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II. Die Grundlegung des Rechts bei Fichte

Aufforderung und Anerkennung​


In der Deduktion des Rechtsbegriffs der §§1-4 der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre erweist Fichte, daß der Begriff des Rechts ein

notwendiger Begriff der Vernunft ist, da er eine Bedingung des Selbstbewußtseins ist.[1] Für die Geschlossenheit der folgenden Darlegungen sei noch einmal der Gang dieser Deduktion nachgezeichnet.

Der Gedankengang hebt an mit einer ursprünglichen Erfahrung des Zusammenhangs und der Einheit von Praxis und Selbstbewußtsein, der Kant, wie oben gezeigt, den Weg gebahnt hat: Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich nur über seine Aktivität in der Welt als Grund einer Veränderung wahrnehmen und begreifen (das heißt nach Fichte: setzen[2]), als ein Grund, der Anderes bedingt und nicht von ihm bedingt wird. Das praktische Ich ist das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseins: ago, ergo sum. Die Dynamik des Selbstbewußtseins, die Fichtes Wissenschaftslehre prägt,[3] findet sich wieder im Teilbereich der Außenweltveränderung, also der Praxis im engeren Sinn. Wenn Fichte in § 1 des NR davon spricht, daß das endliche Vernunftwesen sich selbst nicht setzen kann, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben, so ist das nicht so zu verstehen, als ginge es dabei um eine nur stützende Vergewisserung des eigenen Seins. Die ursprüngliche Selbsterfahrung in Praxis ist vielmehr der Aufschluß dessen, was das in Tätigkeit befindliche Wesen in Wahrheit und als Ganzes ist. Das endliche Vernunftwesen Fichtes tritt als Einheit selbstbewußter Praxis auf den Plan und schließt sich die Bedingungen seiner so gearteten Existenz auf. - Da Praxis wirklich ist, weil sie wirkend ist, ist als Folgesatz die Sinnenwelt außerhalb des einzelnen mit der Existenz des endlichen Vernunftwesens mitgesetzt. Dies sagt der Folgesatz des § 2. Der zweite Lehrsatz (§ 3) geht in Beziehung auf die Aufschlußkraft des individuellen Selbstbewußtseins einen Schritt zurück und zugleich für die Entwicklung des Rechtsbegriffs einen Schritt weiter. Die Genese des individuellen Selbstbewußtseins aus sich allein heraus wird für unmöglich erklärt: Es gibt kein Objekt ohne Subjekt, aber es gibt auch kein Subjekt ohne Objekt. Bliebe es bei dieser gedanklichen Situation, bestünde das Selbstsein des Menschen aus einem Hin- und Hergeworfenwerden zwischen Subjektivität und Objektivität, einer Art Pubertät des Geistes, der nicht weiß, wohin er gehört. Bewußtsein versinkt dann in einem Mahlstrom. Erforderlich ist ein Auf-

schluß dieser Situation; diesen Aufschluß zu leisten, übersteigt die Kraft der Innerlichkeit des einzelnen. Dem einzelnen muß ein Halt geboten werden, von dem aus er sich finden kann. Dieser Halt kann nicht von Natur kommen, denn sie hat nicht das Vermögen, ein ihr anderes zu erzeugen. Der Halt muß selbst Tat sein; er muß von außen kommen und das sich selbst suchende Ich erreichen, ohne es doch zu nötigen. Das geschieht durch die Eröffnung einer Handlungsmöglichkeit, die Fichte die Aufforderung nennt, sich zu einer freien Wirksamkeit zu entschließen. In dieser Aufforderung ist eine gegenzügige Erweiterung und Beschränkung angelegt: Die Leistungskraft eines Selbstbewußtseins, des Auffordernden, wird insofern erweitert,
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[1] GA I, 3, 8.
[2] GA I, 3, 240.
[3] Der schlechthin unbedingte Grundsatz allen menschlichen Wissens ist eine „Thathand- lung" (vgl. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: GA I, 2, 255).

als es über sich selbst hinausgeht, um anderes Selbstbewußtsein zu ermöglichen. Und er beschränkt sich dabei bewußt in seinen eigenen äußeren Handlungsmöglichkeiten, indem er fremde Handlungsmöglichkeit eröffnet. In diesem logischen Moment der Selbstwerdung des Menschen ist die vollständige rechtlichpraktische Kompetenz - wenn man das so sagen darf - im anderen, dem Auffordernden, wirksam. Er zeigt, daß Praxis, bloß als selbstbezüglich gefaßte Autonomie verstanden, um eine wesentliche Dimension reduziert verstanden wäre. Denn nicht erfaßt wäre damit die praktische Möglichkeit eines Zurücknehmens von Selbstbestimmung durch den Begriff der Selbstbestimmung eines anderen.

