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Vorwort

Wer immer sich auf Fichtes praktische Philosophie, insbesondere auf seine Rechtsphilosophie, wirklich einläßt, wird sich rasch davon überzeugen, es hier mit einem Autor zu tun zu haben, der nicht einfach nur ein ferner Klassiker ist. Fichtes praktische Philosophie rückt uns vielmehr auf den Leib: Sie spricht ohne Umschweife Fragen an, die - wie etwa die nach der Grundlegung des Rechts, nach den Grundrechten oder dem Sinn des Begriffs „Menschenwürde" - noch immer umstritten, bei ihm aber in ganz eigener Klarheit sowohl gestellt als auch präzise beantwortet sind. Sie vertritt bei konkreten Themen - etwa das Eigentum, die Strafe oder die Lehre vom Staat betreffend - immer auch unkonventionelle Positionen, die in Zustimmung und Widerspruch in jedem Fall ernstgenommen zu werden verdienen, ernster jedenfalls als manche unreflektierte scheinbare Selbstverständlichkeit, die zu allen Zeiten als bloße Zeitgeistgewißheit zwar da, aber nicht unbedingt auch durchschaut ist. Und sie nimmt für sich nicht zuletzt dank einer gesamtsystematischen Einbettung ein, durch die das Prinzip des Rechts nicht etwa nur auf das der Moral bezogen und von diesem zugleich auch scharf unterschieden wird, sondern in der der Begriff des Rechts an den der Subjektivität ursprünglich rückgebunden und dadurch elementar als genuine Verwirklichungsweise von Freiheit gedacht werden kann. Die Frage, die nach Fichte die Wissenschaft vom Recht zu beantworten hat, lautet: „Wie ist eine Gemeinschaft freier Wesen, als solcher, möglich?" (GA I, 3, 383). Weiter als bis zu einer aus dieser Frage entwickelten Vermittlung von Freiheit als Ursprung, Inhalt und Zielperspektive der Rechtsidee kann eine Rechtsphilosophie am Ende nicht kommen - nicht selten gelangt sie kaum bis an diesen Punkt.
Der hier vorgelegte Band zu Fichtes Rechtslehre, der aus einer interdisziplinären Fachtagung an der Fernuniversität in Hagen im September 2010 hervorgegangen ist, vereint Beiträge von Fichtekennern aus Philosophie und Rechtswissenschaft, die gemeinsam versuchen, Themen, Fragen und Antworten aufzunehmen und fortzuentwickeln, die von dem großen transzendentalphilosophisch ansetzenden Theoretiker des Vernunftrechts, der Fichte war, maßgeblich in die Debatte geworfen worden sind. Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814), seiner Ausbildung nach selbst zunächst Jurist, hat gemeinsam mit Kant das Verdienst, das alte, metaphysisch begründete Naturrecht aufgegeben, dennoch aber die entscheidenden Fragen nach dem Ursprung und Geltungsgrund des Rechts nicht einfach dem Empirismus zur Beantwortung überlassen zu haben. Mit Fichte, dessen eigenes Rechtsdenken außer in der Kantischen „Revolution der Denkart" vor allem in seiner denkenden Begleitung der Französischen Revolution wurzelt, beginnt vielmehr eine am notwendigen Inhalt eines vernünftigen Selbstbewußtseins orientierte Rekonstruktion des Rechtsbegriffs. Die Tatsache freilich, daß der bei Fichte anzutreffende rein-ratio-

nale Ansatz nicht zuletzt Hegel als allzu konstruiert und statisch erschien, hatte genauso wie das zeitgleiche Erstarken der historischen Rechtsschule im 19. Jhd. rezeptionsgeschichtliche Folgen: Fichtes Rechtsphilosophie, die selbst eine Entwicklung von etwa zwei Jahrzehnten durchlaufen hat, trat in der öffentlichen Wahrnehmung weit hinter diejenige Hegels, von Savignys und anderer zurück. An dieser Stelle seien nur einige ausgewählte Aspekte genannt, die den Rückgriff auf Fichte dennoch rechtfertigen und die auch zu den Schwerpunkten der Diskussion zählen, die in dem vorliegenden Band geführt wird.

