nicht ein moralisches Verhalten dar.
  • Die Feststellung, dass Rechtsnormen bereits eingehalten sind, wenn man sie äußerlichgesehen einhält, stellt vor die Frage, ob die Verpflichtungskraft rechtlicher Normen ganz ohneeinen Anspruch an das menschliche Gewissen auskommt.
    ○ Ein Teil der rechtsphilosophischen Literatur bejaht diese Frage und behauptet: RechtlicheNormen verpflichten durch die Androhung von Sanktionen. Wenn eine Norm sagt: „DieHandlung H wird mit Geldstrafe nicht unter 1000 € geahndet.“ hieße das im Grunde nur:


„Die Handlung H solltest du klugerweise nur dann vornehmen, wenn du bereit bist, 1000 € zu zahlen (falls Du erwischt wirst).“
○ Wenn dem so wäre, könnte man den Großteil der Ge- und Verbote des kanonischen Rechts nicht als Rechtsnormen auffassen, weil sie nicht mit Sanktionen versehen sind.
○ Aber auch von der Sache scheint die beschriebene Deutung dem Geltungsanspruch kirchlicher Rechtsnormen nicht gerecht zu werden. Diese Normen wollen wie andere menschliche Rechtsnormen auch ihre Adressaten nicht nur zu einer klugen Anpassung veranlassen, sondern sie streben die vernunftgeleitete Zustimmung der Adressaten an und wollen dadurch – jedenfalls in einem gewissen Sinne – ebenfalls für das Gewissen der Normadressaten relevant sein.





3. Moralische Verpflichtung zu rechtmäßigem Verhalten


  • Der Versuch, zwischen Recht und Moral zu unterscheiden, bedeutet nicht, dass die beiden Arten von Normen voneinander völlig unabhängig wären. Vielmehr besteht die moralische Verpflichtung, alle Rechtsnormen einzuhalten, die von einer legitimen Autorität erlassen wurden und die nicht von ihrem Inhalt her moralwidrig sind. Das bedeutet aber andererseits nicht, dass Rechtsnormen zugleich moralische Normen wären. Vielmehr handelt es sich bei Rechtsnormen um Normen eigener Art.