Man könnte nun sagen, und Fichte selbst formuliert es so, daß in dieser Rücknahme nur eine Probe, nur ein Versuch liegt, nämlich die Probe festzustellen, ob der andere in gleicher Qualität antwortet.[1] Aber damit ist der ganze Gehalt dieses Vorgangs nicht ausgeschöpft. Ihm liegt eine tiefere dem Menschen zugängliche Einsicht zugrunde, das Wissen um eine ursprüngliche Verbindung der Menschen untereinander. Das kommt in einem der Corollarien des Naturrechts gut zum Ausdruck. Fichte weist dort darauf hin, daß die Aufforderung zur Selbsttätigkeit, als Phänomen erfaßt, in der Erziehung des Menschen durch die Eltern liegt. Angesprochen ist damit die innigste liebende Beziehung zu einem anderen, dem eigenen Kind. Fichte fährt fort: „Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen. Es drängt sich hier bei jedem die Frage auf: Wenn es notwendig sein sollte, einen Ursprung des ganzen Menschengeschlechtes, und also ein erstes Menschenpaar anzunehmen [...] - wer erzog denn das erste Menschenpaar? [...] Ein Geist nahm sich ihrer an"[2] - also ein Absolutes. Der Widerschein dieses Absoluten, wenn man das einmal so spekulativ formulieren darf, sind Selbstbewußtsein und praktische Menschenliebe zugleich.[3]

Kehrt man von hier aus in den Prozeß der Selbstwerdung des Subjekts zurück, so war seine Anerkennung als vernünftiges Wesen vom Auffordernden aus gesehen nur problematisch. Die Anerkennung wird aber kategorisch, wenn die Antwort des Aufgeforderten auf gleich substantiellem, gleich vernünftigem Niveau erfolgt.[4] Schon an dieser Stelle kann man manchen Formulierungen Fichtes eine Auffassung entnehmen, die den Gehalt des Begriffs Anerkennung schwächen würde: Der Text klingt an manchen Stellen so, als hänge das Anerkennungsverhältnis faktisch davon ab, daß eine Antwort auf der Höhe rechtlich-praktischer Vernunft erfolge - und Fichte wird insbesondere beim Zwangsrecht gravierende Konsequenzen aus einem einzigen Fehlverhalten eines anderen Menschen ziehen.[5] Aber hier sollte die Substanz freier
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[1] Fichte spricht von der nur „problematischen" Anerkennung (GA I, 3, 353).
[2] GA I, 3, 349.
[3] Hier könnte der Gedankengang weitergeführt werden bis zu dem Problem, ob mit Form und Substanz des Selbstbewußtseins etwa notwendig die Einsicht in ein Absolutes verbunden ist; vgl. dazu Dieter Henrich: Denken und Selbstsein, Frankfurt a. M. 2007, 71, 81; ders.: Der Grund im Bewußtsein, Stuttgart 1992, 263 f.; 753 ff. Das kann hier nur angedeutet werden.
[4] GA I, 3, 353 f.
[5] Vgl. Verf.: Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes, Berlin 1981, 63 ff.

Selbstbestimmung entschlossener und mutiger gefaßt werden. Der in der Aufforderung liegende Vorentwurf ist unangemessen beschrieben, wenn man ihn als riskantes Verhalten des Auffordernden auffaßt. Die Betätigung dieses Vorentwurfs ist von praktischer Menschenliebe getragen, ist nicht die Betätigung eines zufälligen Gefühls. Diese praktische Menschenliebe ist stabil und sie hält auch Enttäuschungen aus - schon allein deshalb, weil sie mit Selbsterkenntnis verbunden sein muß und sich daher jeder der Beteiligten schon im eigenen Verhalten nicht fehlerfrei dünken kann. Sicher ist diese praktische Menschenliebe gestuft - ihre stärkste Erscheinung, auch von entsprechend starken Gefühlen gestützt, hat sie in der Zuwendung zum Kind durch die Eltern. In vermittelten Gemeinschaftsformen verliert sie ihren emotionalen Gehalt und formt sich zum Rechtsprinzip aus, das aber nur dem Schein nach die bloß abstrakte Personalität enthält.[1]

Fichte konzentriert das Anerkennungsverhältnis auf das äußere Miteinanderumgehen von Menschen. Der eine handelt in äußerer Sphäre, der andere antwortet darauf in ihr und so ziehen sie gemeinsam eine Grenze zwischen dem Selbstsein des einen und dem Selbstsein des anderen. Das ist das Fundament des Rechtsverhältnisses.

