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Appell oder Aufforderung?

Intersubjektivität, Alterität und Anerkennung
bei Fichte, Husserl und Levinas​

Thomas Bedorf
In den Kulturwissenschaften läßt sich seit einiger Zeit eine Inflation paradigmatischer „Wenden" beobachten, die wohl vor allem Plätze in der Ökonomie der akademischen Aufmerksamkeit sichern helfen sollen, als daß sie sich stets sachlich aufdrängen: neben dem „cultural turn" haben wir den „spatial" und den „iconic turn" kennengelernt, es gibt je nach Fachgebiet fast monatlich neue Angebote. Die Philosophie ist da stets etwas schwerfälliger und konservativer, was in diesem Fall kein Nachteil sein muß. Während in der theoretischen Philosophie der „linguistic turn" weite Teile der Theoriebilddung des 20. Jahrhunderts geprägt hat, ist in der praktischen Philosophie eine Entwicklung nicht minder wirkungsvoll gewesen, die man unter dem Ausdruck „intersubjektive Wende" zusammenfassen könnte. Darunter ist zu verstehen, daß holistische Auffassungen in Zweifel gezogen wurden, die noch davon ausgingen, daß der logos, die Vernunft, die Geschichte oder die (geschaffene) Natur die Leitmedien sind, in denen die handelnden, sprechenden und interagierenden Subjekte beobachtet werden. Die Wende zum Intersubjektiven macht die genannten Großkonzepte zu Begriffen zweiter Ordnung, deren Geltung sich erst aus dem Zwischen, dem „Inter-", der Subjekte erschließen lassen muß. Wie man diese Konstitutionsleistung der Intersubjektivität begreift, kann dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen. Ich will nur einige Stichworte nennen, die unterschiedliche Theorietraditionen aufrufen: Kommunikation, Interaktion, Wechselwirkung, Zwischenleiblichkeit, Übertragung etc. Gemeinsam ist diesen Optionen jeweils, daß die Beschränkungen der Bewußtseinsphilosophie überwunden werden sollen und die Subjekte, anstatt in holistische Ordnungen substantiell eingebettet zu sein, nunmehr als Produkte sozialer Kommunikationen oder Interaktionen verstanden werden.
Entscheidender Wegbereiter für diese Wende und - soweit ich sehe - der Erfinder des Stichwortes der Intersubjektivität selbst ist Edmund Husserl. An die von seiner Konzeption hinterlassenen Probleme schließt sich eine Geschichte phänomenologischer Reparaturen an, die von Heidegger über Sartre bis Levinas (und - wenn man ihn noch dazuzählen will - Derrida) reicht. Eine andere Tradition aber, auf die sich in unterschiedlicher Akzentuierung Habermas und Honneth berufen, schreibt sich aus den idealistischen und spekulativen Philosophien des 19. Jahrhunderts her. Zwar steht in dieser Rezeption insbesondere die Hegelsche Dialektik

der Anerkennung im Vordergrund (die dann häufig mit Mead zusammengebunden wird, um Hegel sozialpsychologisch zu erden), doch kommt Fichte das Verdienst zu, als erster die Rolle der Intersubjektivität für die Praktische Philosophie grundlegend dargetan zu haben. So mag es zumindest scheinen, wenn man sich den ersten vier Paragraphen der Grundlage des Naturrechts zuwendet.

Im folgenden will ich prüfen, inwiefern Fichte - was die Grundlage betrifft - als Ahnherr der Geschichte der Intersubjektivität taugt. In einem ersten Teil wende ich mich daher der Rolle zu, die die „Aufforderung" in der Deduktion des Rechts übernimmt. In der bereits angesprochenen phänomenologischen Tradition findet sich nicht die Aufforderung, aber analog dazu ein „Appell" als Initialisierung von Intersubjektivität. Es ist Emmanuel Levinas, der seine Phänomenologie der Intersubjektivität, die auch hier zur praktischen Philosophie gehört, mit einem „Ruf" des Anderen beginnen läßt. Inwiefern diese alteritätstheoretische Fassung der Intersubjektivität Vorzüge gegenüber manchen Lücken im Fichteschen Werk geltend machen kann, will ich anschließend zu zeigen versuchen.1 Zwischen Fichte und Levinas vermitteln wird Husserl, der mit einem Bein in der Bewußtseinsphilosophie und mit einem zweiten jenseits ihrer steht.

Fichtes Einbeziehung des Anderen
in der Deduktion des Rechts​


Gegen jeden Dogmatismus, der schon vorab die gerechtfertigten Inhalte des Denkens kennt, entwirft Fichte eine Theorie der Subjektivität, die keinen festen substantiellen Grund kennt, sondern auf eine nahezu grenzenlose Freiheit gebaut ist. Das gilt für die theoretische Philosophie, wie sie in der Wissenschaftslehre niedergelegt ist, aber ebenso sehr für seine praktische Philosophie. Ausgangspunkt hier wie dort ist die Selbst-Setzung des Ich. Garantiert wird mit diesem unhintergehbaren und theoretisch nicht begründungsfähigen ersten Satz ein erkenntnistheoretisches und ein praktisches Motiv: sowohl die Wahrheit des Wissens zu sichern als auch die Freiheit des Subjekts. In beiden Hinsichten ist es entscheidend, [1] daß sich die Einheit von Selbst und Sein nicht von den Dingen her erschließt, sondern allein aus der freien Selbsttätigkeit, aus der heraus die Dinge erst als Dinge verstanden
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[1] Die wenigen vorliegenden Arbeiten zum Verhältnis von Fichte und Levinas unterschätzen zumeist die Distanz, die zwischen beiden Ansätzen besteht. Vgl. Hans Georg von Manz: „Selbstgewißheit und Fremdgewißheit. Fichtes Konzeption des Anderen als Konstituens der Selbstverfassung unter Berücksichtigung der Perspektive Levinas'", in: Fichte-Studien 6 (1994), 195 - 213 (der nur oberflächliche Korrespondenzen sieht), sowie Saskia Wendel: „Bild des Absoluten werden - Geisel des Anderen sein. Zum Freiheitsverständnis bei Fichte und Levinas", in: Gerhard Lachner, Klaus Müller u. Thomas Pröpper (Hrsg.): Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 164- 173 (die Levinas als Konkretion Fichtes heranzieht). Ertragreicher ist der Beitrag Lumsdens, der die Verschränkung von Unmittelbarkeit des absoluten Anderen mit der notwendigen Vermittlung in konkreten sozialen Beziehungen zur An- dersheit zur Brücke zu Fichte macht. Vgl. Simon Lumsden: „Absolute Difference and Social Ontology: Levinas Face to Face with Buber and Fichte", in: Human Studies 23 (2000), 227 - 241.

