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Die problematisch-systematische Stellung des Rechts in der Spätphilosophie Fichtes

Patrick Tschirner
In diesem Beitrag werde ich mich mit der systematischen Stellung des Rechts und dessen Verhältnis zur Moral in der Grundlage des Naturrechts von 1796/97 (GNR) und der Rechtslehre von 1812 (RL) beschäftigen. Dies ist insofern ein systematisch relevantes Thema, da in der Rechtslehre von 1812 zwei gegensätzliche Absichten zusammenfallen, die auf drei unterschiedliche Motive zurückgehen: (I.) Fichte hält einerseits an der strikten Trennung von Recht und Moral fest und konzipiert das Verhältnis beider so, daß das autonome und selbstständige Recht die notwendige Bedingung und Voraussetzung zur Verwirklichung der Sittlichkeit ist. In dieser Frage stimmen die Grundlage des Naturrechts und die Rechtslehre vollkommen überein. (II.) Andererseits werden in der Rechtslehre beide Sphären in der Weise aufeinander abgestimmt, daß die Autonomie des Rechts wieder aufgehoben wird: Der letzte Zweck des Rechts und damit des Staates sei nicht in ihnen selbst zu finden, sondern liege in der Sittlichkeit. Das Problem und zugleich die Hauptthese des Beitrags lautet: Fichte hält in der Begründung des Rechts am Autonomiegedanken fest und zugleich verlegt er den Zweck des Rechts in die Sittlichkeit. Durch diese Zielsetzung wird die Idee des Selbstzwecks von Recht und Staat aufgehoben und in ein bloßes Mittel und Instrument der Sittlichkeit verwandelt. Das Motiv zur Instrumentalisierung des Rechts speist sich aus zwei Quellen: Es geht zum einen auf prinzipientheoretische Überlegungen aus den Jahren 1804 bis 1806 zurück und zum anderen ist in Fichtes Spätphilosophie die Grundannahme zu finden, daß rechtliche Probleme im Kern moralisch lösbar sind.
Im folgenden werde ich mich zunächst mit dem Autonomiegedanken beschäftigen und im Anschluß daran mit den beiden Beweggründen zur instrumentellen Auffassung auseinandersetzen. Es geht mir nicht um die Lösung eines nicht zu lösenden Problems, sondern um die Rekonstruktion der drei unterschiedlichen und miteinander konfligierenden Motive.

Die strikte Trennung von Recht und Sittlichkeit
in den Rechtsphilosophien von 1796/97 und 1812​

Im ersten Teil der Rechtslehre von 1812 finden sich zahlreiche Stellen, in denen an der strikten Trennung von Recht und Moral und damit an der Autonomie des Rechts festgehalten wird: Die „Rechtslehre ist kein Teil der Naturlehre [...] aber

auch ferner kein Theil der Sittenlehre, kein praktisches Gesetz."1 Das Rechtsgesetz als Prinzip der Rechtslehre sei daher kein Natur- oder Sittengesetz[1] [2], sondern ein „von der Sittlichkeit unabhängiges Mittel"[3], das um seiner selbst willen gewollt wird. Der Zweck des Rechts liege in ihm selbst[4] und nicht „Liebe, Gunst, Mitleiden", „Gewalt, Klugheit, Sittlichkeit [oder] Nutzen"[5] seien die entscheidenden Motive, im Gegenteil: sie werden nicht vorausgesetzt und allein der Rechtsbegriff soll den Willen bestimmen. Der Eintritt in den Rechtszustand kann laut Fichte zwar auch moralisch geboten werden, dies ist aber keine Frage der Rechtslehre oder der Rechtsbegründung, sondern eben Gegenstand der Moralphilosophie. „Das Recht [...] fällt [...] außerhalb des sittlichen Reichs", denn „das Wesen der sittlichen Erscheinung [besteht] in ganz etwas anderem".[6]

