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Menschenwürde bei Fichte1

Gerhard Luf


Einleitende Überlegungen​



Bei der Menschenwürde handelt es sich um ein „höchstes Moral- und Rechtsprinzip" (Höffe), das dem Menschen einen gegenüber der übrigen Natur herausgehobenen unbedingten Wert als Vernunft- und Freiheitswesen zumißt. Sie bildet heute einen zentralen Bezugspunkt normativer Legitimation, auf den aus ethischer, politischer und juristischer Sicht in grundlegender Weise Bezug genommen wird. In internationaler Perspektive gibt es heute kaum ein Dokument, das nicht an prominenter Stelle - zumindest in der Präambel - auf die Würde des Menschen rekurrierte. Beispielhaft seien genannt: die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen, die Konvention gegen die Folter, das Menschenrechtsübereinkommen in der Biomedizin, die Grundrechtscharta der EU und viele andere mehr. Man beklagt vielfach schon die inflationäre Heranziehung dieses Begriffs und befürchtet, er werde solcherart seines existentiellen Gehalts beraubt und in seiner Unbestimmtheit und Un- konturiertheit zur Allerweltsformel degradiert.

Blickt man auf den rechtsphilosophischen Diskurs über die Menschenwürde, so ist dieser bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte doch entscheidend geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem vernunftrechtlichen Paradigma der Kanti- schen Tradition[1] [2]. Speziell in Deutschland, dessen Grundgesetz der Würde des Menschen im zentralen Artikel I 1 verbürgt, besitzt die Auseinandersetzung um Kant und die Kantische Tradition einen besonderen Stellenwert. Erinnert sei nur an die „Objektformel-Judikatur" des BVerfG, die zwar nicht explizit auf Kants Selbstzweckformel Bezug nimmt, aber zu ihr starke systematische Bezüge erkennen läßt. Bemerkenswert ist auch die Aufregung, die im Zusammenhang mit der Neukommentierung des Art. I 1 durch den Staatsrechtler Herdegen entstanden ist, der sich in seinem Kommentar zur Menschenwürdegarantie des Art. I 1 Bonner Grundgesetz explizit von einer Kantischen Lesart der Menschenwürde distanziert.[3]


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[1] Der vorliegende Beitrag stimmt teilweise überein mit dem Aufsatz: „Menschenwürde in der Philosophie des Deutschen Idealismus", in: G. Luf: Freiheit als Rechtsprinzip. Rechtsphilosophische Aufsätze, Wien 2008, 249 - 264.
[2] Vgl. A. Honneth: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, 7.
[3] M. Herdegen: „Kommentar zu Art. I Abs. 1 GG", in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): Grundgesetz: Kommentar, München 2003, Rz 11.

In diesen Diskussionen spielt Fichte (wie auch Hegel), von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, keine Rolle. Worin sind die Gründe dafür zu suchen? Liegt es daran, daß Fichte in den Rechtswissenschaften ganz allgemein kaum rezipiert wurde und wird? Oder stehen dahinter systematische Gründe? Eine wesentliche Schwierigkeit besteht gewiß darin, daß Fichte den Begriff der Würde des Menschen in seinen rechtsphilosophischen Werken nicht explizit verwendet. Fichte thematisiert die Würde zwar in einem kurzen „beim Schlusse seiner philosophischen Vorlesung gesprochenen" Text: Über die Würde des Menschen aus dem Jahr 1794 (GA I, 3, 297 - 299)[1] sowie in seiner Sittenlehre, nicht aber in seiner Grundlage des Naturrechts; eine Schrift, in der er die Eigenständigkeit des Rechtsgesetzes gegenüber dem „Sittengesetz" immer wieder und mit größtem Nachdruck betont. Aber unterscheidet ihn das wirklich von Kant? Auch dessen Ausführungen zur Würde des Menschen finden sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und nicht in seiner Rechtslehre. Und hat Kant nicht ebenso radikal zwischen Moralität und Legalität unterschieden wie Fichte Rechts- und Sittengesetz? Hat sich Fichte nicht selbst bei aller Kritik an Kant doch als „Vollender"[2] von dessen Philosophie verstanden ? Worin bestehen dann die Unterschiede?

Um diesen Fragen nachzugehen und den methodischen Stellenwert zu erkunden, den die Menschenwürde in Fichtes Rechtsphilosophie besitzt, ist zunächst auf Kant Bezug zu nehmen, dessen transzendentalem Verfahren der Rechtsbegründung Fichte ja prinzipiell folgt und das erzu erweitern sucht.[3] Unter dieser Prämisse stellt sich die Aufgabe, das philosophische Anliegen, das in Kants Würdekonzept steckt, aufzugreifen und dessen kritische Rezeption bzw. spezifische Ausformung bei Fichte nachzuzeichnen. Vorausgesetzt sollte dabei werden, daß bei aller Unterschiedlichkeit der Interpretationen im einzelnen Kant mit dem Begriff der Würde des Menschen zum Ziel hat, den unbedingten Wert der Person hervorzuheben und in der Freiheit des Menschen zu verantwortlicher Selbstbestimmung zu fundieren. „Würde", „Autonomie" und „Selbstzweckhaftigkeit" sind dabei systematisch gesehen austauschbare Begriffe, bei denen es allesamt um eine adäquate Konzeption des Begriffs menschlicher Freiheit geht. Es gilt daher, auch bei Fichte, auch wenn er den Begriff der Menschenwürde (kaum) verwendet, jene Orte aufzusuchen, an denen der „unendliche Wert" des Menschen oder seine Anerkennung als „Person" bzw. „Persönlichkeit" im Lichte des Freiheitsprinzips angesprochen wird.


