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Der Rechtsstaat als Sozial- und Kulturstaats-Institution

Helmut Girndt

Historische Vorbemerkung​


Gemeinhin gilt Lorenz von Stein als Begründer des Sozialstaatsgedankens1. So ist nicht allgemein bekannt, daß es Johann Gottlieb Fichte war, der schon in seinem 1796 und 1797 erschienenen Werk zum Natur- und Staatsrecht diesen Gedanken philosophisch entwickelt und begründet hatte. Sein Gedanke war in der Philosophie völlig neu, nicht aber in der Politik. Drei Jahre vor dem Erscheinen der Fichteschen Rechtslehre war die Idee des Sozialstaats, wenn auch faktisch folgenlos, zu einem politischen Entschluß auf höchster institutioneller Ebene gediehen: in einer von der Französischen Nationalversammlung gebilligten Gesetzesvorlage, der „JakobinerVerfassung" von 1793. Dort hieß es in Artikel 21:

Die öffentliche Unterstützung ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unterhalt, indem sie ihnen entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert.

Der Gesetzesbeschluß wurde allerdings nie umgesetzt, da die Girondisten noch im Juni des Jahres gestürzt wurden.[1] [2] Heute ist das mehr als zweihundert Jahre zurückliegende Sozialstaatsprinzip selbstverständlicher Teil des deutschen Verfassungsrechts. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer
[HR=3][/HR]
[1] Vgl. L.v. Stein: Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreich, Leipzig 1842; Die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der dritten französischen Revolution, Stuttgart 1818; Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage, Leipzig, 1850, 3 Bde.
[2] Verfasser der Gesetzesvorlage war Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (17. September 1743 bis 28. März 1794), einer der Führer der Republikaner und Deputierten des Konvents. Bis zum Februar des Jahres 1793 erarbeitete er den Entwurf für eine republikanische Verfassung, die von den Girondisten unterstützt wurde. Condorcet war ein überzeugter Aufklärer, ein Liberaler und kultureller Neuerer der Moderne vor und während der Französischen Revolution. Er trat 1790, kurz nach der Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte, vehement dafür ein, sie auch den Frauen zu gewähren. Darüber hinaus trat er für die Gleichberechtigung von Schwarzen verbunden mit der Abschaffung der Sklaverei und für den Freihandel ein. Mit den gemäßigten Girondisten vertrat er mit Nachdruck die Ansicht, daß das Leben des Königs geschont werden solle. Condorcet war Mitglied des Verfassungsausschusses. Wie aus Fichtes Beyträgen zur Berichtigung des Publikums über die Französische Revolution hervorgeht, war er über diese soziale Bewegung sehr gut informiert. Vgl. Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA I, 1, 215.

Bundesstaat", heißt es in Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Bezeichnung „Sozialstaat" ist allerdings neueren Datums, sie hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Aber die Geschichte des Sozialstaats reicht in das 19. Jh. zurück in das Preußische Reich. Schon 1883 hatte Otto von Bismarck im Zuge der ersten Sozialgesetzgebung überhaupt eine staatliche Krankenversicherung und 1884 eine Unfallversicherung in Preußen eingeführt.

Und es gab noch einen zweiten neuen Gedanken, den Fichte in seine Rechts- und Staatslehre aufgenommen und philosophisch begründet hat, die Idee des Kulturstaates. Im späteren Denken Fichtes, insbesondere nach seiner Übersiedlung nach Berlin, erhielt dieser Gedanke eine immer größere Bedeutung. Auch diese Idee war während der französischen Revolution entwickelt und im französischen Verfassungsbeschluß von 1793, Artikel 22, formuliert worden:

Der Unterricht ist für alle ein Bedürfnis. Die Gesellschaft soll mit aller Macht die Fortschritte der öffentlichen Aufklärung fördern und den Unterricht allen Bürgern zugänglich machen.