Dieses „ganz andere" besteht darin, daß das Sittengesetz „immer [ein] indi- viduell[es] Gebot für einzelne"[7] ist, es ist „an mich allein gerichtet, und [.] unbedingt". Das Rechtsgesetz hingegen richtet sich nicht an den Einzelnen, sondern an alle Individuen, folglich ist der Rechtszustand „ein Zustand nicht der einzelnen, sondern aller".[8] Das Recht solle die äußere Freiheit sichern und Störungen derselben verhindern: „Nur dieser Störung soll das Rechtsgesetz abhelfen."[9] Im dritten Teil der Fichteschen Rechtslehre heißt es im Strafrecht: „Die bürgerliche Ordnung des Staates aber hat es mit der innern Sittlichkeit, der Liebe des Guten um sein selbst willen, gar nicht zu tun, sondern nur mit der Rechtlichkeit der äußeren Handlungen."[10] [11] Weiterhin heißt es hier: „Die subjektive Bedingung der richtigen Beurteilung dieses Gegenstandes ist die: daß man die Sittlichkeit und die Rechtlichkeit rein geschieden habe, und die letztere gar nicht betrachte als einen Teil der ersteren, sondern nur als ihre Bedingung."11

Fichte hebt aber nicht nur Recht und Moral bei der Begründung und der genauen Abgrenzung der unterschiedlichen Geschäftsbereiche voneinander ab, sondern bestimmt auch das Beziehungsverhältnis beider so, daß das Recht - im Sinne der Vereinbarkeit - die Voraussetzung für die Sittlichkeit sei und erst in einem rechtlichen Raum ermöglicht werde: Erst müsse die Freiheit aller durch ein „von der Sittlichkeit unabhängiges Gesetz der Freiheit" gesichert sein - Fichte spricht hier auch von einem
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[1] Fichte: Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: RL 1812, in: GA II, 13, 199.
[2] Vgl. RL 1812, in: GA II, 13, 198.
[3]RL 1812, in: GA II, 13, 214.
[4] Vgl. RL 1812, in: GA II, 13, 211.
[5]RL 1812, in: GA II, 13, 205/207.
[6]RL 1812, in: GA II, 13, 214.
[7]RL 1812, in: GA II, 13, 198.
[8]RL 1812, in: GA II, 13, 205.
[9]RL 1812, in: GA II, 13, 202.
[10] RL 1812, in: GA II, 13, 270.
[11] RL 1812, in: GA II, 13, 278.

physischen Gesetz -, „ehe das Sittengesetz allgemein erscheinen kann". Erst müssen äußere Zwecke wie die physische Erhaltung und „unsere Sicherheit" erreicht sein - als Bedingungen des höheren Zwecks -, denn das „Sittengesetz wendet sich nur an den von allen äußern Zwecken befreiten [...] Willen". Zusammengefaßt: „Das Recht liegt vor dem Rechte durch das Sittengesetz, als die Bedingung seiner Erscheinung."[1]