Menschenwürde als Rechtsprinzip bei Kant​



Kann die Menschenwürde bei Kant überhaupt als ein Rechtsprinzip verstanden werden? Diese Frage wird kontrovers beantwortet. In der grundrechtstheoretischen
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[1] Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden im Text abgekürzt mit GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl.
[2] Vgl. L. Siep: „Philosophische Begründungen des Rechts bei Fichte und Hegel", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 66.
[3] Vgl. ebd.

Literatur findet sich mehrfach der Hinweis, Kants Würde-Konzept sei auf Rechtsfragen im allgemeinen und auf Grundrechtsfragen im besonderen, wenn überhaupt, so doch nur begrenzt anwendbar, da er dieses Konzept nicht in seiner Rechtslehre, sondern in seiner Moralphilosophie entfaltet habe. So etwa schreibt Gröschner, es sei „die kantische Würdekonzeption eine dezidiert moralphilosophische Konzeption der Würde aller Vernunftwesen [...] und keine rechtsphilosophische Konzeption speziell der Würde des Menschen als Basisbedingung einer freiheitlichen Verfassungsordnung wie derjenigen des Grundgesetzes."[1] Denn, so Gröschners Argumentation: „Wenn Kant in der Grundlegung von ,Gesetz' spricht, so ist damit ausschließlich ein moralisches, spricht er von ,Handlung', so immer eine innere Handlung gemeint. Daß in der dort gegebenen Erläuterung von ,Würde' die rechts- und staatsphilosophische Dimension gar nicht in den Blick kommt, wird auch daran deutlich, daß Kant zwar die ,praktische Nötigung, d.i. Pflicht' behandelt, von der ,Befugnis zu zwingen' aber schweigt, die ,Autonomie des Willens' erläutert, nicht aber das Republikprin- zip."[2] Auch H. Dreier meint in diesem Sinne, es gelte zu beachten, „daß Kants zudem nicht gerade zahlreichen Ausführungen zur Menschenwürde in seiner Moralphilosophie, nicht in der Rechtsphilosophie zu finden sind."[3] Daher ließe sich „eine umstandslose Übertragung auf die Ebene staatlicher Rechtsorganisation [.] auch mit dem Hinweis auf die Einheit der praktischen Philosophie Kants nicht hinlänglich begründen."[4] [5] Sowohl in der Tugend- als auch in der Rechtslehre gehe es zwar „um autonome Selbstgesetzgebung", doch habe Kant selbst „die zentrale Differenz zwischen Tugendpflichten und Rechtspflichten, zwischen Moralität und Legalität nachhaltig betont."11

Die Aufgabe, die Menschenwürde auch im Bereich der Rechtslehre systematisch zu fundieren, sieht sich in der Tat mit dem Problem konfrontiert, daß Kant den Würdebegriff vornehmlich im moralphilosophischen Kontext behandelt hat. Es wäre aus diesem Grunde einerseits unzulässig, die dort angesprochenen Perspektiven sittlicher Autonomie unbesehen und unmittelbar auf das Recht zu übertragen. Zwang zur Moralität verletzte die Menschenwürde radikal. Doch scheint es andererseits, das sei gegenüber Gröschner und Dreier betont, aus systematischen Gründen geboten, die mo-

ralische gegenüber der rechtlichen Dimension nicht unzulässig zu isolieren. Wenn Autonomie den Grund der Würde des Menschen ausmacht, dann geht es trotz der Unterscheidung von Legalität und Moralität auch im Recht um ein sittliches Ziel, um
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[1] R. Gröschner: Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, Stuttgart u. a. 1995, 39. Es überrascht, daß dieser Autor, wie viele anderen Juristen auch (z. B. Endres), keinerlei philosophische Sekundärliteratur herangezogen hat, die es gerade zu Kant in großer Zahl und Güte gibt. Man meint offensichtlich, ohne sie auskommen zu können, was sich auf die Qualität der philosophischen Argumentation indes deutlich auswirkt.
[2] R. Gröschner: Menschenwürde und Sepulkralkultur, a.a.O., 36.
[3] H. Dreier: Artikel 1 I Menschenwürde, Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 1. Aufl., Tübingen 1996, 96.
[4] Ebd.
[5] Ebd.

die Anerkennung und den Schutz der vitalen Voraussetzungen sittlichen Subjektseinkönnens, also jener Bedingungen, die für die rechtliche Garantie der körperlichen und seelischen Integrität von Menschen maßgeblich und notwendig sind.