„Das deduzierte Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, daß jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränke, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfalls durch die des anderen beschränke, heißt das Rechtsverhältnis; und die jetzt aufgestellte Formel ist der Rechtssatz."[2]

Es ist nun gewiß, daß Fichte das Ergebnis dieser Deduktion für einen universal geltenden Satz gehalten hat - eine Beschränkung solcher Aussagen auf das Denken nur einer Weltregion würde die Aussage an eine räumliche Zufälligkeit anknüpfen und damit selbst aufheben. Aber es bleibt die Frage, ob es Fichte gelungen ist, diese fundamentale Bestimmung des Rechts in seiner Rechtslehre insgesamt umzusetzen. Das bedarf genauerer Überlegungen.

Fichte hat nach seinem eigenen Programm in der Einleitung des Naturrechts den Begriff des Rechts auf der höchsten möglichen Stufe angesiedelt, der Stufe eines notwendigen Begriffs der Vernunft und damit des Selbstbewußtseins. Eingelöst hat er dieses Programm durch die Deduktion der §§ 1-4; er hat den Begriff des Rechts als Bedingung des Selbstbewußtseins bestimmt. Nun tritt aber der Begriff der Bedingung noch einmal auf, in der gerade zitierten Formulierung des Rechtssatzes: Das Rechtsverhältnis lebt von der Bedingung der wechselseitigen Freiheitseinschränkung. Wenn aber der Rechtsbegriff Bedingung des Selbstbewußtseins ist, dann können weder er selbst noch das Anerkennungsverhältnis, das ihn hervorbringt, lediglich als empirische Bedingungen und damit als zufällig betrachtet werden. Es muß vielmehr um transzendentale Bedingungen gehen. Anders formuliert: Der gesamte Prozeß der
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[1] In Abgrenzung zum Gang der Hegelschen Rechtsphilosophie (Abstraktes Recht/Mora- lität/Sittlichkeit), in der aus der Differenz der Subjekte die sie umfassende Einheit hervortritt, könnte man eine auf Fichte sich stützende Rechtsphilosophie als eine solche bezeichnen, in der eine ursprüngliche Einheit in die Differenz auseinandertritt.
[2] GA I, 3, 358 (Hervorh. im Original).

wechselseitigen Anerkennung, obwohl er als wirklicher Prozeß auch in der in den Praxisbegriff einbezogenen Sinnenwelt verläuft, muß als notwendiger Prozeß stattfinden, soll überhaupt Selbstbewußtsein sein. So kann man dann zwar sagen, daß das Selbstbewußtsein als Unbedingtes sich einer Bedingung verdankt, doch da diese Bedingung ihrerseits Produkt vernünftiger Praxis und damit selbst Produkt eines Unbedingten ist, muß diese Bedingung ihrer Bedeutung nach aufgehoben sein in diesem Wechselprozeß; so kann sie nicht mehr zufällig sein. Aufforderung und Antwort sind - so sagt es Fichte selbst - partes integrantes einer ganzen Begebenheit.[1]

Schon in den Corollarien der Deduktion der §§ 1-4[2], ganz prominent aber dann im weiteren Verlauf des Textes des Naturrechts mengen sich in das gerade beschriebene Verständnis des Rechtsbegriffs Aussagen, die mit dieser Grundsätzlichkeit der Rechtsbegründung nur sehr schwer zu vereinbaren sind. Es prägt sich immer deutlicher die Auffassung Fichtes aus, daß der Rechtsbegriff ein technischpraktischer Begriff sei, daß also die einzelnen sich nach Maßgabe des Rechtsbegriffs zueinander verhalten müssen, wenn sie zusammenleben wollen; daß sie aber zusammenleben sollen, sei damit nicht gesagt.[3] Wer die Rechtsregel nicht für sich übernehme, müsse aus jeder menschlichen Gesellschaft sich entfernen. Und auch die, die zusammenleben wollen, werden dann von einem geradezu hobbesianischen Mißtrauen gegeneinander bestimmt, das nur durch mehrere aufeinander aufbauende Verträge beruhigt werden kann. Man kann hier zwar Spuren gemeinsamer Vernunft vorfinden - etwa die Einsicht, solche Verträge schließen zu müssen, auch die Tatsache, daß der technisch-praktische Imperativ immerhin auch Imperativ der praktischen Vernunft ist - aber es ist doch nicht zu übersehen, daß der große Atem des Anfangs von Fichtes Naturrecht an diesen Stellen verlorengeht.