werden können. So ist es nur konsequent, daß zum „Sich-Setzen" eine zweite Tätigkeit hinzukommt: die des Entgegensetzens. Das Ich setzt sich notwendig ein Nicht-Ich entgegen und führt so eine Selbst-Differenz ein, mittels derer die Welt der Dinge thematisierbar wird. „Keine Welt ohne Selbst und kein Selbst ohne Welt."[1]

Wird nun dieses selbsttätige Ich nicht nur als Basis genommen, um die von Kant und vom Kantianismus überlassenen erkenntnistheoretischen Brüche durch die Setzung eines obersten Grundsatzes zu überwinden, sondern auch als Boden für die praktische Philosophie genommen, so ergibt sich ein erhebliches normatives Problem. Denn die setzende Tätigkeit des Ich kennt keine prinzipiellen Grenzen, ja es ist geradezu Aufgabe des Ichs, sich über jede Abhängigkeit (von den Dingen und von den Anderen) zu erheben. Zur Vermeidung einer Diktatur des willkürlichen Ich erweist es sich also als unumgänglich, diesem Freiheitsstreben Grenzen zu setzen.

Denn ein entscheidender Unterschied zum Kantischen Begriff des Willens besteht darin, daß Fichte den zwecksetzenden freien Willen nicht als eine Form versteht, die bereits - wie bei Kant - unter dem praktischen Gesetz steht, sondern als eine Freiheit, die Kant als Willkür bezeichnet hat. Nur indem Fichte auf diese Weise auf Distanz zu Kant geht, kann er sein Ziel erreichen, eine von der Moral unabhängige Rechtsbegründung zu formulieren. Das aber führt - wie bereits angedeutet - zu erheblichen normativen Folgekosten. Das Recht nicht auf der Moral fußen zu lassen, bedeutet, daß man dem Recht einen eigenen Geltungsgrund verschaffen kann (was ja Fichtes Ansinnen war), aber eben auch muß, ohne auf andere normative Quellen zurückgreifen zu können.

In der Grundlage des Naturrechts unternimmt es Fichte, eine moralunabhängige Begründung des Rechts durch den Nachweis der intersubjektiven Begründung des Ichs vorzulegen. Gemäß der Wissenschaftslehre, auf der die anvisierte Deduktion des Rechts fußt, beginnt Fichte im § 1 mit der Selbstsetzung als freier Tätigkeit. Die spontane Zwecksetzung des Ichs ist die notwendige Bedingung für Selbstbewußtsein, weil nur in einer solchen Tätigkeit sich das Ich zugleich als endlich und selbstbestimmt gewahr wird. Damit ist eine notwendige Einschränkung gegenüber der Wissenschaftslehre eingeführt. Nicht mehr das absolute Ich wird sich seiner subjektiven Vernünftigkeit bewußt, sondern als Ausgangspunkt fungiert das indi- viduierte endliche Ich unter anderen. Als endlich erfährt sich das Ich, weil es im Setzen der Zwecke eine Welt außer ihm annehmen muß, da sonst schlechterdings jede Intention wirkungs- da objektlos wäre. Da diese Welt außer dem Ich ihm zumindest einen Widerstand entgegensetzt (wenn nicht gar seinerseits kausal auf es wirkt), erfährt das Ich sie als Grenze seiner selbst und damit sich selbst als endlich.

Das endliche Vernunftwesen ist freie Selbstsetzung, die ihre Freiheit nur als strebendes (man könnte moderner sagen: intentionales) Ausgerichtetsein auf einen Widerstand verstehen kann. Den Übergang zur intersubjektiven Konstitution des Rechts vollzieht Fichte nun über den Nachweis der Unvollständigkeit der bislang
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[1] Gerhard Gamm: Der deutsche Idealismus, Stuttgart 1997, 52.

gegebenen Bestimmung. Das Setzen der Sinnenwelt führt zu keiner Wechselwirkung, sondern bloß zu einer Kausalität, deren Gegenstand Objekte sind. Denn - so heißt es zu Beginn des § 3 der Grundlage - das Subjekt kann sich eine freie Wirksamkeit auf ein Objekt nur zuschreiben, wenn es bereits ein Objekt gesetzt hat.[1] Demnach müßte es bereits ein gesetztes Objekt geben, auf das sich die Intention richten kann, das aber seinerseits gesetzt sein müßte von einem vorgängigen Subjekt und so weiter ad infinitum.[2] Vermeiden ließe sich der Regreß entweder, wenn die freie Selbstsetzung als eine Art anonymer Selbstvollzug aufgefaßt würde (wie bei den Frühromantikern) oder in einer Form eines präreflexiven Bei-sich- oder Bei-den-Dingen-Seins, wie sie bspw. Sartre in Das Sein und das Nichts zugrundegelegt hatte.