So gesehen erweisen sich die oben zitierten Einwände bezüglich des bloß moralphilosophischen Charakters von Kants Würdekonzept als nicht triftig. Es ist nicht nur möglich, die rechtlichen Dimensionen dieses Würdebegriffs zu erschließen, sondern es ist darüber hinaus in Sinne Kants systematisch geboten, dies zu tun. Denn nur dann kann der gemeinsame Freiheitsbezug von Recht und Moral gewahrt bleiben, um den es Kant in seiner praktischen Philosophie immer geht. Der kategorische Imperativ ist daher nicht nur ein Moralprinzip, sondern notwendigerweise auch ein Rechtsprinzip. Er kommt in der Verallgemeinerungsformel der Rechtsdefinition zum Ausdruck, umfaßt aber auch den durch die Selbstzweckformel artikulierten Anspruch an das Recht, Bedingungen freien Subjektseinkönnens des Menschen zu garantieren und alles abzuwehren, was ihn verdinglichen und instrumentalisieren würde. Es handelt sich dabei um einen unbedingten und keinen bloß hypothetischen Anspruch. Im Unterschied zu Kant spricht Fichte, wie noch zu zeigen sein wird, dem Rechtsgesetz keine kategorische, sondern bloß eine hypothetische Geltung zu. Es muß daher im folgenden untersucht werden, welche Konsequenzen aus dieser Hypothetisierung der Rechtsgeltung für den Begriff der Menschenwürde gezogen werden können. Ein weiterer, die Anerkennung und den Schutz der Menschenwürde berührender Aspekt stellt die Tatsache dar, daß Fichte in seinem Bestreben, die Stabilität des Rechts zu garantieren, die Anforderungen an die Sicherheit des Rechts und seiner Durchsetzung übermäßiges Gewicht zumißt. Das hat zur Folge, daß solcherart dem Aspekt der Unantastbarkeit der Menschenwürde angesichts prävalierender Sicherheitsinteressen nur geringes Augenmerk geschenkt wird.


Die Menschenwürde in der Sittenlehre​



Zunächst sei das Augenmerk auf einen kurzen Text aus dem Jahre 1794 geworfen. Der Titel lautet: Über die Würde des Menschen. Beim Schlusse seiner philosophi- sehen Vorlesungen gesprochen. (GA I, 2, 83-89) In diesem Text wird auf geradezu hymnische Weise die von allen Entwicklungsstufen unabhängige und auch nicht verwirkbare Humanität des Menschen gepriesen. Für uns interessant ist eine Passage, in welcher Fichte jenseits unterschiedlicher Würdigkeiten die gleiche Würde eines jeden Menschen betont. Er schreibt: „Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät! - Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. Wo du auch wohnest, du, der du nur Menschenantlitz trägst; - ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Thiere, unter dem Stecken des Treibers Zuckerrohr pflanzest, oder ob du an des Feuerlandes Küsten dich an der nicht durch dich entzündeten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, daß sie sich nicht selbst erhalten will - oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinest - du bist darum doch, was ich bin; denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum

doch mein Gesell und Bruder." (GA I, 2, 88 f.)

Diese kategoriale Verknüpfung der Würde mit der abstrakten Eigenschaft Mensch zu sein, bringt auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck, daß der Menschenwürde ein unbedingter Wert zukommt, der weder unter kulturellen, zivilisatorischen oder sozialen, noch unter moralischen oder rechtlichen Gesichtspunkten relativiert werden darf. Gerade der Hinweis, auch der „verworfenste, elendeste Bösewicht" habe gleichermaßen Anteil an dieser gleichen Würde macht diese unbedingte und unverlierbare Qualität des Menschseins besonders anschaulich. Die Anerkennung der Würde auch der schlimmsten menschlichen Kreatur besitzt nicht nur moralischen Rang, sondern hat, obwohl Fichte das nicht anspricht, als ethisches Leitbild auch Konsequenzen für das Recht. Denn es sieht sich angesichts des unbedingten Charakters der Menschenwürde vor den Anspruch gestellt, sie auf eine Weise anzuerkennen und zu garantieren, daß sie auch gegenüber dem schlimmsten Verbrecher durch kein anderes Rechtsgut relativiert oder eliminiert werden dürfte.

Fichte thematisiert die Würde, worauf schon einleitend hingewiesen wurde, im weiteren in seiner Sittenlehre, während er auf sie in seiner Naturrechtslehre nur an einer eher peripheren Stelle im Abschnitt Eherecht (§ 6) Bezug nimmt. Im folgenden soll zunächst ein kurzer Blick auf die entscheidenden Passagen der Sittenlehre geworfen werden, in denen die Menschenwürde angesprochen wird. Das Hauptaugenmerk soll im Anschluß daran auf Fichtes Rechtslehre mit dem Ziel gerichtet werden, die Probleme und Schwierigkeiten darzustellen, dem Prinzip unbedingter individueller Freiheit im Recht Geltung zu verschaffen.

