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Recht und Sittengesetz beim späten Fichte

Lu De Vos

In der Grundlage des Naturrechts, seiner frühen Jenaer Rechtslehre, zeigt Fichte, daß und weshalb Rechtsgesetze nicht, wie bei Kant, aus dem kategorischen Imperativ hergeleitet werden können, soweit sie als Erlaubnisgesetze interpretiert werden und unter einem Recht dasjenige zu verstehen ist, was eben nicht pflichtwidrig ist1. Der Rechtsbegriff wird von Fichte dann als ein theoretischer Begriff eingeführt, der zur Voraussetzung der vollständigen realen Entfaltung des Ichs gehört. Damit gelingt es Fichte, einen selbständigen Begriff des Rechts zu entwickeln, der nur in der Wissenschaftslehre selbst verankert ist. Zugleich weicht Fichte deutlich von Kants Lösung ab, bei der das Rechtsgesetz, als die Äußerlichkeit betreffend, doch aus dem kategorischen Imperativ hergeleitet wird. Diese Möglichkeit erwägt Fichte nicht, obwohl oder gerade weil er die praktisch-moralische Realität als die grundlegende Wirklichkeit des freien Ichs Ernst nimmt[1] [2].

In dieser Fichteschen Konzeption sind aber auch einige Unklarheiten enthalten. Es zeigt sich schon beim Problem des Erreichens des Rechtszustandes, wie schwierig diese Konzeption ist. Es bleibt darüber hinaus ein Problem, wie das, was für die Philosophie gültig ist, ebenso fürs natürliche (d. h. in diesem Fall rechtliche) Bewußtsein gelten kann und von ihm selbst gefaßt wird. Wie ist von Seiten des natürlichen Bewußtseins eine Kritik am selbständigen Recht möglich? Dieses Problem scheint Fichte noch dahingehend auffangen zu können, daß das Kriterium für Rechtlichkeit selbst rechtlich ist und es weder eine Schädigung von Personen noch eine Beeinträchtigung der Freiheit geben darf, es sei denn innerhalb jener Grenzen, die sie gemeinsam bestimmt haben.

Wenn sich nun die Basiskonzeption der Wissenschaftslehre und des Wissens in der Berliner Phase verändert hat, weil der Grundsatz nicht mehr ein konstruktives Verfahren, sondern vielmehr ein Sich-Entschließen der Vernunft dem Leben gegenüber fordert, dann fragt es sich, ob ein selbständiger Begriff des Rechts, wenigstens der Sittlichkeit gegenüber, noch erhalten bleiben kann. Wie zeigt sich der


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[1] Vgl. W. Kersting: „Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral", in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 21-37 (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24). - Vgl. auch verschiedene Beiträge in diesem Band.
[2] Das Recht und die Moralität als Minimal- und Maximalprägung des kategorischen Imperativs zu verstehen, die unter handlungstheoretischen Bedingungen als Kantische Deutung vorgetragen wird, wird hier als kontemporäre Deutung nicht weiter verfolgt (vgl. Gerold Prauss: Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg / München 2009).
3 Fichte wird unter Angabe der Reihe, des Bandes und der Seitenzahl nach der AkademieAusgabe zitiert: Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. Nur die Rechtslehre 1812 wird allein mit der Angabe der Seitenzahl und die Sittenlehre von 1812 (mit „SL" abgekürzt und entsprechender Seitenzahl) angeführt; beide Texte befinden sich in Band II, 13 der Gesamtausgabe.

Rechtsbegriff und wie wird er abgeleitet? Gibt es eine Deduktion aus der Wissenschaftslehre und genügt der Rechtsbegriff dem Anspruch, die Sphäre des Rechts vollständig abzudecken, so daß dazu das Sittengesetz nicht bemüht werden muß? Denkgeschichtlich kann man bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, daß die Bereiche der Entfaltung des Rechts und der Sitten nicht wesentlich anders bestimmt, aber dennoch umbenannt und in einer Sphäre zusammengefaßt werden; so wird in der Anweisung zum seligen Leben das Recht im Sinne der Legalität als niedrige Sittlichkeit bezeichnet, die zugleich aber auch die Sphäre des freien Handelns der Menschen, die gewöhnliche Sittenlehre oder die bürgerliche Moral, umfaßt (I, 9, 107-109)3. Wenn die Wissenschaftslehre nicht mehr bloß die theoretischen und praktischen Grundsätze der realen Bereiche ausführt, sondern die Ansichten oder Weltentwürfe als Bild eines fünffach gestalteten Absoluten darstellt (vgl. SL 310), bleibt dann gleichwohl die Mittelstellung des Rechts zwischen Natur und Sittlichkeit aus der frühen Konzeption unter veränderten Bedingungen erhalten?

In dem vorliegenden Beitrag zur Rechtslehre 1812 stelle ich die Selbständigkeit des Rechtsbegriffs gegenüber dem Sittengesetz heraus, wie Fichte ihn in dieser Rechtslehre bestimmt hat, und zeichne die Argumentation sowohl seine Intentionen stützend als auch mit kritischen Hinweisen nach (1). Danach betrachte ich die Bedeutung des Rechts für die Rechtsformen (2) sowie seine Bedeutung im Verhältnis zur Sittlichkeit, die sich bei der Realisierung des Rechts im Staat als Grenze desselben ergibt (3). Es fragt sich dabei, ob auf diese Weise nicht doch erneut die Sittlichkeit eine Funktion in Beziehung auf das Recht übernimmt, die die Selbständigkeit des letzteren allerdings bedroht. Meine These wird dazu die folgende sein: Obwohl der Rechtsbegriff nach Fichte aus der Wissenschaftslehre als selbständiges Theorem einsichtig gemacht werden kann, ergeben sich gleichwohl Schwierigkeiten zumindest bei der Einführung desselben, so daß das Recht für alle nur als Sichtbarkeit des Sittengesetzes und nicht völlig unabhängig von diesem dargelegt werden kann.

I. Der Rechtsbegriff und seine Erörterung (Deduktion)​


Im ersten Teil der Rechtslehre erläutert Fichte die Aufgabe der Rechtslehre und analysiert den Rechtsbegriff. Dabei wird dargelegt, wie der Rechtsbegriff und das Rechtsgesetz sich als selbständig erweisen.

