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II. Zum Problem der Leiblichkeit bei Kant

Zunächst ist ein Blick zurück zu Kant zu werfen, um die Schritte Fichtes über Kant hinaus adäquat sehen zu können. Kant hat die erste wirkliche, weil logische Revolutionierung der Philosophie nach Platon durchgeführt.[1] [2] Diese besteht darin, daß er nicht mehr selbstverständlich davon ausgegangen ist, daß die subjektiven Formen und Prinzipien des Denkens, wie sie die formale Logik festgehalten hat, unmittelbar ontologisch relevant sind, daß also das wahrhafte Sein an ihm selbst widerspruchsfrei ist. Die Gestalten der Ontologie haben ihn erkennen lassen, daß formallogisch korrektes Denken nicht automatisch sachhaltig ist, sondern vielmehr zum Widerspruch führt, der den „Kampfplatz"11 der Metaphysik ausmacht, den die transzendentale Dialektik der KrV rekonstruiert. Daher kann die Identität von (formallogisch korrektem) Denken und Sein nicht mehr einfach vorausgesetzt werden, sondern diese wird zum neuen logischen Grundproblem. Es muß die Frage gestellt werden, unter welchen Voraussetzungen eine solche Identität überhaupt möglich ist. Die Antwort auf diese Frage ist die auf ihre „Erkenntnisdignität" (B. Liebrucks) hin reflektierte formale Logik, die transzendentale Logik. Wie muß Erkenntnis von Gegenständen gefaßt werden, wenn Denken nicht nur formallogisch korrekt, sondern zugleich sachhaltig sein können soll? In der Beantwortung dieser Frage zeigt sich, daß Erkenntnis von Gegenständen nur dann möglich ist, wenn die formallogisch vergessene Form ,Ich denke' als Form aller Formen, als das Prinzip der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, die allgemeine Subjektivität als Grund aller Objektivität gefaßt wird.

In dieser Herausstellung der Prinzipialität von Ich liegt zunächst eine zentrale Errungenschaft Kantens, hinter die nicht zurückzufallen ist. Durch sie wird alle Verdinglichung von Ich endgültig abgewehrt und Freiheit radikal auf sich selbst gestellt. Ich als Prinzip aller Gegenständlichkeit ist selbst kein mögliches Weltinventar, kein bestimmter Teil des Seins (was sich schon naiv in der ontologischen Begriffspyramide ausgesprochen hat), sondern das Bestimmende selbst, das sich daher seine Bestimmung selbst zu geben hat. Was folgt daraus für die Existenz von Ich? Zunächst dies, daß die Existenz von Ich nicht mehr naiv im Sinne der ehemaligen Ontologie als ein Wesen mit Eigenschaften definiert werden kann, sondern die Existenz von Ich kann nur in seiner Bestimmungs-Funktion bestehen.[3] Die Existenz von Ich ist kein möglicher Gegenstand, sondern Funktion im Sinne der logischen Handlung. So ist die absolute Form als die Vermittlung selbst von ihrem Produkt, der Erscheinungsgegenständlichkeit, prinzipiell zu unterscheiden. Diese Unterscheidung verschärft sich jedoch zur Trennung des Phänomenalen und Nou- menalen dadurch,
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[1] Vgl. dazu die Kant-Interpretation von Bruno Liebrucks, in der Kant als Logiker ernst genommen wird: Sprache und Bewußtsein, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1968. Eine von Liebrucks Ansatz her sich bestimmende Kant- und Fichteinterpretation gibt Michael Wladika: Moralische Weltordnung. Selbstvernichtung und Bildwerden, seliges Leben. Johann Gottlieb Fichtes Religionsphilosophie, Würzburg 2008.
[2] KrV, Vorrede A VIII.
[3] „Hier aber rettet er wenigstens Ich vor der Positivierung. Nicht daß er den wahren Begriff von Ich hätte, das der existierende Begriff selbst ist. Aber er muß wenigstens die Substantialität abwehren, weil sonst die Einheit der transzendentalen Apperzeption nicht die Bedingung der Möglichkeit der Errichtung der Welt der Positivität wäre, sondern ein Stück innerhalb ihrer." (Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, a.a.O., 248; vgl. auch ebd. 258).

daß Existenz im Sinne der KrV aus transzendentallogischen Gründen auf dasjenige restringiert werden muß, was übrig bleibt, wenn formale Logik Erkenntnis- und Seinsprinzip sein können soll: das gesetzte (anschauliche) widerspruchsfreie Dasein im Sinne des Erscheinungsgegenstandes bzw. vorausgesetzte Dasein des transzendentalen Objekts (im Sinne der absoluten Position praeter nos).[1] In diesem Sinne kann Ich keine Existenz haben.

