Die „Realisation des ganzen Menschen“
und der Abschied von der Natur
Michael Spieker
„Fichte [...] ist in Gefühlsdingen ein vollkommener Grobian. [...] zu der psychologischen Blindheit einer sehr primitiven Natur kommt [...] der Hochmut des Denkens, den die Logik des Prinzips noch einmal gegen die Eigengesetzlichkeit des Daseins verblendet. Es gibt nichts Unzärteres, Verschrobeneres und in seiner schulmeisterlichen Gravität und Überzeugtheit Komischeres, als Fichtes Weisheit über die Ehe, enthalten in Anhängen zum Naturrecht."1 Dieses Urteil aus Gertrud Bäumers Schrift über Fichte und sein Werk, erschienen 1921 und zugegebenermaßen nicht gerade das wichtigste Werk über Fichte, findet sich mit ähnlicher Tonlage und gleichem Schluß in einer Vielzahl der Bezugnahmen auf Fichtes Familienrecht.
Ein Zeugnis der Komik von Fichtes Ansichten über die Rolle von Mann und Frau findet sich freilich auch schon zu Fichtes Lebzeiten. Es ist nicht direkt auf Fichte gemünzt, sondern auf Schillers Lied von der Glocke, das jedoch dieselbe Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern kennt. Dort hieß es in der achten Strophe unter anderem: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet/ Ob sich das Herz zum Herzen findet/ [.] Der Mann muß hinaus/ ins feindliche Leben,/ muß wirken und streben/ Und pflanzen und schaffen/ Erlisten, erraffen/ Muß wetten und wagen, / Das Glück zu erjagen/ [.] Und drinnen waltet/ Die züchtige Hausfrau,/ Die Mutter der Kinder,/ Und herrschet weise/ Im häuslichen Kreise,/ Und lehret die Mädchen/ Und wehret den Knaben,/ Und reget ohn' Ende/ Die fleißigen Hände/ [.]"[1] [2]. Angesichts dieses Bildes also schrieb schon 1799 Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling an ihre Tochter Auguste: „über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen."[3] Es ist anzunehmen, daß Caroline hier lachen mußte, weil sie Schillers bürgerliches Familienbild angesichts des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes zu Ende des 18. Jahrhunderts vollkommen unangemessen fand.
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[1] Gertrud Bäumer: Fichte und sein Werk, Berlin 1921, 57 f.
[2] Friedrich Schiller: Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Heinrich G. Göpfert, München 1966, 813.
[3] Brief an Auguste Böhmer vom 21.10. 1799, in: Erich Schmidt (Hrsg.): Caroline. Briefe aus der Frühromantik, nach Georg Waitz vermehrt, Leipzig 1913, 570.
Manch anderem ist angesichts der Haltung Fichtes gar nicht zum Lachen zumute gewesen. Die „reaktionäre Meinungsbildung bürgerlicher Familienväter" habe Fichte „einprägsam vorweggenommen und auf den Begriff gebracht"[1], so Ute Gerhard. Fichte mache sich damit zum „Chefideologe[n] eines speziell bürgerlichen Patriarchalismus"[2]. Weil das Familienrecht folglich Ideologie ist, wird es in weiten Teilen der feministischen Rezeption lediglich in seiner interessengeleiteten Funktion zur Beherrschung der Ordnung der Geschlechter betrachtet.
Die hoffnungslose Antiquiertheit von Fichtes Familienrecht[3] könnte man schließlich auch anekdotisch heraufbeschwören, etwa mit der rhetorischen Frage, welcher verheiratete Mann seiner Ehefrau heute beispielsweise § 33 des Familienrechts in der Erwartung von Zustimmung vortragen könnte. Hier geht es darum, ob den Frauen alle Menschen- und Bürgerrechte zukommen. Das kann nach Fichte eigentlich keine Frage sein, da es zweifelsfrei sei, daß „die Weiber auch völlige Menschen" sind. - Zumindest in Österreich fand der Zweifel daran aber noch im Jahr 1782 einen Verleger, wie der zu Wien erschienene Beweis, daß die Weibsbilder keine Menschen sind: aus der Schrift, und aus der gesunden Vernunft dargethan von Johann Michael Ambros bezeugt. - Für Fichte aber bestand diesbezüglich kein Zweifel: Weiber sind auch Menschen. „Aber", so schreibt er, „darüber, ob und inwiefern das weibliche Geschlecht alle seine Rechte ausüben auch nur wollen könne, könnte allerdings die Frage entstehen" (GA I, 4, 129).[4]
Was könnte vor diesem Hintergrund zu Fichtes Grundriß des Familienrechts zu sagen sein, zumal wenn dabei von der Aktualität der Fichteschen Rechtsphilosophie die Rede sein soll? Jenseits der feministischen Positionierung sind zwei Herangehensweisen denkbar. Zum einen kann ein Widerspruch in Fichtes Philosophie anvisiert werden: So ist das Verhältnis von Subjekt und Objekt in seiner Rechtsphilosophie als dialektisches gefaßt, doch was das Verhältnis von Mann und Frau anbetrifft, wird es zum dualistischen[5]. Fichte bezeichnet die Frau als Objekt der Kraft des Mannes (§ 3, GA I, 4, 99). Von daher wäre die Inkonsequenz des Autors zu konstatieren und gegebenenfalls zu beklagen. Eine andere Herangehensweise wäre jene, zwischen Lebendem und Toten, Zeitgemäßem und Veraltetem zu scheiden. Am Ende hätten wir alles das versammelt, was von Fichte ,aktuell' zu nennen wäre. Es bliebe dann jedoch zu fragen, warum überhaupt noch von Fichte die Rede ist, wenn doch nur eine
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[1] Gerhard, Ute: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert mit Dokumenten, Frankfurt a. M. 1978, 144.
[2] Ebd., 143.
[3] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden im Text abgekürzt mit GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA I, 3 und GA I, 4.
[4] Fichtes Werk wird zitiert nach den Studienausgaben. Die Stellenangaben erfolgen nach Fichte: Gesamtausgabe, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, StuttgartBad Cannstatt 1966 ff.
[5] Vgl. Bennent, Heidemarie: Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a. M. 1985, 122.
Selektion seiner Gedanken, also gerade nicht sein Gedanke brauchbar sein soll. Diese Umgangsweise mit den Klassikern der Philosophie findet man gleichwohl vielerorts durchgeführt, man könnte sie die übliche nennen. Ein Beispiel ist etwa Axel Honneths Anleihe beim Anerkennungsbegriff Hegels in seinem Buch Kampf um Anerkennung, die säuberlich zwischen in seiner Sicht unbrauchbaren metaphysischen Gehalten und verwendbaren Denkfiguren der Intersubjektivität zu scheiden weiß. In Bezug auf Fichte findet sich diese Herangehensweise beispielsweise in David Archards Beitrag zum Familienrecht innerhalb des Klassiker Auslegen Bandes über die Grundlage des Naturrechts[1].