Das Thema der Rechtslehre als Wissenschaft ist der Rechtsbegriff und dessen grundlegende Verwirklichung als ein Gedanke, der sich als Grund eines bestimmten Phänomens darstellen läßt (197). Das zu bedenkende Phänomen des Rechts ist nicht von Natur aus gegeben, sondern es entsteht durch Freiheit oder aus einem freien Entschluß der Individuen (198). Diese Freiheit bedeutet die Freiheit des Leibes des Individuums, die sich als bloße Ursache versteht und so wirksam ist. Damit diese Freiheit erhalten bleibt oder sie ohne Störung in ihrer Wirksamkeit erlebt werden kann, ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzes für die Freiheit und deshalb eine spezifische Erkenntnis eines praktischen Gesetzes, das dem betrachteten Phänomen vorhergeht.

Von welcher Art ist das Rechtsgesetz? Um das Rechtgesetz zu bestimmen, versucht Fichte in einer vollständigen Disjunktion das praktische Gesetz als entweder unbedingt oder bedingt zu betrachten. Es ist - und dies ist ganz wichtig - kein unbedingtes, kein kategorisches Gesetz, denn ein solches Gesetz müßte das sittliche Gesetz sein. Das Rechtsgesetz ist also einerseits nicht von der Art, unbedingt (und kategorisch) zu verpflichten, wie es das Sittengesetz tut. Damit ist die Verbindung von Recht und Sittengesetz negativ bestimmt: Das Rechtsgesetz ist nicht von der Art, ein sittliches Gesetz zu sein, noch - wie sich herausstellen wird - bedarf es des sittlichen Gesetzes zu seiner Grundlegung, weil das sittliche Gesetz seinem Wesen nach die völlige Harmonie der Individuen in ihrer übersinnlichen Freiheit stiftet. Das Zusammenleben ohne Störung aber, das den Inhalt des Rechtsbegriffs ausmacht, ist kein praktisches sittliches Gesetz. Und das Rechtgesetz ist zugleich andererseits kein bedingtes Gesetz, denn das Recht der Störungsfreiheit ist kein beliebiger Zweck. Deshalb führt die Bestimmung scheinbar in eine Sackgasse: Das Rechtsgesetz steht unter keiner der beiden Klassen eines praktischen Gesetzes, wenn die vorgeführte Differenzierung in unbedingt und zugleich kategorisch einerseits und bedingt andererseits vollständig ist.

Weil eine Bestimmung über den Gesetzesbegriff nicht zu gelingen scheint, wechselt Fichte den Blick vom Gesetz oder Grund des Rechts zum Phänomen: Was ist mit dem Recht, wenn es da ist, gegeben?

Die Pluralität der Individuen als frei Handelnder ist zwar von Natur aus gegeben, aber ein freiheitliches und mehr noch ein reibungsloses Zusammenleben derselben, das die Freiheit der Individuen erhält und sichert, ist nicht durch ein Naturgesetz gesichert. Die Natur zeigt ja weder die wirksame Freiheit noch die Erhaltung der Individuen in ihrer Freiheit, so daß sie ihrer Selbständigkeit und Freiheit sicher sein können. Das Recht und das rechtliche Zusammenleben sind also nicht von der Natur vorgegeben; dies ist das erste Resultat der Betrachtung des Phänomens.

Die zweite Beobachtung ist folgende: Das Rechtsgesetz ist kein Gebot und keine Verpflichtung gegenüber der konstituierten und konstitutiven Freiheit der Individuen selbst, denn diese ist, so Fichte, eine individuelle Aufgabe der Individuen, denen an ihrer Freiheit liegt. Das sittliche Gesetz ist nicht für alle bestimmt, sondern es stellt - so wird von Fichte vorgeschlagen oder angenommen - die Aufgabe für jeden Einzelnen dar. Damit sind Recht und Sittlichkeit ein zweites Mal voneinander unterschieden. Die Sittlichkeit ist unbedingt und für schon konstituierte freie Individuen geltend; das Recht ist weder bedingt noch unbedingt und richtet sich dennoch an alle. Mit dieser Kennzeichnung aber ist das Rechtsgesetz doch aus der Bestimmungsnot geraten, wenn die Disjunktion zwischen Allgemeinheit und Einzelheit bei ausreichend erweisbarer Freiheit richtig ist. Das Rechtsgesetz ist zwar nicht unbedingt, ebenso wenig ist es als ein willkürliches Sollen bedingt, und es ist ebenfalls nicht individuell, sondern es beinhaltet eine allgemeine Aufgabe für alle, die sich ihre Freiheit des Handelns sichern wollen.

Die Individualität der Sittlichkeit

Wie überzeugend ist Fichtes Versuch, zwischen Allgemeinheit im Recht und der Einzelheit in der Sittlichkeit bzw. Moralität einerseits zu differenzieren und andererseits beide miteinander zu vermitteln? Wieso wird die Allgemeinheit im Gegensatz zur Individualität auf die Differenz der Bereiche von Recht und Moralität verteilt? Die Allgemeinheit des Rechts ergibt keine Probleme, aber weshalb ist das Sittengesetz ein individuelles Gesetz? ,Betrachte jeden wenigstens auch als Zweck!', wie eine Formulierung der Imperativform des Sittengesetzes heißen kann: dies leuchtet doch keineswegs als individuelles Gebot ein, so wenig wie die Wahrhaftigkeit nur im individuellen Bereich und als individuelle Tugend und nicht als allgemein gefordert werden sollte.

Nun ist es aber so, daß Fichte in der frühen Sittenlehre das Gewissen des Einzelnen als Instanz der Sittlichkeit einführt (I, 5, 146), das aber gleichwohl auf Grund eines Prinzips, das für jedes Vernunftwesen gilt, verbindlich ist, wobei jede Intelligenz ihre Freiheit nach dem ausnahmslosen Begriff der Selbständigkeit bestimmen soll (I, 5, 53 f.). Dann wäre aber die Sittlichkeit in philosophischer Bedeutung oder in der prinzipiellen Deduktion - und darum geht es doch in der Differenzierung dieser Bereichen -, von der Anwendung, die diese Form als individuell sin- gularisiert, verschieden und erst in der Anwendung als Überzeugung der Pflicht, oder nach dem je individuellen Gewissen betrachtet. Dabei bleibt dennoch die Frage, ob die Überzeugung ausreichend ist, um die Einzelheit als spezifische Differenz zum Recht zu bezeichnen.