Nun verknüpft sich aber mit der Fixation der Prinzipialität von Ich zugleich ein Problem. Einerseits wird die Prinzipialität von aller Faktizität unterschieden, zugleich wird die Einheit der Entgegengesetzten in Anspruch genommen, so etwa in der Rekonstruktion des sittlichen Bewußtseins, wenn es in der Menschheitsformel des kategorischen Imperativs als die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen und die Einheit von Mittel und Zweck ausgesprochen wird. Wäre das Intelligible, der Zweck, nicht in die Realität einbildbar, so wäre nicht einmal technisch-praktisches Handeln, geschweige denn sittliches Handeln, das den Endzweck zu realisieren hat, möglich.

Daß Prinzipialität und Faktizität von Ich vollständig auseinanderfallen darf also aus Freiheitsgründen nicht sein. Hegels Logik wird im Kapitel über die Idee des Guten zeigen, daß das Sollen des Guten im Sinne des kategorischen Imperativs das Wirklichsein des Guten voraussetzt (wobei freilich dieser Begriff der Wirklichkeit der Freiheit über den Kantischen Erscheinungsbegriff hinausgeht; in der 3. Antinomie wird ja bloß gezeigt, daß Freiheit kein Ding ist). Es bleibt aber beim bloßen Sollen der Einheit der Entgegengesetzten. So war es schon Aufgabe der KdU die Einheit der Entgegengesetzten zu denken.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Leiblichkeit bei Kant zu betrachten. Die Paralogismenlehre der KrV zeigt zunächst, daß Ich als Substanz in der Idee von jeder dinglich-unmittelbaren Objektivität grundsätzlich zu unterscheiden ist. Es wird auch gezeigt, daß die Frage nach der Einheit von Leib und Ich von vornherein nicht mehr im Sinne des cartesischen Substanzendualismus gestellt werden kann.[2] Es stellt eine vorkritische Naivität dar, den Leib zum Ding an sich zu hypostasieren, mit dem das dann ebenso als Ding vorgestellte Ich wechselwirken können soll. Es gilt vielmehr, daß der Leib - auch wenn man ihn als das in bezug auf das Selbstbewußtsein unmittelbarste Objekt ansieht - nicht den Status einer gegen das Ich ursprünglichen Seinsunmittelbarkeit haben kann; er ist immer schon Erscheinung, also Gedachtes (auch alles leibliche Selbstgefühl, das man in der Reflexion als Unmittelbarkeit vorschiebt). Der Leib hat keinen Selbststand gegen das Ich, ist als Moment des Ich gesetzt - daher grundsätzlich auch nur vom Ich her zu denken und zu begründen. Ebenso ergibt sich negativ aus der Restriktion der Erkenntnis auf Erscheinungsgegenständlichkeit, daß es sich bei der Vorstellung einer Seele ohne Leib um ein bloß „vernünfteltes Wesen (ens rationis ratiocinan- tis)"[3] im Sinne eines hypostasierten Prinzips handelt. Allerdings wird in den Vernunftkritiken die
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[1] Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, a.a.O., 279.
[2] Vgl. KrVA 381 ff.
[3]KdU§91.

Notwendigkeit der Leiblichkeit aus dem Begriff des Ich selbst heraus nicht gezeigt.[1] Inwiefern ist der Leib des Ich eine notwendige Erscheinung, etwas Apriorisches - und zwar hinausgehend über das, was nach Kant von einem Objekt als Körper überhaupt a priori gesagt werden kann? Aus der Paralogismen- lehre mag zwar gefolgert werden, daß alle verdinglichenden Auffassung des Leibes auszuschließen sind. Vom Erscheinungsbegriff der KrV her ergibt sich jedoch kein prinzipieller Unterschied zwischen dem menschlichen Leib und anderen Erscheinungsgegenständen. Im Rahmen der praktischen Vernunft zeigt sich dann zumindest indirekt, daß der menschliche Leib nicht als bloß behandelbarer Teil der Welt der Positivität (B. Liebrucks) angesehen werden darf. So wie sittliches Handeln generell nicht einfach im Reich der übersinnlichen Welt statthat, sondern gerade das Übersetzen des Intelligiblen in die äußere Realität bedeutet, so setzt es im Grunde auch voraus, daß die Differenz von Person und Sache sich auch erscheinungsmäßig manifestiert. So ergibt sich bei Kant hinsichtlich des Rechts wie der Moralität die Dignität des Leibes als Mittel zur Realisierung der Freiheit. Im Sinne der praktischen Vernunft muß insgesamt ein Sich-ins-Werk-Setzen des Intelligiblen vorausgesetzt werden. Dies gilt insbesondere für das Recht, wenn es um die Frage nach den Vermittlungsprinzipien der individuellen Sphären äußerer Freiheit geht. Im Begriff des Rechtsverhältnisses ist die Notwendigkeit einer Sphäre äußerer Freiheit, damit die Notwendigkeit einer Besonderung dieser Sphäre, bzw. die Notwendigkeit von Ich im Plural, mithin der Individualität und Leiblichkeit von Ich, vorausgesetzt.