Anders als Kant in seiner Auflösung der „Dritten Antinomie" löst Fichte das Problem des Verhältnisses von Naturkausalität und Freiheit, indem er dem Freiheitshandeln den Charakter einer gegenüber den Naturzwängen unabhängigen, aber in den Naturbedingungen „selbstthätig" (GA I, 5, 134)[1] wirksamen Kraft zuspricht. Fichte kennzeichnet diese Kraft im Unterschied zum „Naturtrieb" als „Trieb nach Freiheit um der Freiheit willen". (GA I, 5, 132) Dieser reine Trieb ist dem Ich im Unterschied zur Kontingenz der Naturtriebe „wesentlich; er ist in der Ichheit, als solcher, gegründet. Ebendarum ist er in allen vernünftigen Wesen, und was aus ihm folgt, gültig für alle vernünftigen Wesen." (GA I, 5, 134) Er ist es, „der mich meinem reinen Wesen nach über die Natur erhebt: und als empirisches Zeitwesen von mir fordert, daß ich mich selbst darüber erhebe." (Ebd.) Die Naturkausalität hat zwar Macht über mich und bringt einen Trieb hervor, der sich als „Hang" äußert, ohne aber „Gewalt" über mich zu haben, denn „ich soll mich ganz unabhängig vom Antriebe der Natur bestimmen." (Ebd.) Fichte folgert daraus im Hinblick auf die Würde: „In Beziehung auf den Hang sonach, der mich in die Reihe der Natur-Causalität hinabzieht, äußert sich der

Trieb als ein solcher, der mir Achtung einflößt, der mich zur Selbstachtung auffordert, der mir eine Würde bestimmt, die über alle Natur erhaben ist." (Ebd.) Er geht nicht
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[1] Dazu und zum folgenden eingehend Ch. Enders: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. I GG, Tübingen 1997, 205 f.

auf Genuß, sondern „lediglich auf Behauptung meiner Würde, die in der absoluten Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit besteht." (GA I, 5, 135) Daraus resultiert ein umfassender sittlicher Anspruch, „jeden, der nur menschliches Angesicht trägt, zu betrachten als Werkzeug des Sittengesetzes" (GA I, 5, 276) und in seiner Würde zu achten.

Da sittliches Handeln „allen vernünftigen Wesen aufgetragen" (GA I, 5, 214) ist und dafür nach Grundsätzen gehandelt werden soll, „die von allen gebilligt, und der gemeinschaftlichen Überzeugung gemäß sind", (ebd.) folgt daraus die kategorische Verpflichtung, sich Recht und Staat zu unterwerfen. Fichte drückt dies folgendermaßen aus: „Die Übereinkunft, wie Menschen gegenseitig aufeinander sollen einfließen dürfen, d. h. die Übereinkunft über ihre gemeinschaftlichen Rechte in der Sinnenwelt, heißt der Staatsvertrag; und die Gemeine, die übereingekommen ist, der Staat. Es ist absolute Gewissenspflicht, sich mit anderen zu einem Staate zu vereinigen. Wer dies nicht will, ist in der Gemeinschaft gar nicht zu dulden, weil man mit gutem Gewissen mit ihm in gar keine Gemeinschaft treten kann: indem man ja, da er sich nicht erklärt hat, wie er behandelt seyn will, immer befürchten muß, ihn wider seinen Willen und sein Recht zu behandeln." (GA I, 5, 215) Hier ist der systematische Ansatzpunkt für eine vorbehaltlose Anerkennung der Würde des Menschen im Kontext von Recht und Staat gegeben, allerdings als Konsequenz einer moralischen, nicht aber einer rechtlichen Forderung.


Recht als Bedingung des individuellen
Selbstbewußtseins bei Fichte[1]



Wenden wir uns nunmehr der Stellung der Menschenwürde im Kontext der Deduktion des Rechtsbegriffes zu. Obgleich Kants und Fichtes grundbegriffliche Bestimmungen des Rechts einander sehr ähnlich sind, unterscheiden sie sich doch im Hinblick auf den „Verbindlichkeitsstatus"[2] und den Gang der Deduktion des Rechtsbegriffs erheblich. Fichte entwickelt seinen Rechtsbegriff als Konsequenz wechselseitiger Anerkennung[3] vernünftiger Individuen, und zwar in genetischer Perspektive als transzendentale Bedingung der Entwicklung des individuellen Selbstbewußtseins. Diese Anerkennung wird im Lichte des Problems behandelt, wie sich Spontaneität aus Freiheit und gegenständliche Begrenztheit im selbstbestimmten
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[1] Zur Rechtsphilosophie Fichtes umfassend: Ch. M. Stadler: Freiheit in Gemeinschaft. Zum transzendentalphilosophischen Rechtsbegriff Johann Gottlieb Fichtes, Cuxhaven / Dartford 2000.
[2] W. Kersting: „Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral", in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 34 (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24).
[3] Zur Anerkennungslehre Fichtes vgl. R. Zaczyk: Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981, 19 ff.; W. Janke: „Anerkennung. Fichtes Grundlegung des Rechtsgrundes", in: H. Girndt (Hrsg.), Selbstbehauptung und Anerkennung. Spinoza - Kant - Fichte - Hegel, Sankt Augustin 1990, 95 ff.; G. Luf: „Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte", in: ders.: Freiheit als Rechtsprinzip. Rechtsphilosophische Aufsätze, Wien 2008, 165 ff.