Die Differenzierung wird noch schwieriger in der Berliner Periode von 1810 bis 1814. Nicht nur wird weder Einzelheit noch Individualität als Grundprinzip der Sittlichkeit bemüht, auch die Selbständigkeit verschwindet als Kennzeichen der Sittlichkeit, oder genauer: sie wird ,ersetzt' vom ,eigenen geistigen Sein', das nicht mehr die Selbständigkeit des Ich ist, sondern die Realität des ihn übersteigenden Begriffs. Denn im unmittelbaren Bewußtsein ist der Begriff der Grund und das Vorbild der neuen, geistigen Welt (SL 307). Oder das Ich erscheint als Leben des Begriffs (SL 319) bzw. nur als Werkzeug des absoluten Begriffs (IV, 6, 111). Dadurch ist die eigene Selbständigkeit des Ich, die vielleicht noch als Individualität des Ich verstanden werden könnte, verschoben worden durch die Frage nach dem

Wesen des Begriffs oder nach dem Verhältnis zum Leben als Begriff. Gerade durch das Leben des Begriffs wird aber ein anderer Schwerpunkt der geistigen oder sittlichen Welt gesetzt oder vorausgesetzt. Es wird der Harmoniegedanke, der die Einzelnen auf einander abstimmt, aber damit doch einen Ordnungsgedanken setzt und so allgemein bleibt, im Ganzen des geistigen Seins betont (SL 329). Es bleibt also rätselhaft, wie es zu verstehen ist, daß es „keine Pflicht des Einzelnen" gibt, „sondern nur eine der ganzen Gemeinde" (SL 358), und dies eine Weltordnung hervorbringt, in der die Einzelheit noch vorherrschen soll. Damit wird von der Sittenlehre aus gesehen die Differenz selbst von allgemeinem Recht und individuell geprägter Ordnung des sittlichen Seins noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich.

Kehren wir aber nun zu den Hauptgedanken Fichtes zurück! Das Rechtsgesetz ist für die Gattung der von der Natur als zu freien Handlungen befähigt hervorgebrachten Wesen bestimmt, die auf rechtliche Weise gemeinsam frei oder ohne Störung leben sollen (198). In diesem Gedanken steckt eine eigene oder selbständige Aufgabe, wenn die Freiheit selbst, obwohl sie als eine auf die Leiblichkeit beschränkte aufgefaßt wird, mit Gewißheit eingesehen werden kann.

Vielleicht weil die leibliche Freiheit aller als naturhafter Gattungswesen der Inhalt des Rechtsgesetzes ist, erneuert Fichte eine - wenigstens im Blick auf die späte Gestaltung seiner Philosophie - etwas überraschende Position: Das Recht ist ein selbständiges Mittelglied zwischen Natur und Sittlichkeit (199): denn das Recht ist kein Teil der Natur und ebenso wenig ein Teil der Sittlichkeit, denn es beschränkt sich (wie schon bei Kant) auf die natürliche Wirkungssphäre, aber ist (anders als bei Kant) nicht abhängig von der unhintergehbaren Prinzipialität der Sittlichkeit[1]. Die leiblichen Individuen sollen das Recht wollen, damit sie rechtlich frei sind; das Recht ist dann ein eigenes unabhängiges Wissen in der Wirkungssphäre der Natur. Damit ist zugleich herausgestellt, daß das Sollen im Grundsatz der Rechtslehre ohne Weiteres auftritt, wobei es aber kein Sollen in dem Grundsatz der Sittenlehre gibt, denn dort muß das Sollen gerade erst abgeleitet werden (vgl. SL 310).

Ein befremdlicher Gedanke bleibt es dann doch, daß dies eigene Wissen des Rechts als ein ,Mittelglied' bezeichnet wird. Eine Mittelstellung kann das Rechts zurecht einnehmen, da es zwischen der einen und der andere Ansicht erscheint, aber diese bestimmt es nicht mehr, weil es eine von mehreren möglichen Ansichten oder Weltentwürfen darstellt, die ihre eigene Kennzeichnung aufweisen müssen. Mit seiner Bestimmung als Mittelglied aber unterstellt Fichte, wie bereits in Jena (1794 - 1799), daß nur die Natur und die Sittlichkeit die richtigen ausreichenden theoretischen oder praktischen Bestimmtheiten des Ich ausmachen, von denen aus das Recht abgegrenzt und dadurch als Synthesis oder Übergangsgedanke dennoch nicht vollständig bestimmt wird.

Positiv formuliert beinhaltet dies folgendes: Das Recht ist von Fichte auf diese Weise zusätzlich als ein eigener ,selbständiger' Begriff gefaßt, der a priori aus der Vernunft und aus dem Wissen ableitbar ist. Dieses Recht ist deshalb ein reines Vernunftrecht: Ohne Kunst in Absetzung von der Natur einerseits und ohne freien Willen andererseits, der schon auf die Übernatur hinweist, ergibt sich kein rechtlicher Zustand (200); beide zusammen, die Kunst und die Freiheit, bilden den Begriff des Vertrags; deshalb sagt das Rechtsgesetz:„der Vertrag [solle] geschloßen werden", und nur, wo dieser Vertrag geschlossen wird, ist die geeignete Form des Rechts realisiert. Damit ist das Rechtsgesetz als die Ausführung eines gesollten Vertrags weiter bestimmt. Der Begriff des Rechts impliziert eine rechtliche Form, die in der Form
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[1] Man könnte versuchen, das Recht zwar nicht unbedingt, aber doch kategorisch als keinen Widerspruch zulassend zu benennen, weil der Zweck nicht beliebig, sondern immer ausgeführt werden muß, wenn Freiheit als Bestimmung in der Gemeinschaft herrschen soll. Damit hätte man zwar keine inhaltliche Bestimmung erhalten, aber es wäre doch - wenigstens terminologisch - eine Mittelstelle zwischen dem Unbedingten als solchen und den naturhaften Bestrebungen aufgewiesen, die dann als von allen geforderten Leistung der praktischen Wi- derspruchslosigkeit betrachtet werden könnte.

eines Vertrags hervortreten soll. Und dieser Vertrag soll zwischen allen Individuen als geeignete Form des Rechts geschlossen werden, damit die Freiheit aller garantiert werde, ohne die individuelle Pflicht derselben schon inhaltlich darzutun. Das Recht führt den Begriff des Vertrags als eines Gesollten oder eines zu Leistenden vor; und das Recht ist zugleich das, was der Inhalt des Ge- sollten oder der Leistung sein soll. Die Form bleibt im Sollen oder bei der Aufgabe, obwohl sich keine eigens konstituierte Freiheit findet, an die dieses Sollen sich richten kann.