4. Moralische Normen im Vergleich mit Normen des göttlichen bzw.
menschlichen Rechts



  • Wenn man moralische Normen und Rechtsnormen näher miteinander vergleichen will, legt es sich nahe, innerhalb der Rechtsnormen zwischen Normen des göttlichen Rechts und Normen des menschlichen Rechts (d. h. in der Kirche: des „rein kirchlichen Rechts“) zu unterscheiden. Zwischen moralischen Normen und Normen des göttlichen Rechts gibt es viele Ähnlichkeiten und zum Teil Überschneidungen. Demgegenüber gibt es zwischen moralischen Normen und von Menschen gemachten Normen – seien es kirchliche oder staatliche Normen – etliche Unterschiede.
    a) Naturrecht
  • Zwischen moralischen Normen und dem Naturrecht besteht ein enger Zusammenhang. Mankann wohl sagen, dass das Naturrecht einen Teil der moralischen Normen darstellt. Esumfasst jenen Teil der moralischen Normen, in dem es um das menschliche Zusammenleben geht (z. B. Menschenrechte, die Institutionen Ehe und Familie, die staatliche Autorität, usw.). Daneben gibt es andere moralische Normen, die nicht zum Naturrecht gehören, nämlich moralische Anforderungen an Vorgänge im Inneren des Menschen und an sein Verhalten gegenüber Gott und gegenüber sich selbst.
    b) Positives göttliches Recht
  • Die moralischen Normen ergeben sich aus der Natur des Menschen. Da sich die Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht aus der Natur des Menschen ergibt, sondern zusätzlich zu ihr hinzutritt, können die Verhaltensnormen, die sich aus der Offenbarung ergeben, nicht einen Teil der moralischen Normen darstellen. Es handelt sich vielmehr um Normen eigener Art.
  • Das heißt nicht, dass die Normen, die sich aus der Offenbarung geben, aus moralischer Sichtunerheblich wären. Wer die Offenbarung in Jesus Christus im Glauben angenommen hat, fürden stellt es eine moralische Verpflichtung dar, die Normen des positiven göttlichen Rechts zubefolgen, z. B. die Norm, dass für die Feier der Eucharistie Brot und Wein zu verwenden sind.
    c) Moralische Normen und Normen des rein kirchlichen Rechts
    (1) Unbedingte Geltung vs. Veränderbarkeit
  • Moralische Normen gelten unbedingt, d. h. unter allen Umständen. Sie lassen also keineAusnahmen zu. Sie können sich auch nicht im Laufe der Zeit ändern.
    ○ Das schließt nicht aus, dass Menschen ihre Überzeugungen darüber, was moralisch richtigist, ändern. Das gilt auch für die Lehre der Kirche über moralische Fragen, soweit es sichnicht um unfehlbar vorgetragene Lehren handelt.
  • Demgegenüber kann derjenige, der menschliche Normen erlassen hat, davon auchAusnahmen zulassen oder die Normen später ändern oder ganz aufheben.
  • Außerdem kann es aus moralischen Gründen zulässig oder sogar notwendig sein, vonMenschen erlassene Rechtsnormen nicht einzuhalten (siehe dazu das nachstehend unter (2)Gesagte).
    (2) Konflikte zwischen moralischen Normen und menschlichen Rechtsnormen
  • Aufgrund ihrer unbedingten Geltung haben moralische Normen den Vorrang vor menschlichenRechtsnormen. Das heißt, dass es vorkommen kann, dass es aus moralischen Gründen zulässig oder sogar notwendig ist, eine Rechtsnorm nicht einzuhalten. In einem Konfliktfall, indem nicht beide Arten von Normen zugleich eingehalten werden können, besteht diemoralische Verpflichtung, den moralischen Normen zu folgen.
    • Zu einem solchen Konflikt kann es unter besonderen Umständen kommen. Beispiel:
      Katholiken sind zur Einhaltung des Sonntagsgebots verpflichtet (= eine Rechtsnorm des rein kirchlichen Rechts). Es kann aber Notsituationen geben, in denen ein Katholik verpflichtet ist, z. B. einem Umfallopfer zu helfen (= moralische Norm), auch wenn das dazu führt, dass die Sonntagspflicht nicht eingehalten wird.
      ○ Es kann auch „Rechtsnormen“ geben, die von vornherein zur moralischen Ordnung imWiderspruch stehen und die deswegen moralisch gesehen keine Verpflichtungskraftausüben können.
  • Beispiele:
  • im staatlichen Bereich: z. B. Rassengesetzgebung der Nazis, Apartheid-Gesetzgebung
  • im kirchlichen Recht: vermutlich z. B. im CIC/1917 die Vorschriften über die Benachteiligung unehelicher Kinder; im CIC/1983 die Bestimmung, dass man ein Kind in Todesgefahr auch gegen den Willen der Eltern taufen darf (c. 868 § 2).
    (3) Schutz moralischer Normen durch rechtliche Normen
  • Ein bislang nicht erwähnter weiterer Zusammenhang zwischen moralischen und rechtlichen Normen besteht, darin, dass es einem Teil der von Menschen geschaffen rechtlichen Normen darum geht, ein unter moralischer Rücksicht erforderliches Verhalten auch mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen, insbesondere durch die Androhung von Sanktionen.
    ○ Z. B. ist es moralisch unzulässig, einen Menschen zu ermorden.
    ○ Das staatliche Recht unterstützt dieses moralische Verbot durch die Androhung von Gefängnisstrafe.
    ○ Ähnlich unterstützt das kirchliche Recht das moralische Verbot der Abtreibung durch die Androhung der Exkommunikation (c. 1398).
    Anders als moralische Normen und Normen des göttlichen Rechts sind menschliche Rechtsnormen notwendigerweise unvollkommen. Deswegen kann es sinnvoll sein, dass eine formell gesehen einwandfrei zustande gekommene menschliche Rechtsnorm unter bestimmten Umständen ihre Geltung bzw. Anwendbarkeit teilweise oder ganz verliert.


  • Im kanonischen Recht hat sich im Laufe der Zeit eine Reihe von Instrumenten entwickelt, die in solchen Situationen angewendet werden können.
  • Die einzelnen dieser Instrumente lassen sich danach unterscheiden, ob sie
    ○ von der kirchlichen Autorität oder von den Normadressaten angewendet werden können
    ○ und ob dazu führen, dass die Geltung der Norm vollständig ausgesetzt wird oder ob dies
    nur für einen einzelnen Fall erreicht wird.

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a) Instrumente in der Hand der kirchlichen Autoritäten