In der KdU ist der Leib - abgesehen vom Problem des Naturzwecks - im Zusammenhang mit dem Ideal des Schönen von Bedeutung. Das Ideal der Schönheit bezieht sich nicht bloß auf die Phänomenalität des Menschen, also auf dasjenige, welches im Sinne der ästhetischen Normalidee zu beurteilen wäre, sondern im Ideal der Schönheit muß das, was der Mensch als Vernunftwesen zu verwirklichen hat, sein intelligibler Charakter, berücksichtigt sein. Das Ideal der Schönheit besteht so darin, daß die Einbildungskraft die wahrhafte Natur des Menschen in ein Bild bringt, das Übersinnliche, den intelligiblen Charakter des Menschen, versinnlicht: Der Leib wird zum sichtbaren „Ausdruck sittlicher Ideen" (KdU A 59). Beurteilt wird also ein Entsprechen von Innerem und Äußerem, von intelligiblem und phänomenalem
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[1] Im Opus postumum wird die Notwendigkeit einer Ableitung der Leiblichkeit gesehen, freilich unter dem Aspekt der Vermittlung der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft mit der Physik. Ein zweckmäßig bewegbarer, organischer Leib sei apriorische Möglichkeitsbedingung von methodisch angestellter Erfahrung. „Wäre das Subjekt nicht körperlich, dann könnte eine Wechselwirkung zwischen ,seinen' Kräften und den äußerlichen Kräften nicht stattfinden. Genau diese Wechselwirkung ist eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt." (Vittorio Mathieu: Kants Opus postumum, hrsg. v. Gerd Held, Frankfurt a. M. 1989, 223 f.) Der Leib ist hier gesetzt als Individuationsprinzip von Erfahrung, durch den „das Allgemeine der Erfahrung mit der einzelnen Erfahrung vermittelt" ist (Hoffmann: Philosophische Physiologie, a.a.O., 215). Wollte man Kants Ansatz im Opus postumum und den Fichteschen Ansatz im Naturrecht vergleichen, so kann man sagen: Kants Ansatz steht im Zeichen der theoretischen Philosophie, näher des Primats des Technisch-Praktischen. Fichtes Ansatz in der Begründung der Leiblichkeit steht dagegen im Zeichen des radikalisierten Primats des Praktischen und ist damit systematisch tiefer: Freiheit überhaupt (nicht bloß Naturerkenntnis) soll wirklich sein können - von da her wird sich die Notwendigkeit von Interpersonalität und Leiblichkeit ergeben.

Charakter. Die Leiblichkeit ist hier also gefaßt als Präsenz des intelli- giblen Charakters.

Diese über die Reichweite der KrV in der Bestimmung der Leiblichkeit hinausgehenden Gesichtspunkte setzen aber den ontologischen Begriff der Erscheinung als Manifestation des Intelligiblen voraus. Eine solche Erscheinung ist freilich nicht Gegenstand im Sinne der natura formaliter spectata, ja es darf sie im Sinne der KrV nicht geben, weil sie den Widerspruch enthält. Kritikfester Gegenstandsbezug ist nur hinsichtlich widerspruchsfreier Entitäten a priori absicherbar, also nur hinsichtlich solcher Erscheinungsgegenstände, die von vornherein nur so angesehen werden, daß sich in ihnen kein Selbst darstellt. Wenn formale Logik Erkenntnisdignität haben können soll, dann ist der Bereich möglicher Erkenntnis eingeschränkt auf die gezeigte Natur. Die Identität eines sich zeigenden Wesens jedoch ist nichts, was a priori bestimmbar und damit technisch beherrschbar sein kann.[1] So bleibt es Kantisch bei großartigen Vorwegnahmen, weshalb Fichte rückblickend festhalten kann:

„Es ist eine bedenkliche Frage an die Philosophie, die sie, meines Wissens, noch nirgends gelös't hat: wie kommen wir dazu auf einige Gegenstände der Sinnenwelt den Begriff der Vernünftigkeit überzutragen, auf andere nicht; welches ist der charakteristische Unterschied beider Klassen?

Kant sagt: handle so, daß die Maxime deines Willens Princip einer allgemeinen Gesez- gebung seyn könne. Aber wer soll denn in das Reich, das durch diese Gesezgebung regiert wird, mit gehören, und Antheil an dem Schutz derselben haben?" (GA I, 3, 380)

Die Antwort auf diese „bedenkliche Frage" wird in der Deduktion der Intersubjektivität grundgelegt und in der Deduktion der Leiblichkeit explizit gegeben.


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[1] Zu dieser Unterscheidung vgl. Thomas Sören Hoffmann: „Gezeigte versus sich zeigende Natur: Eine Skizze im Blick auf das Verhältnis von Labor und Natur", in: Philosophia natu- ralis 43.1 (2006) 142-167.