Fichtes Deduktion der Leiblichkeit
Max Gottschlich
Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die Deduktion der Leiblichkeit in den §§5-6 der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796)1. Diese ist zum einen für das Thema Leiblichkeit bei Fichte grundlegend[1] [2], zum anderen von besonderer systematischer Bedeutung, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anerkennungslehre steht, die eine immanente Revolutionierung von Transzendentalphilosophie in sich schließt. So befinden wir uns mit Fichtes Bestimmung der Leiblichkeit zwischen Transzendentalphilosophie und Dialektik oder: zwischen dem Auseinanderfallen von reinem und empirischem Ich und dem Denken ihrer Vermittlung. Aufgabe der folgenden Interpretation ist es, die Bedeutung dieser Deduktion mit Blick auf ihre zwischen Kant und Hegel schwebenden fundamentalphilosophischen Voraussetzungen herauszustellen.[3] Die These lautet, daß sich in der Deduktion der Leiblichkeit ein Gedanke geltend macht, der nicht nur über Kant, sondern auch über den Ansatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 hinausweist, nämlich der Gedanke der Begriffsexistenz. Von da her gelingt es Fichte, den Leib als übergegenständlichen Gegenstand zu denken.
am Leib und zur Bedeutung des Fichteschen Ansatzes
Das Thema Leiblichkeit war ein bevorzugtes Thema der Philosophie des 20. Jahrhunderts.[4] Der Rahmen, innerhalb dessen sich gegenwärtig vornehmlich das
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[1] Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl.
[2] Zur Bedeutung des Leibes und der Natur insgesamt im System der Sittenlehre (1798) vgl. Thomas Sören Hoffmann: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 488 - 509.
[3] Wir gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß die Denkbewegung von Kant zu Hegel wirklich eine Bewegung war, daß also das Denken dieser Epoche nicht bloß in eine Mannigfaltigkeit von Ansätzen im Sinne verschiedener Problemkonstellationen auseinanderfällt, sondern daß es hier Entwicklung und Fortschritt im Einholen aller Voraussetzungen gibt.
[4] Zur Geschichte der modernen Ansätze im Leibdenken vgl. Stephan Grätzel: Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989.
Interesse an der Leiblichkeit bewegt, ist durch den Primat des Technisch-Praktischen einerseits und den Naturalismus andererseits gegeben. Beide Seiten hängen zusammen: Mit der fortschreitenden Naturbeherrschung vertiefte sich das Bewußtsein des Ausmaßes unserer natural-leiblichen Bedingtheit. Würde man daher fragen: Welches ist die Bedeutung der Leiblichkeit?, so würde die Antwort heute zumeist wohl lauten, daß das Denken und die Illusion der Freiheit Funktionen der leiblichen Natur des Menschen seien, die wiederum - in einer Mischung aus mechanischer und (äußerlich) teleologischer Betrachtung - als bloßes Zufallsprodukt im Spiel von Mutation und Selektion erklärt wird. Diese Ansicht bezüglich der Bedeutung der Leiblichkeit tritt heute im Gewand einzelwissenschaftlicher Theorien (die dann auf einer Verwechslung von Bedingung und Grund beruhen) oder - immer wieder neu - in Gestalt einer Unmittelbarkeitsmetaphysik auf, wie sie etwa im Lobpreis der „großen Vernunft des Leibes" (Nietzsche) programmatisch ausgesprochen wurde. Dabei wird nicht in die Reflexion aufgenommen, daß nur ein freies Wesen sich als unfrei interpretieren kann, daß sich nur das Denken als das schlechthin Allgemeine, das eben nicht von einer Art ist, als artig-seiendes interpretieren kann. Weiters: Daß Freiheit geradezu im Denken der Unfreiheit Existenz hat[1], ist in dieser Position ebenso vergessen.[2] Zwar gibt sich der Naturalismus mitunter auch ein scheinbar freiheitsfreundliches Antlitz, etwa in Zurechnungsfragen hinsichtlich des Strafrechts. Das wahre Gesicht der Selbstnaturalisierung des Menschen zeigt sich dann, wenn dieser Schein in der technisiert veranstalteten Vernichtung von Leib und Leben der Person in seinen Grund zurückgeht. Denn wird der Leib als bloßes Naturding gefaßt, dann läßt sich grundsätzlich nicht mehr begründen, warum er nicht zum bloßen Mittel für beliebige Zwecke herabgesetzt werden sollte. Trotz der Erfahrungen der „Völkervernichtungsveranstaltungen" (B. Liebrucks) des 20. Jahrhunderts scheint dieser Zusammenhang noch dunkel zu sein. Die adäquate philosophische Antwort auf das vertiefte Bewußtsein der naturalen Bedingtheit des Menschen kann nicht in irrationalistischen Unmittelbarkeitsmetaphysiken bestehen, da diese immer im Zeichen der Selbstnaturalisierung der Freiheit stehen, sondern umgekehrt die Leiblichkeit von der Freiheit und ihrer Verwirklichung her zu denken. Dafür ist Fichte wie kaum ein anderer Denker maßstabsetzend:
Im Gegensatz zu jenen, die von der Leibvergessenheit der „idealistischen" Philosophie sprechen und selbst Reflexionsvergessenheit praktizieren, setzt Fichte die
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[1] Vgl. die Abbreviatur des Freiheitsbegriffs in den §§ 5-7 der Hegelschen Rechtsphilosophie. Das Denken der Bestimmtheit ist es, diese im Element des schlechthin Allgemeinen zu setzen. Die Reflexionsvergessenheit des Naturalismus besteht darin, sich als Denken (als das schlechthin Allgemeine) in der Bestimmung des naturalistischen Selbstbegründens vergessen zu haben.