Handeln synthetisch vereinigen lassen. Diese Synthese ist möglich, insofern, so Fichte, ein äußerer Anstoß zur Selbstbestimmung gedacht wird, der selbst nicht bloß sinnliche Affektion ist, sondern eine freie Intelligenz zur Grundlage hat. Die freiheitliche Selbstbestimmung dieser freien Intelligenz, des anderen Ich, manifestiert sich als Akt der Selbstbegrenzung im Hinblick auf die Anerkennung der Freiheit des anderen. Sie wird von diesem als eine „Aufforderung" (GA I, 3, 342) erfahren und begriffen, sich seinerseits der eigenen Freiheit bewußt zu werden und im Vollzug der Selbstbestimmung die Freiheit des Auffordernden anzuerkennen.

Die zunächst einseitig gesetzte Aufforderung wird, sofern sie den Aufgeforderten nun seinerseits zum Freiheitshandeln bestimmt, d. h. zur selbstbestimmten Einschränkung seines Handelns im Hinblick auf die gleiche Freiheit des anderen motiviert, zur wechselseitigen Anerkennung. „Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist daher", so Fichte, „das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln." (GA I, 3, 351) Damit auf Grundlage dieser Begegnung von Aufforderung und Anerkennung ein Rechtsverhältnis begründet werden kann, ist zweierlei erforderlich: die reziproke Anerkennung zunächst zweier Personen muß, zum ersten, auf alle Menschen erstreckt werden, die miteinander in Rechtsbeziehung treten wollen. Sie muß, zum zweiten, über einzelne Handlungszusammenhänge hinausgehend auf Zukunft hin dauerhaft sein. Ihre Bestandskraft muß auch im Falle der rechtswidrigen Verweigerung der Anerkennung zwangsweise aufrechterhalten werden können.

Die Betonung der Unabhängigkeit des Sitten- vom Rechtsgebots hat nun wesentliche Auswirkungen auf Fichtes Theorie der Grundlagen der Geltung des Rechts. Die Verbindlichkeit des Rechts basiert nicht auf einer kategorischen Vernunftpflicht, die Fichte allein dem sittlichen Handeln vorbehält, sondern ist bloß hypothetischer und zwar „konsequenzlogischer Natur"[1] und so, einem praktischen Syllogismus entsprechend, im „Denkgesetz" (GA I, 3, 356) gegründet. Es hat Verbindlichkeit kraft des freien Entschlusses eines jeden Einzelnen, in der Gesellschaft leben zu wollen. Gesellschaftlichkeit und Recht werden als Resultat des freien Entschlusses verstanden, „und wenn", so folgert Fichte, „jemand seine Willkür gar nicht beschränken will, so kann man ihm auf dem Gebiete des Naturrechts weiter nichts entgegenstellen, als das, daß er sodann aus aller menschlichen Gesellschaft sich entfernen müßte."

(GA I, 3, 322) Diese hypothetische Exklusion von Gesellschaftlichkeit macht deutlich,
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[1] W. Kersting: „Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral", a.a.O., 34.; auch L. Siep: „Philosophische Begründungen des Rechts bei Fichte und Hegel", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 35, betont: „Fichte hat auf den hypothetischen Charakter des Rechtsgesetzes immer wieder hingewiesen. Es gibt für ihn, anders als für Kant, keinen kategorischen Imperativ des Rechts. Zwar folgt ein solcher aus der Moral; diese gibt aber keine Zwangsbefugnis."

daß Recht für Fichte ein bloß „technisch-praktischer Begriff" (vgl. GA I, 3, 320) ist, der in seiner Genese das Resultat logischer Konsequenz im Sinne theoretischer und nicht praktischer Vernunft darstellt.

Die rechtliche Anerkennung der Würde des Menschen als einem unbedingt geltenden normativen Prinzip kann auf Grund dieser Hypothetisierung der Rechtsgeltung in einem solchen Rechtsverständnis ebenfalls keinen normativen Stellenwert von kategorialer Qualität besitzen. Auch in den weiteren Argumentationen Fichtes zur Entfaltung des Rechtsbegriffes bestätigt sich dieser Eindruck, und zwar in den Ausführungen zu den Garantien eines dauerhaften Bestandes der Anerkennungsverhältnisse. Die Anerkennung im Lichte einer kategorialen Synthesis von Sinnlichkeit und Vernünftigkeit ist nämlich nicht unauflöslich. Wenn der eine Teil im weiteren gegen die Bedingungen reziproker Anerkennung verstößt und damit die Freiheit des anderen verletzt, ist diese kategoriale Synthesis des Denkens gestört. Der Betroffene ist zum Schluß bewogen, daß dem anderen auf Grund der Inkonsequenz seines Handelns die zunächst zugesprochene Vernunftqualität doch nicht notwendig, sondern nur zufällig zukomme. Er findet sich daher berechtigt, diesen seinerseits „als bloßes Sinnenwesen" zu behandeln, „so lange, bis beides, Sinnlichkeit und Vernünftigkeit in dem Begriffe seiner Handlung wieder vereinigt sind." (GA I, 3, 356) Diese Erfahrung der Freiheitsbedrohung stellt eine Reflexionsstufe des Selbstbewußtseins dar, in welcher „die Vernünftigkeit des Gegenüber dementiert und damit „die Erfahrung von Aufforderung und Anerkennung ihrerseits in Zweifel gezogen"[1] wird.