Diese Ausführungen stimmen weitestgehend mit den Bestimmungen der Grundlage des Naturrechts von 1796/97 hinsichtlich der Begründung, Zielorientierung, Verbindlichkeit sowie Vereinbarkeit überein: Auch in dieser Schrift sagt Fichte, daß der Begriff des Rechts nicht aus dem Sittengesetz abgeleitet[2] werde und „mit den Sittengesetze nichts zu tun" habe: „Beide Wissenschaften sind schon ursprünglich und ohne unser Zutun durch die Vernunft geschieden, und sind völlig entgegengesetzt." Der Gegenstand des Rechts ist die äußere Freiheit und richtet sich an die sinnliche Präsenz oder die äußere Gegenständlichkeit des Menschen - den Leib. „Der Rechtsbegriff ist der Begriff eines Verhältnisses zwischen Vernunftwesen. Er findet daher nur unter der Bedingung statt, daß solche Wesen in Beziehung auf einander gedacht werden." Aber nur durch Handlungen als Äußerungen der Freiheit in der Sinnenwelt treten „vernünftige Wesen in Wechselwirkung mit einander": „der Begriff des Rechtes bezieht sich [.] nur auf das, was in der Sinnenwelt sich äußert". Es geht um Handlungen, die Folgen für einen anderen haben. Moral unterscheidet sich in diesem Punkt ganz eindeutig vom Recht, denn ihr geht es um die subjektive Geistigkeit und innere, sittliche Freiheit, die laut Fichte keine „Kausalität" in der Sinnenwelt hat.[3] Folglich sind die Ziele beider Sphären auch verschieden: Ziel des Rechtes ist die distribuierte (äußere) Freiheit, Ziel der Sittlichkeit ist die vollkommene, innere „Übereinstimmung des Vernunftwesens mit sich selbst".[4] Ebenso wird der Charakter der Verbindlichkeit von Fichte in unterschiedlicher Weise bestimmt: „Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgesetz erlaubt nur [oder zwingt], aber gebietet nie, daß man sein Recht ausübe."[5] Und weiterhin lasse sich die Erlaubnis - das ist 1796 das entscheidende Argument - nicht aus dem Gebot generieren. Der Eintritt in ein Rechtsverhältnis resultiere letztlich aus meinem freien, willkürlichen Entschluß mit anderen in Gesellschaft zu leben[6], es folge „keinesweges aus einer Verbindlichkeit"[7], sondern umgekehrt: die Verbindlichkeit des Rechts geht auf diesen freien Entschluß zurück und ist letztlich die ursprüngliche Legitimation zur Ausübung von Zwang innerhalb einer Rechtsgemeinschaft. Aber auch in der Grundlage von 1796/97 ist es so, daß das Rechtsgesetz[8] „durch das
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[1] RL 1812, in: GA II, 13, 214.
[2] Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97), in: GA I, 3, 320/321 [abgekürzt: GNR 1796/97].
[3] GNR 1796/97, in: GAI, 3, 359/360.
[4] GNR 1796/97, in: GAI, 3, 321.
[5] GNR 1796/97, in: GAI, 3, 359.
[6] Vgl. GNR 1796/97, in: GAI, 3, 322.
[7] GNR 1796/97, in: GAI, 3, 326.
[8] Der Gehalt der Rechtsregel oder des Rechtsgesetzes wird auch analog zur RL'12 bestimmt: „Beschränke deine Freiheit durch den Begriff von der Freiheit aller übrigen Personen, mit denen du in Verbindung kommst" (GNR 1796/97 - GA I, 3, 320). Oder auch: „Daß von Menschen, die bei einander leben sollen, jeder seine Freiheit einschränken müsse, so daß neben derselben auch Anderer Freiheit bestehen könne" (GNR 1796/97 - GA I, 3, 326).

Gesetz der absoluten Übereinstimmung mit sich selbst (das Sittengesetz) eine neue Sanktion für das Gewissen" erhält; aber diese Frage sei eben ein „Kapitel der Moral" und nicht der „Rechtslehre, die doch wohl eine eigene, für sich bestehende Wissenschaft sein soll."[1] „Auf dem Gebiete des Naturrechts hat der gute Wille nichts zu tun. Das Recht muß sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte".[2]

