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Die Überwindung des instrumentellen Rechtsdenkens in der Philosophie Fichtes

Eine Einführung

Thomas Sören Hoffmann

Recht als vernunftgemäße Koexistenzordnung
endlicher Vernunftwesen​


Eine der größten Errungenschaften der kritischen Philosophie Kants in praktisch-philosophischer Hinsicht besteht in der Einsicht in die philosophische Option einer nicht-ontologischen, gleichwohl aber apriorischen Fundierung des Rechtsbegriffs. Es ist klar, daß eine solche Einsicht gerade dann von Bedeutung ist, wenn wir uns darum bemühen, die möglichen Extreme des Denkens von Recht abzuschreiten und dabei vor allem einen normativen Vernunftrechtsbegriff von einer rein instrumentellen (z. B. machiavellistischen) Rechtsauffassung sehr grundsätzlich zu unterscheiden. Wenn Platon das Recht ontologisch fundiert hat, Machiavelli es dagegen den Bedürfnissen der Staatsräson ausgeliefert und insofern instrumentell gedacht hat, so lenkt Kant und in seinem Gefolge die Philosophie des Deutschen Idealismus insgesamt die Aufmerksamkeit darauf, daß es noch einen dritten Weg geben könnte: den Weg der Deduktion des Rechts zwar nicht in allen seinen einzelnen positiven Bestimmungen, dennoch aber seiner Grundidee und seinen Rahmenbestimmungen nach aus der Vernunftnatur des Menschen als solcher.

Kant hat lange vor dem Erscheinen seiner eigentlichen, in der Metaphysik der Sitten enthaltenen Rechtslehre bereits davon gesprochen, daß der Begriff des Rechts eine „Synthesis a priori" enthalte1 - eine These, deren Kern sich immer auf die Synthesis von Vernunft und Freiheit auf der einen Seite, empirischer Welt auf der anderen bezieht. Kants diesbezügliche Position ist von allen Denkern des Deutschen Idealismus früh aufgenommen und fortentwickelt worden: von Schelling bereits in seiner Neuen Deduktion des Naturrechts von 1796, von Hegel in den einschlägigen Texten zum Problem des Rechts und des objektiven Geistes schon der Jenenser Zeit, schließlich von Fichte mit seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1796. Auch andere Autoren wie Salomon Maimon oder Carl Christian Erhard Schmid haben gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Kant her den Naturrechtsgedanken vernunftrechtlich zu rekonstruieren versucht, und jedenfalls zeigt die schnelle Abfolge von Publikationen zur Rechtsphi- [1]
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[1] Kant: Kritik der reinen Vernunft A 728 / B 756.

losophie kantianisch inspirierter Autoren an, daß die idealistische Philosophie dem Recht als objektiv-praktischer Vernunftgestalt eine zentrale Bedeutung zumaß. Kant selbst, mehr jedoch noch seine Nachfolger haben dabei in vielerlei Hinsicht herausgearbeitet, inwiefern das Recht integraler Bestandteil eines vernünftigen Selbstverhältnisses und -verständnisses des Menschen ist. Insbesondere die These Fichtes ist es, daß wir uns nicht als mitten in der Empirie dennoch in vernunftgemäßen Relationen stehende Vernunftwesen verstehen könnten, wenn wir uns dabei nicht selbst als der Rechtsidee verpflichtete Wesen verstünden. Wir werfen dazu zunächst einen Blick auf Fichtes frühe Naturrechtslehre!