In Hinsicht auf die bereits erwähnte rechtsphilosophische Grundfrage nach der Form der Begründung des Rechts zeigt sich, daß Fichte - anders als es zunächst der Werktitel Grundlage des Naturrechts (1796) suggerieren könnte - als Erbe Kants bei dem Begriff einer wechselseitigen Garantie und Einschränkung der Freiheit vernünftiger Wesen ansetzt: „Alle müssen ihre natürliche Freiheit beschränken, falls [keiner die Freiheit des andern stören soll;] Alle in einem Schlage", heißt es noch im späten System der Rechtslehre von 18121. Das Recht verdankt so seine Geltung weder einer transhistorisch stabilen Naturordnung noch einem normsetzenden göttlichen Willen, es verdankt sie der reziproken Anerkennung freier Selbstbewußtseine, die zugleich erst im Vollzug dieser Anerkennung zu sich selbst finden. Eine bleibende Relevanz Fichtes besteht dann gerade in dieser weder kulturalistisch noch in anderer Perspektive positivistisch verfahrenden Begründung der Rechtsverhältnisse. Was Menschenwürde zum Beispiel heißen kann, erläutert sich nicht über Zugehörigkeitskriterien, sondern über Interaktionsverhältnisse. Für heutige Problemstellungen, etwa bezüglich einer interkulturellen Geltung menschenrechtlicher Normen, liegt damit ein weiterführender Vorschlag vor, der zugleich bei Fichtes genuiner Fortentwicklung des Begriffs der Menschenwürde (so schon enthalten im frühen „Naturrecht" von 1796/7) ansetzen kann und etwa das bei Fichte zentrale Stichwort der Anerkennung als Grundbegriff der Sozialität weiterzudenken erlaubt (vgl. zu diesem Punkt die Beiträge von Zaczyk, Bedorf, Maureira, Zabel und Luf).

Beim Recht geht es nach Fichte - wie man zusammenfassend zu sagen vermag - immer um das Medium eines genuinen, sinnlichen Selbstseinkönnens einer ihrer Freiheit bewußten Subjektivität in Beziehung auf andere Subjektivität. Auch wenn es bei Fichte immer wieder die Perspektive einer Überwindung der („bloßen") Koexistenzordnung des Rechts durch eine höhere „Konsensordnung" gibt, ist nach ihm doch klar, daß es für die endliche Subjektivität als solche keine Alternative zur Existenz in einem Rechtsraum gibt. Die endliche Subjektivität ist aber die leiblich verfaßte Subjektivität, erster Referenzpunkt der Rechtsbeziehungen so auch der Leib des Subjekts. Fichte hat, was leider immer noch nicht im allgemeinen Bewußtsein angekommen ist, wie kein anderer eine sozusagen „inkarnierte Vernunft" [1] gedacht, als er die Rechtsvernunft zu denken unternahm. Auch das Problem der Interpersonalität etwa ist eines, das unmittelbar bei der Physis der
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[1] Fichte: Das System der Rechtslehre (1812), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA II, 13, 198.