Es gibt also ein „absolutes V[ernun]ftgesez, zufolge dessen ein Rechtzustand seyn soll" (200), oder es wird eine kategorische Gliederung, die zwar nicht als unbedingt bezeichnet werden kann, am Recht gefunden. Obwohl die Gliederung absolut notwendig ist, entstammt sie nicht der Unbedingtheit des Sittengesetzes, sondern dem sich konstituierenden Wissen als solchem; nur aus ihm stammt der Rechtsbegriff und wird dieser gerechtfertigt[1]. Wird dann aber der Rechtsbegriff nur philosophisch als notwendig erklärt? Wie kann er fürs Bewußtsein als kritische Institution eingesehen werden? Und gibt es bei der Einführung dieser Bestimmung nicht auch Schwierigkeiten?

Die vertragliche Leistung des Rechts

Es ergibt sich aber nicht alleine in der Analyse der Bestimmung, sondern auch in der definierten Zwecksetzung ein Problem, das auf zweifache Weise gestellt wird. Ergibt sich nicht schon dann ein Zirkel, wenn das Recht auf rechtliche Weise eingeführt werden soll (198)? Denn wird die Einführung des Rechts selbst schon durch das Recht bestimmt, so wird dasjenige vorausgesetzt, was gerade eingeführt werden muß oder soll. Und gibt es nicht dann einen weiteren Zirkel, der das Gleiche nochmals vorführt, wenn ohne einen Vertrag, d. h. ohne ein rechtliches Mittel, ein rechtlicher Zustand niemals herbeigeführt werden kann (200)? Wenn diese These Fichtes, daß es ohne Recht kein Recht gibt, wirklich stimmt, dann ist es fraglich, ob die Selbständigkeit des Rechts, die auf nichts Anderem als nur sich beruhe, nicht mit Problemen belastet wird, die entweder zu keiner Lösung führen oder die mit erheblichen Schwierigkeiten erkauft werden, wobei das Zustandekommen selbst bloß (begrifflich) aufgeschoben wird[2]. Mit diesem Gedanke, der theoretisch als Zirkel bestimmt wird, könnte man praktisch aber auch zugleich den Gedanken eines Zweckes an sich oder den eines Kategorischen oder Unbedingten belastet sehen. Gerade das Sich-Einlassen auf einen solchen Zweck scheint eine genuin praktische Aktivität zu
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[1] Was in diesem Zusammenhang Deduktion bedeutet, ist nicht ohne eine weitere Untersuchung zu bestimmen. Die Formel, daß etwas nicht aus dem Sittengesetz deduziert wird, suggeriert eine Deduktion mathematischer Art der dadurch deduzierten Sätze. Eine solche aber ist seit der Wissenschaftslehre nova methodo nicht mehr gefordert. Dann werden die philosophischen Voraussetzungen des reinen oder philosophischen Selbstbewußtseins als die Deduktionen desselben betrachtet. Wieso eine solche Deduktion dann später auf die Wissenschaftslehre beschränkt ist und die Glieder der angewandten Philosophie nicht untereinander deduziert werden müssen, wäre nur aus der relativen Unabhängigkeit der Bereiche als Weltentwürfe einigermaßen zu erklären.
[2] Eine solche Schwierigkeit muß sich nicht ergeben, wenn das Recht als Form eines fundamentalen Gesetzes eingeführt wird, da dieses Gesetz dann als Kriterium des Gehaltes und nicht als Problem des Entstehens eines solchen Zustandes gebraucht werden kann.

sein, die wenigstens mit der Sittlichkeit als etwas Unbedingtem verbunden wäre, wobei die Bemühung um die Unbedingtheit gerade diese Unbedingtheit (mit)konstituiert, weil diese nur in der Aktivität sich als radikale oder unbedingte Selbständigkeit eröffnet und wirklich als geordnete, Freiheit zeigt, die die unbedingte Freiheit als solche oder um ihr selbst hervorbringt[1]. Wenn die an sich zu leistende Zwecksetzung nicht schon die autonome sittliche Freiheit beinhaltet, dann wird die praktische Unbedingtheit analogisiert, weshalb es verschiedene Unbedingte (i. e. entweder der Allgemeinheit oder der Einzelheit nach) gäbe, was einem Ungedanken (der verschiedenen Unbedingten) gleich käme.

Nun stellt sich Fichte diesem Gegenargument nicht. Der geforderten Selbständigkeit wegen aber muß Fichte die Deduktion aus dem Sittengesetz ablehnen, und die einzige wirkliche Deduktion gelingt - so mag man ihm glauben - aus der WL, wo sich ein solches a priori begriffliches System des Wissens ergibt. Diese Deduktion bedeutet dann nach Fichte nicht, daß alle diesen Begriff des Rechts in Klarheit haben (201), sondern bloß, daß jeder, der philosophisch zu Ende denkt, den Rechtsbegriff denken muß. Damit wird zugleich darauf hingewiesen, daß zwar jeder das Recht mit einführen soll, aber daß zugleich nicht jeder in der Lage ist, die konstituierte Rechtsordnung zu kritisieren. - Die Deduktion, aus welcher der Begriff des Rechtsverhältnisses stammt, wird aus der (allgemeinen) Freiheit, die vollzogen werden soll, in der Wissenschaftslehre geliefert. Sie entstammt als Soll dem Begriff des Wollens, der diesen Begriff als solchen und d. h. als Rechtsbegriff in die Welt einführt und wodurch sich das Recht zugleich die Erscheinung des sittlichen Sollens setzt (WL 1810, II, 12, 289-292; WL 1812 II, 13,175 ff.). Für die Rechtslehre selbst reicht aber eine Erörterung, die sich im zweiten Kapitel des Vortrags ergibt und die auf die endgültige Deduktion hinweist.