Das Recht als bloßes Instrument
zur Verwirklichung von Moralität​


Um so erstaunlicher bzw. irritierender ist es, daß sich im ersten und zweiten Teil der Rechtslehre von 1812 programmatische Bestimmungen finden lassen, die in eine ganz andere Richtung weisen: Der letzte Zweck des Staates und damit des Rechts liege nicht in diesen selbst, sondern in der Sittlichkeit bzw. sittlichen Frei- heit.[3] Dies ist aber nicht so zu verstehen, daß der Staat dadurch legitimiert sei, daß er Sittlichkeit durch die Sicherung der äußeren Freiheit ermögliche, sondern der Staat selbst geht in der Sittlichkeit auf. Das Recht wird nicht mehr um seiner selbst willen, sondern um der Sittlichkeit willen gewollt: „Das Rechtsgesetz findet darum eine Anwendung nur, inwiefern das Sittengesetz noch nicht allgemein herrscht", und ist „als Vorbereitung auf die Herrschaft desselben" zu verstehen. „Die allgemeine [...] Herrschaft des Sittengesetzes" hebt das Rechtsgesetz in sich auf.[4] Fichte schreibt zu dieser die Autonomie des Rechts überlagernden Konzeption, daß das Rechtsgesetz auf drei Bedingungen beruhe: 1. einer Mehrheit vernünftiger Wesen, 2. einer gemeinschaftlichen Sphäre, die damit die absolute Möglichkeit der Störung beinhaltet, und 3. „daß diese Störung nicht durch ein andres, und höheres Gesetz aufgehoben sei".[5] Schien es bislang so, daß der Zweck des Staates in der Verhinderung von Störungen der äußeren Freiheit, in der Sicherstellung der Selbsterhaltung und der Rechtssicherheit schlechthin lag und die rechtliche Form des Staates eben dadurch ihre Rechtlichkeit bewies, so sagt Fichte an andere Stelle: „Die rechtliche Form des Staates, die in allem bisherigen liegt, beweist darum gar nichts für die Rechtlichkeit eines gegebenen Staates. Die einzige erweisende Be- dingung [der Rechtlichkeit] ist, daß sein lezter Zwek sei die sittl[iche] Freiheit."[6] Fichte geht hier sogar noch in zweierlei Hinsicht einen Schritt weiter: Falls der Staat sich gegen diesen „lezte[n] Zwek, der Rechtsverbindung"[7] wendet, „kann er nicht von Recht reden, denn er verlezt den Mittelpunkt des Rechts, u[nd] ist selbst unrechtlich, er ist bloßer Zwang und
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[1] GNR 1796/97, in: GA I, 3, 321.
[2] GNR 1796/97, in: GA I, 3, 359.
[3] Vgl. RL 1812, in: GA II, 13,226-229.
[4] RL 1812, in: GA II, 13, 202.
[5] RL 1812, in: GA II, 13, 202.
[6] RL 1812, in: GA II, 13, 227.
[7] RL 1812, in: GA II, 13, 228.

Unterjochung."[1] Das Ziel ist - und dies ist der nächste Schritt -, „daß der Staat, als willenbewegendes Prinzip wegfällt. Er geht [...] darauf aus sich aufzuheben", denn die Sittlichkeit „hebt ihn [...] auf".[2] Fichte faßt selber den entscheidenden Gedanken in einem Satz zusammen: „Wenn das Sittengesez gilt, bedarf es keines besondern Rechtsgesetzes."[3] An dieser Stelle wird deutlich, daß Fichtes Verständnis des Sittengesetzes eben auch eine geschichtliche Dimension hat; ebenso deutlich wird aber auch, daß das Sittengesetz das Rechtsgesetz nur dadurch überflüssig machen kann, indem es dessen Zweck ,nebenbei' miterfüllt bzw. miterfüllen muß. Warum Fichte aber zuvor vom Rechtsgesetz als einem von der Sittlichkeit unabhängigen Mittel spricht, ist dann nicht mehr nachvollziehbar.

Ich denke, daß die Subordination bzw. anvisierte Aufhebung des Rechts auf mindestens zwei Motive zurückzuführen ist. Im folgenden werde ich zunächst das prinzipientheoretische Motive beschreiben und daran anschließend Fichtes Konzeption des Sittengesetzes erläutern. Dadurch soll erhellt werden, daß es bei Fichte trotz der moralunabhängigen Rechtsbegründung die zum Verständnis entscheidende Grundannahme gibt, daß rechtliche Fragen auch moralisch aufgelöst werden können.

