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Fichtes Theorie der peinlichen Gesetzgebung

Ei

ne Interpretation der Grundlage des Naturrechts (1796/97)​


Wolfgang Schild

Die Rechts- und Staatsphilosophie von Johann Gottlieb Fichte stand und steht bis heute im Schatten der systematischen Entwürfe von Immanuel Kant und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dies galt und gilt auch und vor allem für seine Straftheorie, die er in dem März 1796 und September 1797 veröffentlichten Buch Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre vorlegte. Ihr widmete zwar Rainer Zaczyk im Jahre 1981 eine Monographie1; zudem finden sich einige Aufsätze zu diesem Thema[1] [2]. Doch blieb eine intensivere Rezeption Fichtes in der Strafrechtswissenschaft oder in der Rechtsphilosophie aus. Allerdings berief sich 2004 der Bonner Strafrechtler Günther Jakobs in einem Aufsatz[3] auf die These Fichtes, wonach derjenige, der den Bürgervertrag verlasse, „der Strenge nach alle seine Rechte als Bürger und als Mensch [verliert] und völlig rechtlos [wird]", und auch der absichtlich und vorbedacht handelnde Mörder „für eine Sache, für ein Stück Vieh [erklärt wird]". Jakobs lehnte diese Konsequenz für den Delinquenten, der trotz seiner Tat die Gewähr dafür biete, sich im großen und ganzen als Bürger, also als rechtstreu agierende Person, zu benehmen, ab: dieser Täter müsse weiterhin als Rechtsperson angesehen werden. Doch folgte Jakobs der Fichteschen These in Bezug auf den „Feind", der diese Gewähr nicht bieten könne (und dies auch nicht wolle), sondern die Rechtsordnung ablehne. Ein solcher „prinzipiell Abweichen-
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[1] Vgl. Rainer Zaczyk: Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981.
[2] Vgl. Vittorio Hösle: „Was darf und was soll der Staat bestrafen? Überlegungen im Anschluß an Fichtes und Hegels Straftheorien", in: ders. (Hrsg.): Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus, Hamburg 1989, 1-55; Alessandro Lazzari: „,Eine Fessel, die nicht schmerzt und nicht sehr hindert': Strafrecht (§ 20)", in: Jean-Christophe Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 173 - 186 (= Reihe: Klassiker Auslegen, Bd. 24); Jean-Christophe Merle: „Fichte's Theory of Punishment: „Out-Kanting" Kant in Criminal Law", in: Daniel Breazeale / Tom Rockmore (Hrsg.): New Essays on Fichte's later Jena Wissenschaftslehre, Illinois 2002, 18-27; ders., „Fichtes Begründung des Strafrechts", in: Fichte-Studien 24 (2003) 73-83; Georg Mohr: „Recht als Anerkennung und Strafe als ,Abbüssung'", in: Barbara Merker u. a. (Hrsg.): Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, 243 - 270; Wolfgang Schild: „Die unterschiedliche Notwendigkeit des Strafens", in: Klaus-M. Kodalle (Hrsg.): Kritisches Jahrbuch der Philosophie Beiheft 1: Strafe muß sein! Muß Strafe sein?, Würzburg 1998, 81 - 108, 86ff.; Daniela Tafani: „Recht, Zwang und Strafe bei Fichte", in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 9 (2007/08) 267 - 298.
[3] Vgl. Günther Jakobs: „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht", in: Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht (HRRS) 2004.

der" könne nicht als Bürger behandelt (und bestraft), sondern müsse als Feind bekriegt werden. Somit stützte Jakobs seine Theorie des „Feindstrafrechts", das sich nicht gegen Personen, sondern gefährliche Feinde richte und sich vom „Bürgerstrafrecht" gegen Personen unterscheidet, auf diese Sätze Fichtes.

Im folgenden möchte ich Fichtes Straftheorie nachzeichnen, wie er sie vor allem in den Ausführungen zur „peinlichen Gesetzgebung" entwickelt hat. Im Rahmen dieses Beitrags ist es nur möglich, den Gedankengang Fichtes zu rekonstruieren. Dabei werden nur seine Ausführungen in der „Grundlage des Naturrechts" in den beiden Teilen aus den Jahren 1796 und 1797 interpretiert. Allerdings ist es dafür erforderlich, auch auf seine Deduktion des Rechts- und Staatsbegriffs hinzuweisen, von der seine Argumentation (auch) zur Strafe ihren Ausgang nimmt. Eine ausführliche Darstellung und eine tiefergehende Kritik an dieser Rechtskonzeption (auch in der Auseinandersetzung mit der genannten Literatur) sind hier ebenfalls nicht möglich.