Bei Fichtes erstem Naturrecht handelt es sich um einen Text, der zusammen mit Hegels Rechtsphilosophie den fraglosen Höhepunkt des Rechtsdenkens im Deutschen Idealismus bildet. Berühmt ist dieser Text vor allem, weil er als erster die in den Konsequenzen weitreichende Theorie von der Anerkennung als für die Empi- rizität des Vernunftwesens konstitutiver Relation vorgetragen hat. Ein „endliches Subjekt" (dieser Ausdruck enthält unter Fichteschen Prämissen natürlich ein Paradox, einen Widerspruch, der auf Lösung drängt) ist nach Fichte ohne juridisch relevante Anerkennungsrelationen nicht denkbar: Fichte ist der erste Autor, der in aller Konsequenz die Konstitution des Rechts in der Selbstkonstitution des Subjekts als eines endlichen Freiheitswesens verankert und der insofern das Recht auch konsequent reflexiv begründet - Rechtsfindung ist in bestimmtem Sinne Selbstfindung, ist Sich-finden als wirklich vernünftig und wirklich frei in einer endlichen Welt. Fichte, der sich bei Erscheinen seines Naturrechts nur erst auf Kants Friedensschrift beziehen konnte und dies auch tat, versteht sich wie Kant als Transzendentalphilosoph, seine Rechtslehre entsprechend als eine transzendentale Deduktion des Rechtsbegriffs. Er übertrifft Kant jedoch in der Stringenz und Durch- geführtheit dieses Deduktionsanspruchs zugleich bei weitem. Das gilt schon für den theoretischen Rahmen seines Programms, den Rahmen der zu einer „Wissenschaftslehre" (WL) fortentwickelten Transzendentalphilosophie. Der Grund- und Angelbegriff der WL ist, wie man weiß, der Begriff des Ichs, und dieses Ich ist zunächst der allgemeine „Filter", den alles, was überhaupt bestimmte Bedeutung erlangen soll, passieren muß; die Form des Ichs ist so die notwendige Klammer um alle objektiven Gehalte und von daher auch nicht selbst etwas in der Welt dieser objektiven Gehalte, sondern, wenn man so will, der Ursprung von Welt oder doch von aller bestimmten Welthabe. Aber der Sinn von Ich ist dabei nicht nur ein formaler, wie die Bilder vom Filter oder der Klammer nahelegen könnten. Fichte überschreitet die Formalität des Kantischen „Ich denke", das „alle meine Vorstellungen muß begleiten können", hin auf einen materialen oder, wenn man so will, energetischen Sinn von Ichheit oder Subjektivität. Ich ist die sozusagen „elastische" Selbstheit vor aller objektiven Fixation, es ist reine Selbstsetzung, und es erhält sich auch gegen die objektive Welt immer als dieser Elan oder die Macht, das Objektive aufzulösen und in ein Subjektives zu verwandeln - es erhält sich als ursprünglich praktischer Impuls.