Aus der Perspektive des Rechtszwangs, seines Umfangs und seiner Grenzen, kann sich der in seiner Freiheit Verletzte zum Schluß bewogen sehen, der rechtswidrig Handelnde „habe jene Regel überhaupt nicht sich zum Gesetze gemacht". (GA I, 3, 393) Als Konsequenz daraus kann der auf rechtswidriges Handeln reagierende Rechtszwang nicht bloß auf die Beseitigung der gegebenen Störung gerichtet und dadurch umfänglich begrenzt sein. Dem Verletzten steht vielmehr, wie Fichte betont, ein unendliches Zwangsrecht zu, das zur „völligen Vernichtung" (ebd.) fremder Freiheit und zur gänzlichen Aufhebung der Gemeinschaft mit dem Täter befugt. Andererseits, und das macht die Ambivalenz der Situation aus, ist der Rechtszwang doch wiederum nur begrenzt. Er endet, wenn sich der Täter wiederum dem Rechtsgesetz unterwirft und Freiheitsbedrohungen künftig unterläßt. Auch dafür besteht aber wiederum keinerlei Sicherheit, denn es ist, so Fichte, „kein Grund da, an seine Redlichkeit zu glauben." (Ebd.)

Diese Ambivalenz von Unendlichkeit und gleichzeitiger Bedingtheit des Zwangsrechtes kommt auch in einem die weiteren Deduktionsschritte des Rechtsverhältnisses prägenden Phänomen zum Ausdruck: dem radikalen Verlust an gegenseitigem Vertrauen. Fichte knüpft zwar nicht, wie etwa Hobbes, an die individuelle Egozentrik des Menschen als einer anthropologischen Kategorie an, sondern verbleibt begrün-
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[1] L. Siep: „Einheit und Methode von Fichtes ,Grundlage des Naturrechts'", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 60 f.

dungstheoretisch auf einer transzendentalen Argumentationsebene. Gleichwohl kommt er auf Grund der Radikalisierung der Mißtrauensperspektive zu ähnlichen Konsequenzen und bleibt, wie Kersting treffend ausführt, „staatsphilosophisch [...] auf hobbesianischem Niveau."[1] Sobald nämlich „Treu und Glaube" verlorengegangen sind, sieht sich die Rechtsbegründung einer bestimmenden, alles andere dominierenden Grundanforderung unterstellt, der Herstellung gegenseitiger Sicherheit als dem „durch das Gesetz aufgegebenen Endzweck". (GA I, 3, 428)[2]

Diese Fokussierung auf den dominanten Zweck der Sicherheit hat einschneidende Konsequenzen auch für die Garantie der Menschenwürde. Denn die einseitige Orientierung an Sicherheitsinteressen rechtfertigt jeden Eingriff in die Freiheit des Individuums und ist dabei keinerlei vorgängigen Schranken unterworfen. Das Prinzip der Menschenwürde ist im Unterschied zur sittlichen Anerkennungsperspektive unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht unantastbar, denn es vermag diesem an der Rechtssicherheit orientierten Verfügungsanspruch des Rechts keine unabdingbare Grenze entgegenzusetzen. Im Hinblick auf die Zielsetzung, eine stabile Rechtsordnung zu verwirklichen, postuliert Fichte in fragwürdiger Einseitigkeit der Orientierung am Topos Sicherheit, es müsse mit Hilfe der bedingungslosen Herrschaft des Rechts und seiner Macht die „ganze künftige Erfahrung" (GA I, 3, 395) vorweggenommen werden, so daß „(g)egenseitiges Freilassen und die ganze künftige Erfahrung [.] Eins und dasselbe" (ebd.) seien. Es bedarf dazu einer Herrschaft von Gesetzen, die „mit mechanischer Notwendigkeit" auch den potentiellen Rechtsbrecher zur Legalität zwingen, und dies nicht nur reaktiv, sondern im Wege der Abschreckung, indem sie diesen dazu nötigen, über den Zwangsmechanismus rechtlicher Sanktionen das Gegenteil des Handlungszwecks zu vergegenwärtigen: „Wenn demnach", so Fichte, „eine mit mechanischer Notwendigkeit wirkende Veranstaltung getroffen werden könnte, durch welche aus jeder rechtswidrigen Handlung das Gegen- teil ihres Zweckes erfolgte, so würde durch eine solche Veranstaltung der Wille genötigt, nur das Rechtmäßige zu wollen; durch diese Anstalt würde, nach verlorener Treue und
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[1] W. Kersting: „Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral", a.a.O. 35; es mache „rationalitätstheoretisch keinen Unterschied, ob die Verbindlichkeit der Rechtsordnung in ihrer Nützlichkeit für das empirische Selbsterhaltungsinteresse oder für das Selbsterhaltungsinteresse des Selbstbewusstseins begründet ist; in beiden Fällen wird die Verbindlichkeit des Rechts nur noch nach dem Alphabet der Klugheit, der rationalen Interessenverfolgung buchstabiert". Vgl. weiter L. Siep: „Naturrecht und Wissenschaftslehre", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 35 f: „Mit Hobbes schließt Fichte etwas vorschnell von gelegentlicher auf universales Misstrauen. Solange Enttäuschung möglich und jeder Richter in eigener Sache ist, kann sich ein gesetzmäßig-notwendiger Rechtsfriede jedenfalls nicht etablieren."
[2] L. Siep: „Einheit und Methode von Fichtes ,Grundlage des Naturrechts'", a.a.O., 59f. schreibt: „Fichtes ,Fehler' liegt m. E. darin, daß er das legitime Sicherheitsstreben mit einem Gesetzesbegriff verbunden hat, der am Naturgesetzbegriff seiner Zeit orientiert ist [.] In diesem Ansatz des Gesetzesbegriffes liegt nicht nur die Aufgabe einer vollständigen Kontrolle der Individuen [.], sondern auch die Notwendigkeit, ein konstantes, berechenbares Motiv aller Willenshandlungen voraussetzen. Das führt dazu, daß Fichte die These des allgemeinen Egoismus dann doch in der Weise einer generellen anthropologischen Theorie benutzt. Wäre er dagegen bei der Erfahrung von Misstrauen geblieben, hätte er die Aufgabe des Staates auf die Wiederherstellung des Vertrauens beschränken müssen."