Fichte wählt nun aber mit Blick auf das Ziel einer Deduktion des Rechts eine dritte Möglichkeit, die darin besteht, die „Vergewisserung der eigenen Subjektivität nicht dem Individuum selber zuzumuten, sondern als Reaktion auf eine intersubjektiv vermittelte Erwartung zu begreifen"[3]. Das eigene freie Wollen wird so gedacht als motiviert durch die fremde Aufforderung eines anderen freien Ich. Oder in den Worten der Wissenschaftslehre nova methodo: „Die erste Vorstellung, die ich haben kann, ist die Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen."[4] Daraus folgt, daß man nicht nur nicht allein - wie Wittgenstein sagen wird - einer Regel folgen kann, sondern auch nicht allein frei sein kann. Der zweite Lehrsatz lautet dementsprechend: „Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen außer sich anzunehmen."[5]

Die Aufforderung, die vom Anderen her an das Ich ergeht, muß sich - um freiheitsermöglichend wirksam zu sein - dadurch von bloßen Naturzwängen unterscheiden, daß sie Handlungsspielräume eröffnet, anstatt zu determinieren. Sie soll motivieren, anstatt - wie es im § 3 heißt - zu „necessitieren"[6]. Nur so ist die

Aufforderung eine Ermöglichung (freier) Handlung und nicht bloß ein behavioristischer Reiz, der instinktgebundene Reaktionen auslöst. Der Begriff der Aufforderung impliziert, daß es sich um eine Initiative handelt, auf die das Ich frei reagieren kann, bejahend oder ablehnend, sprechend oder schweigend. Mit den späten Phänomenologen, von denen noch zu sprechen sein wird, wäre man fast geneigt zu sagen, es handele sich um eine „responsive" Struktur, d. h. eine, in der die Freiheit als
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[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. Hier: GA I, 3, 340.
[2] Fichte: Grundlage des Naturrecht, in: GA I, 3, 341.
[3] Axel Honneth: „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität. Zum zweiten Lehrsatz in Fichtes Naturrechtsabhandlung", in: ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M. 2003, 28 -48, hier: 38.
[4] Fichte: Vorlesungen über die Wissenschaftslehre, gehalten zu Jena im Winter 1798 - 1799, Nachschrift Krause, in: GA IV, 3, 468.
[5] Fichte: Grundlage des Naturrecht, in: GA I, 3, 340.
[6] Vgl. ebd., 345.

ein Antworten-auf verstanden wird.[1]

Insofern derjenige, der die Aufforderung äußert, als freies Wesen gedacht werden muß (da es sonst keine Aufforderung, sondern ein bloßer Reiz wäre), wird die Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Begründung des Selbstbewußtseins nicht abschließend zu klären war, in eine Beziehung von Subjekt und „Kosubjekt"[2] [3] - wie es Axel Honneth formuliert - umgeschrieben. Da nun die Freiheit des Ich von der Aufforderung durch den Anderen abhängt und umgekehrt das Objekt zum freien Kosubjekt geworden ist, stellt sich die intersubjektive Beziehung als eine der wechselseitigen Anerkennung heraus, die das Recht fundiert. „Das Verhältnis freier Wesen ist daher das Verhältniss einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide gegenseitig sich anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln. Der aufgestellte Begriff ist höchst wichtig für unser Vorhaben, denn auf demselben beruht unsere ganze Theorie des Rechts".11

Aus dieser allzu kurzen Schilderung der wesentlichen Schritte der Deduktion des Rechts, ließe sich prima vista schließen, daß die Intersubjektivität hier in der Tat in Übereinstimmung mit jenen Überzeugungen, die seit der „intersubjektiven Wende" in der praktischen Philosophie herrschen, als die notwendige Bedingung von Subjektivität erwiesen wird. In deskriptiver Hinsicht gibt es kein Ich diesseits intersubjektiver Bezüge. Ohne den Anderen ist das Ich nicht, was es ist. Aber auch in normativer Hinsicht liegt jeder gemeinsamen Normsetzung eine intersubjektive Wechselwirkung zugrunde, womit der Boden auch noch der zeitgenössischen Anerkennungstheorien, wie sie sich heute ausdifferenziert haben, bereitet wäre.

Doch dieser eindeutige Befund täuscht. Drei Fragen seien herausgegriffen, die sich für die Kontrastierung der Fichteschen Aufforderung mit dem Levinasschen Appell als bedeutsam erweisen werden: eine erste betrifft die Gelingensbedingungen der Aufforderung, eine zweite die Wiederkehr des Regresses, und eine dritte die Doppeldeutigkeit des Ichs.

Erstens wurde zwar die „Aufforderung des Subjects zu einer freien Wirksam- keit"[4] so konzipiert, daß sie als Anstoß des reflexiven Selbstbewußtseins fungiert. Das Subjekt, das noch kein Selbstbewußtsein hat, kann nur durch die Aufforderung den „Begriff seiner freien Wirksamkeit" bekommen, und zwar nicht als gegenwärtig bereits gegeben, sondern als zukünftig sein sollendes. Fichte bleibt jedoch eine Erläuterung der Bewußtseinsform, der Verfaßtheit des Subjekts schuldig, das sich aufgefordert sieht. Es kann sich als „Ich" noch nicht begreifen, kann aber eben so wenig ein bloßes naturhaft festgelegtes Wesen sein, da es dann die Aufforderung gar nicht vernehmen könnte. Doch damit sie als Aufforderung wirken kann, müssen
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[1] Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994.
[2] Honneth: „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität", a.a.O., 40.
[3] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 3, 351.
[4] Ebd., GAI, 3, 345.

kommunikative Voraussetzungen gegeben sein, die ihrerseits nicht selbstverständlich sind. Denn, so Fichte, wenn das Subjekt sich durch sie „selbst bestimmen" soll, „so muß es diese Aufforderung erst verstehen, und begreifen, und es ist auf eine vorhergehende Erkenntnis desselben gerechnet."[1] Das scheint nahezulegen, daß ein sprach- und erkenntnisfähiges Subjekt bereits der Aufforderung vorangehen muß. Somit scheint das Deduktionsziel bereits vorausgesetzt, bevor die Deduktion vollendet ist. Interpretiert man die Rolle der Aufforderung so, daß das Subjekt sich seiner eigenen Selbsttätigkeit gewiß werden muß, wenn es die Anrede eines Anderen verstehen können will, dann wäre das eine Art frühe Formulierung der kommunikativen Voraussetzung subjektiver Autonomie. Aber mir scheint, diese Deutung geht über das von Fichte anvisierte Ziel weit hinaus, weil sie den transzendentalphilosophischen Rahmen sprengt.[2] Der für zahlreiche Anerkennungstheorien fraglose Primat des Erkennens vor dem Anerkennen scheint sich auch hier zu bestätigen.[3]