Gemeinsam ist den angedeuteten Herangehensweisen, daß sie Fichte nicht stark machen. Das zeigt sich zweifach: (1.) Sie stellen gar nicht die Frage, weshalb Fichte überhaupt auf das Verhältnis von Ehe und Familie eingeht, welche Bedeutung der Anhang also für die Sache von Fichtes Naturrecht hat. (2.) Durch das Urteil, Fichtes Familienrecht sei voll „zeitbedingter Vorurteile"[2] und traditionell, entledigt man sich zudem des Nachvollzugs der Fichteschen Bestimmungen. Doch wie kommt man zu einem derartigen Urteil? Dazu braucht es natürlich ebenfalls ein Bild von Ehe und Familie, eben dasjenige der eigenen Gegenwart. Tatsächlich wird der Autor immer da gelobt, wo er gegenwartsaffirmativ scheint. Wird man da nicht fragen müssen, ob dieses Bild nicht ebenso zeitgebunden ist? Das Urteil zeigt sich angesichts seiner unausgesprochenen Voraussetzungen als Vermeidungsstrategie. Man läßt die durch Fichte gedachten Bestimmungen nicht zur Anfrage an die eigene Gegenwart werden, denn sie sind ja gleichsam abgelaufen. Und wir Heutigen stehen selbstverständlich jenseits des ideologischen Zeitalters.
Die folgenden Überlegungen widmen sich den beiden angesprochenen Aufgaben. Dabei soll nicht bestritten werden, daß so manches aus Fichtes Bestimmung des Familienrechts als datiert zu gelten hat. Darüber hinausgehend möchte ich aber zwei Thesen erläutern: (1.) Zum einen die These, wonach das Familienrecht in der Aufnahme und Auflösung des kritischen Punkts der Fichteschen Rechtsphilosophie die vorgängige Wirklichkeit von deren Möglichkeit darlegt. Dies soll anhand einer kurzen Rekonstruktion des Familienrechts geschehen. (2.) Im zweiten Schritt soll dann Fichtes Familienidee mit der zeitgenössischen Norm der Familie, wie sie sich in der gegenwärtigen Familienpolitik zu erkennen gibt, zusammengestellt werden. Dabei soll die These vorgebracht werden, daß Fichte die Emanzipation der Familie zu begründen vermochte, die heute durch den zunehmenden Zugriff auf die Familien bedroht ist.
Die beiden Anhänge zum Familien- und zum Völkerrecht machen beinahe ein Viertel des Textes der Grundlage des Naturrechts aus. Den größten Raum davon nimmt der Grundriß des Familienrechts ein. Zeigen die 21 Paragraphen des Hauptteils die
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[1] Archard, David: „Family Law (First Annex)", in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 191 f. (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24).
[2] Rohs, Peter: Johann Gottlieb Fichte, München 1991, 93.
Grundlage des Rechts in der Subjektivität und als deren Konsequenz die rechte Verfassung im Staatswesen auf, so betritt man mit den Anhängen in zweifachem Sinn exterritoriales Gebiet11: Ehe und Familie formieren sich vorstaatlich und das Völkerrecht ist überstaatlich.
Einen Grund dafür, daß Ehe und Familie nicht im Hauptteil inkludiert sind, nennt Fichte einleitend: „Die Ehe ist gar nicht bloß eine juridische Gesellschaft, wie etwa der Staat; sie ist eine natürliche und moralische Gesellschaft" (GA I, 4, 95). „Juridisch" ist die Ehe nicht, weil sie nicht zwangsbewehrt und - wie wir sehen werden - im Unterschied zum hypothetischen Eintritt in den Staat für alle Männer und Frauen unbedingt verpflichtend ist. Doch warum findet man sie dann überhaupt in der Rechtsphilosophie, - einem Werk, das zwischen Recht und Moral nicht nur unterscheidet, sondern diese Sphären jedenfalls in der Begründung beinahe trennen will? Fichte schreibt, daß man vor der Anwendung des Rechts zunächst einmal das rechtlich zu ordnende Gebiet kennen müsse. Das erklärt, weshalb von einer natürlichen und moralischen Zweckgemeinschaft innerhalb der Rechtsphilosophie die Rede sein kann. Nach dieser Maßgabe könnte aber auch von allem möglichen anderen die Rede sein. Ungeklärt bliebe, weshalb es gerade die Ehe ist, die behandelt werden muß. - Dazu müßte einerseits gezeigt werden, daß eine rechtliche Einhegung der vorjuridischen Gesellschaft erforderlich ist, und andererseits müßte plausibel gemacht werden, daß diese Gesellschaft selbst eine Möglichkeitsbedingung der Rechtsgemeinschaft überhaupt darstellt. Die Ehe muß eine Funktion für die Rechtsphilosophie insgesamt haben. Nur dann wäre auch die systematische Geschlossenheit des Naturrechts gewahrt. Ehe und Familie wären dann nicht ein Rechtsgebiet neben anderen, kein bloßes Anhängsel mithin, sondern diese spannten überhaupt erst den Raum auf, innerhalb dessen Recht möglich wird.
Das Rechtsverhältnis steht nach Fichte unter einer Bedingung. Es ist jenes „Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, [in welchem] jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränkte, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfalls durch die des anderen beschränke" (§ 4 C III, GA I, 3, 358).[1] [2] Weil der Mensch nur als Individuum Realität gewinnt und weil individuelles Dasein immer das Dasein mindestens zweier Individuen bedeutet, deshalb kann niemand seine Freiheit verwirklichen, wenn er nicht von den anderen als ein Freier anerkannt wird. Diese Anerkennung können jedoch nur als frei Anerkannte leisten. Die Freiheit der Individuen realisiert sich mithin als Wechselwirkung: „Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und
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[1] Vgl. Bennent, a.a.O., 125 f.
[2] Befragt werden müßte hier vor allem die „Beschränkung" der Freiheit, die notwendig sein soll. Vgl. dazu Rainer Zaczyk: „Die Struktur des Rechtsverhältnisses (§§ 1 - 4) im Naturrecht Fichtes", in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1 -4 der Grundlage des Naturrechts und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie, hrsg. von Michael Kahlo et al., Frankfurt a. M. 1992, 13 ff., der von einer „gestufte[n] zweifache[n] Bedeutung" des Freiheitsbegriffs spricht. Kritisch könnte dabei hervorgebracht werden, daß Fichte - hierin ganz treu zu Kant - den anderen als Beschränkung und nicht als Ermöglichung der Freiheit des Ego ansieht.
keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln" (§ 4, GA I, 3, 351). Wo keine Selbst-Beschränkung in der Anerkennung der Freiheit anderer Subjekte stattfindet, da bleibt - mit Fichte gesprochen - Freiheit formal und wird nicht material (§ 4, GA I, 3, 350 f.). Nur unter Menschen wird der Mensch ein Mensch (GA I, 3, 347). Die Reflexion fragt sich nun berechtigterweise, wo denn der Grund dieser Wechselwirkung liege. Der natürliche Verstand versteht den Grund als ersten Anfang und findet ihn nirgends. Wo liegt das Erste, wenn ich nur als Anerkannter anerkennen kann und ich doch nur als Anerkennender anerkannt werden kann?