Die folgenden Ausführungen beginnen unter I. mit diesem Hinweis auf Fichtes Deduktion des Rechtsbegriffs und seines Objekts. Als II. wird seine Ableitung der Errichtung der staatlichen Zwangsanstalt nachgezeichnet. Unter III. geht es schließlich um die Ausführungen Fichtes zur Errichtung des strafenden Staates mit seiner peinlichen Gesetzgebung, die dargestellt und kritisch gewürdigt werden. Dabei wird die Grundlage des Naturrechts nach der von Reinhard Lauth und Hans Jacob herausgegebenen Fichte-Gesamtausgabe zitiert.[1]

I. Deduktion des Begriffs und des Objekts vom Recht​


Im ersten Hauptstück des Buches wird die „Deduktion des Begriffs vom Rechte" durchgeführt, und zwar - wie der Titel genauer angibt - „nach Principien der Wissenschaftslehre", wie sie Fichte 1794 vorgelegt hatte[2]. In drei einleitenden Abschnitten zuvor erläutert Fichte dabei seinen Ansatz, den Gesichtspunkt, von dem seit jeher die Philosophen ausgegangen wären. „Der Charakter der Vernünftigkeit besteht darin, daß das Handelnde, und das Behandelte Eins sey, und eben dasselbe; und durch diese Beschreibung ist der Umkreis der Vernunft, als solcher erschöpft. - Der Sprachgebrauch hat diesen erhabnen Begriff für diejenigen, die desselben fähig sind, d. h. für diejenigen, die der Abstraktion, von ihrem eignen Ich fähig sind, in dem Worte: Ich, niedergelegt; darum ist die Vernunft überhaupt durch die Ichheit charakterisiert worden. Was für ein vernünftiges Wesen da ist, ist in ihm da; aber es ist
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[1] Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA I, 3 und GA I, 4.
[2] Wobei Fichte selbst seine Darstellung des Naturrechts von 1796/97 für „weit besser" als die Darstellung der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre hielt (vgl. GA I, 3, 310). Daß der Titel eigentlich nicht paßt, schrieb Fichte bereits am 15.11. 1795 an den Verleger Johann Friedrich Cotta: „Ich habe den Sommer zugebracht mit Untersuchungen über das Natur- und damit verbundene Staats-Recht, und habe Entdekungen gemacht, die diese Wissenschaft auf einen ganz neuen Standpunkt setzen" (GA I, 3, 294). Es geht in diesem Buch daher um „Natur- und Staatsrecht". Vgl. dazu auch die Ausführungen unter 8.2.3.

nichts in ihm, ausser zu Folge eines Handelns auf sich selbst: was es anschaut, schaut es in sich selbst an; aber es ist in ihm nichts anzuschauen als sein Handeln: und das Ich selbst ist nichts anders, als ein Handeln auf sich selbst" (GA I, 3, 314). Fichte spricht auch von dem „inneren Handeln des vernünftigen Wesens" (GA I, 3, 314). „Das vernünftige Wesen ist, lediglich inwiefern es sich, als seyend sezt, d. h. inwiefern es seiner selbst sich bewusst ist. Alles Seyn, des Ich sowohl, als des Nicht-Ich, ist eine bestimme Modifikation des Bewußtseyns; und ohne ein Bewußtseyn giebt es kein Seyn. [...] Nothwendige, aus dem Begriffe des vernünftigen Wesens erfolgende Handlungen sind sonach nur diejenigen, durch welche die Möglichkeit des Selbstbewußtseyns bedingt ist; aber diese sind alle nothwendig und erfolgen gewiß, so gewiß ein vernünftiges Wesen ist. - Das vernünftige Wesen sezt nothwendig sich selbst; es thut sonach nothwendig alles dasjenige, was zu seinem Setzen durch sich selbst gehört, und in dem Umfange der durch dieses Setzen ausgedrückten Handlung liegt" (GA I, 3, 314). Dabei werde dem handelnden vernünftigen Wesen sein Handeln nicht bewußt, da es selbst ja dieses Handeln und nichts anderes sei. Das aber, „dessen es sich bewußt wird, soll außerhalb dessen liegen, das sich bewußt wird, also ausserhalb des Handelns; es soll Objekt, d. i. das Gegentheil des Handelns seyn", soll also „Ding" als „Objekt des Bewußtseins" sein (GA I, 3, 314), das „Realität" habe (GA I, 3, 315). Fichte stellt in einer Anmerkung klar, daß daher alles, was da sei, durch ein Handeln des Ich (insbesondere durch produktive Einbildungskraft) da sei, was aber dahingehend verstanden werden müsse, daß dieses Handeln notwendig (und nicht freie Willkür) sei (GA I, 3, 314): „den Grund dieser Nothwendigkeit haben wir gesehen; es muß so gehandelt werden, wenn das vernünftige Wesen überhaupt als ein solches seyn soll" (GA I, 3, 315), denn gerade eine solche Handlung gehöre zu den Bedingungen des Selbstbewußtseins (GA I, 3, 315). Von diesem Handeln, durch welches das Objekt entstehe, müsse das Handeln, das auf das Objekt reflektiere, unterschieden werden: das letztere werde zu einem bloßen „Begreifen, Auffassen, und Umfassen eines gegebenen. Man nennt sonach diese Handlungsweise [.] mit Recht einen Begriff" (GA I, 3, 315). Begriff und Objekt werden von Fichte als Einheit gesehen: „Das Objekt ist nicht ohne den Begriff, denn es ist durch den Begriff; der Begriff ist nicht ohne das Objekt, denn er ist dasjenige, wodurch das Objekt nothwendig entsteht. Beide sind Eins und eben dasselbe, von verschiedenen Seiten angesehen. Sieht man auf die Handlung des Ich, als solche ihrer Form nach, so ist es Begriff; sieht man auf den Inhalt der Handlung, auf das Materiale, darauf, was geschieht, mit Abstraktion davon, daß es geschehe, so ist es Objekt" (GA I, 3, 315).