Prinzipientheoretische Überlegungen
aus den Jahren 1804 bis 1806

Auf der Basis der Wissenschaftslehre von 1804-II ist noch keine Tendenz auszumachen, daß das Recht der Moralität untergeordnet werden soll. Fichte entwickelt aus der Sichspaltung des absoluten Wissens fünf selbstständige Vernunftbegriffe bzw. Vernunftstandpunkte: Sinnlichkeit (Natur), Legalität (Begriff der gleichen und mannigfaltigen Persönlichkeit), Moralität (Einheit des absoluten Subjekts), Religiosität (Glaube an Gott) und die Wissenschaftslehre (Sichbegreifen des absoluten Wissens als Einheits- und Differenzprinzip).[4]

Etwas anders sieht die Sache in der Vorlesung über die Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1805 aus. Recht und Moral sind Vernunftbegriffe a priori, die aus dem absoluten Wissen deduziert werden können. Fichte hält auch hier an der scharfen Trennung von Recht und Moral fest; beide dürfen nicht verwechselt, vermischt oder durcheinander geworfen werden, denn das Objekt der Rechtslehre ist das „Verhältnis von mehreren vernünftigen Individuen [...] zu einander. Die Rechtslehre ist [.] überhaupt nicht SittenPhilosophie", denn dieser geht es um „ein freies Handeln", also darum, was getan werden soll, „als ob sie [die Individuen] nur Einen Willen [.] hätten" und nur ein Ich wären, „ohne individuelle Spaltung". Die Rechtslehre habe daher „überhaupt gar kein Handeln, sondern ein Seyn, einen stehenden u. festen Zustand,
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[1] RL 1812, in: GA II, 13, 226, Kursivsetzung von mir, P.T.
[2]RL 1812, in: GA II, 13, 228/9.
[3] RL 1812, in: GA II, 13, 214.
[4] Vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahr 1804 vom 16. April bis 08. Juni, gereinigte Fassung hrsg. v. Reinhard Lauth und Joachim Widmann unter Mitarbeit von Peter Schneider, Hamburg (PhB 284) 21986, 281/282 [vgl. GA II, 8, 416/7].

zum Objekte".[1]

Gleichzeitig ist auch eine Tendenz des Verschwindens auszumachen, denn vom Standpunkt des absoluten Wissens - der Wissenschaftslehre - aus „gibt es keine Sitten, oder Rechtslehre, als besondre und selbstständige Wissenschaften", aber auch in der „Gotteslehre, [.] in der Religiosität, im Leben, verschwindet alle Sitten, oder Rechtslehre als absolutes durchaus. Sie umfaßt, und verschlingt in sich alles."[2] Es geht also um zwei Bewegungen: Einerseits soll der Standpunkt der Natur-, Rechts-, Sitten- und Gotteslehre „als selbstständiger" angegeben werden und andererseits soll die Bedingtheit und der verschwindende Charakter des jeweiligen Standpunkts in der Aufhebung durch den nächsthöheren deutlich werden, bis zum Sichverstehen des absoluten Wissens: „Die Erscheinung dieser Wissenschaften, oder ihr Begriff, oder die absolute Herrschaft dieser Begriffe im Leben entstehen daher, daß das absolute Wissen sich selber noch nicht [.] klar geworden und in seinen Urquell zurückgekehrt" ist.[3]

In den Ausführungen dieser Principien-Vorlesung findet sich aber nur wenig Erhellendes zur Rechtsphilosophie. Im maßgeblichen 17. Vortrag bilden Sittlichkeit und Sinnlichkeit den eigentlichen Gegensatz. Die Natur sei lediglich um der Moralität willen da - sie bleibt also auch hier nur Material der Pflichterfüllung - und empfange von dieser aus die Zweckbestimmung ihres Daseins. „Der kategorische Imperativ oder die sittl[iche] Welt soll [.] absolut sein; aber er kann nicht sein, wenn nicht die Wahrnehmung oder die sinnliche Welt ist".[4] Diese Form des Gegensatzes und Aufeinanderbezogenseins macht ein synthetisches Mittelglied erforderlich - das Recht. Dieses liegt „zwischen der sittlichen und der sinnlichen Welt, und [ist] als ihr Vereinigungsband" zu verstehen, dennoch gehört, so Fichte, dieses Zwischen-„Reich der naturfreien, und naturkräftigen Iche" in die „Sphäre der Sittlichkeit".[5]

Es geht an dieser Stelle darum, deutlich zu machen, daß das Recht in dieser Vorlesung für Fichte nur aufgrund des zu vermittelnden Gegensatzes zwischen

Natur und Freiheit von Bedeutung ist - auch in der RL 1812 spricht er vom „Mittelglied"[6] - und er das Recht, trotz der angekündigten selbstständig-verschwin- denden Position, letztlich doch der „Sphäre der Sittlichkeit" zuordnet.