Nach der Grundlage des Naturrechts geschieht der Eintritt in diesen Zirkel durch eine ,problematische Anerkennung' (GA I, 3, 353). „Problematisch" bedeutet hier nicht einfach nur irgendwie schwierig, sondern ist terminologisch zu verstehen als dasjenige, wovon wir weder sagen können, daß es möglich ist, noch daß es unmöglich wäre (Kant, KrV B 343 f.). Problematisch ist die Anerkennung, weil sie bedingt ist durch den anderen: nur wenn der andere gleichfalls seine Freiheit beschränkt, beschränke auch ich die meinige. Weil ich nicht wissen kann, was der andere tut, weiß ich auch nicht ob es mir möglich ist, ihm Freiraum zu gewähren. Zugleich soll die Anerkennung jedoch die eigene Handlung des freien Vernunftwesens und mithin unbedingt sein. Bedingt unbedingt zu sein ist ein Widerspruch. Innerhalb der Deduktion des Rechtsbegriffs löst Fichte das Problem nicht vollends und damit lediglich scheinbar auf. Der Anfang der Anerkennung liege in einer „Aufforderung". Diese spricht dem Selbstbewußtsein einen Freiheitsraum zu und mutet ihm an, diesen zu gestalten. Ohne Gewißheit bezüglich der freien Subjektivität des anderen wird die Freiheit dem aufgeforderten Objekte angemutet. Es wird in der Aufforderung als ein Subjekt behandelt und kann nur durch diese Zumutung zum Subjekt werden. Die Aufforderung ist die Bestimmung zur Selbstbestimmung (GA I, 3, 342 f.), so ermöglicht sie überhaupt endliches Selbstsein. Würde die Aufforderung nur unter der Bedingung der Gewißheit darüber ergehen, auf ein freies Wesen zu treffen, so gäbe es kein Auffordern. Denn das freie Wesen zeigt sich erst durch sie. Die Aufforderung ist letztlich eine Tat ohne Wissen.
Später, in der Deduktion der Anwendung, spricht Fichte dann von der Nötigung zur Anerkennung, die vom bloßen „Dasein im Raume" (§ 6, GA I, 3, 376) ausgeht, wo es dasjenige eines artikulierten Leibes ist. Auch das „ursprüngliche Verhältnis" (GA I, 3, 375), mithin die eröffnende Aufforderung, solle bereits eine Wechselwirkung sein. Schon die eröffnende Aufforderung muß als Antwort verstanden werden. Das ändert jedoch nichts an der eigenartigen Struktur dieser Antwort. Sie wird ungefragt gegeben, denn sie eröffnet erst den Raum für die Anfrage, die sie beantworten soll. Auch die Nötigung vermittelt keine Gewißheit über die Mög- lichkeit des wechselseitigen Anerkennens. Schließlich gilt, daß jede Möglichkeit nur eine abstrahierte Wirklichkeit sein kann. Die Wirklichkeit der anerkennenden Tathandlung wird aber nicht dadurch gezeigt, daß hier eine Nötigung vorliegt.
In der Deduktion des Rechtsbegriffs identifiziert Fichte den Prozeß der Erziehung als ursprüngliche Aufforderung. Indem er fragt, wer eigentlich die Erzieher erzogen
hat, gerät er in einen Regreß, denn wer hat denn nun den Auffordernden aufgefordert? Angekommen beim ersten Menschenpaar beendet Fichte den Regreß, indem er das erste endliche Vernunftwesen der Erziehung durch Gott überläßt (§ 3, GA I, 3, 347). Daß nun „ein Geist" in die Begründung des Rechtsverhältnisses unter endlichen Vernunftwesen hineinspielt, könnte man als inkonsequent bemängeln[1]. Es ist aber durchaus logisch/begrifflich zu verstehen. Die Aufforderung kann nur aus der Unbedingtheit heraus erfolgen und für diese steht hier der „Geist". Rainer Zaczyk merkt in diesem Zusammenhang an, daß die Aufforderung ein Moment enthalte, „das Fichte selbst gar nicht deutlich herausstellt, das aber für ein volles Erfassen der Struktur des Rechtsverhältnisses von Bedeutung ist: Man kann es als liebendes Vertrauen in die Vernunft des Aufgeforderten begreifen. Die in der Aufforderung liegende Vorleistung wird erst durch jenes Moment ganz erklärbar; aus reiner Distanz ist sie es nicht."[2] Innerhalb der Deduktion des Rechtsverhältnisses stellt Fichte dieses Moment, das die Vorleistung in der Eröffnung des Anerkennungsverhältnisses trägt und ermöglicht, tatsächlich nicht eigens dar.
Die angesprochene Leistung könnte man auch als den vorjuridischen Grund des Rechts bezeichnen. Auf „liebendes Vertrauen" kann es schließlich kein Recht geben. Die vertrauensvolle Zuwendung ist zudem Kennzeichen einer ungleichen und asymmetrischen Beziehung, während das Recht den Verkehr unter Gleichen ordnen soll. Zudem fordert das Recht ja lediglich eigene Beschränkung und Unterlassen der Behinderung anderer, es fordert nicht die aktive Ermöglichung. Doch Fichte bedenkt die Wirklichkeit dieser Vorschuß-Leistung, die das Recht erst ermöglicht, weil es seine Subjekte erst sein läßt, an anderer Stelle durchaus deutlich; nämlich im Anhang über die „natürliche und moralische Gesellschaft" der Ehe.[3]
Fichtes „Deduktion der Ehe" gliedert sich in deren Betrachtung als natürliche und als moralische Gesellschaft. Für die Natur gilt wie für das Ich, daß sie sich differenzieren muß, um überhaupt als Natur da sein zu können. Die organische Natur vollendet sich in der „Bildung eines Wesens seiner Art" (§ 1, GA I, 4, 96). Wenn dafür beständig alle Bedingungen erfüllt wären, gäbe es nur ein stetes Werden. „So ist keine Natur möglich", folgert Fichte. Dazu sind beständige Gestalten erforderlich. Die Natur braucht ein Dasein, daher müssen die Bedingungen der Reproduktion auseinandergelegt werden. Diese Differenzierung ist der Grund für die Existenz von zwei unterschiedlichen Geschlechtern, die je nur einen Teil der Bedingungen für die Realisation der Gattung ausmachen. Von Ferne her klingt noch Aristophanes' Mythos
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[1] Vgl. Vittorio Hösle: „Intersubjektivität und Willensfreiheit in Fichtes ,Sittenlehre'", in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1-4 der Grundlage des Naturrechts und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie, hrsg. von Michael Kahlo et al., Frankfurt a. M. 1992, 44.
[2] Zaczyk a.a.O., 20.