Zweitens scheint der Regreß, den Fichte auflösen will, nicht wirklich zu verschwinden, sondern an anderer Stelle wiederzukehren. Er wird gewissermaßen von innen nach außen verlegt.[4] Hat das Subjekt die Aufforderung als Aufforderung verstanden, dann hat es damit zugleich sich als freies Wesen begriffen; eine Erkenntnis, hinter die es fortan nicht mehr zurückkann. Die wechselseitige Anerkennung kommt nun dadurch in Gang, daß die Bedingungen der Aufforderung offengelegt werden. Denn die Aufforderung muß einen Grund haben, der nicht seinerseits in einer bloßen Naturkausalität bestehen kann. Die Aufforderung ist daher nicht „necessitierend", sondern selbst freigebend, d. h. auf die Freiheit des Aufgeforderten zielend. Das aber wiederum setzt voraus, daß der Auffordernde bereits den Aufgeforderten als ein verständiges Wesen erkannt hat. Nur so ist zu verstehen, daß der Auffordernde die Freiheit des aufgeforderten Subjekts als Zweck seiner Handlung ansehen kann. Allerdings wird damit der Regreß, den zu vermeiden sich Fichte ausdrücklich zur Aufgabe machte, in anderer Form fortgeschrieben. Denn es wird „einem vernunftlosen Subjekt (dem Aufgeforderten) ein bereits vernunftbe- gabtes (der Auffordernde) gegenübergestellt."[5] Da so die Genese des Selbstbewußtseins dann doch letztlich „im dunkeln"[6] bleibt, muß schließlich eine letzte Ursache herhalten, um die bodenlose Rückfrage nach dem Grund der Aufforderung abzuschließen: Gott als der Erzieher des ersten Menschenpaares.[7]


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[1] Ebd.
[2] Diese Deutung Honneths läßt Fichte dann als Vertreter einer „intersubjektivitätstheoretischen Wende" (Honneth: „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität", a.a.O., 29) erscheinen, die er aber mit entwicklungspsycholgischer Empirie unterlegen muß, was Fichte sicher nicht sanktioniert hätte (ebd., 46).
[3] Vgl. Verf.: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010, Kap. 2.3.
[4] Vgl. Rainer Zaczyk: Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981, 24.
[5] Ebd., 26.
[6] Ebd.
[7] Vgl. Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 3, 347.

Drittens scheint die fremde Aufforderung als notwendiger Anstoß der subjektiven Freiheit der Grundüberzeugung der Fichteschen Ich-Philosophie zu widersprechen. Wenn es doch ein Anderer ist, der mich zur Freiheit ruft, wie ist es dann zu verstehen, daß das Ich der erste Grundsatz bleiben kann, mittels dessen Fichte die im Kantianismus verbliebenen Dualismen überwinden zu können hofft? Spricht nicht auch Fichte von einem bloßen „Factum"[1] der Aufforderung, was Ludwigs Sieps Eindruck beförderte, hier handele es sich um einen Einbruch des Empirischen in Fichtes Transzendentalprogramm?[2] Was Fichte von Philosophien der Alterität, die - wie etwa die von Levinas - unterscheidet, ist die Integration der Alterität in ein Ich höherer Stufe. Denn schließlich stellt Fichte in § 2 fest, daß es in der Rekonstruktion den transzendentalen Philosophen und den gemeinen Menschenverstand zu unterscheiden gelte. Ersterer weiß mehr als letzterer, und er weiß insbesondere, daß „alles, was sey, nur für ein Ich, und was für ein Ich seyn soll, nur durch das Ich seyn könne".[3] Aus der Perspektive des Autors der Wissenschaftslehre also - so muß man schließen - muß noch die Aufforderung des Anderen als eine Setzung des Ichs erscheinen. Die fremde Anrede ist nur für den gemeinen Menschenverstand fremd; der Philosoph weiß, daß sie schließlich doch aus einer Ich-Setzung herrühren muß. „Von mir und meiner Behandlung geht mein ganzes Urtheil über ihn aus, wie es in einem Systeme, das das Ich zur Grundlage hat, nicht anders seyn konn- te."[4] An anderer Stelle heißt es entsprechend: „Die lezte Bestimmung aller endlichen vernünftigen Wesen ist demnach die absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Uebereinstimmung mit sich selbst."[5] [6] Für Andere gilt entsprechend: „Es gehört unter seine Bedürfnisse, daß vernünftige Wesen seines gleichen ausser ihm gegeben 25

seyen."

Für die Frage, wie sich das Anerkennungsverhältnis ausgestaltet, ist demnach entscheidend, wie man die Andersheit des Anderen konzipiert. Wird sie nach dem Bedürfnis des Ich konzipiert, mit sich selbst identisch zu sein oder wird sie als irreduzibel auf die Zugriffe des Ich gedacht? Erst wenn darüber Klarheit gewonnen ist, läßt sich die Frage beantworten, ob man Intersubjektivität als eine Ableitung aus der (gemeinsamen) Subjektivität verstehen muß oder als ein Zwischenereignis, das für die Konstitution von Subjektivität überhaupt wesentlich ist. Ein Versuch, diese Frage zu beantworten, liegt in der Phänomenologie Edmund Husserls vor.