Anders als die Idee des Sozialstaates nahm die des Kulturstaates schon sehr bald und noch zu Fichtes Lebzeiten politische Gestalt an, und zwar mit den Stein-Har- denbergschen Reformen im Jahre 1807, an denen auch Wilhelm von Humboldt mitwirkte.

Wie revolutionär Fichtes staatsphilosophische Ideen noch immer sind, wird auf globalem Hintergrunde deutlich: In einem nur wenige Flugstunden entfernten Land wie Indien, der angeblich größten Demokratie der Menschheit, zählt noch heute kastenmäßig organisiertes Bettlerwesens zu der als selbstverständlich hingenommenen Sozialordnung, und in westlichen Demokratien leben bis heute Millionen ohne gesetzliche Kranken- und Sozialversicherung in unverschuldetem Elend. Selbst die freiheitliche Verfassung der Vereinigten Staaten kennt keine sozial- und kultur-staatlichen Grundrechte. So ist, was für die meisten Europäer zur politischen Selbstverständlichkeit geworden ist, bis heute für die weitaus größte Zahl der Menschen Utopie. Ohne Recht auf staatliche Fürsorge und geistige Bildung sind sie unverschuldetem Elend preisgegeben; und zu bezweifeln ist, daß für sie jemals politische Realität wird, was Fichte als unveräußerliche Rechte philosophisch begründete.

Fichtes philosophische Grundlegung
des modernen Rechtsstaates​


Die Idee des modernen Rechtsstaates, wie sie Fichte philosophisch begründete, ist einerseits unmittelbarer politischer Reflex auf sozial-revolutionäre Ereignisse seiner Zeit, andererseits Ausdruck seiner transzendentalphilosophischen Neubegründung. Im Rahmen der Sozialphilosophie war es insbesondere der Gedanke des Eigentums als Recht auf Handlungen, statt auf Besitz, mit dem Fichte wesentlich über den Stand der damaligen philosophischen Diskussion hinausging.

Nach Kant, mit dessen Idee des Rechts ich beginne, ist das dem Menschen „angeborene Recht [...] nur ein einziges" - die Freiheit! Und „Freiheit, [so definiert Kant], ist die Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkühr, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann, [und] dieses [ist das] einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht".[1]

Obgleich mit Kants Freiheitsbegriff grundsätzlich einverstanden, zieht Fichte jedoch eine für die Rechtsphilosophie wichtige Konsequenz aus dem gemeinsamen Grundbegriff, die wesentlich über Kant hinausgeht. Zu Freiheit und Recht gehört Eigentum. Nach Kant ist Eigentum legitimer Besitz materieller Dinge. „Was ich (nach dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringen, und wovon ich als Objekt meiner Willkühr Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe, endlich, was ich (gemäß der Idee eines möglichen vereinigten Willens) will, es solle mein sein: das ist mein", heißt es in Kants Metaphysik der Sitten. Oder „Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemandem ist, ist dessen Eigentum (dominium), welchem alle Rechte in dieser Sache (wie Akzidenzen der Substanz) inhäriren, über welche also der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann."[2]

Mit seiner Auffassung, Eigentum bestehe in legitimer Verfügungsgewalt über Sachen, ist Kants Eigentumsbegriff noch ganz am Vorbild der naturrechtlichen Tradition orientiert. Fichtes Eigentumsbegriff hingegen ist völlig neu und revolutionär. Zwar ist Eigentum auch bei ihm durch einen fiktiven Rechtsvertrag begründet, doch wird es nicht mehr durch legitimen „Besitz", sondern durch ein Recht auf Handlungen definiert. So kann z. B. ein und derselbe materielle Gegenstand Eigentum mehrerer Personen sein, sofern er nicht nur eine, sondern mehrere von einander unabhängige, jedoch verträgliche Zweckbestimmungen zuläßt. Wie richtungsweisend Fichtes Eigentumsbegriff war, zeigte sich schon bald daran, daß der traditionelle Eigentumsbegriff als legitimer Besitz physischer Dinge nicht ausreichte, um grundlegende Rechtsansprüche zu garantieren und zu regeln, z. B. Autorenrechte, Aufführungsrechte, Erziehungsrechte, Nutzungsrechte oder Anrechte auf Leistungen etc. Bei allen handelt es sich um Rechte zu Handeln. Darüber hinaus haben moderne Gesetzgebungen den Gedanken der Sozialverträglichkeit des Eigentums postuliert als Forderungen der Rechtsgesellschaft an die Nutzung individuellen Eigentums, was auf nichts anderes als auf Einschränkungen seines Gebrauchs hinausläuft und so indirekt Fichtes Konzeption von Recht als eingeschränkte legitime Verfügungsgewalt bestätigt.[3]