Personalität (nicht etwa bei der mentalen Selbstgewißheit der Person) ansetzt (vgl. dazu Gottschlich).
In straftheoretischer Hinsicht scheint Fichte zeitgenössischen (Vor-)Erwar- tungen näher zu kommen als Kant. Während Kant z. B. das Strafmaß wesentlich am Talionsprinzip ausrichtet, enthält die Fichtesche Alternative eine wesentlich präventive wie auch integratorische Dimension. Die Strafe ist kein Selbstzweck in Bezug auf eine einmal begangene Tat, für die der Täter zur Verantwortung gezogen wird; sie ist Mittel zur Erreichung eines seinerseits nicht absoluten Zweckes innerhalb der rechtlichen Ordnung, d. h. eines Zustands, in welchem die Rechte aller wechselseitig garantiert sind. Das hat zur Folge, daß sowohl der Aspekt der Abbüßung wie auch derjenige der Abschreckung abwägbar werden. Untrennbar verbunden damit (und zugleich in Fichtes Gedanken der moralischen Perfektibilität des Individuums begründet) ist ein besonderes Augenmerk Fichtes auf eine jederzeit mögliche Besserung des Verbrechers, seine (weder von Kant noch von Hegel so geteilte) kritische Distanz gegenüber der Todesstrafe sowie die Zurückweisung lebenslanger Haftstrafen. Diese praktischen Forderungen resultieren insgesamt aus der Annahme, daß auch nach der Tat noch von einem Rechtsverhältnis zwischen Opfer und Täter ausgegangen werden könne, bzw. sie entstammen der Überzeugung, daß in jedem Subjekt zugleich ein im Prinzip unaufhebbarer Impuls auf vernünftige Selbstkonstitution, damit aber auf das Eingehen von Rechtsverhältnissen liege (vgl. dazu den Beitrag von Schild).
Die Begründung des Rechts auf Eigentum kann in vielen Rechts- und Staatstheorien gerade der Neuzeit als Zentralpunkt gelten. Nach Fichte wird das Eigentum nicht etwa erst mit dem Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand erworben. Es bezeichnet vielmehr eine durchaus schon vorgesellschaftliche und in diesem Sinne naturrechtliche Relation von Ich auf Welt, von Subjekt zu Objekt. Fichte ist an dieser Stelle ein Neuerer, denn er bestimmt den ursprünglichen Erwerb von Eigentum weder aus der Formation, dem Anbau oder der Pflege von Naturobjekten, noch aus dem Willen, Gegenstände zu besitzen. Die Eigentumsrelation liegt vielmehr schon in dem theoretischen Verhältnis des Vernunftwesens auf die objektive Welt, darin, daß diese Welt wesentlich nur als seine Welt sein kann, was sie ist. Das Eigentumsrecht (wie es der Kommunismus seit der Antike tut) grundsätzlich zu bestreiten, kann dann nur heißen, die Subjektivität des Subjekts selbst zu bestreiten, es in seiner innersten, transzendentalen Weltüberlegenheit anzutasten oder eben schlicht, wie Fichte sagt, „die Freiheit meiner Wirksamkeit", damit aber auch die Option meiner realen Selbsterfahrung, „zu hemmen". Die Appropriation von Welt ist konstitutiv schon für das theoretische Ich, und die Nichtanerkennung dieses ichkonstitutiven Grundverhältnisses ist in Wahrheit die Umdefinition des Subjekts zu einem Objekt, sie entspricht einer Metaphysik der Herrschaft der Dinge über den Menschen, die den Menschen selbst verdinglicht.
Zugleich postuliert Fichte ein Recht auf Arbeit und Eigentum für alle, was bei ihm, mehr als bei Kant, das Konzept eines „Sozialstaats" erkennen läßt. Daß dieser Sozialstaat zugleich als „Kulturstaat" zu denken ist, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Denkweg, den Fichte bis zu seiner späten Rechts- und Staatslehre gegangen ist (vgl. Hoffmann und Girndt); daß mit ihm indes auch Strukturen des Totalitären am Horizont auftauchen könnten, die bis in unsere Gegenwart hinein wirksam sind und rechtsphilosophischer Aufarbeitung harren, gehört ebenfalls zur „Aktualität" der Fichteschen Rechtsphilosophie (vgl. dazu Braun).
In Fragen des Familienrechts erscheint Fichte als Vermittler zwischen tradierten Grundbegriffen und einem modernen, rationalistisch verfahrenden „Konstruktivismus" auch der Geschlechter- und Generationenverhältnisse. Die hier zu berührenden Fragen sind unter anderem auch insofern von besonderem Interesse, als Fichte nicht (wie Hegel) einen eigenen Bereich des dem Individuum vorausliegenden, schlicht geltenden Ethos, des unmittelbar Sittlichen bzw. der objektiven Rechtswirklichkeit kennt. Daß die durch Fichte hier mittelbar oder unmittelbar aufgeworfenen Fragen von steigender Brisanz sind, bedarf in Zeiten, in denen die weithin herrschende Meinung nur noch gesellschaftlich vermittelte Vergemeinschaftungsformen (im Sinne z. B. einer rein kontraktualistisch gedachten, nicht mehr „naturrechtlich" fundierten Ehe) kennt, kaum der eigenen Unterstreichung (vgl. den Beitrag von Spieker).
Schließlich sei noch einmal auf eine eher grundsätzliche Frage hingewiesen, die wiederum in mehreren Beiträgen von verschiedener Seite beleuchtet wird: die Frage des Verhältnisses von Recht und Moral, die bei Kant und auch bei Fichte zunächst im Sinne einer strikten Trennung der Sphären beider beantwortet wird, bei Fichte jedoch auch im Lichte eines zumindest strukturellen Überwiegens der Moralität betrachtet werden kann: eines Überwiegens, das dann im Sinne der Frage nach dem Ziel und Zweck sowie der Entwicklungsgesetze der Staatlichkeit seine Rolle spielt: ist es im Sinne der Bildungs- und Kulturstaatlichkeit, die Fichte fordert, nicht unabweislich, daß die Rechtsordnung im Sinne einer Beförderung der Moralität auszulegen ist? Ja, ist es auf der Ebene des Individuums nicht immer schon so, daß es die sittliche Selbstbestimmung ist, die auch eine, wenn nicht die entscheidende Motivation dafür liefert, den Rechtsstaat zu wollen? Einige dieser Fragen sind bei Fichte womöglich nicht abschließend beantwortet, bei anderen gibt es Differenzen zwischen der frühen und der späteren, auf eine neue Theorie der Ausbildbarkeit des Absoluten im Empirischen bezogenen Rechtslehre. Die Beiträge dieses Studienbriefs zu diesem Thema weisen insofern immer auch auf offene Fragen und damit zusammenhängende Forschungsdesiderate hin (vgl. de Vos, Tschirner und Waibel).
Dem Herausgeber bleibt an dieser Stelle, allen Beteiligten für ihr engagiertes Mitwirken in allen Phasen des Projekts zu danken. Daß mit dem vorliegenden Band zugleich die neue Schriftenreihe „Begriff und Konkretion" eröffnet wird, darf auch programmatisch genommen werden: In dieser Reihe wird es stets um das Angebot gehen, im Spiegel von Klassikern des theoretischen wie praktischen Begriffs zu einem lebendigen Begreifen von Problemzusammenhängen zu gelangen, deren fortdauernde Relevanz sich unmittelbar aus ihnen selbst ergibt. Fichtes philosophische Durchdringung des Rechts ist dafür gewiß nicht das schlechteste Beispiel.

Hagen, im Frühjahr 2013

Thomas Sören Hoffmann

Das Recht als Form der »Gemeinschaft freier Wesen als solcher«. (Thomas Sören Hoffmann (Hg.)) ...odt

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