[3] Als Vollendung statt lediglich als Appendix der Rechtslehre wollen auch Marion Heinz und Friederike Kuster: „,Vollkommene Vereinigung'. Fichtes Eherecht in der Perspektive feministischer Philosophie", in: DZPhil 46 (5/1998), 829 f. das Eherecht verstehen: Sie sehen die Aufgabe der Deduktion der Ehe jedoch darin, dem Individuum zu zeigen, daß es sich als Gattungswesen zu begreifen habe. Diese Einsicht ist jedoch selbst nur möglich als eine Tat, und erst deren Aufweis ist nach der hier vorgebrachten Interpretation als Vollendung der Rechtslehre zu betrachten.
von den Kugelmenschen an, wenn davon die Rede ist, daß die Bildungskraft der Gattung in zwei „Hälften zerrissen" (§ 1, GA I, 4, 96) wurde. Zur Erfüllung ihres eigenen Zwecks, der Fortpflanzung, muß sich die Natur gewissermaßen selbst limitieren. Andernfalls hätte sie keine Existenz. Der Naturzweck ist den beiden Geschlechtern äußerlich und immanent zugleich: Sie selbst sind lediglich auf die Befriedigung ihres Geschlechtstriebes aus, insofern ist er ihnen äußerlich und man darf für Fichte damit von einer Befreiung der Sexualität sprechen. In der heterosexuellen Gemeinschaft verwirklichen sie aber zugleich ihre eigene Gattung, so ist der Naturzweck dann doch ihr eigener. „Das Individuum besteht lediglich als Tendenz, die Gattung zu bilden." Ohne sich zu vereinigen, würde es seine organische Natur nicht verwirklichen können. Schon die bloße Vereinigung der Geschlechter verwirklicht die Gattung Mensch. Diese Wirklichkeit ist auch die Möglichkeit der zweiten Verwirklichung der Menschengattung in der Erzeugung neuer Individuen. Die Fortpflanzung ist aber nicht intendiert, sie kommt zur Vereinigung der Geschlechter natürlicherweise hinzu. Kinder werden „nicht nach Begriffen empfangen" (§ 3, GA I, 4, 98). Folglich taugt Fortpflanzung nicht als Ehezweck, denn sie ist unverfügbar und man kann sie sich recht verstanden nicht vornehmen. So wird Fichte am Ende der Deduktion folgern, daß die Vereinigung der Geschlechter zur Gattungseinheit, also die Ehe, „ihr eigener Zweck ist" (§ 8, GA I, 4, 104). Damit verabschiedet sich Fichte von der Tradition, die procreatio hominis als Zweck der Ehe zu bestimmen.
Wie sind nun der Unterschied der Geschlechter und die Einheit der Gattung näher bestimmt? Die zerrissenen Hälften sind einerseits Material und andererseits Form. Dem breiten Strom der Tradition folgend, nennt Fichte die materielle Hälfte weiblich und die formierende männlich (§ 2, GA I, 4, 96). Die eine ist lediglich rezeptiv und die andere völlig spontan. Fichte macht diesen natürlichen Unterschied allerdings nicht eigentlich an der Natur der beiden Geschlechter fest, er führt dafür nicht etwa den Bau ihrer Geschlechtsorgane an (wie Hegel es zufolge eines Zusatzes zu seiner Enzyklopädie von 1830 (§ 369 Z) getan hat), sondern ihr Verhalten. Es verhalte sich in der Zeugung das eine Geschlecht nur tätig und das andere nur leidend. Das liege an dem ökonomischen Teilungsprinzip der Natur, welche auf der einen Seite die Bedingungen und auf der anderen Seite das Bewegungsprinzip voneinander abgesondert habe. - Ob dieses Naturbild anders ausgefallen wäre, wenn Fichte schon von den Eizellen, also dem ebenfalls formierend wirksamen weiblichen Beitrag zur Fortpflanzung, gewußt hätte, können wir nicht wissen. Sie wurden erst 1827 entdeckt. - Es kann dem Transzendentalphilosophen aber auch gar nicht um eine Bestimmtheit von Natur an sich gehen, denn eine solche gibt es für ihn gar nicht. Natur gibt es nur als „meine Natur", wie das System der Sittenlehre (§ 10) lehrt[1], als solche kann Natur nicht an sich von Bedeutung sein. Sie ist vielmehr „eine besondere Weise, mich selbst zu erblicken." Als Mittel der Selbsterkenntnis hat sie ihre Funktion[2]. Dementsprechend ist es Fichte nicht um den Unterschied zwischen aktivem Mann und
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[1] Fichte: System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), in: GA I, 5, 127.
[2] Vgl. dazu Thomas S. Hoffmann: „,... eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken'. Zum systematischen Status der Natur nach Fichte", in: Fichte-Studien 24 (2003) 1 - 17.
passiver Frau zu tun. Ihre Unterscheidung war schließlich ein Mittel des Gattungsprozesses und diesen gilt es zu betrachten. Nur vom Ziel dieses Prozesses her, kann dann eine Betrachtung der Mittel sinnvoll sein. Die Rekonstruktion sei also fortgeführt:
Fichte bezieht nun den Verhaltensunterschied auf die Vernunftnatur des Menschen: Die Passivität widerspricht der Vernunft, während die Aktivität mit dem selbsttätigen Prinzip der Vernunft übereinstimmt. Dies ergibt das Bild, wonach das weibliche Geschlecht „der Natureinrichtung nach um eine Stufe tiefer" (§ 3, GA I, 4, 99) steht als das männliche. Soweit, so skandalös, möchte man meinen. Auch die von Fichte betonte moralische Gleichheit der Geschlechter kann diesen Unterschied nicht mehr aufheben, denn auf ihm wird die gesamte Ungleichbehandlung von Mann und Frau begründet. Weil die Passivität der Vernunft widerspricht, kann die Frau sich ihren Geschlechtstrieb nicht zu ihrem Zwecke machen, ohne damit auf ihre zweite Natur, die Vernunft, Verzicht zu leisten. Der Mann hat hingegen vom Vernunftstandpunkt her keine Schwierigkeit mit seinem Geschlechtstrieb. Die Vernunft will herrschen und so will er es auch. Aus der unterschiedlichen Stellung zur Vernunft folgt für die beiden Standpunkte ein unterschiedlich motiviertes Handeln. Gäbe sich die Frau ihrem auf Leiden ausgerichteten Naturtrieb hin, würde sie ihre Vernunftnatur aufgeben, an der sie als Organ der Menschengattung teilhat. Um sie zu wahren, muß auch die Frau tätig sein und Fichte findet diese aktive Seite darin, daß sie strebe, „den Mann zu befriedigen" (§ 4, GA I, 4, 100). Die Frau „behauptet ihre Würde, ohnerachtet sie Mittel [zur Befriedigung des Mannes; d.V.] wird, dadurch daß sie sich freiwillig, zufolge eines edlen Naturtriebes, des der Liebe, zum Mittel macht." Die Liebe ist der Frau „angeboren", mithin ist sie natürlich und nicht selbstgesetzt. Doch die Liebe ist von reflexiver Struktur, denn in der durch Liebe vermittelten Rücknahme ihrer selbst (des unmittelbaren Geschlechtstriebes) unterscheidet sich die Liebende von sich selbst. Damit ist Liebe eine Wirkung der Vernunft, denn Natur unterscheidet sich nicht von sich, sondern nur von anderem. Fichte sagt daher: „Liebe ist der innigste Vereinigungspunkt der Natur, und der Vernunft; sie ist das einzige Glied, wo die Natur in die Vernunft eingreift." Die Natur der Frau wird damit für die Frau zum Bild ihrer selbst, sie erfaßt sich als bedingungslos, nämlich aus Liebe Gebende und weiß darin ihre Kraft. Sich so zu erschauen, befriedigt ihr „Herz". Scheint es zunächst, daß Fichte die Frau lediglich als Naturwesen darstellt, so ist sie als Liebende selbst und für sich schon ganz Mensch, nämlich vernünftig geworden. Darin ist sie in keiner Weise abhängig von einem männlichen Beitrag.