Intermezzo: Husserls gescheiterter Neuanfang.
Intersubjektivität und transzendentale Egologie​


Edmund Husserl hat nicht nur die phänomenologische Methode, sondern auch den
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[1] Ebd., GA I, 3, 344.
[2] Vgl. Ludwig Siep: „Einheit und Methode von Fichtes ,Grundlage des Naturrechts'", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 41 -64, hier: 45 f.
[3] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 3, 335.
[4] Ebd., GA I, 3, 353.
[5] Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: GA IV, 3, 30.
[6] Ebd., 36. Hervorh. Th.B.

Begriff der Intersubjektivität erfunden. Zwar hat er sich kaum - und wenn, dann eher abwehrend - zu Fichte geäußert, doch besteht eine gewisse Verwandtschaft der philosophischen Aufgabenstellung, die Husserl als Erben der erkenntnistheoretischen Problemstellungen des 19. Jahrhunderts ausweist. Mit Husserl wird ein letztes Mal der Versuch unternommen, dem Wissen ein sicheres Fundament zu verschaffen, das durch die verschiedenen einzelwissenschaftlichen Positivismen massiv erschüttert war. Philosophie als „strenge Wissenschaft" sollte sich phänomenologisch an der transzendentalen Analyse der Bewußtseinsvorgänge ausweisen. Die Anklänge an den Anspruch einer Philosophie als Wissenschaftslehre sind schwer zu überhören.

Auch die Funktionsstelle der Intersubjektivität für die Theorie weist Ähnlichkeiten auf. Wenn Fichte in der Wissenschaftslehre festhält, daß das freie, selbsttätige Subjekt nicht etwa faktisch, sondern aus begrifflicher Notwendigkeit nie allein vorkommen kann, so hat diese Auffassung ihr Echo, wenn Husserl von der Lösung des Intersubjektivitätsproblems erwartet, diese möge doch seine Erkenntnistheorie vor dem Solipsismus bewahren. Genau diese Gefahr erörtert Husserl in der fünften seiner Cartesianischen Meditationen. Ist die phänomenologische Rückführung der Gewißheiten auf ein transzendentales Ego gelungen, so scheint es außerhalb dessen nichts zu geben, zumindest nichts, was als Sinn konstituiert ist. Wenn „jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, [...] in den Bereich der transzendentalen Subjektivität"[1] fällt (und das war es ja, was die Phänomenologie darzulegen beanspruchte), bleibt außerhalb dessen nur der Nicht-Sinn. Husserl schließt lakonisch: „Ist sie [die transzendentale Subjektivität, Th.B.] das Universum möglichen Sinns, so ist ein Außerhalb dann eben Unsinn."[2] Wenn Husserl dies mit voller Inbrunst einen „transzendentalen Idealismus"[3] nennt, so ist das allerdings weniger ein Wink an den klassischen deutschen Idealismus als eine Spitze gegen die empirische Psychologie.

Sofern nun die durch phänomenologisch-methodische Reduktion erzeugten Evidenzen mich allein an den Strom meiner Bewußtseinserlebnisse bindet, scheint dies unausweichlich auf einen Solipsismus zuzulaufen. Die Phänomenologie muß also, soll sie Geltung jenseits meiner selbst bzw. der von je mir durchgeführten phänomenologischen Meditationen erlangen, so müssen die Sinnbezüge Anderer mit den meinen auf irgendeine Weise verknüpft werden können.

An dieser Stelle enden nun die ohnehin spärlichen Gemeinsamkeiten von Husserl und Fichte. Denn zu Beginn von Husserls Überlegungen zur Intersubjektivität wird ausgeschlossen, daß der Andere zur Immanenz des Ego hinzugehören könnte. Es stellt sich vielmehr die Aufgabe, wie die „Transzendenz des Anderen"[4], seine
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[1] Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Elisabeth Ströker, Bd. 8, Hamburg 1992, 86.
[2] Ebd.
[3] Ebd., 88.
[4] Ebd., 92.

Subjektivität eigenen Rechts mit meiner transzendentalen Subjektivität zusammenstimmen kann. Die Rekonstruktion der Erfahrung des Anderen nicht allein als Objekt in meiner Welt, sondern selbst als welthabendes Subjekt in seiner Welt, ist einigermaßen verwickelt und nicht ohne Fraglichkeiten. Ich greife nur einige wesentliche Aspekte heraus, um deutlich zu machen, wo der Gewinn und die Grenzen von Husserls Ansatz bestehen.

Der Andere tritt in meiner Erfahrung zunächst als Gegenstand auf, insofern ich jemanden sehe wie auch andere Objekte meines Gesichtsfeldes. Soll aber die Erfahrung des Anderen (genitivus subiectivus) Geltung erlangen, kann er nicht Objekt bleiben. Nun hatte Husserl am transzendentalen Ego zuvor gezeigt - und das ist ein zweiter wesentlicher Unterschied zum Fichteschen Idealismus -, daß es leiblich verfaßt ist. Der Leib wird nicht deduziert, sondern als fungierender Grund aller Erfahrung und allen Sinns ausgewiesen. Insofern nun der andere Körper, der mir entgegentritt, von meinem Ego nicht als Körper unter anderen Gegenständen, sondern selbst wiederum als Leib aufgefaßt wird, „überschiebt"[1] sich - wie Husserl sich ausdrückt, um den Eindruck eines Analogieschlusses zu vermeiden - mein Sinn geltender Subjektivität auf den Anderen. „Da in dieser Natur und Welt mein Leib der einzige Körper ist, der als Leib [...] ursprünglich konstituiert ist und konstituiert sein kann, so muß der Körper dort, der als Leib doch aufgefaßt ist, diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her haben"[2].