Glauben, die Sicherheit wieder hergestellt, und der gute Wille für die äußere Realisation des Rechts entbehrlich gemacht, indem der Böse und nach fremden Sachen begierige Wille, gerade durch seine unrechtmäßige Begier, zu dem gleichen Zwecke geleitet würde." (GA I, 3, 427)

Diesem Befund scheint zunächst zu widersprechen, daß Fichte eine Konzeption des „Urrechts" (bzw. der „Urrechte") entwickelt. (GA I, 3, 403 ff.) Wenn man allerdings erwartete, im Urrecht würde ein aller konkreten Rechtsgestaltung voraus liegendes Menschenrecht konzipiert, würde man enttäuscht. „Es gibt", so betont Fichte explizit, „keinen Stand der Urrechte, und keine Urrechte des Menschen." (GA I, 3, 403) Die Frage nach dem Begriff des Urrechts wird von Fichte, systematisch durchaus in Analogie zu Kants Antinomienlehre, radikaler gestellt, und zwar im Hinblick auf die Möglichkeit, Freiheit in der naturgesetzlich konstituierten „Sinnenwelt" äußerlich in Erscheinung zu bringen. Dieses In-Erscheinung-Treten in der Sinnenwelt geschieht im Medium des Leibes, den Fichte als „Repräsentant des Ich in der Sinnenwelt" (GA I, 3, 405) charakterisiert. Das Urrecht wird bestimmt als „das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu seyn (schlechthin nie Bewirktes)". (GA I, 3, 404)[1] Es fordere „die Person durch ihr Urrecht eine fortdauernde Wechselwirkung zwischen ihrem Leibe und der Sinnenwelt, bestimmt und bestimmbar, lediglich durch ihren frei entworfenen Begriff von derselben." (GA I, 3, 409) Die Ableitung des Urrechts erfolgt jedoch zunächst nicht in intersubjektiver Perspektive, sondern abstrahierend, also unter Ausklammerung der Mitmenschen. Das hat zur Konsequenz, daß der Umfang des Urrechts zunächst unbegrenzt ist. Fichte betont in diesem Sinne: „Wenn, wie es bei der Deduktion des Urrechts geschieht, eine Person in der Sinnenwelt isoliert gedacht wird, so hat sie so lange, als sie keine Person außer ihr kennt, das Recht, ihre Freiheit so weit auszudehnen, als sie kann und will, und, wenn es ihr beliebt, die ganze Sinnenwelt für sich in Besitz zu nehmen. Ihr Recht ist wirklich (wenn das Urrecht nur überhaupt ein wirkliches Recht sein könnte) unendlich, denn die Bedingungen unter der dasselbe beschränkt sein müßte, fällt weg." (GA I, 3, 412)

Um das Urrecht in die Rechtsdimension einbringen zu können, muß freilich die Freiheit um die Freiheit der anderen willen beschränkt werden. Erst dann wird das im Urrecht enthaltene „Recht auf die Unantastbarkeit des Körpers" bzw. das „Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesamte Sinnenwelt" (GA I, 3, 409) aus einem Recht bloß im übertragenen Sinn (Fichte selbst nennt das Urrecht eine „Fiktion" (GA I, 3, 404)) ein reales Recht der Person. Hier wäre in der Tat ein systematischer Ansatzpunkt für die Anerkennung der Menschenwürde gegeben. Doch auch diese Anerkennung gilt nicht kategorisch. Denn die Frage nach der rechtlichen Be- grenzung der Freiheitssphären mündet schließlich in Erörterungen über ein vertraglich konstituiertes Eigentumsrecht bzw. über das Zwangsrecht und seiner Verwirklichung. Bei der Erörterung des Zwangsrechts sieht sich Fichte wieder mit der Tatsache
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[1] Zur Theorie der Urrechte vgl. R.-P. Horstmann: „Theorie der Urrechts", in: Jean- Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 113 ff. (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24).

konfrontiert, daß man Vertrauen nicht erzwingen kann[1] (vgl. GA I, 3, 424 f.) und daher dauerhafte Bedingungen zu schaffen sind, in welchen Sicherheit mit einer „der mechanischen gleichenden Notwendigkeit" (GA I, 3, 424) garantiert wird ohne dabei aber, wie er betont, den Menschen selbst zur Maschine zu degradieren, weil derart „die Freiheit des Willens für nichts gerechnet würde." (GA I, 3, 426) Insofern wird das Urrecht nicht vernunftrechtlich unbedingt abgeleitet, sondern wie alle anderen Rechte geltungslogisch hypothetisiert.