Wir können uns den genaueren Grundgedanken Fichtes hier nur in äußerster Kürze vergegenwärtigen. Das Programm einer WL überhaupt ist, wie sich aus dem Gesagten bereits ergibt, die Darstellung aller Bestimmtheit als einer Funktion des grundsätzlichen Fürmichseins, der Ichlichkeit oder absoluten Subjektivität von Bestimmtheit. Zwar liegt in aller objektiven oder gegenständlichen Bestimmtheit immer auch ein Moment unableitbarer Nicht-Subjektivität; Fichte spricht hier vom „Anstoß", dem letzten Rest des Kantischen „Dings an sich", das wir, allerdings sofort in einer dynamischen Beziehung auf das Ich, noch antreffen. Aber dieses Nicht-Subjektive gefährdet doch die subjektive Selbstsetzung nicht, es zwingt sie nur dazu, sich als ein Entgegensetzen darzustellen, das sich auch darin, auch angesichts der objektiven Welt, nur selbst erhält. Der Begriff einer objektiven Bestimmtheit, die den Selbsterhaltungsbedingungen von Subjektivität überhaupt widerspräche, ist nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre ein hölzernes Eisen, und die Wissenschaftslehre insgesamt verfolgt, wie man auch sagen kann, das Programm, die allem Erkennen wie Handeln schon zugrundeliegende Autonomie des Subjekts als Bedingung der Möglichkeit sei es eines Erkenntnisobjekts, sei es eines Gegenstands von Handlungen, herauszustellen. Das Subjekt hat dann generell zwei Möglichkeiten, sich dem Objekt als seiner eigenen Funktion gegenüber zu positionieren: einmal passiv, d. h. es setzt sich als bestimmt durch das Objekt; das andere Mal aktiv, d. h. es setzt sich als das Objekt selbst bestimmend. Das eine ist die theoretische, das andere die praktische Einstellung - Fichte geht davon aus, daß im wirklichen Leben immer beide Einstellungen ineinander liegen, daß wir uns also niemals rein theoretisch oder kontemplativ und auch niemals rein praktisch, d. h. ohne zumindest implizit theoretischen Begriff des Objekts unseres Handelns, verhalten. Dennoch folgt Fichte zugleich auch Kants These vom Primat des Praktischen, denn in der Tat ist die Bewegung des Bestimmens bzw. der Selbstbestimmung die grundlegendere im Vergleich zu der auf sich zurückkommenden Bewegung des Sich-als-Bestimmt-Setzens der theoretischen Einstellung. Uns muß die theoretische Seite der Sache jetzt nicht interessieren, und wir begnügen uns daher mit dem Hinweis, daß Fichtes diesbezügliche Leistung die Durchführung des Satzes ist, daß nur ein Freiheitswesen Wissenschaft haben kann (die Tiere haben keine) und daß darum ebenso sehr alle menschlichen Wissenschaften nichts anderes als Chiffrierungen konkreter Freiheit sind. Das heißt dann auch, daß es prinzipiell keine Wissenschaft gibt, der nicht schon, wenn auch verborgene, Freiheitsambitionen zugrunde lägen. Für unsere Frage nach Fichtes Rechtsdenken entscheidend ist dann freilich die andere, die praktische Seite: der Begriff der Subjektivität, insofern sie sich (für sich) als bestimmend, als determinierend tätig setzt. Wir bemerken nach Fichte in aller Regel nicht, welche ontologischen und auch „kosmologischen" Prämissen wir schon gemacht haben, wenn wir uns auch nur zu der allereinfachsten Handlung entschließen; wir bemerken nicht, daß wir immer schon eine „Plastizität" des Objekts und der äußeren Welt überhaupt voraussetzen, daß wir uns eine Kausalität auf diese plastische Welt zuschreiben, damit aber auch eine zumindest relative Kontinuität zwischen Subjekt und Objekt, eine Affinität von Wille und Welt unterstellen, ja, daß wir immer schon der Meinung sind, die äußere Welt generell zum Mittel unserer Zwecke machen zu können, sie also für unsere Zwecksetzungen subsumierbar halten. Auf der anderen Seite ist das bewußte praktische Verhältnis aber auch dadurch bestimmt, daß das Subjekt sich als hier und jetzt durch ein Objekt faktisch eingeschränkt weiß, eine Einschränkung, die durch die Praxis ja gerade aufgehoben werden soll. Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich nach dem allen (sagt Fichte) nicht selbst setzen - nämlich zugleich seiner Vernünftigkeit wie seiner Endlichkeit nach -, „ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben". In allen unseren Handlungen liegt als Grundimpuls der Wille, Vernunft an die Stelle von Endlichkeit zu setzen, die Schranken der Endlichkeit zu überrollen. Die ärgste Zumutung für ein Vernunftwesen ist es, bloße Faktizität (und sei es die Faktizität der Macht) auch als Autorität anerkennen zu sollen, denn dies wäre schon die Aufforderung, die eigene Vernunftnatur zu verleugnen. Dagegen liegt in jeder Handlung schon die prinzipielle Nichtanerkennung der Autorität des bloß Faktischen und insofern, wenigstens in einem formalen Sinne, an sich immer Vernunft - auch wenn deshalb inhaltlich natürlich noch nicht jede Handlung vernünftig ist. Wir können auch sagen: unsere Vernunftnatur erhält und beweist sich gerade erst über das Handeln, über das Nichtanerkennen des bloß Faktischen und seine Ersetzung durch ein freiheitlich Vermitteltes. Zu sagen, daß ich ein endliches Vernunftwesen bin und daß ich ein potentieller Urheber von Handlungen bin, ist insofern das gleiche. Denn meine Vernünftigkeit erfährt sich nur im Widerstreit mit dem Objekt, also als unmittelbar endliche Vernünftigkeit, die doch zugleich über das Objekt hinausgreift und als Vernunft, nicht als selbst ein Objekt, beansprucht, dem Objekt das Gesetz geben zu können. Die gesetzgebende Vernunft, die nicht selbst ein Objekt ist, ist freie Vernunft, und sie hat konkretes Freiheitsbewußtsein in dem Bewußtsein reeller Wirksamkeit auf das Objekt. Für Fichte heißt dies, daß das endliche Vernunftwesen sich eine zunächst unvernünftige, zumindest durch Vernunft- privation gekennzeichnete Welt entgegensetzt (eine äußere Sinnenwelt), daß es sich aber auch selbst als Impuls reeller Selbsterhaltung in diese Welt „hineinsetzt". Das endliche Ich kann sich als solches nur in Welt, in Welt aber nur als deren effizient tätige Aufhebung wissen. Als effiziente Wirksamkeit in einer Sinnenwelt setzt sich das Subjekt jedoch als selbst ein Sinnliches, als eine seinerseits anschauliche Ursache von Modifikationen der Sinnenwelt. Es muß sich damit sinnlich individuie- ren, sich ein Bild von sich als individuellem Freiheitsfaktor in der äußeren Welt machen. Das handelnde Ich verläßt im wirklichen Handeln seinen rein transzendentalen, prinzipientheoretischen Status, es „kontaminiert" sich, wenn man so will, mit Objektivität, indem es sich individuiert. In der wirklichen Welt wirken (d. h. handeln) niemals reine Prinzipien, sondern nur Individuen, und nichts ist so individuell wie eine reelle Handlung. Die Frage ist nun aber, wie dies geschehen kann, daß „ich mich individuiere", d. h. zu einem Sinnengegenstand mache, der doch zugleich Ich, d. h. eine „übersinnliche" Freiheitsinstanz ist und nur als solche auch für sich ist. Durch die objektive Natur alleine kann dies nicht geschehen, denn von ihr her gedacht bin ich allenfalls eine (mechanische) Ursache, kein Freiheitswesen, ein Es, kein Ich. Fichte hat auf diese Weise das Problem der „Inkarnation" der Subjektivität gestellt, und das Reich des Rechts ist, wie wir hier abkürzend sagen können, eo ipso das Reich inkarnierter Subjektivität, in dem freilich dann auch andere Gesetze gelten müssen als bloße Naturgesetze. Rechtsverhältnisse bestehen weder zwischen abstrakten Subjektivitäten noch zwischen reinen Naturgegenständen. Die Gesetze des Reiches des Rechts sind weder logische Prinzipien der Verständigung von Subjekt zu Subjekt, denen zum Beispiel der wissenschaftliche Diskurs folgt, noch sind es einfach Gesetze der Objektivität, unter denen bloße Naturdinge stehen; es sind vielmehr Gesetze einer zwar einerseits ebenfalls äußeren und insofern objektiven, andererseits aber doch auf Subjektivität hin transparenten Welt. An dieser Stelle liegt einer der fundamentalen Unterschiede zum „machiavellistischen", instrumentellen Rechtsbegriff: einen Rechtsbegriff, der sich selbst darauf beschränkt, ein mechanischer Kräftekalkül in Beziehung auf naturgegenständlich aufgefaßte Subjekte zu sein.