Die vorgeführte Erörterung des Rechtsbegriffs vollzieht eine Umkehr, insofern sie vom Faktum des Rechts ausgeht: Wenn die Natur der Dinge so bestellt ist, oder wenn es als Faktum gilt, daß (1) mehrere (2) freie Wesen in einer gemeinschaftlichen, die Wirksamkeit aller fortsetzenden Sphäre (3) stehen, dann ist das Recht zur Garantierung der gemeinsamen Freiheit ohne wechselseitige Störung nötig. Die Pluralität ist eine Gegebenheit: Die freien Wesen können als ein gattungsmäßiges System der Iche vorgeführt werden, aber sie müssen noch nicht sogleich als Erscheinung Gottes begriffen werden, wie es in der Sittenlehre der Fall wäre, denn sie befinden sich - noch! - bloß in einer Sphäre gemeinsamer Wirksamkeit.

In der Wirksamkeit seine eigene Einheit erst herstellend, soll das Wissen sich selbst begreifen als ein Zusammenziehen des Denkens aus der Mannigfaltigkeit zur Einheit. Dabei wird die synthetische oder zu Stande gebrachte Einheit des Rechts betont. Die Iche müssen als wirkend in einer gemeinschaftlichen Wirkungssphäre angeschaut werden, denn an sie, als frei konstituierte Individuen, richtet sich dann erst das sittliche Gebot, das Bild Gottes selbst zu realisieren. Sie haben darum notwendig ein
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[1] Diese Unbedingtheit mag sowohl als die Selbständigkeit des Ichs (Jena) gedeutet werden als auch als Bild Gottes, wie in der Berliner Phase.

gemeinschaftliches Objekt, die rechtliche Welt, wodurch die rechtliche Sphäre des Bildens des Einen (später sittlichen) Bildes durch ihre gemeinschaftliche Kraft ermöglicht wird. Damit ist mit der Leistung auch die Beschränkung des Rechts angedeutet: es ist nur Vorbereitung zur und nicht schon die Ausführung der Pflicht.

In einer gemeinschaftliche Sphäre der Wirksamkeit kann die leibliche Freiheit des einen Ichs diejenige des andern stören: Nur dieser Störung in der Wirkungssphäre soll das Rechtsgesetz abhelfen. Wenn es keine mögliche Störung gibt, wie in der harmonischen Sittlichkeit, dann gibt es kein Rechtsgesetz. Rechtsgebote sind keine Erlaubnisregeln, sondern sie sind solche Gesetze, die der wechselseitigen gewalttätigen Beeinträchtigung durch Zwang vorbeugen sollen. Sittliche Gebote dagegen können sich nie widersprechen; wenn jeder Einzelne das ihm sittlich Gebotene tut, dann gibt es keine Möglichkeit der Störung: Die ganze Gemeinde vernünftiger Wesen wird, so ist auch der Sittenlehre zu entnehmen, harmonisch unter dem Sittengesetz gedacht.

Auf diese Weise ist in der reinen Vernunft oder in der Sittlichkeit das Rechtgesetz nicht (mehr) möglich; so wird erneut negativ bestimmt: Nur dieser natürlichen Weise der störenden Freiheit, die es in der Sittlichkeit von vorneherein nicht mehr geben kann, soll im Recht Abhilfe geleistet werden; oder genauer: das Sittengesetz kann sich erst an solche Individuen wenden, die die eigene Freiheit als solche durch sie selbst entwickelt haben und diese weiter erhalten. Die Welt der Individuen muß frei geworden sein, und die Individuen müssen frei handeln können, um zu der Möglichkeit zu gelangen, vom Sittengesetz ergriffen zu werden.

In der Sphäre der Wirksamkeit aber, d. h. nicht unter dem Sittengesetz, kann die Freiheit der natürlichen Individuen wechselseitig in ihren Handlungen gestört werden. Soll sie nicht gestört werden, dann müssen sie dem Rechtsgesetz gemäß handeln. Im Recht gibt es eine Mehrzahl der Iche sowie die Möglichkeit einer Störung in der Wirksamkeit, und die Störung in der Wirklichkeit wird nicht durch ein höheres, sittliches oder göttliches Gesetz vernichtet, sondern sie wird bloß vom Recht ausgeschaltet. Das Rechtsgesetz ist nur da wirksam, insofern das Sittengesetz noch nicht allgemein herrscht: es wird gefordert als Vorbereitung auf die Herrschaft des Sittengesetzes. Denn die Herrschaft des Sittengesetzes ,abrogiert' oder beendet das Rechtsgesetz.

Das Rechtsgesetz funktioniert auf eine ähnliche Weise wie das Sittengesetz (204): Auf der Ebene des Sittengesetz gibt es keine Störungen, denn was der eine tun soll, soll durchaus kein anderer tun, d. h. es gibt eine Harmonie. Auf dem Boden des Rechts geht es in einer ähnlichen Weise zu: Was der eine darf, darf im Recht durchaus kein anderer, damit es nicht zur Störung komme. Mit dieser Erörterung sind erneut die internen Bestimmungen des Rechtsbegriffs klar genannt: Alle sollen frei sein, und zugleich soll keiner die Freiheit der anderen stören.

Rückkehr zu Kant?!

Mit dieser Betonung entkoppelt Fichte Recht und Sittlichkeit, wie er es von Anfang getan hat, aber es fragt sich, wieso das Recht dann doch Vorbereitung zur Sittlichkeit bleibt und es nachgerade im Hinblick auf die Sittlichkeit bestimmt und eingeführt zu sein scheint. Ist diese Lösung dann nicht doch eine verdeckte Rückkehr zu Kants früherer, eigener Lösung, daß in Beziehung auf das für beide grundlegende Sittengesetz die spezifische Sittlichkeit in den Motiven, d. h. in der Überzeugung, das Recht aber in den Handlungen oder in der geleisteten Ordnung zu finden ist? Denn wenn das Recht und noch mehr der Staat bei Fichte im Hinblick auf die mögliche Sittlichkeit bzw. auf die (vorläufig nur gedachte) Einheit des Wissens angelegt sind, dann wird das Recht zwar nicht ,aus' dem Sittengesetz heraus in einer mathematischen Art der Grundsätzen ,deduziert', aber dennoch (philosophisch als nicht völlig unabhängig von ihm) gerechtfertigt, denn beide sind auf ein in ihnen auftretendes Prinzip bzw. einen Begriff hin philosophisch gedacht. Und was bedeutet ,störungsfrei' anderes als die negative Fassung des Gedankens einer Harmonie, selbst wenn sie sich auf Leiber beschränkt und noch keineswegs für Iche gelten muß?