Einschränkung auf den technisch-praktischen Rechtsbegriff?

Dabei ist es durchaus fraglich, ob man den Weg vom fundamentalen Anerkennungsverhältnis zu einem bloß technisch-praktischen Begriff des Rechts mitgehen muß, ob man nicht Fichtes Ansatz in einer Interpretation auf der Grundlage des sachlichen Problems des Rechts heraus (Freiheit in Gemeinschaft zu verwirklichen) stärker machen kann als Fichte das selbst getan hat. Und bei dieser Interpretation könnten Kantische Überlegungen hilfreich sein, die hier in Teil I angedeutet wurden.

In Fichtes Naturrecht folgt auf die Deduktion des Rechtsbegriffs in einem eigenen Abschnitt die Deduktion der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs (§§ 5-7). Die Anwendbarkeit eines Begriffs, so formuliert es Fichte selbst an anderer Stelle in etwas anderem Bezug, besteht in der Möglichkeit seiner Realisierung in der Sinnenwelt. Fichte führt in diesem Abschnitt die Bedeutung der Leiblichkeit der Person für ihr - auch wechselseitig mit anderen erfolgendes - Agieren in der Sinnenwelt ein; das ist ein Teil der Welthaltigkeit des Rechts, von der schon bei Kant zu sprechen war. In Kants Rechtslehre fehlt allerdings ein solcher Abschnitt. Die Frage ist: Müßte es ihn
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[1] GA I, 3, 344.
[2] Z.B. GA I, 3, 355 f.
[3] So schon explizit in der Einleitung, GA I, 3, 320.

geben? Die Antwort ist: Nein. Denn im Begriff von Praxis selbst liegt die Wirklichkeit der Tat. Die §§ 5 und 6 von Fichtes Naturrecht gehören gedanklich in die Abfolge der §§ 1 -4 hinein, sie sind eine Analyse dessen, was in den §§ 1 -4 bereits deduziert worden ist.[1] Hätte Fichte diesen Schritt vollzogen, hätte er die Notwendigkeit des Rechtsverhältnisses auch für die wirkliche („lebendige") Begegnung mit anderen gewonnen. Erst dann nämlich kann neben der Einbeziehung weiterer Schritte (etwa des Urrechts der Person) sich eine Praxislogik entfalten, die aus sich selbst heraus die Ordnung des Rechts gestaltet. Genau dies ist der Weg Kants: Aus dem Interagieren im Handeln, aus äußerem Haben und Erwerben, aus den Zweckrealisierungen in der einen Welt, ergibt sich notwendig das rechtliche Zusammenleben aller in einem Zustand des öffentlichen Rechts (dem Staat in einem allgemeinen Sinn).

Indem Fichte den Begriff des Rechts von seiner Anwendbarkeit trennt und in der Folge den Rechtsbegriff auf einen bloß technisch-praktischen Begriff reduziert, verschenkt er den großartigen Gewinn, den die §§ 1 -4 dem Rechtsdenken gebracht haben. Denn im Begriff der Anerkennung und des Anerkennungsverhältnisses wird auf ganz neuartige Weise eines der Grundprobleme des Rechts gelöst: wie Freiheit in Gemeinschaft, wie Differenz in Einheit zu denken ist. Das Anerkennungsverhältnis und damit das Rechtsverhältnis als Bedingung des Selbstbewußtseins zeigen, daß Gemeinsamkeit und Selbstsein zusammengedacht werden können, ohne das eine auf das andere reduzieren. Ein Rechtsverhältnis ist geometrisch-bildhaft gesprochen eine Ellipse mit zwei Brennpunkten (dem einen Subjekt und dem anderen), die in einer Beziehung miteinander stehen. Damit wird das Recht als eine

Einheit gedacht, die ist, dabei aber zugleich Gegensätze aushält; Recht ist also keine Einheit, die aus Gegensätzen erst einmal zu bilden ist. Nicht der Vertrag ist das Grundmodell des Rechts, sondern die ursprüngliche und wechselweise Anerkennung des anderen ist es, die einen Vertragsschluß überhaupt erst denkbar macht.


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[1] Darauf hat schon Hansjürgen Verweyen hingewiesen (Recht und Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg / München 1975, 96); in meiner Dissertation (o. Fn. 32), S. 35 Fn. 1, hatte ich das kritisiert, muß mittlerweile aber Verweyen recht geben.