Der Begriff eines Sinnenwesens, das doch zugleich Ich ist und in ein solches Reich sich erhaltender inkarnierter Subjektivität eintreten soll, setzt damit aber auch schon voraus, daß da andere, korrelative „Objekte" sind, die ebenso Subjekte, ebenso zur Freiheit bestimmte Wesen sind. Er setzt voraus, daß da andere Sinnenwesen sind, die mich als Ich, nach der Ordnung der intelligiblen Beziehungen und nicht als Naturgegenstand behandeln; er setzt eben damit auch schon „andere endliche Vernunftwesen" voraus, mit denen ich in eine Interaktion trete, die eben nicht einfach ein gegenständliches Wechselwirkungsverhältnis ist: nur so ist humane Selbsterhaltung, ja Selbstwerdung im Medium der Objektivität denkbar. „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch", sagt Fichte[1]; es gibt sozusagen ein Apriori des anderen Ich, und schon der Begriff des eigenen Ich als eines inkarnierten und (dialektisch) insoweit eben anderen Ichs enthält dieses apriorische Bedürfnis, Ich als anderes, als empirisch überhaupt different gesetztes und insofern auch „multipliziertes" zu denken. Ein vollständiger Solitär, der einen einsamen Kampf mit der Natur zu bestehen hätte, würde, einfach gesprochen, niemals ein wahrhaft humanes Niveau erreichen, sondern in über sich selbst bewußtlos bleibender Freiheit verdämmern. Oder anders: endliches Ich ist schon als solches (als logische Form) das Bedürfnis des anderen endlichen Ichs ; denn Ich kann als Ich praktisch nur durch Ich beschränkt und verendlicht werden. Die Wechselwirkung unter Menschen als Menschen ist, wie gesagt, kein objektives, kein naturgesetzliches Verhältnis, auch wenn empirisch-psychologische Schulen wie der Behaviorismus immer wieder gerade dies zu behaupten versucht haben. Die Wechselwirkung unter Menschen als Menschen ist ein notwendig freiheitliches Verhältnis, in dem die Freiheit des einen die des anderen wesentlich nicht aufhebt, sondern durch ihre Einschränkung gerade erst evoziert. Nur, wo Menschen sich nicht als Menschen, sondern als Naturgegenstände behandeln (das ist die Logik des Verbrechens, aber auch der Zwangsgewalt des Rechts, die auf das Verbrechen antwortet), gewinnt ihr Verhältnis „naturgesetzlichen" Charakter, in welchem notwendig alle Anerkennungsqualitäten fehlen.
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[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/ 97), § 3, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA I, 3, 347. Die weiteren Zitate aus dieser Schrift sind im laufenden Text nachgewiesen.