Mit der Entwicklung des Geschlechtstriebes zur Liebe ist überhaupt die Vermenschlichung der Sexualität verbunden. Sie hat eine spezifische Intentionalität. Das sexuelle Bedürfnis strebt nicht nach sinnlichen Empfindungen, sondern nach einer Person, es begehrt nicht ihren Körper als Objekt der physischen Welt, sondern zielt auf die Person als inkarniertem Subjekt, in dem das Licht des Selbstbewußtseins leuchtet. Diese Person kann mir dann Ich zu Ich begegnen. Daher hat die liebevolle Hingabe offenbarenden und herausfordernden Charakter wie ihn die bloße Verfolgung sinnlicher Empfindungen nicht haben könnte.
Was tut nun der Mann? Die Schilderung seines Tuns fällt bereits in den Teil der Deduktion der Ehe, der sie als moralische Gesellschaft betrachtet. Der Mann staunt: „Er sieht ein ursprünglich freies Wesen mit Freiheit, und unbegrenztem Zutrauen sich ihm unbedingt unterwerfen" (§ 7, GA I, 4, 102)[1]. Er antwortet folgendermaßen: „Er will zunächst Herr sein; wer aber mit Zutrauen ihm sich hingibt, gegen den entkleidet er sich aller seiner Gewalt. Gegen den Unterworfenen stark zu sein, ist nur die Sache des Entmannten, der gegen den Widerstand keine Kraft hat." Der Mann übt Großmut und nimmt sich ebenfalls zurück. Das klingt so, als tue er das aus der Position überlegener Stärke, aber in Wahrheit stellt die Liebe der Frau für ihn eine Nötigung dar. Um ihr stand zu halten, muß man auch gegen Widerstand kräftig sein. Tatsächlich braucht der Mann Kraft für seine Antwort auf die Liebe. Doch diese Kraft muß sich auf sich selbst richten, nicht unbeherrschtes Fremdbestimmen, sondern selbstbeherrschtes Freilassen muß sie ermöglichen. Auf die Nötigung kann der Mann nur durch Rücknahme seiner selbst antworten, wenn er nicht „seine eigene Natur, und Würde" (GA I, 4, 103) verletzen will.
Aus dem ungleichen Verhältnis entsteht durch Liebe und Großmut die „eheliche Zärtlichkeit", die die Eheleute verbindet und angleicht, was natürlich ungleich ist. Nur in der Zufriedenheit des anderen Teiles der Ehe findet ein jeder die seinige. Es findet eine „Umtauschung der Herzen und der Willen" statt. Darin nun liegt die „Realisation des ganzen Menschen" (§ 7, GA I, 4, 104). So sei es die „absolute Bestimmung eines jeden Individuums beider Geschlechter, sich zu verehelichen", wie Fichte im System der Sittenlehre von 1798 schreibt (§ 27)[2], in dem er ansonsten zu Ehefragen an das Naturrecht verweist.
Wer in die Ehe eintritt, wird „ganzer Mensch". Der ganze Mensch aber ist nicht Mann oder Frau, er ist auch nicht geschlechtslos, sondern er ist beides und zwar, wie Fichte schreibt, in physischer wie in moralischer Hinsicht. Das bedeutet aber auch für den im Eheverhältnis stehenden Mann, daß er nicht mehr nur Mann ist, und für die Frau, daß sie nicht nur Frau ist. Beide sind wahrhaft verwandelt und die Einseitigkeit der Natur besitzt keine Geltung mehr. Deren Differenzierung dient lediglich zum tieferen Erfassen des Selbst und seiner Möglichkeitsbedingungen. Fichte expliziert damit eine Bestimmung, die Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur (1794) en passant erwähnt: Im Menschen entsprächen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit einander gegenseitig. „[N]ur also die Richtung unterscheidet hier die männliche Kraft von der weiblichen. Die erstere beginnt, vermöge ihrer Selbstthä- tigkeit, mit der Einwirkung; nimmt aber, vermöge ihrer Empfänglichkeit, die Rückwirkung gegenseitig auf. Die
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[1] Wie sich ein vernünftiges Wesen zum Objekt eines anderen machen könne und mithin seine Personalität aufgibt, ist auch das Problem, um das herum Kants Überlegungen zur Ehe kreisen (MdS § 25, A 108), vgl. dazu die Bemerkungen bei Wolfgang Schild: „Philosophische Anmerkungen zur Familie einst und heute", in: Familie - ein öffentliches Gut? Gesellschaftliche Anforderungen an Partnerschaft und Elternschaft, hrsg. von Elke Völmicke und Gerd Brudermüller, Würzburg 2010, 148 f.
[2] Fichte: System der Sittenlehre, a.a.O., in: GA I, 5, 291.
letztere geht den entgegengesetzten Weg."[1]
Vor dem Hintergrund des ganzen Menschen sind Mann und Frau als entgegengesetzte Wesen und Charaktere aufgelöst, sie sind nicht mehr Arten einer Gattung, sondern Momente eines Begriffs, eben desjenigen vom realisierten Menschen geworden. Was Fichte „Weib" nennt, zeigt die Wirkungsmacht des Empfangens und was er „Mann" nennt die notwendige Empfänglichkeit des Wirkenkönnens. Beides ist nicht einsehbar, ohne die Erkenntnis der natürlichen Endlichkeit menschlichen Lebens. Auch die zeitliche Struktur und das Entscheiden von Mann und Frau sind durch ihre Vereinigung verwandelt: Die Ehe ist unauflöslich und ewig. Schließlich kann es kein Lieben auf Probe geben. Auch dies ist ein Unterscheidungsmerkmal von Fichtes Ehebegriff von der Vorstellung der Ehe als Vertragsverhältnis.
Der Eintritt in diese Verwandlung liegt in der Selbstunterscheidung von Mann und Frau. Darauf sei der Blick nochmals gerichtet: Fichte nennt die Frau, die sich dem Mann in Liebe hingibt, ihm ,unterworfen'. Dieses Wort ist treffend und unglücklich zugleich: Es trifft, weil die Liebe dem Geliebten keine Bestimmung vorschreibt und ihn frei sein läßt für das eigene Bestimmen. Damit unterwirft sich der Liebende in der Tat dem Bestimmtwerden durch den Geliebten. Unglücklich ist es aber, weil wir Unterwerfung einseitig als Aufgabe verstehen können und dann den auffordernden Charakter der Liebe übergehen. Denn die Liebe bestimmt auch den Geliebten: Lieben kann nur ein freies Vernunftwesen, demgegenüber nur eine Verhaltensweise angemessen ist, nämlich es frei sein zu lassen. Zugleich bleibt die Liebe aber bedingungslos, sie ist ein freies Anfangen, denn sie will nicht in einem anderen etwas bewirken, sondern sie gibt den anderen als ihn selbst frei. Schon der halbe Teil selbst und als solcher ist qua Liebe die ganze Gattungseinheit. Er realisiert als Liebender die gesamte Gattung, indem er sich durch die Unterscheidung seiner selbst reproduziert, denn diese freie Tat realisiert die Freiheit eines anderen. Auf das Bild von Mann und Frau gewendet bedeutet das, daß die Frau gerade nicht mehr auf die Großmut des Mannes angewiesen ist. Ihre Vorleistung ist selbst schon die Einlösung ihres eigenen Kredits, den sie gibt und auslöst zugleich: Sie wirkt befreiend. Am Bild des Mannes ist das schön abzulesen, denn die Liebe macht ihn erst zum Mann, indem er nun frei Gebender sein kann, andernfalls, nämlich als einer der nimmt, wo er kann, wäre der Mann, so Fichte, ,entmannt'.