Eine etwas andere Form der Unter- und Einordnung des Rechts konzipiert Fichte in der Anweisung zum seligen Leben von 1806: Fichte entwirft hier ein umfassenderes, Recht, Moral und Religion umgreifendes Sittlichkeitskonzept, das in abgewandelter Form in der RL 1812 anzutreffen ist. Der zweite Standpunkt ist in der Anweisung nicht einfach derjenige der Legalität, sondern dieser Standpunkt umfasst sowohl das Prinzip des gleichen Rechts als auch das Sittengesetz in der Form des Kategorischen
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[1] Fichte: Die Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre. Februar und März 1805, in: GA II, 7, 379 [abgekürzt: Principien 1805].
[2] Principien 1805, in: GA II, 7, 381.
[3] Principien 1805, in: GA II, 7, 381.
[4] Principien 1805, in: GA II, 7, 449.
[5] Principien 1805, in: GA II, 7, 450.
[6] RL 1812, in: GA II, 13, 199.

Imperativs; Fichte spricht hier von niederer Moralität. Der Standpunkt der höheren Moralität geht zwar auch vom Sittengesetz aus, sein Ziel ist es jedoch, „die Menschheit ... in der Wirklichkeit zu dem zu machen, was sie, ihrer Bestimmung nach, ist, [...] zum [...] Abbilde [...] des innern göttlichen Wesens."[1]

Wie auch immer dieser Verteilung der Moralität auf zwei Standpunkte bewertet werden mag[2], entscheidend ist, daß ab 1805 insgesamt eine Tendenz der Unter- und Einordnung des Rechts festzustellen ist.

Die Aufhebung des Rechts durch die Sittlichkeit

Der weitaus interessantere und für die Frage der Rekonstruktion der verschiedenen Motive, die in der RL 1812 zusammenfließen, aufschlußreichere Aspekt ist Fichtes Grundannahme, daß rechtliche Probleme im Kern moralisch aufgelöst werden können. Dies ist die wahre Quelle für Fichtes These, daß das Recht in einer vollendeten Herrschaft der Sittlichkeit überflüssig werde und der Staat sich selber aufhebe und absterbe.

Bereits in der Grundlage von 1796/97 findet sich folgende und zunächst bedenklich stimmende Äußerung: „Für eine Gattung vollendeter moralischer Wesen gibt es kein Rechtsgesetz." Diese für die GNR äußerst ungewöhnliche Formulierung - da sie durchgehend und auf allen Ebenen an der strikten Trennung von Recht und Moral festhält - wird aber sofort entkräftet, in dem Fichte hinzufügt, daß diese Gattung nicht die Menschheit sein kann. Dies werde allein schon dadurch ersichtlich, daß der Mensch „zur Moralität erzogen werden, und sich selbst erziehen muß; weil er nicht von Natur moralisch ist, sondern erst durch eigene Arbeit sich dazu machen soll."[3] Diese Textstelle ist also nicht in der Weise zu interpretieren, daß Fichte bereits schon 1796/97 eine moralische Lösung im Blick gehabt habe und diese Idee erst 1812 von ihm richtig entfaltet worden sei, im Gegenteil: Diese Äußerungen markieren sehr deutlich die Differenz zwischen 1796/97 und 1812. .Vollendete moralische Wesen' sind hier - mehr in der Richtung eines Gedankenexperiments - als rein geistige Wesen zu verstehen und diese haben den Vorzug, sich nicht räumlich auszudehnen. Bei rein geistigen Wesen ist eine Störung der äußeren Freiheit unmöglich, da diese nur dann vorliegen kann, wenn der Wirkungskreis in der physischen und eben nicht nur rein geistigen Welt eingeschränkt wird - und Fichte spricht auch nicht ohne Grund vom Rechtsgesetz als einem physischen Gesetz.[4]