Während es für den gewöhnlichen Menschen nur Objekte gebe, in denen der Begriff verschwinde, sei es für das Philosophieren anders, das Begriffe und Objekte stets zugleich hinstelle und nie eins ohne das andere behandle (GA I, 3, 317). „Der wahre Philosoph hat die Vernunft in ihrem ursprünglichen und nothwendigen Verfahren, wodurch sein Ich und alles, was für dasselbe ist, da ist, zu beobachten. Da er aber dieses ursprünglich handelnde Ich im empirischen Bewußtseyn nicht mehr vorfindet, so stellt er sich durch den einzigen Akt der Willkür, der ihm erlaubt ist, (und welcher der freie Entschluß philosophiren zu wollen selbst ist) in seinen Anfangspunkt, und läßt es von demselben aus nach seinen eignen, dem Philosophen wohlbekannten Gesetzen, unter seinen Augen, forthandeln. Das Objekt seiner Beobachtung ist sonach die nach ihren inneren Gesetzen, ohne alles äussere Ziel, nothwendig verfahrende Vernunft überhaupt. [Er beobachtet, WS] die Vernunft überhaupt in ihrem nothwendigen Handeln" (GA I, 3, 316 Anm.). Der Philosoph werde so „Zuschauer eines reellen Denkens seines Geistes" (GA I, 3, 316).

Gemeinschaft zwischen freien Wesen

Fichte kann so die Überschrift dieses ersten Hauptstücks verständlich machen: „Deduktion des Begriffs vom Rechte"; und gibt dabei zugleich eine kurze Zusammenfassung der folgenden Ausführungen[1]. Es heißt in den zweiten einleitenden Bemerkungen: „Es ist ein gewisser bestimmter Begriff ursprünglich durch die Vernunft, und in der Vernunft enthalten, kann [...] nichts anders heissen, als, es wird durch das vernünftige Wesen, so gewiß es ein solches ist, nothwendig auf eine gewisse Weise gehandelt. Der Philosoph hat von dieser bestimmten Handlung zu zeigen, daß sie eine Bedingung des Selbstbewußtseyns sey, welches die Deduktion desselben ausmacht. Er hat sie selbst nach ihrer Form, der Handlungsweise in ihr sowohl, als dasjenige, was in diesem Handeln für die Reflexion entsteht, zu beschreiben. Er liefert dadurch zugleich den Erweis der Nothwendigkeit des Begriffs, bestimmt ihn selbst und zeigt seine Anwendung. [.] Der Begriff des Rechts soll ein ursprünglicher Begriff der reinen Vernunft seyn; er ist mithin auf die angezeigte Weise zu behandeln." Dies bedeutet, daß „er nothwendig werde dadurch, daß das vernünftige Wesen sich nicht als ein solches mit Selbstbewußtseyn setzen kann, ohne sich als Individuum, als Eins, unter Mehrern vernünftigen Wesen zu setzen, welche es ausser sich annimmt, so wie es sich selbst annimmt" (GA I, 3, 319)[2].

Fichte versucht, diese „Handelsweise in diesem Setzen des Begriffs des Rechts" sinnlich darzustellen. „Ich setze mich als vernünftig, d. h. als frei. Es ist in mir bei diesem Geschäfte die Vorstellung der Freiheit. Ich setze in der gleichen ungetheilten Handlung zugleich andere freie Wesen. Ich beschreibe sonach durch meine Einbildungskraft eine Sphäre der Freiheit, in welche mehrere Wesen sich theilen. Ich schreibe mir selbst nicht alle Freiheit zu, die ich gesezt habe, weil ich auch noch andere freie Wesen setzen, und denselben einen Theil derselben zuschreiben muß. Ich beschränke mich selbst in meiner Zueignung der Freiheit dadurch, daß ich auch für
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[1] Eine solche Zusammenfassung findet sich auch in dem Brief Fichtes an Reinhold vom 29.8.1795 (abgedruckt in: GA I, 3, 299-302).
[2] Vgl. auch die Bemerkung in Fichtes Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798): die gesamte Philosophie baue nicht auf einer theoretischen Einsicht, sondern auf einem praktischen Interesse auf: „Ich will selbständig seyn, darum halte ich mich dafür. Ein solches Fürwahrhalten aber ist ein Glaube. Sonach geht unsre Philosophie aus von einem Glauben, und weiß es" (GA I, 5, 43). Der „erste Glaubensartikel, der uns den Übergang in eine intelligible Welt bahnt, und in ihr zuerst festen Boden darbietet", ist: „Ich bin wirklich frei" (GA I, 5, 65).