  • Remonstrationsrecht
    ○ = das Recht des Bischofs, einem päpstlichen Gesetz zu widersprechen, wenn es für die ihm anvertraute Diözese unpassend oder schädlich ist.
    ○ Ein solcher Widerspruch ist nicht nur ein Recht des Bischofs, sondern unter Umständen sogar seine Pflicht.
    ○ Die Anfänge des Remonstrationsrechts liegen im 12 Jh. Das Remonstrationsrecht wird zwar im CIC nicht erwähnt; es wird aber allgemein angenommen, dass es nach wie vor besteht.
    ○ Man geht im Allgemeinen davon aus, dass die Benutzung dieses Rechts aufschiebende Wirkung hat; ansonsten wäre es kaum von Bedeutung.
    ○ Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die Bedenken, die die deutschen Bischöfe gegen die Einführung der Vorschriften von 1989 über Glaubensbekenntnis und Treueid in Rom vorgebracht hatten. Etwa seit dem Jahr 2000 ist es Rom allerdings gelungen, die deutschen Bischöfe von ihrem Widerstand abzubringen.
  • Dispens
    ○ Definition in c. 85: Eine8 Dispens ist eine Befreiung von einem rein kirchlichen Gesetz in einem Einzelfall.
  • Vom göttlichen Recht ist keine Befreiung möglich. Ebenso kann von moralischen Normen durch niemanden „dispensiert“ werden.
    ○ Von den meisten Gesetzen kann der Diözesanbischof dispensieren (c. 87). Einige Dispensen sind hingegen dem Papst bzw. dem Apostolischen Stuhl vorbehalten.
  • z. B. die Dispens vom Zölibat, etwa im Falle konvertierter protestantischer Pfarrer
    ○ Das Gewähren einer Dispens erfordert einen „gerechten und vernünftigen Grund“ (c. 90 § 1). Der kirchliche Gesetzgeber geht also davon aus, dass es in Einzelfällen gerechte und vernünftige Gründe geben kann, ein Gesetz nicht einzuhalten.
    ○ Dispensen haben eine große Bedeutung im Leben der Kirche.
  • z. B. die Dispens von Ehehindernissen, etwa dem Hindernis der
    Religionsverschiedenheit; Dispens von der kanonischen Eheschließungsform
    ○ Im staatlichen Recht gibt es solche Möglichkeiten hingegen kaum.
  • Privileg
    ○ Definition in c. 76 § 1: ein durch einen besonderen Rechtsakt gewährter Gnadenerweis zugunsten bestimmter Personen
    ○ hat im Gegensatz zur Dispens stets Dauercharakter
    b) Instrumente auf Seiten der Normadressaten
  • Entstehung einer Gewohnheit, die einem Gesetz zuwiderläuft
    ○ Dadurch kann ein Gesetz außer Kraft treten, normalerweise nach 30 Jahren (siehe c. 26).
  • Nicht-Rezeption eines Gesetzes
    ○ Es kommt vor, dass ein formal einwandfrei erlassenes Gesetz von der Gemeinschaft, an die es sich richtet, von Anfang an nicht praktiziert wird. Einem solchem Gesetz fehlt die „Rezeption“. Auf die Frage der Rezeption eines Gesetzes geht der CIC nicht ausdrücklich
    ein. Die Notwendigkeit der Rezeption für das Wirksam-Werden eines Gesetzes ist aber in der Kanonistik allgemein anerkannt. Formal gesehen würde ein nicht rezipiertes Gesetz
    8 Anders als im sonstigen deutschen Sprachgebrauch ist das Wort „Dispens“ im kanonistischen Sprachgebrauch ein Femininum.

nach den Vorschriften über die Entstehung von Gewohnheitsrecht erst nach Ablauf von 30 Jahren nicht mehr verpflichten (c. 26). Im Allgemeinen geht man aber davon aus, dass ein Gesetz, das von Anfang an nicht rezipiert wird, auch von Anfang an keine Verpflichtungskraft ausübt.
○ Ein Beispiel für die Nicht-Rezeption eines Gesetzes ist die von Johannes XXIII. im Jahre 1962 erlassene Apostolische Konstitution Veterum sapientia, die anordnete, dass die theologische Ausbildung in lateinischer Sprache zu geschehen hat. Diese Bestimmung wurde von Anfang an nicht (oder fast nicht) umgesetzt.

  • Epikie
    ○ im CIC nicht erwähnt
    ○ vom griechischen ™pie…keia (Schicklichkeit, Milde, Nachsicht)
    ○ = die bei Vorliegen außerordentlicher Umstände vom einzelnen zu treffende Feststellung, dass der Gesetzgeber den vorliegenden konkreten Fall, wenn er ihn gekannt hätte, von dem Gesetz hätte ausnehmen müssen und dass das Gesetz daher im vorliegenden Fall
    nicht verpflichtet
    ○ Die Anwendung von Epikie erfordert einen entsprechenden Grund, nämlich:
  • Das Gesetz erreicht nicht mehr seinen Zweck, sondern richtet im Gegenteil schweren Schaden an.
  • Oder: Das Gesetz kollidiert mit anderen Rechtsnormen, die Vorrang haben.
  • Oder: Das Gesetz kann unmöglich eingehalten werden, sei es aufgrund von
  • physischer Unmöglichkeit oder
  • moralischer Unmöglichkeit, d. h., die Beobachtung des Gesetzes wäre mit einer besonderen Schwierigkeit verbunden, zu deren Überwindung eine so hohe Anstrengung erforderlich wäre, dass sie dem einzelnen nicht zugemutet werden kann.
    ○ verwandte Begriffe: aequitas canonica, oikonomia