[HR=3][/HR]
[1] Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: AA VI, 237 f.
[2] Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: AA VI, 270.
[3] Leider wird die Bedeutung Fichtes für die Idee des Eigentums bis heute verkannt. Wie bekannt ist eines der Hauptprobleme kapitalistischen Wirtschaftens die Privatisierung nicht vermehrbarer Güter, wie Land, Wasser und Luft. Fichtes Eigentumstheorie auf sie anzuwenden, hätte u. a. bedeutet, Eigentümern das heute herrschende Erbrecht auf Grund und Boden zu entziehen, es zu begrenzen und zu kommunalisieren und damit heute unlösbare Probleme zu lösen. Bekanntlich leiden gegenwärtige Staaten notorisch unter Problemen sinnvoller Raumplanung. Wäre Boden nicht Privatbesitz, sondern kommunales Eigentum und nur zeitlich auf private Nutzung eingeschränkt wie im Pachtrecht, könnten Aufgaben gelöst werden, die sich heute jeder vernünftigen Planung entziehen. Nur vorstaatliche Gesellschaften, Diktaturen und Feudalstaaten haben es verstanden, mit Bodenflächen sinnvoll umzugehen und lebensmäßig wie ästhetisch ansprechende Land- und Stadtplanungen zu entwickeln. Die nirgendwo sonst in der Welt zu findende Schönheit europäischer Städte, Plätze, Parks und Alleen verdanken wir ausschließlich früh- oder vorkapitalistischen Zeiten. Während die unter der Herrschaft kapitalistischen Wirtschaftens entstandenen Megastädte, unfähig zu großräumigen und ansprechenden Raum- und Verkehrsgestaltungen, in ihrer menschenfeindlichen Häßlichkeit kaum noch zu überbieten sind, genießt allein noch die kommunistische Regierung Chinas das Privileg, über grundsätzlich nicht privatisierte Bodenflächen disponieren zu können.

Unveräußerliche Rechte​


Fichtes Konzeption von Eigentum steht also in engstem Zusammenhang mit dem Willen der Person. Und dementsprechend leitet Fichte die Idee des Rechts aus der unveräußerlichen Berechtigung des Handelns ab. Alle Rechte beruhen auf Einschränkungen dessen, was Fichte Ur-recht genannt hat, eine vor-rechtliche Fiktion eines Rechts auf alles, was faktisch möglich und durch faktisches Handeln erreichbar ist. Diese Fiktion soll einsichtig machen, das Handeln nur dann legitim sein kann, wenn es auf Einschränkungen tatsächlich möglichen Handelns beruht, die jedem Rechtsgenossen zugunsten eines Nebeneinanderbestehens mehrerer zugemutet werden müssen. Rechtsbeziehungen beruhen also auf Einschränkungen des fiktiven Urrechts auf alles, das nur einer utopischen Robinson-Existenz zugestanden werden könnte. Eigentum als Recht auf bestimmte Handlungen kann durch Tausch gegen andere bestimmte Handlungsberechtigungen einvernehmlich abgetreten, und umgekehrt können Anrechte auf Handlungen konsensuell erworben werden. Rechtsveräußerungen und Erwerbe müssen jedoch immer im Rahmen des grundlegenden fiktiven Rechtsvertrages abgewickelt werden, der das Nebeneinanderbestehen mehrerer Freiheiten regelt und ermöglicht.