[2] Die durch Selbstanwendungs-Argumente kaum zu verunsichernde hartnäckige Attraktivität des Naturalismus in der modernen Welt scheint darin zu gründen, daß dieser eine großangelegte Entlastungsstrategie angesichts der auf sich gestellten Freiheit des modernen Menschen darstellt. Hat die Natur (qua Evolution) alles eingerichtet, hat man sich aus der Gebrochenheit in Sein und Sollen „wissenschaftlich" stringent herausreflektiert und ist im verlorenen Paradies des unschuldigen Seins angelangt.
Leiblichkeit nicht als Tatsache des Bewußtseins voraus, sondern zeigt die Notwendigkeit personaler Leiblichkeit auf.[1] Wissenschaft darf nie Tatsachen des Bewußtseins aufzählen, sondern muß ihren Gegenstand immer begründen, ihn ableiten, seine Notwendigkeit zeigen. Einem Standpunkt freilich, der die Kantische Revolution der Denkungsart umgehen zu können meint und daher die Ichheit als ein Seiendes unter Seienden und das Denken als ein Repräsentieren einer gegebenen Außenwelt auffaßt, muß schon die Rede von einer „Deduktion" der Leiblichkeit befremdlich erscheinen. Ist nicht das leibliche Selbstgefühl das Ursprüngliche und alles Denken nur eine Aktualisierung der Artigkeit meiner leiblichen Natur? Im Anschluß an Nietzsche und die „anthropologische" Wende Feuerbachs meint man bis heute, ein unhintergehbares „Leibapriori" als archimedischen Punkt alles Wissens fixieren zu können, den Leib als (irrationalen, daher Un-)Grund von Bewußtsein denken zu können. Der Selbstwiderspruch dieses Unterfangens ist hingegen nicht schwer zu sehen: Durch eine Reflexion auf die Unmittelbarkeit des Sich- Findens im und als Leib meint man die „Bewußtseinsphilosophie" und die Unterscheidung von materialem und formalem Ich überwunden zu haben. Nach Fichte ist dies nur der Standpunkt des Dogmatismus[2], der den Leib als das in Form einer unmittelbaren Gewißheit Bekannte schon als erkannt voraussetzt und das Ich, das man als der Vorstellung des leiblichen Selbstgefühls ableiten will, immer schon voraussetzt.[3] Solchen Ansätzen ist mit Fichte entgegenzuhalten:
„Wie konnte man doch annehmen, daß durch Verknüpfung mehrerer Vorstellungen, in deren keiner das Ich läge, wenn nur die mehrern zusammengesetzt würden, ein Ich entstünde. Erst nachdem das Ich da ist, kann in demselben etwas verknüpft werden; dasselbe muß sonach vor aller Verknüpfung ... für das Ich, da seyn." (GA I, 3, 332)
Ich kann mich nicht zunächst wegdenken und dann mich aus bestimmten Bewußtseinsinhalten (z. B. der Vorstellung des noch ichlosen Selbstgefühls) als
Selbstbewußtsein zusammensetzen, ohne dabei die Form des Selbstbewußtseins schon vorauszusetzen. Der Anfang mit dem sichselbstsetzenden Ich kann in dieser naiven Weise nicht genetisiert werden. Alles Festhalten einer Seinsunmittelbarkeit ist immer
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[1] Die angebliche Leibfeindlichkeit der Philosophie, insbesondere des sogenannten Idealismus, wird zumeist auf Platon zurückgeführt, indem aber die chorismos-Lehre der frühen und mittleren Phase undialektisch interpretiert wird (d. h. nicht mit der methexis-Lehre zusammengedacht wird) und man dann bei der Vorstellung zweier Dinge - einer körperlichen Welt und einer idealen „Hinterwelt" - ankommt. Damit wird man Platon nicht gerecht. So zeigt gerade die Eros-Lehre im Symposion, daß die Leiblichkeit im Sinne des physischen Eros immerhin eine notwendige Stufe der Realisation der Idee ist, die als solche nicht zu überspringen ist. Der späte Platon wird sogar zeigen, daß die Überwindung der sinnlich-übersinnlichen Differenz aus logischen Gründen notwendig ist: die Idee muß sich Erscheinung geben, um wirklich zu sein. Fichtes Leibdenken wird in gewisser Weise im Zeichen des spätplatonischen Gedankens, daß das Intelligible keine Hinterwelt darstellt, sondern sich als das wahrhaft Wirkliche auch Existenz gibt, zu interpretieren sein.