Daß die Ehe selbst kein Vertragsverhältnis sein kann, liegt damit auf der Hand. Der Vertrag setzt freie Vertragsparteien voraus. Die Ehe ist hingegen dasjenige natürliche Verhältnis, durch dessen Vorleistung freie Individuen erst denkbar werden. Die Ehe, und genauer: die Liebe der Frau realisiert erstmals die Bestimmung zur Freiheit. Die Rücknahme des eigenen Willens als Unterscheidung von sich selbst ist die Weise, auf die das endliche Vernunftwesen sich als selbstgesetzt erfahren kann.[2] Die Frau ist
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[1] Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur, in: ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1960, 278.
[2] „[T]o find a way of conceiving of the finite subject's relation to the world such that its finitude can be reconciled with its essential character as self-positing", bezeichnet Frederick Neuhouser: „The Efficacy of the Rational Being", in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 42 (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24) als die zentrale dialektische Herausforderung des Naturrechts.
dadurch nicht mehr das Naturbild der Frau, sondern sie stellt den ganzen Menschen dar, der sich aber am Naturbild erkannt hat. Die „problematische Anerkennung" ist damit an der Liebe als der ursprünglichen vernünftigen Handlung in ihrer Realisierung aufgezeigt und ins Bewußtsein gehoben. Sie erklärt, wie es möglich ist, sich als Freier zu finden. Freilich wird damit auch Fichtes Projekt einer von jeglicher Sittlichkeit unabhängigen, nur auf dem verständigen Egoismus der Einzelnen aufbauenden Rechts- und Staatskonstruktion durchbrochen. Gleichermaßen kann die Deduktion der Ehe aber auch als Complement der Lücke in der Aufforderungslehre gelesen werden. Sie gibt die Herkunft der individuellen Rechtssubjekte an, sie stammen alle von Eltern ab und kommen aus einer Familie. Es gibt keinen Bürger, der nicht aus einer Familie hervorgegangen ist.
Die Ehe erschafft also ihre eigene Sphäre. Das Eheverhältnis unterliegt keiner rechtlichen Regelung, denn das Erfordernis eines Rechtsverhältnisses, die Vielheit endlicher Einzelwesen und deren voneinander geschiedene Selbstbestimmungsinteressen sind in der Ehe nicht gegeben, sie sind aufgehoben. Die Ehe macht ja einen ganzen Menschen aus vormals halben. So formuliert Fichte: „Es bedarf keiner Gesetze des Staats, um das Verhältnis der Eheleute untereinander zu ordnen" (§ 18, GA I, 4, 114). Wo das Recht in die Ehe mit hineinspielt, da ist dies für Fichte das sichere Zeichen, daß sie schon nicht mehr besteht. Die Ehe und die durch die eheliche Einheit entstehende Familie sind als Verhältnis der vollkommenen Anerkennung vollkommen emanzipiert. Sie brauchen kein Recht, das ja nur für endliche und damit verletzbare Verhältnisse notwendig ist. Im Staat bewegen sich, mit Fichtes Bild gesprochen, nur halbe Menschen. Von daher nur noch ein kurzer Blick auf die rechtlichen Regelungen, die Fichte in den weiteren Abschnitten zum Familienrecht konzipiert.
Die Emanzipation der Familie findet dort deutlichen Ausdruck, die Emanzipation der Frau als ganzer Mensch findet sich weniger deutlich, sie wird aber auch nicht völlig ausgeblendet. Der Staat hat zu garantieren, daß anders als auf dem Weg der Liebe keine Ehe angebahnt wird. Daraus leitet sich vor allem seine besondere Schutzpflicht gegenüber den Frauen ab, als dem eigentlich liebesfähigen Geschlecht (§ 13, GA I, 4, 109 f.). Dieser Schutz geht soweit, daß er die öffentliche Erklärung einer Ehe vom Mann fordern kann, wo immer er die Liebe einer Frau angenommen hat. Der nötigende Charakter der Liebe tritt damit auch in den konkreten rechtlichen Regelungen nochmals hervor. Wohl kann sich der Mann sogleich wieder scheiden, er hat dann aber die Konsequenz in Form des Unterhalts zu tragen (§ 23, GA I, 4, 119). Überhaupt geht das Recht zur Scheidung von beiden Ehepartnern gleichermaßen aus.
Weil die Ehe eine emanzipierte Gesellschaft ist, sind die Funktionen, die sie im Hinblick auf das Staatswesen hat, lediglich Beiprodukte. Der Staat hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen für diese Produktion zu schaffen (§ 50, GA I, 4, 144), er hat aber keinerlei Recht, in diese Produktion selbst einzugreifen, sie zu steuern oder zu reglementieren. So kann der Staat öffentliche Erziehungsanstalten einrichten, deren
Gebrauch aber kann er nur anbieten, er darf ihn nicht einfordern. Wohl hat er eine Aufsicht über die Erziehung, aber daraus folgt kein Eingriffsrecht, da die Eltern in Erziehungsangelegenheiten ihre eigenen Richter seien (§ 45, GA I, 4, 142). Jedoch gilt auch: „Die Möglichkeit des Staats beruht auf der ziemlich gleichmäßigen Fortdauer seiner Volksmenge", sowie darauf, daß die Kinder zu „allerlei vernünf- tige[n] Zwecke[n]" tauglich und geschickt seien (§ 46, GA I, 4, 142). Dies kann als Bedingung des Staatsvertrags angesehen werden. Damit wird die Erziehung eine äußere Zwangspflicht und tritt aus der natürlich-moralischen Sphäre heraus. Die Fortpflanzung aber kann niemals Zwangspflicht werden, da sie ja nicht den Begriffen unterliegt. Kinder können nicht produziert, sondern nur empfangen werden. Trotz der fundamentalen Bedeutung der Familie für den Staat behandelt Fichte die Familie aber strikt als emanzipierte Gesellschaft. Er gliedert sie nicht wie Hegel deutlich in das Institutionengefüge der Sittlichkeit ein, - weshalb Hegel das romantische Konzept der nur auf dem Gefühl der Liebe begründeten Ehe als unterbestimmt ablehnt (Rph § 164).