Nicht alle Rechte auf Handlungen sind allerdings veräußerbar. Es gibt auch unveräußerliche Rechte, solche, die kein teilender Vertrag nehmen darf und an die jeder Rechtsgenosse gebunden ist und für immer gebunden bleibt. Diese unveräußerlichen Rechte sind die heute sog. Menschenrechte oder Grundrechte.

Grund- oder Menschenrechte im Allgemeinen​


Fragt man nach einer rationalen Begründung der Grundrechte bei Fichtes, so ist sie aufgrund seiner Eigentumskonzeption denkbar einfach. Da sich alle Rechte aus Selbstbeschränkungen individueller Freiheit herleiten, die je nach äußeren Vorgegebenheiten einen größeren oder geringeren Umfang haben mögen, stecken unveräußerlichen Rechte denjenigen Umfang von Rechten ab, der nicht weiter beschränkt werden darf, ohne daß das Vertragsverhältnis aufgehoben würde. Rechte, die selbst schon eine Beschränkung des Urrechts sind, können zwar je nach äußeren

Umständen erweitert oder eingeschränkt, veräußert oder erworben werden. Doch die Verminderung von Rechten darf ein Maß nicht überschreiten, das für die Aufrechterhaltung des Rechtsverhältnisses unbedingt erforderlich ist. Die einem
Rechtsgenossen zugestandene Rechtssphäre des Handelns muß umfangreich genug sein, um ihm sein Leben zu ermöglichen. Und genügen die zugestandenen Grenzen des Handelns nicht, um es zu erhalten, so müssen ihm seitens der Rechtsgesellschaft erweiterte Handlungsräume zugestanden werden. Denn „Leben zu können ist das absolute unveräußerliche Eigentum aller Menschen."[1] So ist das unversehrte Leben der Rechtsgenossen Bedingung für die Aufrechterhaltung des Rechtsverhältnisses, d. h. daß ein für die Aufrechterhaltung seines Lebens notwendige Minimum persönlicher Rechte nicht unterschritten werden darf, und genau dieser Spielraum legitimer Tätigkeit macht das unverzichtbares Eigentum oder Grundrecht auf Leben aus.

Fichtes Sozialstaatskonzeption.

Das unveräußerliche Recht auf lebenserhaltende Arbeit[2]


Grundrechte werden wechselseitig eingeräumt, damit jeder Rechtsgenosse leben und sein Leben erhalten kann. Diese notwendige Bedingung einer rechtlichen Verfassung ist aber noch nicht hinreichend für den beständigen Erhalt und Unterhalt des Lebens. Hinreichend wird die Rechtsbedingung wechselseitigen nebeneinander Bestehenkönnens erst, wenn die im Bürger- und Staatsvertrage zugestandenen Rechte als Entfaltungsräume der Freiheit begriffen werden, deren Sinn sich in Tätigkeiten erfüllt, die dem Erhalt und der Sicherung des eigenen Lebens dienen. D.h. konkret: ohne lebenserhaltende Tätigkeit, und das heißt Arbeit, ist eine Entfaltung der Freiheit unmöglich, und komplementär bedeutet das: es gibt eine Rechtspflicht zu bestimmten lebenserhaltenden Tätigkeiten, oder, ohne die Rechtspflicht zu arbeiten, gibt es keine Rechtsansprüche gegenüber anderen. „[Und] so ist es Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können!"[3]