andere, Freiheit übrig lasse. Der Begriff des Rechts ist sonach der Begriff von dem nothwendigen Verhältnisse freier Wesen zueinander" (GA I, 3, 319). Fichte wechselt vom Begriff zum Objekt. „Im Begriffe der Freiheit liegt zuförderst nur das Vermögen durch absolute Spontaneität, Begriffe von unsrer möglichen Wirksamkeit zu entwerfen; und nur dieses bloße Vermögen schreiben vernünftige Wesen einander mit Nothwendigkeit zu. Aber, daß ein vernünftiges Individuum, oder eine Person sich selbst frei finde, dazu gehört noch etwas anderes, nemlich daß dem Begriffe von seiner Wirksamkeit, der dadurch gedachte Gegenstand in der Erfahrung entspreche; daß also aus dem Denken seiner Thätigkeit etwas in der Welt äusser ihm erfolge. - Sollten nun die Wirkungen der vernünftigen Wesen in dieselbe Welt fallen, sonach auf einander einfliessen, und sich gegenseitig stören, und hindern können [...], so würde Freiheit in der leztern Bedeutung für Personen, die in diesem gegenseitigen Einflusse mit einander stehen, nur unter der Bedingung möglich seyn, daß Alle ihre Wirksamkeit in gewisse Grenzen einschlössen, und die Welt, als Sphäre der Freiheit, gleichsam unter sich theilten. Da sie aber frei gesezt sind, so könnte eine solche Grenze nicht auserhalb der Freiheit liegen, als wodurch dieselbe aufgehoben, keineswegs aber als Freiheit beschränkt würde; sondern alle müßten durch Freiheit selbst sich diese Gränze setzen, d. h. alle müßten es sich zum Gesetze gemacht haben, die Freiheit derer, mit denen sie in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, nicht zu stören. Und so hätten wir denn das ganze Objekt des Rechtsbegriffs; nemlich eine Gemeinschaft zwischen freien Wesen als solchen" (GA I, 3, 319 f.). Der Rechtsbegriff umfaßt diese Gemeinschaft; dahingehend, „daß man in Gedanken jedes Mitglied der Gesellschaft seine eigne äussere Freiheit, durch innere Freiheit, so beschränken lasse, daß alle andere neben ihm auch äusserlich frei seyn können" (GA I, 3, 320). Fichte leitet daraus die „Rechtsregel" ab: „beschränke deine Freiheit durch den Begriff von der Freiheit aller übrigen Personen, mit denen du in Verbindung kommst" (GA I, 3, 320). Er kennt auch die „Rechtsformel" mit dem Inhalt: „beschränke deine Freiheit so, daß der Andere neben dir auch frey seyn könne" (GA I, 3, 387). Als „Grundsatz aller Rechtsbeurtheilung" gibt er den Inhalt an: „Jeder beschränke seine Freiheit, den Umfang seiner freien Handlungen durch den Begriff der Freiheit des andern (so daß auch der andere, als überhaupt frei, dabei bestehen könne)" (GA I, 3, 404).

Fichte betont die Notwendigkeit, die diese Deduktion auszeichnen müsse. „Ich muß mich nothwendig in Gesellschaft mit den Menschen denken, mit denen die Natur mich vereiniget hat, aber ich kann dies nicht, ohne meine Freiheit durch die ihrige beschränkt zu denken; nach diesem nothwendigen Denken muß ich nun auch handeln, ausserdem steht mein Handeln mit meinem Denken, und ich sonach mit mir selbst im Widerspruche" (GA I, 3, 321 f.).

Als Abschluß dieser einleitenden Bemerkungen beansprucht Fichte, in diesem Buch den Begriff des Rechts „als Bedingung des Selbstbewußtseyns, zugleich mit

seinem Objekte deduziert" zu haben: „er ist abgeleitet, bestimmt, und seine Anwendung gesichert", also auch die Art nachgewiesen, wie er in der Sinnenwelt realisiert werden müßte (GA I, 3, 322).[1]

Wechselseitige Freiheitsbeschränkung

Auf die Ableitung im Einzelnen ist hier nicht einzugehen. Die „Lehrsätze" zeigen die Entwicklung der Argumentation in der Parallele, freilich in der Vertiefung, zu der oben zitierten Zusammenfassung. „Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben" (1. Lehrsatz) (GA I, 3, 329), wobei - so der „Folgesatz" - das Vernunftwesen durch dieses Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit „eine Sinnenwelt ausser sich [sezt und bestimmt]" (GA I, 3, 335). „Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen" (2. Lehrsatz) (GA I, 3, 340). Schließlich der 3. Lehrsatz, der zu dem Begriff des Rechts weiter führt: „Das endliche Vernunftwesen kann nicht noch andere endliche Vernunftwesen ausser sich annehmen, ohne sich zu setzen, als stehend mit denselben in einem bestimmten Verhältnisse, welches man das Rechtsverhältniß nennt" (GA I, 3, 349). Fichte entwickelt zur Begründung hier eine Theorie nicht nur des notwendigen Annehmens freier Personen außerhalb des Subjekts, sondern auch des diese Freiheit anerkennenden äußeren Handelns, das wechselseitig erfolgen müsse und daher den gleichen Begriff des Subjekts (oder der Person) voraussetze (da untrügliches und ausschließendes Kriterium der Vernunft und der Freiheit die „Mässigung der Kraft durch Begriffe" sei [GA I, 3, 352]). „Die Erkenntniß des Einen Individuums vom andern, ist bedingt dadurch, daß das andere es als ein freies behandle, (d. i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten.) Diese Weise der Behandlung aber ist bedingt, durch die Handelnsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelnsweise, und durch die Erkenntniß des andern, und so ins unendliche fort. Das Verhältniß freier Wesen zueinander ist daher das Verhältniß einer Wechselwirkung durch Intelligenz und

Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig
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[1] Vgl. auch die Ausführungen in Fichtes Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798): „Der Begriff des Rechts hat Realität. Ich denke in dem unendlichen Umfang der Freiheit (des Freyseins, als eines objectiven, denn nur unter dieser Bedingung befinde ich mich auf dem Gebiete des Rechtsbegriffs) meine Sphäre nothwendig beschränkt, denke sonach Freiheit oder freie Wesen außer mir, mit welchen ich durch die gegenseitige Beschränkung in Gemeinschaft komme. Durch jenen Begriff sonach entstehet mir erst eine Gemeinschaft freier Wesen" (GA I, 5, 73). Dabei bedeutet „Realität" die „Anwendbarkeit eines Princips, oder, welches in diesem Zusammenhange gleichgeltend ist, eines Begriffs", nämlich: „Ein Begriff hat Realität, und Anwendbarkeit, heißt: unsere Welt, - es versteht sich für uns, die Welt unsers Bewußtseyns - wird durch ihn in einer gewissen Rücksicht bestimmt. Er gehört unter diejenigen Begriffe, durch welche wir Objecte denken, und es giebt in diesen für uns gewisse Merkmale, darum, weil wir sie durch diesen Begriff, durch diese Denkweise, denken. Die Realität eines Begriffs aufsuchen, heißt sonach: untersuchen, wie und auf welche Weise durch ihn Objecte bestimmt werden" (GA I, 5, 73).

anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln" (GA I, 3, 351). Somit ist für Fichte der Begriff der Individualität ein „Wechselbegriff", d. i. ein solcher, „der nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe, und zwar durch das gleiche Denken, der Form nach, bedingt ist. Er ist in jedem Vernunftwesen nur insofern möglich, inwiefern er als durch ein anderes vollendet gesetzt wird. Er ist deshalb nie mein; sondern meinem eignen Geständniß, und dem Geständniß des andern nach, mein und sein ; sein und mein; ein gemeinschaftlicher Begriff, in welchem zwei Bewußtseyne vereinigt werden in Eines" (GA I, 3, 354). Durch diesen gemeinsamen Begriff sei auch die Gemeinschaft der beiden bestimmt: „es muß ein uns gemeinschaftliches, und von uns gemeinschaftlich nothwendig anzuerkennendes Gesetz geben", das in der Vernünftigkeit beider liegt, nämlich das Gesetz der Einstimmigkeit mit sich selbst oder der Konsequenz (GA I, 3, 354). Dadurch kann der andere „zu Folge eines Begriffs von mir, als einem freien Wesen, sich beschränken", wobei diese Beschränkung absolut gefordert ist: „Ich fordere sonach von ihm Consequenz, d. h. daß alle seine künftigen Begriffe durch einen gewissen vorhergegangenen, die Erkenntniß von mir als einem vernünftigen Wesen, bestimmt seyen. - Nun aber kann er mich für ein vernünftiges Wesen anerkennen, nur unter der Bedingung, daß ich ihn selbst als ein solches behandle, zu Folge dieses Begriffs von ihm. Ich lege mir also die gleiche Consequenz auf, und sein Handeln ist bedingt durch das meinige. Wir stehen in Wechselwirkung der Consequenz unsres Denkens und unsers Handelns mit sich selbst, und gegenseitig unter einander" (GA I, 3, 358).

Fichte wiederholt den Rechtsbegriff, nun als Ergebnis der Deduktion: er sei das gedachte „Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, daß jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des andern beschränke, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfals durch die der andern beschränke" (GA I, 3, 358). Als Ergebnis der Deduktion liegt für Fichte dieser Rechtsbegriff „im Wesen der Vernunft", weshalb kein endliches vernünftiges Wesen möglich sei, in welchem derselbe nicht vorkomme (zufolge seiner vernünftigen Natur) (GA I, 3, 359). Genauer: „Dieses Verhältniß ist aus dem Begriffe des Individuum deducirt [...] Ferner ist vorher der Begriff des Individuum erwiesen worden, als Bedingung des Selbst- bewußtseyns; mithin ist der Begriff des Rechts selbst Bedingung des Selbstbe- wußtseyns. Folglich ist dieser Begriff gehörig a priori, d. i. aus der reinen Form der Vernunft, aus dem Ich, deduciret" (GA I, 3, 358).