An dieser Lösung, die eine Reihe von Details enthält, die ich hier übergehe,[3] besticht zweierlei. Zum einen nimmt Husserl seinen Ausgangspunkt bei der Erfahrung des Anderen. Andere begegnen uns auf eine bestimmte Weise, deren wesentliches Merkmal die Transzendenz ist. Andere werden nicht von egologischen Bewußtseinsleistungen konstituiert, sondern treten auf die ein oder andere Weise auf und greifen in unsere Handlungsvollzüge ein. Andere werden auch nicht von einem absoluten Ich gesetzt, um ihre eigene freie Selbsttätigkeit begründen zu

können, sondern werden in ihrer eigenen Wirklichkeit gesehen. Man kann sagen, daß Husserl versucht, der Andersheit als ihr selbst Rechung zu tragen. Zum anderen bietet Husserl mit dem Begriff des Leibes eine Möglichkeit, sich den Fallstricken des Idealismus zu entwinden.[4] Daß Andere keine Geistwesen sind, sondern verkörperte Ganzheiten, hat zur Folge, daß auch die leibliche Interaktion im Begriff der Intersubjektivität Niederschlag finden muß.

Nun ist es aber so, daß Husserl trotz dieser überzeugenden Möglichkeiten, die sich ihm bieten, die Konsequenzen nicht vollends zieht, was damit zusammenhängen mag, daß sich seine Problemlage noch dem 19. Jahrhundert verdankt. Denn es gelingt ihm
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[1] Ebd., 116.
[2] Ebd., 113.
[3] Vgl. genauer Verf.: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld 2011, Kap. 4.1.
[4] Vgl. Emmanuel Alloa u. Natalie Depraz: „,Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding': Der Leib bei Husserl", in: Emmanuel Alloa u. a. (Hrsg.): Leiblichkeit. Begriff, Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012, 7 - 22.

nicht, aus dem Primat der Erfahrung und der Vermittlerrolle des Leibes eine Position zu erarbeiten, die ihn vom Idealismus gänzlich gelöst hätte - was bereits an der emphatisch in Anspruch genommenen Selbstbezeichnung als „transzendentaler Idealismus" deutlich wurde. So muß Sartre noch 1943 gegen Husserl ausrufen: „Man begegnet dem Andern, man konstituiert ihn nicht"[1], weil Husserl zwar die Erfahrung des Anderen zum Problem macht, die Lösung aber beim konstituierenden Ego sucht. Und zuletzt bleibt auch unklar, warum das Ego annehmen sollte, daß es sich bei den anderen Körpern, also den Körpern der Anderen in meiner Dingwelt, um subjektivitätsfähige Leiber handeln soll - bloß weil sie (ungefähr) so aussehen wie mein Körper? Das Problem ist Husserl durchaus bewußt und so ergänzt er seine Argumentation um allerlei überbrückende Hilfskonstruktionen: etwa die Monadengemeinschaft und eine gemeinsame „objektive Natur". Er verschenkt, so könnte man es zusammenfassen, die Potentiale, die er in seiner Philosophie selbst bereitgestellt hat, weil er es nicht wagt, ihrer eigenen Radikalität zu trauen. Ähnlich wie Fichte gleicht er einer Übergangsfigur, in deren Philosophie das Problem der Intersubjektivität in aller Klarheit ausgesprochen wird, ohne doch eine vollends überzeugende Lösung anbieten zu können, weil die theoretische Arbeit sich der Nähe zu überkommenen Fragestellungen nicht entwinden kann: Fichtes Abarbeiten am Erbe des Kantianismus und Husserls Abarbeiten am Erbe des Psychologismus.

Der Appell des Anderen: Gründung der Intersubjektivität
aus der Erfahrung der Alterität​


In Husserls Scheitern am Versuch einer Lösung des intersubjektiven Dilemmas liegen Möglichkeiten bereit, die über dieses Scheitern hinausweisen. Das haben viele Nachfolger und Schüler Husserls so gesehen und zu ganz unterschiedlichen Fortsetzungen genutzt. Würde man eine Geschichte der Intersubjektivität oder besser der Intersubjektivitätstheorie schreiben wollen, so hätte man die mehr oder minder dissidenten Anknüpfungen bei Heidegger, Schütz, Sartre, Merleau-Ponty und Levinas zu sichten. Da das hier nicht zur Diskussion steht, greife ich den Letztgenannten heraus und zwar deswegen, weil daran klar werden kann, wie Intersubjektivität konzipiert wird und welche Konsequenzen dies für die normativen Seiten der praktischen Philosophie hat, wenn man die „Aufforderung" ganz aus der Verfügungsgewalt des Ich heraushält.

Bekanntlich gründet Levinas seine Philosophie der „asymmetrischen Intersub- jektivität"[2] auf eine Kritik der Andersheitsvergessenheit. Man kann nicht unbedingt sagen, daß Levinas seine Lektüre der Klassiker nach Maßgabe des principle of charity vornimmt, wenn er der Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger unterschiedslos vorwirft, in ihrer jeweiligen Thematisierung des oder der Anderen nie
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[1] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, 452.
[2] Emmanuel Levinas: Vom Sein zum Seienden, übers. v. Anna Maria u. Nikolaus Wolfgang Krewani, Freiburg, München 1997, 119.

der Andersheit selbst zum Ausdruck verholfen, sondern sie stets vom Standpunkt des Selben aus kolonialisiert zu haben.[1] Dieser „Imperialismus des Selben"[2] - wie es parolenartig heißt - zeigt verschiedene Gesichter, je nachdem wie der jeweils hegemoniale Zugriff methodisch gesetzt wird: Von Platons Einordnung des Anderen und des Selben unter die fünf Grundbegriffe der Philosophie im Sophistes bis zu Heidegger, der das Mitsein mit Anderen noch im Modus des Besorgtsein um das eigene Sein denkt, reichen die Versuche der Eingemeindung. Ohne das im Detail nachweisen zu müssen, kann man sich denken, daß zwischendurch auf dem Weg von Platon bis Heidegger die Positionen der klassischen deutschen Philosophie ebenfalls nicht sehr gut weg kommen.