[2] Vgl. Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: GA I, 4, 188 ff.
[3] Fichte wird im Unterschied zu jenen naiven Unmittelbarkeitsfetischismen formales und materiales Ich (zumindest ansatzweise) zusammendenken und von da her auch ein „Leib- apriori" einholen können, ohne hinter Kant zurückzufallen!
schon reflexiv vermittelt. So ist der erste Grundsatz alles Wissens unhintergehbar:
„Sich selbst setzen, und Seyn, sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich." (GA I, 2, 260)
Fichte betont gegenüber dem Dogmatismus stets, daß der Anfang im Denken die intellektuelle Anschauung der Freiheit sei. Habe ich mich einmal zu dieser Selbstgegenwart des Denkens aus meinem Befangensein in die Unmittelbarkeit der Welt befreit, dann muß auch die Frage nach der Leiblichkeit in der Weise der Transzendentalphilosophie gestellt werden. Der zentrale Punkt wird es in unserem Zusammenhang gerade sein, daß Fichte im Naturrecht einen Schritt weiter im Erfassen dieses absoluten Anfanges im Wissen geht und eine Vermittlung dieses absoluten Anfanges zu denken unternimmt, die eben nicht auf dem Boden des Dogmatismus zurückfällt, sondern die den Gedanken der Begriffsexistenz zur Geltung bringt. Damit sind wir beim zweiten Punkt angelangt:
Fichtes Deduktion der Leiblichkeit ist von besonderer Bedeutung, weil diese eben transzendentalphilosophisch ist. Das ist in doppelter Weise revolutionär. Zunächst in Hinblick auf ontologische Ansätze: So wie transzendentalphilosophisch das Ich aus jeder Seinsordnung heraustritt, kann menschliche Leiblichkeit nicht mehr als bloßer Teil eines ordo entium bzw. einer bloßen Naturordnung zureichend begründet sein. Sondern wenn in der Leiblichkeit etwas Apriorisches liegen sollte, dann ist dies im Sinne der „reellen philosophischen Wissenschaft" (GA I, 3, 313 ff.) aus dem Begriff des Ich bzw. der Freiheit heraus darzutun. So bedeutet Deduktion beim frühen Fichte bekanntlich, daß eine Bestimmung als Möglichkeitsbedingung von Selbstbewußtsein aufgewiesen wird. Dies steht im Gegensatz zur ehemaligen Ontologie, bei der das Denken direkt bei seinen Inhalten war, dabei sich selbst aber als absolute Form, die der wahrhafte Anfang und Grund alles Wissens und aller Objektivität ist, nicht bedacht hat. Im Sinne der kritischen Philosophie ist die Un- hintergehbarkeit der absoluten Form alles Wissens ernst zu nehmen und nach dem Grund und der Notwendigkeit des Bewußtseins der Leiblichkeit fragen. Die Aufgabe einer Deduktion der Leiblichkeit muß sich so darstellen, daß das Bewußtsein der Leiblichkeit von der Freiheit bzw. Vernunft her zu denken ist. Interpretiert sich der Mensch nicht als Naturding sondern als Person, so muß er auch seiner Welt und seiner Leiblichkeit eine überdingliche, personale Bedeutung geben. So wird Fichte eine nicht relativierbare Würde des Leibes begründen können, die als solche eine substantielle Bedeutung für die Begründung des Rechts hat.
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