Implikationen des Rechtsbegriffs​


Nachdem der Begriff des Rechts als ein selbständiger Begriff eingeführt und erörtert worden ist, muß er noch weiter realisiert werden. Dies geschieht nach prinzipiellen Bestimmungen, die durch den Rechtsbegriff impliziert werden. Der Rechtsbegriff ist ein auszuführendes Gesetz des Willens, der als Wille aller nebeneinander steht, und er ist um des Rechts willen, d. h. von Rechts wegen ist er das Willensbewegende[1]. - Die Erscheinung der Sittlichkeit muß abgehalten werden, denn im Recht geht es nur darum, die leibliche Freiheit zu realisieren und die Unmöglichkeit der freiheitlichen Störung um des Rechts wegen, d. h. um der allgemeinen Störungsfreiheit wegen, durchzusetzen. Der Rechtsbegriff wird also von allen um des Rechts willen gedacht, so daß die Unterwerfung von allen unter es da ist. Ohne diesen Zustand gibt es keinen Anspruch auf rechtliche Freiheit; und dieser Zustand bringt die Unterwerfung aller unter das Rechtsgesetz mit sich. Wer sich nicht dem Recht unterwirft, der hat ja kein Recht. Das Recht ermöglicht erst Freiheit nach dem Gesetz.

Bei dieser Ermöglichung der rechtlichen Freiheit entsteht das Problem der Auffassung der möglichen Rechtsverweigerung von Seiten einiger Individuen, ein Problem, das das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit beleuchten wird. Dabei erfolgt erneut eine Abgrenzung des Rechts gegen die sittlichen Gesetze. Das allgemeine Rechtsgesetz und damit die Unterwerfung unter es muß sorgfältig vom Sittengesetz und dessen Autonomie getrennt werden, so Fichte, was er an folgendem Beispiel zu entfalten versucht (206): Wenn irgend jemand das Recht nicht anerkennt, wird er dann, so Fichtes Frage, auf ein Naturding reduziert, so daß man ihn auch dinglich behandeln darf? Laut Fichte muß an dieser Stelle genau unterschieden werden. In der Sittenlehre ist die Antwort vorsichtig. Dort muß dieses „Ding" als ein mögliches Werkzeug des
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[1] Damit ist dann der gleiche problematische Zirkel entstanden, der schon früher angedeutet wurde.

Sittengesetzes behandelt werden, das noch erzogen und gebildet werden kann. Es bleibt ein mögliches sittliches Wesen, das als Individuum unbedingt zu achten sei. Dies ist aber beim Rechtsgesetz nicht der Fall. Das Rechtsgesetz ist an alle gerichtet, und die Unterwerfung des einen Individuums unter das Recht ist bedingt durch die Unterwerfung aller. Ohne diese Bedingung gibt es überhaupt kein Recht. Denn die rechtliche Anerkennung betrifft die bloße Anerkennung der Rechte, nicht aber der Personen selbst. Die Behandlung desjenigen, der sich auf rechtliche Weise verdinglicht, zielt nur dann noch auf Anerkennung, weil es aus Pflicht, aber nie des Rechts wegen geschieht. - Das Rechtsgesetz ignoriert aber das Sittengesetz, denn nur Rechtssubjekte sind von Rechts wegen anzuerkennen; das Sittengesetz hebt im Gegensatz dazu das Recht auf, nur aus Pflicht sei der Rechtsverweigerer dennoch zu (er)tragen. Damit sind unabhängige Bereiche angeführt: Das Rechtsgesetz ignoriert das Sittengesetz und das Sittengesetz hebt das erste auf oder vernichtet es. Damit ist zwar kein Widerspruch zwischen beiden entstanden, aber, so möchte man doch anmerken, eine solche Negation des Sittengesetzes ist doch schwer als Vorbereitung auf dasselbe aufzufassen, wenn das Recht die durch einen Rechtsverstoß dinglich gewordene Person nicht anerkennen kann.

Nach diesem Beispiel zeigt Fichte dann die weiter noch zu entfaltenden Themen der Unterwerfung aller unter das gemeinsame Rechtsgesetz in einem gegliederten Zusammenhang. Diese Themen sind der Vertragsschluß, das Eigentum, die persönliche Freiheit und der rechtliche Zustand, der nur in der Gemeinde oder im Staat durch einen Leistungsvertrag gewährleistet wird. Der Staatsbürgervertrag ist so die sich vollendende Bedingung der Rechtsfähigkeit.

Wenn der Rechtsbegriff als Eigentumsbegriff prinzipiell präzisiert wird, wird gleich wiederholt, daß kein sonstiges Motiv, wie die Sittlichkeit, dazu bemüht werden muß, sondern daß nur der Rechtsanspruch darzulegen ist (207). Denn wenn einer aus Pflicht eine persönliche Freiheit schonen mag, ist nichts Rechtliches gewonnen, denn damit ist keiner zu der gleichen rechtlichen Freiheit verbunden. Der Eigentumsbegriff ist ja der erste Bestandteil des wirklichen Rechts, dessen zweiter die Gemeinde des Staates ist. Die Gemeinde ist nun vorerst nicht weiter zu betrachten und hier schon auszuführen, als gerade soweit, wie die Abgrenzung gegen das Sittliche vorkommt. Eine durch das Recht gewollte Gemeinde ist eine der sich unter es unterwerfenden Freien. Dabei unterwerfen sich alle um ihres Rechtes willen und bejahen die Macht des Staates. Sie unterwerfen sich, um rechtlich frei zu werden.