Insofern die philosophische Tradition dafür verantwortlich gemacht wird, aus Angst vor der Heteronomie direkt und damit begrifflich identifizierend den oder das Andere zu thematisieren, wird unmittelbar ersichtlich, daß eine Phänomenologie des Anderen gar nicht möglich sein kann. Es war gerade die Unmöglichkeit, den Boden der phänomenologischen Methode zu verlassen, die Husserl daran hinderte, eine adäquate Formulierung für die Intersubjektivität zu erreichen. Der Primat, den die Philosophie - zumindest in ihrer neuzeitlichen Form - der Autonomie zuerkennt, muß - so Levinas - narzißtisch sich selbst genügen und sich ohne Rückgriff auf anderes selbst rechtfertigen. Bedeutet das nun, daß die Philosophie Levinas', insofern sie dieser „Reduktion des Anderen auf das Selbe"[3] entgegentreten will, notwendigerweise eine Heteronomie vertreten müßte?

Daß man diese Frage nicht positiv beantworten muß, liegt an einer Unterscheidung zweier Andersheiten, die notwendig ist, um Levinas' Formulierung der Intersubjektivität im Unterschied zu jener Fichtes oder Husserls zu verstehen. Auf einer ersten Ebene vertritt Levinas tatsächlich einen Primat des Anderen. Nicht das Ich setzt oder konstituiert den Anderen, sondern der Appell des Anderen geht jeder Handlung, aber auch jeder Intentionalität des Subjekts voraus. Erst dadurch, daß Andersheit im Wortsinn als ab-solut, als abgelöst von der Herrschaft des Subjekts gedacht wird, eröffnet sich die Möglichkeit einer nicht-reduktiven Konzeption der Andersheit, die bleibt, was sie ist. Genaugenommen ist „Konzeption" natürlich das falsche Wort, suggeriert es doch, es wäre etwas zu konzipieren, zu begreifen oder zu beschreiben. Um die Statik einer Relation zwischen Elementen auszuschließen und zugleich den „Vollzugscharakter"[4] der Intersubjektivität zu eröffnen, wird die Beziehung des
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[1] Zu dieser Geschichte der Ursprungsphilosophien zählt Levinas - wie zu erwarten - auch Fichte. Vgl. Emmanuel Levinas: „Humanismus und Anarchie", in: ders.: Humanismus des anderen Menschen, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg 1989, 61 - 83, hier: 69.
[2] Emmanuel Levinas: „Die Philosophie und die Idee des Unendlichen", in: ders.: Die Spur des Anderen, übers., hrsg. u. eingel. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg / München 31998, 185 - 208, hier: 199.
[3] Ebd., 186.
[4] Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg / München 1987, 152 ff., 180.

Anderen zum Subjekt als „Nicht-Beziehung"[1] angesehen. Intersubjektivität ist zunächst wesentlich „Trennung", separation. Die entzogene Anders- heit kann sich überdies nicht theoretisch erfassen lassen, sondern wirkt praktisch. Der Andere qua Antlitz setzt sich zum Subjekt in ein Verhältnis, in dem das Subjekt seinerseits zu einem Verhalten aufgefordert wird. Hier nun erkennen wir die Nähe zu Fichtes Terminus der Aufforderung, jedoch mit einem bedeutenden Unterschied. Der Appell des Anderen ist keine vom Ich gesetzte Aufforderung, sondern ein vorgängiges Ereignis, worauf das Subjekt zu antworten hat.[2] Mehr noch: der Appell des Anderen hat ethische Bedeutung, indem er dem Subjekt die Verantwortung auflädt, in seinem Sprechen und Handeln dem Anderen gerecht zu werden. Levinas neigt in der metaphorischen Annäherung an die Alterität zu emphatischen Formulierungen: das Subjekt werde vom Anderen verfolgt, zur Geisel genommen; An- dersheit gehe leiblich unter die Haut oder fungiere wie ein Trauma. Wird in solchen hypertrophen Bilden nicht doch eine Heteronomie ausgedrückt? Handelt es sich nicht schlicht um eine Umkehrung der Ich-Philosophie in eine Philosophie des Anderen?

Wäre dem so, dann wäre damit in der Tat wenig gewonnen, denn so hätte Levinas den Anderen hypostasiert und die absolute Freiheit des Ich wäre nicht bloß eingeschränkt worden, sondern auf den Nullpunkt eines Objekts geschrumpft, dem man keine praktische Relevanz mehr zuschreiben könnte. Hier kommt nun die erwähnte Unterscheidung zweier Begriffe von Andersheit ins Spiel. Denn so sehr das Subjekt vom Anderen im Wortsinne als „sujet" unterworfen wird, so wird es doch auch subjektiviert, d. h. zum Handeln ermächtigt, zwar nicht aus sich selbst heraus, als freie Selbsttätigkeit, sondern vom Antworten auf den Anderen her. Das erste Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit versteht sich in diesem Sinne denn auch geradezu programmatisch als eine „Verteidigung der Subjektivität"[3].

Da nun der Andere, in seinem ersten skizzierten Begriff: als ab-solut Anderer, nicht Gegenstand werden kann (solange er als Anderer fungiert), ist der Anspruch, seinem Appell gerecht zu werden unerfüllbar; jede Antwort, die gewählt wird, greift notwendigerweise zu kurz. Aber da wir in dieser Perspektive nicht nicht antworten können, führt dies dazu, die Antwort auf einer anderen Ebene zu adressieren. Ich nenne das die soziale Andersheit, die die konkrete Person meint, die in symbolischen Kontexten, bestimmten Erwartungshorizonten und verbunden mit einer spezifischen Geschichte auftritt. Angesprochen und in eine unendliche Verantwortlichkeit versetzt, wird das Subjekt vom absoluten Anderen. Aber nicht dieser ist der Adressat unseres Antwortens, sondern der je konkrete soziale Andere. Zwischen Anspruch und Antwort, zwischen Appell und Handlung des Subjekts klafft ein Spalt, die anders als in der Symmetriebeziehung Fichtes eine asymmetrische Intersubjektivität eröffnet. Die
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[1] Emmanuel Levinas : „Hermeneutique et au-dela", in: ders.: De Dieu qui vient a l'idee, Paris 21992, 158-172, hier: 169.
[2] Daher hat die Levinassche Alteritätsphilosophie auch nichts mit einer Ethik der Fürsorge zu tun, wie Honneth fälschlicherweise annimmt. Vgl. Honneth: „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität", a.a.O., 45 Fn. 17.
[3] Levinas: Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., 27.