„Anerkennung" meint, daß das spezifische Verhältnis, das ich als freie Ursache in der Sinnenwelt einnehme, nämlich das Verhältnis überhaupt Ursache und nicht Wirkung von anderem zu sein, hier, angesichts des anderen Menschen, zurückgenommen oder suspendiert ist. Der andere ist sozusagen immer die grundlegende Interventionsgrenze meiner Handlungen - übrigens die einzige, die ein freiheitliches Rechtsverhältnis kennt. Nur, indem ich die Interventionsgrenze am anderen beachte, weiß ich auch elementar um mein Urrecht, nämlich das Urrecht, ein Anerkannter zu sein. Anerkennung heißt auch, daß ich als bloßes Wesen mit Menschenantlitz, eben als sinnliche Präsenz, schon über dieses Urrecht verfüge, nicht erst als ein Erkannter, als einer, der schon unter bestimmte Begriffe reellen Menschseins subsumiert worden ist.

Worauf aber bezieht sich die Anerkennung in Rechtsakten, was zieht meinem „Ursachesein" die fühlbare und mich dann auf mich selbst zurückwerfende Grenze? Das Objekt der Anerkennung ist immer nur die Freiheitsnatur als solche, nicht schon die konkrete Weise der Realisierung dieser Freiheit. Das Primärobjekt freilich der Anerkennung ist der menschliche Leib, der als äußere Freiheitsinstanz, als sittliches Symbol einer Bestimmung zur Freiheit und also von Selbstbestimmung zu betrachten ist und der insoweit als solcher eine Rechtsgrenze zieht. „Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig", sagt Fichte im § 6 des Naturrechts, und er ist der Überzeugung, daß sich dies, der Vernunft der Sache gemäß, schon unmittelbar, schon ganz intuitiv und noch vor aller ,Zersplitterung durch den Philo- sophen' so verhält (§ 6 - GA I, 3, 383). „Heilig" bedeutet hier, daß eine rein sinnliche Grenze, die Grenze, die ein fremder Leib als Instanz von Ich hier zieht, als doch zugleich unübersteigliche Grenze gewußt ist, auch wenn sie empirisch durchaus überstiegen werden könnte. In der Rechtslehre von 1812 hat Fichte diesen Sachverhalt in die prägnante Formulierung gefaßt: „Mit der Freiheit des Leibes geht die Freiheit an"[1]. Das Recht allgemein ist dann das System der leiblichen Anerkennungsgrenzen, mit denen wir die Sinnenwelt sozusagen parzellieren, um individuelle Freiheitswesen als frei wirksame Vernunftwesen koexistieren zu lassen. Fichte deduziert zwar auch in seiner Ethik, deren erster Entwurf mit dem System der Sittenlehre von 1798 nur wenig mehr als ein Jahr nach dem Naturrecht erschien, die Individualität als konstitutives Moment im Begriff eines frei handelnden Subjekts[2]. Aber das Programm der Ethik als solcher ist dann doch immer die „Entindividua- lisierung", die Einpflanzung des allgemeinen Willens in das Individuum, das in einem vollständig durchgeführten ethischen Zustand als solches zu verschwinden hätte. Das Recht dagegen affirmiert - wir denken hier auch an Schelling, der in seiner Neuen Deduktion des Naturrechts von 1796 das Recht als eine Ordnung des individuellen Dürfens gegen das allgemein-moralische Sollen der Moral darstellt - die Individualität, es toleriert sie nicht nur, sondern erkennt sie als Anwendungsgrund wie auch als Anwendungsbedingung der Rechtsidee. In einer Welt ohne Individuen bedürfte es nicht nur des Rechtes nicht, es könnte das Recht in ihr
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[1] Fichte: Das System der Rechtslehre (1812), in: GA II, 13, 219.
[2] Vgl. besonders Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), § 18, III, in: GA I, 5, 198 f.

auch nicht geben, weil sozusagen die ersten Adressaten des Rechtsimperativs fehlten. Während der Zielbegriff der Ethik (zumindest bei Fichte) der Begriff einer vollständig kontinuierlichen Vernunftordnung, einer reinen „Übereinstimmung", wie Fichte sagen kann, „aller mit allen über alles" ist[1], ist der Zielbegriff des Rechts eine diskrete Vernunftordnung, eine Ordnung nicht kollektiver, sondern distribuierter Freiheit, in der sich das Individuelle und die Endlichkeit der Vernunft gerade erhält - und zwar durchaus im Interesse von Vernunft, nicht, um sie zu unterlaufen. Der instrumentelle Rechtsbegriff kennt bereits den Gedanken der vernünftigen Freiheitsdistribution nicht. Er verbleibt in der Logik der Macht und damit der Freiheit ihrer jeweiligen Inhaber. Bereits den Gedanken von „Urrechten", den Fichte, über Locke weit hinausgehend, jetzt entwickelt, kann er, so er denn konsequent ist, nicht wirklich vertreten.


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[1] Vgl. dazu Fichte: Vorlesung über die Moral (SS 1796), in: GA IV, 1, 122 f.