Dies wiederum hat eine doppelte Bedeutung bei der Gründung des Staates: Im rechtlichen Sinne sind alle daran beteiligt, zugleich wird aber deutlich, daß eine Person doch bloß aus sittlichen Gründen, die höher als das Recht liegen, kein Unterdrücker wird, wenn sie die Rechtsmacht einsetzt (211). Wenn eine Person von sich aus die Staatsgründung durchführt, dann kann zwar die Materie des Rechts da sein, aber nicht notwendig die Form des Rechts! Und bei der Erreichung des Staates durch einen oder mehrere stützen sie sich auf höhere, sittliche Prinzipien - weshalb dies aber zutrifft, wird nicht klargemacht. Um ihres Rechtswillen errichten aber alle eine Rechtsgemeinschaft, denn der Akt der Konstitution ist nur dadurch Recht, daß jeder den Staat mit errichtet, wenn denn das Recht Freiheit nach dem Gesetz bedeutet und insofern das Recht eine Verbindlichkeit nach einem Gesetz erst herstellt, das den Individuen allgemein bewußt ist.

Damit aber erreicht Fichte ein neues Problem - das Problem der Verbindlichkeit des Gesetzes selbst. Für ein solches Gesetz kommt das Sittengesetz ins Spiel; nach ihm soll jeder die Freiheit des andern respektieren (213). Das Sittengesetz kann sich in seinen Geboten an die Einzelnen nicht widersprechen. Steht darum jeder ,ledig- lich' unter dem sittlichen Gebote als dessen Instrument, so treffen die Individuen, ohne daß sie darauf bedacht sind und ohne es ausdrücklich zu wollen, nie aufeinander. Dies alles geschieht von selbst, weil das Sittengesetz eine Harmonie stiftet. Wenn das Sittengesetz schon gilt, dann bedarf es keines besonderen Rechtsgesetzes und keines das Recht einführenden Vertrages mehr. Aber wird damit auch das Recht verbindlich? Die Antwort darauf ist zweideutig, weil es für Personen gilt, aber nicht für die leibliche Freiheit. Diese muß noch immer vom Vertrag gewährleistet werden. Nur dieses Gesetz gibt das Recht: frei zu sein und frei zu lassen.

Aber wie soll sich das Sittengesetz Gültigkeit verschaffen? Das Sittengesetz wendet sich nur an den von allen äußern Zwecken befreiten, von der Natur losgelösten Willen, wenn die Bedingungen des höheren Zwecks da sind, und dies heißt, daß Erhaltung und Sicherheit der Individuen allgemein erreicht sein müssen, ehe das Sittengesetz erscheinen kann. Es muß darum ein von der Sittlichkeit unabhängiges Mittel geben, um die Freiheit aller, durch die die Sittlichkeit als Erscheinung und in der Reihe der Erscheinungen bedingt ist, zu sichern. Der Staat ist also grundsätzlich die Vorbereitung der Auffassung der Verbindlichkeit des (später sittlichen) Gesetzes.

Die Frage nach dem von der Sittlichkeit unabhängigen Gesetze der Freiheit ist bloß als Frage des Rechts zu beantworten. Das Recht ist eine künstliche Anstalt, es ist der Gegenstand einer wissenden Konstruktion außerhalb des sittlichen Reichs. Innerhalb desselben gibt es sich von selbst und ist bloßes Accidens der sittlichen Erscheinung, worauf man gar nicht weiter stößt, weil das Wesen der sittlichen Erscheinung in ganz etwas Anderem besteht.

Die Wirklichkeit der Rechtsformen​


Die Realisation in Vertrag, Eigentum und Staat entfaltet die formelle und basale Rechtskonzeption. Die Wirklichkeit des Rechts wird in Eigentum und Staat nach den vorhergehenden prinzipiellen Bestimmungen durchgeführt.

Erneut bemüht sich Fichte, diese Wirklichkeit von der Sittlichkeit abzugrenzen. Das Problem erscheint gleich mit der Frage, ob unter dem Sittengesetz der Vertrag noch möglich ist. Und diese Antwort ist identisch mit der vorherigen. Weit entfernt davon, daß der Vertrag auf dem Gebiet des Sittengesetzes gelte, gibt es dort vielmehr gar keinen Vertrag mehr. Das Recht und das Eigentum liegen nicht auf dem Boden des Sittengesetzes (216). Das Recht ist früher als die Sittlichkeit, und noch mehr: es ist deren wirkliche Bedingung. Es ist die Vorbereitung des Willens zur Sittlichkeit: Es bildet den Willen, um sich an seine eigene Unwandelbarkeit in der Sittlichkeit zu gewöhnen.

Die wirkliche endgültige Realisierung des Rechtszustandes ist der Staat (221): Der Wille des Rechts wird als Staat errichtet, auf diese Weise gilt der Wille und ebenso das Recht in diesem ordnenden Grundgesetz auf alle Zeiten. Und dieser immer geltende Rechtszustand ist die Bedingung der sittlichen Freiheit, die als solche Freiheit das Vermögen übersinnlicher Zwecke ist (223). Der Staat gibt kein Recht, wenn nicht jeder in ihm in seinem physischen Wohlsein und in einer Ordnung, die das Zusammenleben und Handeln ermöglicht, gesichert ist (226, vgl. SL 375).

Bei der Betrachtung der Beziehung des Staates zur Sittlichkeit scheinen meines Erachtens vier Probleme aufzutreten:

Die rechtliche Form des Staates beweist nichts für die Rechtlichkeit des gegebenen Staates. Die einzige zu erweisende Bedingung ist, daß der letzte Zweck des Staates die sittliche Freiheit ist. Der Staat leistet entweder eine autoritäre Dressur oder aber Bildung. Die Bildung besteht darin, sich selbst eigene und höhere Zwecke zu entwerfen und diese zu begreifen. Nur wenn der Staat eine entsprechende Form der Bildung leistet, kann er als rechtlicher Staat anerkannt werden. Es gibt also keinen möglichen anderen Zweck als den der Sittlichkeit, den absolut notwendigen Zweck aller (227). So findet sich das Recht nach Fichte wieder mit dem ganzen System des Wissens verbunden und es erscheint auch in der Wirklichkeit als das, was es in der Idee ist, die faktische Bedingung der Sittlichkeit. Dadurch kann der Staat aufgehoben werden, wenn der Zweck aller die Freiheit aller ist (229). Die Individuen sollen da sein, damit die Sittlichkeit realisiert werden soll, d. h. die Realisation des göttlichen Bildes, und zu dieser kommt es nur durch die Individuen. - Wenn aber der Zweck aller darin besteht, wie ist er dann noch von der Pflicht aller zu unterscheiden? Ist diese Auffassung dann nicht eine Auflösung der logischen Grenzbestimmung, daß zwar das Recht allen gehört, die Pflicht aber doch individuell sein sollte?