Differenz zwischen beiden Formen der An- dersheit, die sich hier auftut, ist unausweichlich und nicht zu schließen.

In diesem Spalt artikuliert sich denn auch Levinas' Begründung der Normativität. Die absolute Andersheit ruft das Subjekt zur Verantwortung (man dürfte auch sagen: nötigt sie ihm auf), doch die Formen des Antwortens auf den ethischen Appell sind notwendigerweise auf den sozialen Anderen bezogen. Es ergibt sich so ein Primat des Ethischen („Ethik als erste Philosophie"), nicht aber als inhaltlich artikuliertes Moralsystem, sondern als reiner Appell, dessen Antworten im Prozeß zu erfinden sind. Daraus resultiert einerseits, daß die unendliche Verantwortung gegenüber dem Anderen nie abzugelten ist, andererseits eröffnen sich aber auch Spielräume des Praktischen, die es zu nutzen gilt. Um eine Heteronomie handelt es sich also nur dann, wenn man den absoluten Anderen isoliert betrachtet (was der Duktus der Levinasschen Schriften immer wieder nahelegt), aber keineswegs, wenn man in Betracht zieht, daß unsere Handlungen stets auf konkrete soziale Andere bezogen sind. Unter Rekurs auf Fichtes Begrifflichkeit dürfte man sagen, daß die responsive Handlung des Subjekts nicht „necessitiert" (also bloß kausal hervorgerufen) wird (wodurch man sie eben Freiheit nicht mehr nennen könnte), sondern „motiviert" zum subjektiven Ergreifen der Möglichkeiten. Freiheit ist hier nicht reduziert auf die von Kant verspottete „Freiheit eines Bratenwenders"[1], sondern wird gedacht als ein „Eingehen auf fremde Ansprüche", die das Ich nicht erfunden hat.

Resümiert man die Konsequenzen der unterschiedlichen Rolle der Aufforderung bzw. des Appells des Anderen für den Begriff der Anerkennung, so ist der Befund uneindeutig. Die Auffassung Fichtes ist zusammengefaßt in dem bereits zitierten Satz, in dem das Verhältnis freier Wesen als eine der Wechselwirkung durch Freiheit bestimmt wird. Es heißt dann anschließend: „Keines kann das andere aner- kennen, wenn nicht beide gegenseitig sich anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide gegenseitig sich so behandeln."[2] Symmetrische Gegenseitigkeit ist die Grundlage der Anerkennung, die ihrerseits das Rechtsverhältnis bestimmt. In Hinsicht auf die Bestimmung des Rechts qua Anerkennung dürfte zwischen Levinas und Fichte Einigkeit herrschen. Eine normative Begründung des Rechts ist schlechterdings gar nicht anders zu denken. Die Differenz liegt in der vorausliegenden Frage, wie die wechselseitige Anerkennung ihrerseits begründet wird. Fichte will zeigen, inwiefern anerkennende Intersubjektivität eine Voraussetzung für das tätige Selbstbewußtsein ist. Sein Schritt aus der Ich-Philosophie heraus besteht darin, die Intersubjektivität als unverzichtbar für das freie Ich zu deduzieren. Keine Freiheit besteht allein und sie ist als solche für endliche Vernunftwesen nur denkbar, wenn die wechselseitige Anerkennung beschränkter Freiheiten hinzugedacht wird. Die Ehre, die Intersubjektivität als notwendiges Bestandsstück eines Begriffs des Subjekts in die Philosophie eingeführt (und damit die „intersubjektive Wende" eingeleitet) zu haben, gebührt Fichte also zu Recht. Doch wie
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[1] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 97.
[2] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 3, 351.

Husserl bleibt Fichte den Rahmenbedingungen seiner Problemstellung verhaftet und scheut sich, die Möglichkeit, mittels des Begriffs der Intersubjektivität die Subjektphilosophie hinter sich zu lassen, zu ergreifen. Denn sein erster Schritt zur Intersubjektivität bleibt halbherzig, weil schließlich der Ausgangspunkt bei der Setzung des Ichs als frei - aus sich selbst heraus - unhintergehbar bleibt. Die Gründung der Anerkennung bei Levinas hingegen geht davon aus, daß wir nicht beim selbstsetzenden Ich zu beginnen haben, sondern beim Ereignis des absoluten Anderen, der uns gewissermaßen erst in die Freiheit ruft. Die Überzeugung, daß dem so ist, ist ihrerseits keine philosophische Setzung, sondern beansprucht phänomenologische Ausweisbarkeit an der Erfahrung. Ob das triftig ist, steht auf einem anderen Blatt. Doch zumindest ist damit der Graben markiert, der eine Ich-Philosophie der Setzung des Anderen von einer Phänomenologie des Anderen trennt.[1]

Letztlich hängt ja, wie wir von Fichte wissen, die Philosophie, die man betreibt davon ab, was für ein Mensch man ist. So läßt sich für die Wahl dieses oder jenes Ausgangspunktes auch kaum argumentieren (sondern höchstens phänomenologische Plausibilisierungen angeben). Allein die Konsequenzen der Wahl des Ausgangspunktes für die weiteren Aufgaben der praktischen Philosophie lassen sich in dieser Rücksicht kontrovers diskutieren.


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[1] In gewissem Sinne steht die Levinassche Theorie asymmetrischer Intersubjektivität dem Kantischen Gedanken eines unbedingten Anspruchs der Stimme des Gesetzes näher als dem Fichteschen Bemühen zur Integration des Unbedingten ins Ich. Levinas selbst bekundet seine Nähe zu Kant. Vgl. Emmanuel Levinas: „Ist die Ontologie fundamental?", in: ders.: Die Spur des Anderen, a.a.O., 103- 119, hier: 118.