Bedingungen der Individualität

Fichte sieht das terminologische Problem (GA I, 3, 358). Die Deduktion führt zu einem bestimmten Begriff - als einer gewissen Modifikation des Denkens, als eine gewisse Weise, die Dinge zu beurteilen -, der dem vernünftigen Wesen als solchem notwendig sei. Der Begriff erhält einen Namen, hier „Recht". Dieser Begriff muß aber auch wirken für Menschen, die ebenfalls in ihrem Sprachgebrauch das Wort „Recht" haben. Fichte beansprucht nun, mit seinem deduzierten Begriff „Recht" das Wesentliche dessen, was der gemeine Menschenverstand über das Recht sagen kann, getroffen (begriffen) zu haben.

Nachzufragen ist nach den Gründen, warum Fichte dieses Verhältnis freier Vernunftwesen zueinander als „Recht" (genauer: als „Rechtsverhältnis") bezeichnet. Zunächst betreffen dieses Verhältnis nur äußere Handlungen - die Anerkennung ist keine Einstellung oder Willenshaltung, sondern eine solche Handlung (GA I, 3, 353) - und nicht das Innere, also die Dimension, die herkömmlich als Rechtsbereich (im Unterschied zum Bereich der Moral) bezeichnet wird (GA I, 3, 360). Ferner meint Fichte mit „Recht" immer ein „Recht auf den anderen", ihn von einem bestimmten Gebrauch seiner Freiheit auszuschließen (GA I, 3, 360), also das subjektive Recht, das in diesem Verhältnis jedem gegenüber dem anderen zukommt. Sodann ist jede Rechtsperson nicht verpflichtet, sondern nur berechtigt, dieses Recht auszuüben, was für Fichte den wesentlichen Unterschied zu den unbedingt verpflichtenden Geboten der Moral ausmacht (GA I, 3, 324, 359). Schließlich kann ein solches Recht - wieder im Unterschied zum Bereich der Moral - durch Zwang und sogar durch physische Gewalt durchgesetzt werden (GA I, 3, 327, 359).

Der eigentliche Grund für die Terminologie Fichtes liegt in der Verbindung zu diesem oben genannten freien Verhältnis. Fichte nennt jede Bedingung der Möglichkeit des Beisammenseins freier Wesen „ein Recht" (GA I, 3, 390). Von daher sind die (subjektiven) Rechte einer Person abgeleitet als die Bedingungen der Freiheit und Persönlichkeit, sie ergeben sich durch die bloße Analyse des Begriffs der Persönlichkeit, allerdings nur für diese äußere Dimension, also nur insofern sie durch physische Kraft verletzt werden können (GA I, 3, 390). So kann Fichte sagen, daß niemand das Recht zu einer Handlung, die die Freiheit und Persönlichkeit eines Anderen unmöglich macht, aber jeder ein Recht zu allen anderen Handlungen habe (GA I, 3, 390). In den Briefen an Reinhold vom 29.8. 1795 und an Jacobi vom 30.8. 1795 schrieb Fichte: „Die Bedingungen der Individualität heißen Rechte."[1]

In diesem Sinne spricht Fichte von „Urrechten": als den „Bedingungen der Persönlichkeit", insofern „sie in der Sinnenwelt erscheinen, und durch andere freie Wesen, als Kräfte in der Sinnenwelt, gestört werden [können]" (GA I, 3, 404)[2]. „Urrecht" ist das „Recht, das jeder Person, als einer solchen, absolut zukommen soll" im Verhältnis zu anderen Personen und deren Handlungen. Es ist das Recht auf Freiheit, weil die anderen ihre Freiheit (den Umfang ihrer freien Handlungen) durch den Begriff der Freiheit aller beschränken: das „ist der Grundsatz aller Rechtsbe- urtheilung" (GA I, 3, 404). Fichte umschreibt daher das Urrecht als das „absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu seyn (schlechthin nie Be- wirktes)" (GA I, 3, 404). Daraus leitet Fichte auch das Recht ab, daß „in dem ganzen Bezirk der [der Person, WS] bekannten Welt alles bleibe, wie sie dasselbe erkannt hat, weil sie sich in ihrer Wirksamkeit, nach ihrer Erkenntniß richtet, und sogleich desorientiret,
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[1] Abgedruckt in: GA I, 3, 301, 302.
[2] Vgl. auch GA I, 4, 107: „Der Inbegriff aller Rechte ist die Persönlichkeit, und es ist erste und höchste Pflicht des Staates, diese an seinen Bürgern zu schützen."

und in dem Laufe ihrer Kausalität aufgehalten wird, oder ganz andere Resultate, als die beabsichtigten, erfolgen sieht, sobald eine Veränderung darin vorfällt" (GA I, 3, 407). Darin sieht Fichte den Grund alles Eigentumsrechts (GA I, 3, 407).

Anzumerken ist, daß Fichte in seinen Ausführungen zum Weltbürgerrecht ein „ursprüngliches" oder „eigentliches Menschenrecht" annimmt, also ein Recht, das dem Menschen als Menschen zukomme: „die Möglichkeit sich Rechte zu erwerben" bzw. „das Recht auf die Voraussetzung aller Menschen, daß sie mit ihm durch Verträge in ein rechtliches Verhältniß kommen können" (GA I, 4, 163).