Der Staat und seine Rechtlichkeit haben eine ,eigene' Sittlichkeit, deren Bedeutung nicht genau bestimmt wird: Das bloße Recht (als Rechtlichkeit) ist die Sittlichkeit des Staates (265) und freilich ist das Recht nicht die Sittlichkeit der Individuen. Wenn dies aber mehr ist als eine feierliche Erklärung, dann verstärkt diese Aussage das problematische Bild eines Staates, der ,um der Sittlichkeit seiner Bürger willen' da ist, wie sich dies auch schon bei der Bildung im Gegensatz zur Despotie ergeben hat. Damit ist zwar nicht die Deduktion des Rechts aus dem Sittengesetzes geliefert, wohl aber eine ,positive' Verbindung mit dem Bereich der Sittlichkeit angedeutet, auf die hin das realisierte Rechtsgesetz angelegt worden ist. Wie es dann um die wechselseitige Unabhängigkeit beider steht, scheint problematisch.

Interessanterweise versichert Fichte jedoch in der Sittenlehre, daß die bürgerliche Ordnung des Staates mit der inneren Sittlichkeit, der Liebe des Guten um seiner selbst willen gar nichts zu tun hat, sondern nur mit der Rechtlichkeit der äußern Handlungen (SL 377 - 78). Insofern reicht es dem Staate, der seine Zwecke erreichen muß, ohne die allgemeine Sittlichkeit vorauszusetzen, daß schlechthin keiner die Unwahrheit im staatlich-rechtlichen Bereich sage, wenn er dies aber anstrebt, dann muß er freilich mit anderen bei ihm liegenden Mitteln bestrebt sein, eine solche Wahrhaftigkeit unter seinen Bürgern zu befördern, ohne eigentliche sittliche Grundlage. Dies wiederholt auf umgekehrte Weise, was schon bei der Rechtsverweigerung gesetzt war: Beim Strafrecht und bei der Todesstrafe ist zu bedenken, wie weit man dem Unrechtlichen doch noch eine mögliche Sittlichkeit zugesteht (278). Wer aber ein sittliches Gewissen hat und Religion als absolute Hingebung annimmt, dem ist die Pflicht geboten, sich gegen die Todesstrafe zu wenden, und er hat den Verbrecher zu dulden, als ob er frei und der Sittlichkeit empfänglich sei.

Fichte wiederholt die prinzipielle Aussage: Der Wille gibt dem Gesetze selbst das Gesetz durch die Sittlichkeit seines Willens, des höchsten Vorbildes aller Gesetze. Es kann also etwas nicht Recht sein, das doch durchaus unsittlich ist (279). Ist damit dann als Vorbild nicht etwas Spezifisches verbunden, das zwar nicht in der wissenschaftlichen (Deduktion und) Erörterung, sondern gerade in der Ausführung auf das Recht bezogen wird, so daß das Recht wesentlich auf Sittlichkeit bezogen zu sein scheint und so auch verstanden werden muß? Ist es dann nicht doch so, daß man die Sittlichkeit und Rechtlichkeit zu Unrecht strikt voneinander geschieden hat?

Auch die führenden Männer werden als durchaus sittlich und rechtlich gekennzeichnet (285), weil nur dann das Volk und die Regierung sich zur Einsicht in die Sittlichkeit erheben können. Deshalb wird auch an der Spitze des Staats als Verwirklichung des Rechts die Sittlichkeit wesentlich berücksichtigt.

Resultat​


Fichte behauptet grundsätzlich: Das Recht ist unabhängig von der Sittlichkeit, und mehr noch: Recht und Sittlichkeit schließen einander wechselseitig aus oder sie negieren einander. Zugleich ist aber das Recht die Vorbereitung der Sittlichkeit (und eine Äußerlichkeit oder Erscheinung, die einer Innerlichkeit oder einem Wesen vorausgeht).

In der Darstellung des Rechts wird darüber hinaus auf Folgendes hingewiesen: Die Sittlichkeit ist das Vorbild des Gesetzes und die Grenze oder selbst in gewisser Weise der Prüfstein des Rechts. Damit ist nicht mehr bloß die Negation, sondern vielmehr auf die Schranke hingewiesen, die mit der Negation verbunden wird.

Wenn aber die Gesetzlichkeit des Gesetzes wirklich am Vorbild des sittlichen Gesetzes ihren Ursprung hat, wird die Frage virulent, ob so dasjenige, was eingangs negiert wird, nicht doch durch die Hintertür wieder hineinkommt. Denn wenn nicht nur in der Bestimmung des Rechts, sondern zusätzlich auch in der prinzipiellen Ausführung des Rechts ein Zirkel droht, und wenn die Unabhängigkeit von Recht und Sittlichkeit voneinander in der Ausführung des Staatsrechts (wie in der Realisierung desselben überhaupt) zurückgenommen werden muß, weil selbst die Rechtlichkeit des Staates - wissenschaftlich oder doch auch kriteriologisch für die Individuen? - nur im Hinblick auf die Sittlichkeit zu bestimmen ist, dann fragt es sich, wieso die Selbständigkeit des Rechtsbegriffs aufrechterhalten werden muß und ob diese Selbständigkeit begrifflich oder wissenschaftlich eingeholt werden kann.

Das Recht als Vorbereitung auf die Sittlichkeit zu lesen, ist plausibel, wenn und insofern es die Sichtbarkeit der grundlegend sittlichen Freiheit oder der eigenen Begrifflichkeit ist und die grundlegende Freiheit der Sittlichkeit selbst nicht zur Diskussion steht. Dann aber ist zumindest die Zwecksetzung einer (rechtlichen) Freiheit doch abhängig von der zu betrachtenden und zu ermöglichenden Sittlich- keit und nicht mehr ohne weiteres, wie vom Programm her zunächst gefordert, ihr gegenüber selbständig.