Weil die Kinder integraler Bestandteil der Familieneinheit sind, können sie gegen ihre Eltern keine Rechte haben. Ihr Status überhaupt ist damit prekär, selbst gegen die Aussetzung ,schwächlicher Kinder' findet Fichte keinen Rechtsgrund. Die Einheit der Familie prägt auch im weiteren ihr Verhältnis zum Staat. Fichte fordert sogar ein Familienwahlrecht und zwar nicht nur im Sinne einer bloß patriarchalen Verwaltung der Stimme der Frau durch den Vater: „Überhaupt muß ein Familienvater, der zugleich die Rechte seiner Gattin und seiner Kinder besorgt, größeren Einfluß, und eine entscheidendere Stimme im allgemeinen Wesen haben, als derjenige, der bloß die Rechte seines Individuums vertritt. Wie dies einzurichten sei, ist eine Untersuchung für die Politik." (§ 34, GA I, 4, 130)
Alleiniger öffentlicher Repräsentant der Familie ist für Fichte der Mann und Vater. Recht und Vermögen der Frau sind ihm im Eheschluß übertragen und nun ist er deren alleiniger Verwalter. Ihm kommt auch zu, was noch bis in die siebziger Jahre in der Bundesrepublik geltendes Recht war, wonach in familiären Angelegenheiten die Stimme des Mannes ausschlaggebend war. So mußte der Mann für außerhäusliche Berufstätigkeit der Frau seine Erlaubnis geben. Mit der Forderung nach Einvernehmlichkeit in der familiären Leitung griff Fichte aber zugleich der Novellierung des BGB § 1356 vor, der seit 1977 von der Einvernehmlichkeit der Haushaltsführung spricht. Doch wie kann es angesichts der klaren Konzeption der Emanzipation von Ehe und Familie dazu kommen, daß die Emanzipation der Frau offensichtlich nicht verfolgt wurde und daß Fichte Frauen nicht in gleicher Weise wie Männer als Bürgerinnen ansieht? Feministen suchten nach Erklärungen in Machtinteressen oder in Fichtes Persönlichkeit. Ein möglicher Grund, der innerhalb von Fichtes Rechtstheorie liegt, könnte der strikte Trennungsversuch von Sittlichkeit und Rechtssphäre sein. Ihm folgt auch die Scheidung von sittlicher und rechtlicher Subjektivität[1]. Erstere schafft Gleichheit aus natürlicher Ungleichheit, während letztere von Beginn an Gleichheit normiert und Ungleiches ausschließt. So ermöglicht
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[1] Vgl. Heinz/Kuster a.a.O., 825.
es die Rechtssphäre, daß die Vertragsmächtigen alle Unmächtigen, also Ungeborene und Kinder und vielleicht auch Frauen, aus der Rechtssphäre aus- schließen[1].
Mit Artikel 6 erkennt das Grundgesetz die besondere Stellung von Ehe und Familie an. Abs. 1 sichert ihnen staatlichen Schutz zu. Abs. 2 bezeichnet „Pflege und Erziehung der Kinder [als] das natürliche Recht der Eltern" und Abs. 3 regelt den Schutzauftrag des Staates hinsichtlich des Wohlergehens der Kinder. In Abs. 4 schützt es die Mutter und Abs. 5 fordert die Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder. Das GG garantiert der Ehe in individueller und in institutioneller Hinsicht Freiheit. Eine einseitig individualistisch-subjektivierende Interpretation des Artikels ist damit ebenso ausgeschlossen wie eine einseitig institutionalistisch- objektivierende[2]. In der Betonung eines „natürlichen Rechts" folgt das GG durchaus einem Verständnis von Ehe und Elternschaft, dessen Begründung wir auch bei Fichte finden können.
Doch kommt man - natürlich - nicht umhin zu konstatieren, daß sich die Zeiten geändert haben. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht und später im BGB konnte man noch bis in die siebziger Jahre viele Bestimmungen über das rechtliche Verhältnis der Eheleute zu ihrem Nachwuchs wie zu ihrem Vermögen finden, die eine enge Verwandtschaft zur Gedankenwelt von Fichtes Konzeption des Familienrechts aufwiesen. „Der Ehemann entschied allein in allen Angelegenheiten, die das eheliche Kind betrafen, aber auch allein über Wohnsitz und Einkommen der Familie. Er verfügte allein über das Vermögen und Einkommen, auch Arbeitseinkommen der Ehefrau, er war der alleinige gesetzliche Vertreter der ehelichen Kinder." Die Mutter war lediglich eine „Nebengewalt"[3]. Mittlerweile ist auch das Familienrecht nachhaltig vom Gleichberechtigungsgrundsatz des Artikels 3 Abs. 2 GG geprägt, auch wenn das Bundesverfassungsgericht dabei nachhelfen mußte.
Die Bedeutung der Ehe als solcher nimmt im Bewußtsein der Bevölkerung ab, was nicht zuletzt an den sinkenden Eheschließungszahlen (von 1980 nach 2001 um über 20 %) und an den steigenden Scheidungszahlen (von 1980 nach 2001 um über 25 %) ablesbar ist. Geplant und vollzogen wird die Eheschließung in der Bundesrepublik heute überwiegend aus drei Gründen: „wegen einer Schwangerschaft, eines Kinderwunsches oder wegen des Vorhandenseins von Kindern"[4]. So ist die überwältigende Mehrheit derer, die mit Kindern zusammenleben, verheiratet, nämlich 82 %. Wobei die Ehescheidungsquote von Ehen mit Kindern unter derjenigen von kinderlosen Ehen liegt. Doch was prägt nun das Bild von Ehe und Familie heute?
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[1] Vgl. Hansjürgen Verweyen: Recht und Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg 1975, 97f.
[2] Vgl. Rolf Gröschner: „Artikel 6", in: Grundgesetzkommentar, Bd. 1, hrsg. von Horst Dreier, Tübingen 2004, 756.
[3] Lore Maria Peschel-Gutzeit: „Die Modernisierung der Familie im Lichte der Verfassung", in: vorgänge 183 (3/2008), 62.
[4] Rosemarie Nave-Herz: Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Damstadt 2002, 19.
Dazu seien nur drei Punkte kurz angeführt:
Die Abgrenzung von Privatheit der Familie und öffentlichem Raum ist verschoben: „Fragen des privaten Lebens [...] werden zunehmend zu Gegenstand öffentlicher Debatten, medialer Inszenierungen und politischer Steuerungsversu- che"[1]. Das neue Leitbild der Zweiverdienerfamilie, politisch befördert durch Änderungen im Tarifrecht, die Einführung des Elterngeldes oder das neue Unterhaltsrecht, erfordert eine Neuorganisation der innerfamilialen Arbeitsteilung. Kinder werden, nicht zuletzt angestoßen durch die Diskussionen um den demographischen Wandel, zum gemeinsamen Gut erklärt. Ihre Ausbildung und ihr „Wissen" wird zur bedeutsamsten Ressource einer ansonsten rohstoffarmen Gesellschaft erklärt. Wurde früher die Schädlichkeit mütterlicher Erwerbstätigkeit beklagt, so geht es heute um die defizitären Erziehungsleistungen von Familien. Im Zuge der Skandalisierung von Kindestötungen und Kindeswohlgefährdungen werden Eltern häufig als diejenigen dargestellt, vor denen man Kinder schützen muß. Hilfe und Kontrolle greifen verstärkt ab Geburt. Die Balance von vorrangigem Elternrecht und staatlichem Wächteramt wird dabei zunehmend in Richtung Kontrolle aufgelöst: „ärztliche Pflichtuntersuchungen, die ,Inaugenscheinnahme' des Kindes bei Hausbesuchen durch das Jugendamt sowie Lockerungen des Datenschutzes weisen in eine Richtung, in der das Mißtrauen gegenüber Eltern zu überwiegen scheint. Das Private wird zur Bedrohung, der Staat zur Rettung"[2]. Die Debatte um Chipkarten für Hartz IV-Empfänger hat dies erst jüngst wieder vor Augen geführt.