II. Errichtung der staatlichen Zwangsanstalt​


Aus den zitierten Ausführungen zu Begriff und Objekt ergibt sich, daß Fichte den Anspruch erhebt, nicht nur den Begriff des Rechts deduziert zu haben, sondern damit auch das Objekt der Welt außer dem philosophierenden Ich begründet zu haben: als eine wirkliche Gemeinschaft zwischen freien Wesen als solchen, deren Handlungen auch in Wechselwirkung zueinander stehen. Daher findet nach Fichte der Rechtsbegriff - als Begriff eines Verhältnisses zwischen Vernunftwesen - nur unter der Bedingung statt, daß „solche Wesen in Beziehung auf einander gedacht werden" (GA I, 3, 360). Deshalb könne nicht von einem „Recht auf eine Sache" gesprochen werden: „nur wenn mit mir zugleich ein andrer auf dieselbe Sache bezogen wird, entsteht die[se] Frage [...] als eine abgekürzte Rede, statt der, wie sie eigentlich heissen sollte, vom Recht auf den andern, ihn vom Gebrauche dieser Sache auszuschliessen" (GA I, 3, 360). Da vernünftige Wesen nur durch Handlungen (also Äußerungen ihrer Freiheit) in Wechselwirkung zueinander kommen können, „bezieht sich [der Begriff des Rechts] sonach nur auf das, was in der Sinnenwelt sich äussert". Schließlich ergebe sich aus der geleisteten Deduktion des Rechtsbegriffs, „die immer eine reelle Wechselwirkung voraussetzt", daß die Frage vom Recht nur möglich sei, „inwiefern vernünftige Wesen wirklich im Verhältnisse mit einander stehen, und so handeln können, daß die Handlung des einen Folgen habe für den andern" (GA I, 3, 360).

Deshalb folgt im zweiten Hauptstück die „Deduction der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs". Auf diese Ausführungen zur Notwendigkeit des Leibes der Person - welcher Begriff („Person") von Fichte nun für das vernünftige Individuum verwendet wird (GA I, 3, 361) - und des Genötigtwerdens des Auffordernden durch den Anblick der menschlichen Gestalt kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. Auch hier gilt dieses „Uebertragen meines nothwendigen Denkens, auf eine Person ausser mir", denn dieses liege im Begriffe der Person selbst. „Ich muß demnach der Person ausser mir zuschreiben, daß, falls sie mich als Person setze, sie dasselbe von mir annehme, was ich selbst von mir, und ihr annehme; und zugleich von mir annehme, daß ich dasselbe von ihr annehme. Die Begriffe von der bestimmten Artikulation vernünftiger Wesen, und von der Sinnenwelt ausser ihnen, sind nothwendig gemeinschaftliche Begriffe; Begriffe, worüber die vernünftigen Wesen nothwendig, ohne alle vorhergegangene Verabredung, übereinstimmen, weil bei jedem, in seiner Persönlichkeit, die gleiche Art der Anschauung begründet ist, und sie müssen als solche gedacht werden. Jeder kann von dem andern mit Grunde voraussetzen, ihm anmuthen, und sich darauf berufen, daß er die gleichen Begriffe über diese Gegenstände habe, so gewiß er ein vernünftiges Wesen sey" (GA I, 3, 374 f.). Dies gilt nach Fichte auch für das notwendige Erblicken der menschlichen Gestalt des Anderen. Denn diese könne wegen ihrer natürlichen Unfertigkeit nur dadurch als leibliche Erscheinung des Anderen aufgefaßt werden, wenn der durch das Selbstbewußtsein gegebene Begriff der Freiheit, damit der Begriff von sich selbst, unterlegt werde (GA I, 3, 379). „Durch die Unmöglichkeit einer Menschengestalt irgend einen andern Begriff unterzulegen, als den seiner selbst, wird jeder Mensch innerlich genöthigt, jeden andern für seines gleichen zu halten" (GA I, 3, 379). Dieses Gesetz folge aus „Natur und Vernunft" (GA I, 3, 380).

Fichte sieht damit den Beweis für die Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes als erbracht an. „Das freie Wesen nöthigt durch seine bloße Gegenwart in der Sinnenwelt, ohne weiteres, jedes andere freie Wesen es für eine Person anzuerkennen. Es giebt die bestimmte Erscheinung, der andere giebt den bestimmten Begriff. Beides ist nothwendig vereinigt, und die Freiheit hat dabei nicht den geringsten Spielraum" (GA I, 3, 384).

Nötigung zum Rechtsverhältnis

Es herrscht also Notwendigkeit. „Ich muß mich nothwendig in Gesellschaft mit den Menschen denken, mit denen die Natur mich vereiniget hat, aber ich kann dies nicht, ohne meine Freiheit durch die ihrige beschränkt zu denken; nach diesem nothwendigen Denken muß ich nun auch handeln, ausserdem steht mein Handeln mit meinem Denken, und ich sonach mit mir selbst im Widerspruche." (GA I, 3, 321 f.).