Wie weit sich Fichte in der Rechtslehre von 1812 von diesen grundlegenden
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[1] Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionsphilosophie (1806), in: GA I, 9, 109.
[2] Die Konzeption der Anweisung wirft mindestens zwei Probleme auf: 1. Bleibt unklar, wie die fünf Vernunftstandpunkte mit der Konzeption der drei Wissenschaftslehren von 1804 in Übereinstimmung gebraucht werden können. 2. Wird nicht deutlich, wieso es zwei Sittengesetze gibt - den Kategorischen Imperativ und das göttliche Sittengesetz, das die Realisierung des Bildes Gottes fordert.
[3] GNR 1796/97, in: GA I, 3, 432.
[4] Vgl. RL 1812, in: GA II, 13, 214.

Einsichten entfernt hat, wird in seinen Äußerungen zu Inhalt und Funktion des Sittengesetztes deutlich: Das Sittengesetz der Spätphilosophie ist seinem Gehalt nach nicht der Kategorische Imperativ, der die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaximen einfordert und die Übereinstimmung mit mir selbst zum Ziel hat, sondern das sittliche Gebot lautet, „das Bild Gottes zu realisieren", und entspricht damit dem dritten Standpunkt der höheren Moralität in Anweisung zum seligen Leben. Das nun folgende Problem entspringt aber nicht aus dieser allgemeinen Bestimmung, denn auch dieses Sollen richtet sich an das einzelne Individuum und „ist nur ein Teil des Einen Bildes, das alle mit gemeinschaftlicher Kraft hervorbringen [...] und ist nur zum Teil von jedem hervorzubringen".[1] Das heißt, die allgemeine Forderung der Realisation des göttlichen Bildes erfährt eine individuelle Brechung. Was nun in der Tat Probleme aufwirft, ist die besondere Bestimmung, daß dieses göttliche Sittengesetz „sich in seinen Geboten an die Einzelnen und in seinen Aufgaben nicht widersprechen" kann: „Was dem einen geboten ist, ist dem andern gewiß nie geboten. [.] Wie durch ein unverbrüchliches Naturgesetz sind ihre Bahnen von einander geschieden."[2] Wenn dem so wäre, wären in der Tat Störungen und Eingriffe ausgeschlossen und das Rechtsgesetz überflüssig. Meines Erachtens ist aber diese besondere Bestimmung des Sittengesetzes lediglich eine Unterstellung Fichtes, die sich nicht ohne weiteres aus der allgemeinen ableiten läßt. Dies zeigt sich auch in der eher schwachen Begründung, die Fichte liefert: Das göttliche Bild sei eine Einheit, die „eine organische Einheit aus Geboten an alle Individuen" sei und daher können sich die Gebote nicht widersprechen „oder einen Widerstreit begründen".[3] Letztlich funktioniert diese Konzeption nur dann, wenn man annimmt, daß die individuellen Gebote vorher gehaltlich auf irgendeine Weise festgelegt wurden. Ohne die inhaltliche Vorbestimmung kann nicht einsichtig werden, wie durch das Sittengesetz Störungen der Freiheitssphären verhindert werden sollen, d. h. warum das Sittengesetz überhaupt die Aufgaben des Rechtsgesetzes miterfüllen kann. Denn die Notwendigkeit des Rechts besteht in der Verhinderung der Störungen der äußeren Freiheitssphären zwischen den Individuen. Meines Erachtens ist nicht klar, wie dieses Problem durch ein moralisches Gebot im Sinne Kants oder im Sinne des späten Fichte bewältigt werden kann. Weder kann noch muß ein moralisches Gebot dieses lösen, weil es einfach nicht zu seiner Aufgabe gehört. Das allgemein sittlich-göttliche Gebot der Realisierung des Bildes Gottes kann nur dann die Angelegenheiten des Rechtsgesetzes mitregeln, wenn Fichte die weiter nicht einholbare Voraussetzung zugestanden wird, daß in der individuellen Anwendung des göttlichen Gebotes eine unverfügbare inhaltliche Festlegung erfolgen muß.