Wem es jedoch trotz Arbeitspflicht und unermüdlicher Anstrengung, sie zu erfüllen, nicht gelingt, von seiner Arbeit zu leben, der unterliegt, wenn keine Abhilfe möglich ist, auch nicht mehr dem Rechtsgesetz. Er wäre ohne Rechte und in den vorrechtlichen Zustand zurückversetzt. Und daraus folgte, was schon immer und auch schon vor Fichtes Lebzeiten gegolten hatte: für einen solchen gelten keine Eigentumsgesetze - ,Not kennt kein Gebot'. Um den Extremfall unfreiwilliger faktischer Aufkündigung des fiktiven Rechts- und Eigentumsverhältnisses zu verhindern, ergibt sich zwingend, daß die Rechtsgesellschaft den unfreiwillig Unfähigen oder in seinem Leben Bedrohten durch soziale Hilfsmaßnahmen am Leben erhalten muß, „denn der Eigentumslose hat einen Rechtsanspruch auf unser Ei- gentum"[4].

Schlüsselt man alle im Grundrecht auf existenzerhaltende Arbeit implizierten Rechte im Einzelnen auf, dann ergeben sich folgende Grundrechte als notwendige Voraussetzungen zur Erfüllung der Rechtspflicht zur Arbeit:


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[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 4, 22.
[2] Zu diesem Thema siehe auch: Bärbel Frischmann: „Fichte über den Rechtsstaat als Sozialstaat", in: Fichte-Studien 29 (2006) 45 ff.
[3] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 4, 22.
[4] Fichte: Das System der Sittenlehre, Drittes Hauptstück § 23, in: GA I, 5, 264.

Das unveräußerliche Recht auf leibliche Unversehrtheit
Das unveräußerliche Recht auf Erhaltung des Leibes
Das unveräußerliche Recht auf notwendige Mittel zu Erhaltung des Leibes, d. h. auf existenzerhaltendes Eigentum
Das unveräußerliche Recht auf den Erwerb der Mittel zur Erhaltung des Leibes, d. h. das Recht auf existenzerhaltende Arbeit - und, wo dieser Erwerb tatsächlich nicht möglich ist, wie in Fällen geistiger oder physischer Unfähigkeit, Krankheit oder Alter, ergibt sich daraus:
Das Recht auf soziale Unterstützung durch die Rechtsgesellschaft.
Die eben genannten Rechte sind, wie gesagt, als Grund-Rechte zu verstehen, weil sie notwendige Bedingungen dafür sind, daß Rechte überhaupt ausgeübt werden können.
Aus all dem geht hervor: Der Staat muß als rechtssichernde Institution notwendigerweise auch Sozialstaat sein, d. h. eine Rechtsgesellschaft, die unter bestimmten Bedingungen zum Unterhalt ihrer Mitglieder verpflichtet ist. Daß damit dem Staat direkt oder indirekt eine nicht unbedeutende Kontrolle über kollektiv erwirtschaftete Güter eingeräumt werden muß, ergibt sich als unvermeidliche Konsequenz aus den Grundrechtsansprüchen. Ob die Kontrolle der Wirtschaft jedoch so weitreichend sein sollte, wie sie Fichte vorschwebte, ist ein weiteres, hier nicht zu behandelndes Thema.
Vernehmen wir an dieser Stelle den Autor selbst:
„Sobald also jemand von seiner Arbeit nicht leben kann, ist ihm das, was schlechthin das Seinige ist, nicht gelassen, der Vertrag ist also in Absicht auf ihn völlig aufgehoben, und er ist von diesem Augenblicke an nicht mehr rechtlich verbunden, irgendeines Menschen Eigenthum anzuerkennen. Damit nun diese Unsicherheit des Eigenthums durch ihn nicht eintrete, müssen alle von Rechts wegen, und zufolge des Bürgervertrags, abgeben von dem Ihrigen, bis er leben kann. - Von dem Augenblick an, da jemand Noth leidet, gehört keinem derjenige Teil seines Eigentums mehr an, der als Beitrag erfordert wird, um einen aus der Not zu reissen, sondern er gehört rechtlich dem Nothleidenden an. Es müßten für eine solche Repartition gleich im Bürgervertrage Anstalten getroffen werden; und dieser Beitrag ist so gut Bedingung aller bürgerlichen Gerechtsame, als der Beitrag zum schützenden Körper, indem diese Unterstützung des Notwendigen selbst ein Teil des notwendigen Schutzes ist. Jeder besitzt sein Bürgereigentum nur insofern und auf die Bedingung, daß alle Staatsbürger von dem Ihrigen leben können; und es hört auf, inwiefern sie nicht