Schon bei Fichte findet sich - ganz entgegen der unauflöslichen Anlage der Ehe - die Vorkehrung für die Auflösung der Ehe. So soll beim Eintritt in die Ehe der Vermögensstand der Frau dokumentiert werden, damit sie bei einer Scheidung ihren Anteil am ehelichen Gesamtvermögen erhalte. Diesen Einbruch des Vertragsrechts in die sittliche Gemeinschaft will Fichte aber möglichst verbergen, so soll dieses Zeugnis der Auflösbarkeit der Ehe nur im Verborgenen erstellt werden. Doch die Einschätzung der Ehe als prinzipiell auflösbarer Vertrag, als Option mithin statt als Medium der dauerhaften Verwandlung ist heute prägend. Ein Ausdruck davon mag das neue Unterhaltsrecht aus dem Jahr 2008 sein: Dieses gesteht den Kindern den ersten Unterhaltsrang zu, und zwar gleich ob aus erster und geschiedener oder aus aktueller Ehe. Kinderbetreuende Elternteile haben nur den zweiten Rang und zwar auch hier wieder gleich ob es sich beispielsweise um die geschiedene Mutter, die Mutter in aktueller Ehe oder die nicht verheiratete Mutter handelt. Hier kommt das Schlüsselwort des neoliberalen Staats- und Gesellschaftsumbaus zur Geltung: Das entscheidende Kriterium des neuen Unterhaltsrechts ist die Einforderung von „Eigenverantwortung" beim geschiedenen, unterhaltsbedürftigen Ehegatten. Die bürgerliche Ehe ist im Unterschied zur ,natürlichen' widerrufbar. Nach ihrem Ende soll wieder alles so sein, wie vor ihrem Beginn: Die Eheteilnehmer sollen eigenständige
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[1] Karin Jurczyk: „Familie - Verschwinden oder Neustrukturierung des Privaten", in: vorgänge 183 (3/2008), 5.
[2] Jurczyk, a.a.O, 9 f.
Einzelne sein. Die Auflösbarkeit des ehelichen Bandes ist freilich konsequent, wenn der Staat für sich das alleinige Recht beansprucht, Ehen rechtsgültig zu schließen. Der Staat repräsentiert nicht das Ewige, er ist immer Instrument der Interessen der gegenwärtig Lebenden.
Auch die Familie unterliegt dem Wandel des Ehebildes: Sie ist ebenso eine Option geworden. Man entscheidet sich für Kinder, wenn man sie denn ,verant- worten' kann. Wo sie nicht natürlich empfangen werden, da verwirklicht man sein Recht auf ein Kind, das unterdessen zu einem Recht auf ein gesundes Kind geworden ist, mithilfe der Fortpflanzungsmedizin. Politik und soziologische Wissenschaft sagen, Familie sei überall dort, wo Kinder sind, so daß ein neueres Buch zur Soziologie der Familie mit 16 unterschiedlichen Familienformen aufwartet, die in der Bundesrepublik gesetzlich möglich sind[1]. Das Modell des verheirateten, verschiedengeschlechtlichen Paares mit einem Kind ist davon nur mehr eines.
Die Wissenschaft folgt damit dem liberalen Selbstverständnis der Zeit. Danach darf es keinerlei Wertung einzelner Lebensstile geben, schon gar nicht eine Anerkennung überindividueller Institutionen wie der Ehe. Im liberalen Staat zählt nur mehr der Einzelne. Darin stimmt er überein mit einer bestimmten Form des Feminismus, wie ihn beispielsweise Iris Marion Young vertritt, die die Ehe als „hoff- nungslos ungerecht" bezeichnet, da sie um willen der „Macht des Mannes" andere Lebensweisen stigmatisiere[2].
Als Leitstern gegenwärtiger Familienpolitik gilt die sogenannte „Vereinbarkeit". Dabei geht es der Bundesregierung im Verein mit beispielsweise dem BDI und dem Institut der deutschen Wirtschaft explizit um die Erwerbsintegration von Frauen. Dazu braucht es natürlich den Ausbau der Infrastruktur für familienfreie Bildung und Betreuung von Kindern. Die nur reproduktiven Tätigkeiten der Familienarbeit sind gegenüber der Produktion klar abgewertet. Seitdem es - wenngleich in geringem Umfang - das Phänomen der Hausmänner gibt, wird auch deutlicher, daß es nicht nur das biologische Geschlecht, sondern eben diese reproduktive Tätigkeit ist, die gesellschaftlich diskriminiert wird. Etwaiges Unbehagen an den vor allem zeitlichen Zwängen paralleler Familienarbeit und außerhäuslicher Berufstätigkeit wird durch die Umdeutung und Rationalisierung der für gelingendes Familienleben wichtigsten Ressource, der Zeit wegdefiniert. Es komme nicht darauf an, möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen, sondern möglichst „gute". So findet die „Qualitätszeit" Eingang in unsere Selbstverständigung. Die Familie gerät so zunehmend unter die Herrschaft instrumenteller Vernunft. Ihr innerer Zeithaushalt und die dort geleistete Sorgearbeit wird in Module zerlegt, was für sie die gleichen Folgen hat, wie im Gesundheitswesen die Einführung von Fallpauschalen und in der Pflege die Definition von Pflegezeiten, wonach etwa das Wechseln einer Windel drei Minuten dauert.
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[1] Nave-Herz, a.a.O., 17.
[2] Iris Marion Young: „Gedanken über Familien im Zeitalter von Murphy Brown. Über Gerechtigkeit, Geschlecht und Sexualität", in: Von Person zu Person, hrsg. von Axel Honneth und Beate Rössler, Frankfurt a. M. 2008, 330.
Viele weitere Punkte könnten hier aufgezählt werden, ihnen gemeinsam ist eines: Sie kennen kein Eigenrecht der sozialen Organismen von Ehe und Familie. In quasi-nominalistischer Weise gibt es nur die jeweiligen Interessen der Teilnehmer an diesen unterschiedlichen Verträgen. Die Familie wird funktionalisiert und entsprechend von außen gesetzten Qualitätsstandards unterworfen.
Fichte sagt zu alledem natürlich gar nichts, denn dies sind nicht seine Probleme. Vielleicht wäre es jedoch möglich, sich durch ihn gedankliche Widerstandskraft anzueignen: Die Familie hat zwar mannigfache Funktionen für das gemeinsame Wesen, sie hat jedoch zu allererst ihr eigenes Gutsein. Daher hat sie eine Würde, sie ist nicht bloß ein Wert. In der Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit realisiert sie den ganzen Menschen. Ausgangspunkt dafür ist das sinnhafte Verständnis der eigenen Geschlechtlichkeit, mag sie männlich oder weiblich sein.
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