III. Fazit​



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[1]RL 1812, in: GA II, 13, 201/2.
[2]RL 1812, in: GA II, 13, 213/4.
[3] RL 1812, in: GA II, 13, 202.

Es sollte deutlich geworden sein, daß in der RL 1812 tatsächlich zwei unterschiedliche Absichten auszumachen sind, die auf mindestens drei verschiedene Überlegungen zurückgehen: (1) die autonome, moralunabhängige Begründung, die zur strikten Trennung von Moral und Recht führt; (2a) die prinzipientheoretischen Überlegungen sowie (2b) die zuletzt behandelte Grundannahme, die zu einer Instrumentalisierung und Aufhebung des Rechts führen. Meines Erachtens können diese drei Überlegungen nicht zu einer kohärenten Theorie zusammengefügt werden. Meines Erachtens stellt nicht das sittlich-göttliche Gebot der Realisierung des Bildes Gottes eine Schwierigkeit da, sondern das eigentliche Hauptproblem ist die Grundannahme, daß der Inhalt des Gebots individuell festgelegt sei und es deshalb zu keiner Störung der Freiheitssphären kommen kann. Meines Erachtens überfordert Fichte das göttliche Sittengesetz, wenn er behauptet, daß es dies zu leisten vermag. Es erinnert vielmehr an den „unsterbliche[n] Leibniz".[1]

Wenn ein Moralgesetz die Störungen äußerer Freiheit tatsächlich verhindern könnte, müßte es eine viel intimere Verbindung zwischen Rechts- und Sittengesetz geben, die das starke Votum für die strikte Trennung in der RL 1812 dann nur um so mehr als unsinnig erscheinen ließe. Weiterhin ist aber auch zu bedenken, ob Rechtsstreitigkeiten tatsächlich nur dadurch entstehen, daß sich Menschen unmoralisch verhalten oder anders formuliert, ob Rechtskonflikte durch ein vollständig moralisch richtiges Verhalten verhindert werden können oder diese nicht trotzdem entstehen können, weil es eben den Bereich der äußeren und nicht der inneren Freiheit betrifft.

Fichte hat sicherlich Recht, wenn er sagt: „Jeder Mensch geht durch den Staat hindurch, aber er geht nicht in ihm auf".[2] Das bedeutet aber nicht, daß Recht und Staat lediglich eine Stufe in der geschichtlichen Genese allgemeiner Sittlichkeit sind, die irgendwann vollkommen überflüssig wird. Recht und Staat sind Mittel zur

Realisierung von äußerer Freiheit und gerade darin besteht ihre Selbstzweckhaf- tigkeit. „Das Recht hat die formale Freiheit aller als Möglichkeitsbedingungen von Sittlichkeit zu garantieren"[3] und gerade darin besteht die Notwendigkeit seines Bestehenbleibens. Fichte hätte genauso gut seine prinzipientheoretischen Überlegungen von 1805, wo er vom selbstständig-verschwindenen Charakter der Rechtslehre ausgeht, mit dem Gedanken einer autonomen, moralunabhängigen Rechtsbegründung verbinden können. Daß Fichte von diesem Gedanken letztlich nicht lassen konnte und in dieser Frage offenbar mit sich uneins war, dokumentiert die Rechtslehre von 1812 nur allzu deutlich.


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[1] Fichte: Rezension Aenesidemus, in: GA I, 2, 61.
[2] RL 1812, in: GA II, 13, 225.
[3] Verweyen, Hansjürgen: Recht und Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg / München 1975, 277.