Es ist hier nicht möglich, auf Fichtes weitere Ausführungen zum Staatsrecht detaillierter einzugehen, das durchaus beachtliche Ansatzpunkte für einen entwickelten Rechtsstaat enthält. Dennoch sollte nach dem oben Dargestellten einsichtig gemacht worden sein, daß in diesem Rechtsverständnis für ein vom Prinzip der Menschenwürde getragenes Konzept von unbedingten Freiheitsrechten des Individuums aus systematischen Gründen kein geeigneter Ort sein kann. Denn auch die Verträge, die Fichte zur Verwirklichung der Sicherheitsinteressen vorsieht, stellen zwar eine Konkretisierung und Differenzierung dieser Interessen dar, gelten aber eben auch nur unter dem Gesichtpunkt der Reziprozität, haben hypothetischen Charakter.[2]

In seinem Bestreben, Rechts- und Sittengesetz zu trennen, sah er sich eben gezwungen, eine Hypothetisierung von Gesellschaftlichkeit und damit eine Virtualisie- rung der Geltung elementarer Rechtsprinzipien vorzunehmen. Auf Grund der Radikalisierung der Erfahrung des Vertrauensverlustes mußte bei ihm zudem der Gesichtspunkt vorauszusetzender und im Gang der Rechtsverwirklichung „aufgehobener" sittlicher Beziehungen zu kurz kommen. Die Radikalisierung des Mißtrauensaspektes und die Verwendung eines mechanistischen Gesetzesbegriffes haben zur Folge, daß die Aufgabenstellung, Recht als realisiertes Anerkennungsverhältnis menschlicher Würde zu legitimieren, auf Grund der Dominanz des Sicherheitsaspektes letztlich aus dem Blick gerät. Es zeigt sich, daß Menschen immer schon, und zwar auch in den Dimensionen des Rechts, als in Verhältnissen realisierter Anerkennung, also innerhalb sittlicher Grundbeziehungen stehend gesehen werden müssen, wenn es möglich sein soll, Recht und Staat als Verwirklichungsformen unbedingter intersubjektiver Anerkennung zu begreifen.

Fichtes These des radikalen Vertrauensverlustes bringt eine Problematik zur Sprache, die auch aus heutiger Sicht große Aktualität besitzt, und zwar im Hinblick auf
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[1] Vgl. M. Kaufmann: „Zwangsrecht (§§ 13-16)", in: in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 130 (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24).
[2] Zur Verwirklichung des „Sicherheitswillens" in der Rechtsgemeinschaft schreibt L. Siep: „Naturrecht und Wissenschaftslehre", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 38 f.: „Fichte hat diese Verwirklichung als eine Folge von Verträgen aufgefasst. Er unterscheidet nicht, wie in der vor-neuzeitlichen Tradition, zwischen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag, sondern zwischen einem Vertrag zur Einrichtung einer rechtsdurchsetzenden Zwangsgewalt [...] sowie einem Staatsbürgervertrag [...], der seinerseits Eigentumsvertrag [...], Schutzvertrag [...], Vereinigungsvertrag [...], Unterwerfungsvertrag [.], und einen selbst noch einmal abgestuften Abbüßungsvertrag [.] enthält. [.] Ein Problem der Vertragstheorie Fichtes [.] ist aber, daß alle diese Verträge strikt ,auf Ge- genseitigkeit' gelten. Werden sie einmal verletzt, so erlöschen die Verpflichtungen der Vertragspartner."
Legitimitätsbedingungen liberaler Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Hinblick auf die Anforderung, eine Balance von Freiheit und Sicherheit herzustellen. Eine solche Balance kann nur gelingen, wenn auch ein hohes Maß an Vertrauen vorhanden ist, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen in die Bereitschaft der Individuen, sich als sittliche Subjekte in das Rechtssystem einzubringen und daher nicht nur einseitig strategische Interessen im Umgang mit dem Recht zu verfolgen. Zum anderen das Vertrauen in das Funktionieren rechtsstaatlicher Institutionen in ihrer Aufgabe, die Freiheit der Person zu gewährleisten. Dafür gibt es keine absoluten Garantien, so daß Risiken des Rechtsmißbrauchs nicht völlig auszuschließen sind. Dazu gibt es aber keine Alternativen, denn nur in von grundlegenden Vertrauensbeziehungen geprägten rechtlich-politischen Konstellationen kann dem Schutz der Würde des Menschen entsprechendes Gewicht gegeben werden.