leben können, und wird das Eigenthum jener: es versteht sich, immer nach dem bestimmenden Urteil der Staatsgewalt. Die exekutive Macht ist darüber so gut als über alle anderen Zweige der Staatsverwaltung verantwortlich, und der Arme, es versteht sich, derjenige, der den Bürgervertrag mit geschlossen hat, hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung."[1] [2]

Nach diesen Ausführungen gelangt Fichte zu einer Folgerung, die in einer nicht ganz unproblematischen Forderung des Staates gegenüber der individuellen Freiheit besteht:

„Keiner hat [...] rechtlichen Anspruch auf die Hilfe des Staats, bis er nachgewiesen, daß er in seiner Sphäre alles mögliche getan, um sich zu erhalten, und daß es ihm dennoch nicht möglich gewesen. Weil man aber doch auch in diesem Falle ihn nicht umkommen lassen könnte; auch der Vorwurf, daß er nicht zur Arbeit angehalten worden, auf den Staat selbst zurückfallen würde, so hat der Staat notwendig das Recht der Aufsicht, wie jeder sein Staatsbürgereigentum verwalte. - Wie nach dem obigen Satze kein Armer, so soll nach dem gegenwärtigen auch kein Müßiggänger in einem vernünftigen Staate sein."11

Im Zeitalter überbordender Staatsbürokratien, die sich in alles und jedes einmischen, begegnen wir Fichtes Vorschlägen sozialstaatlicher Kontrolle gewiß nicht mehr ohne jeden Vorbehalt. Anderslautende Äußerungen Fichtes, nicht ganz im Einklang mit dem zuvor Zitierten, sind dagegen überzeugender, da sie Sozialhilfemaßnahmen in die Hände der ,Zivilgesellschaft' statt in die des Staates legen:

„Der Zweck aller [.] Arbeiten ist der, leben zu können. Alle, und bei der Garantie der Gemeine, sind jedem Bürger dafür, daß seine Arbeit diesen Zweck erreichen wird. Der Vertrag lautet in dieser Rücksicht so: jeder von allen verspricht, alles ihm mögliche zu tun, um durch die ihm zugestandene Freiheit und Gerechtsame leben zu können; dagegen verspricht die Gemeine, im Namen aller einzelnen, ihm mehr abzutreten, wenn er dennoch nicht sollte leben können. Alle einzelnen machen sich für diesen Behuf zu Beiträgen verbindlich, so wie sie es zum Schutze überhaupt getan haben, und es wird eine Unterstützungsanstalt sogleich im Bürgervertrage mit getroffen [!], sowie eine schützende Gewalt errichtet wird. Der Beitritt zu der ersten ist, wie der Beitritt zu der letzteren, Bedingung des Eintritts in den Staat. Die Staatsgewalt hat die Oberaufsicht über diesen Theil des Vertrages, sowie über alle Theile desselben, und Zwangsrecht sowohl als Gewalt, jeden zur Erfüllung dersselben zu nöthigen."[3]


[HR=3][/HR]
[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA, I, 4, 22 f.
[2] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 4, 23/4: „Jeder muß von seiner Arbeit
[3]leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden. Da alle verantwortlich sind, daß jeder von seiner Arbeit leben könne, und ihm beisteuern müßten, wenn er's nicht könnte, haben sie notwendig auch das Recht der Aufsicht, ob jeder in seiner Sphäre so viel arbeite, als zum Leben nötig ist, und übertragen es der für gemeinschaftliche Rechte und Angelegenheiten verordneten Staatsgewalt."