Damit ist eine Nötigung („müssen") zu diesem Rechtsverhältnis ausgesprochen. Wieder mit Worten Fichtes: „Es ist jedem von beiden der Begriff vorhanden, daß der andere ein freies, und nicht wie eine bloße Sache zu behandelndes, Wesen sey. Werden nun durch diesen Begriff alle übrigen Begriffe derselben, und da ihr Wollen auch zu ihren Begriffen gehört, und durch dieses ihre Handlungen bestimmt werden, alles ihr Wollen, und Handeln bedingt, nach dem Gesetze des Widerspruchs, d. i. findet Denkzwang statt, so werden sie auf einander willkührlich einwirken nicht wollen können, d. i. überhaupt nicht können; die physische Macht dazu sich nicht zuschreiben können, demnach sie auch nicht haben." (GA I, 3, 384) Es bestimmt das Gesetz der Konsequenz und der Einstimmigkeit mit sich selbst, wie es die Logik entfaltet (GA I, 3, 354 f.), das Gesetz ist das Denkgesetz (GA I, 3, 356). Es geht also um „theoretische Consequenz", weil dieses konsequente Verfahren die Vernünftigkeit darstellt (GA I, 3, 354).

Doch sieht Fichte, daß „es [so] offenbar nicht [ist]. Jeder hat den Leib des andern auch gesezt als Materie, als bildsame Materie, laut des Begriffs: jeder hat sich überhaupt zugeschrieben das Vermögen die Materie zu modificiren. Jeder kann daher offenbar den Leib des andern, inwiefern es materiell ist, subsumieren jenem Begriffe: sich denken, als ihn modificirend durch physische Kraft; und, da sein Wille durch nichts beschränkt ist, als durch sein Denkvermögen, es auch wollen." (GA I, 3, 384). Daher kann dieses „müssen" nur im Sinne einer unbedingten Verpflichtung verstanden werden: jeder soll das Rechtsverhältnis realisieren, als Konsequenz des deduzierten Vernunftbegriffes des Individuums als dieses Verhältnis freier Personen. Oder anders gesagt: jeder soll sich an das Denkgesetz, an das Gesetz der Konsequenz und der Einstimmigkeit mit sich selbst halten.

Doch auch dieses Verständnis lehnt Fichte für den Rechtsbereich ab. Zwar anerkennt er das Gesetz der absoluten Übereinstimmung mit sich selbst als das Sittengesetz (GA I, 3, 321). „Ich bin im Gewissen, durch mein Wissen, wie es seyn soll, verbunden, meine Freiheit zu beschränken", also verpflichtet, „nach dem nothwendigen Denken [...] auch [zu] handeln", weil sonst „mein Handeln mit meinem Denken, und ich sonach mit mir selbst im Widerspruche [stehe]" (GA I, 3, 321 f.)[1]. Aber dieses Sittengesetz richtet sich an den Willen eines jeden Individuums, kann daher das äußere Verhältnis der Personen selbst nicht verpflichtend erfassen. Erforderlich ist eine Verpflichtung, die sich an alle Personen gemeinsam richtet und alle (d. h. jeden einzelnen) zur Errichtung eines Rechtsverhältnisses verbindet (GA I, 3, 387). Ist diese Wechselseitigkeit nicht gegeben, kann niemand als Individuum angesprochen sein.

Fichte stellt daher die Freiheit jeder Person in den Mittelpunkt. Zwar sei es notwendig - wenn ein vernünftiges Wesen zum Selbstbewußtsein kommen und zu einem vernünftigen Wesen werden solle -, daß ein anderes auf dasselbe einwirken müsse als auf ein der Vernunft fähiges. „Daß aber, auch nachdem das Selbstbe- wußtseyn gesezt ist, immerfort vernünftige Wesen auf das Subjekt desselben vernünftiger Weise einwirken müssen, ist dadurch nicht gesezt" (GA I, 3, 385). Noch mehr: selbst das Denkgesetz der Konsequenz „hängt von der Freiheit des Willens [ab]: und es läßt sich nicht einsehen, warum jemand consequent seyn sollte, wenn er nicht muß: ebenso wenig, als sich im Gegentheile einsehen läßt, warum er es nicht seyn sollte.[...| Es läßt kein absoluter Grund sich angeben, warum das vernünftige Wesen consequent seyn, und zufolge desselben, das aufgezeigte [Denkgesetz, WS] sich geben sollte" (GA I, 3, 385). „Das vernünftige Wesen ist nicht absolut durch den Charakter der Vernünftigkeit verbunden, die Freiheit aller Vernunftwesen aus- ser ihm zu wollen", abgesehen von dem dies gebietenden Sittengesetz (GA I, 3, 386) „Es läßt sich gar kein absoluter Grund aufzeigen, warum jemand sich die Rechtsformel: beschränke deine Freiheit so, daß der andere neben dir auch frei seyn könne, zum Gesetze seines Willens, und seiner Handlungen machen sollte" (GA I, 3, 387).


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[1] Vgl. auch die Darstellung der „absoluten Forderung des Sittengesetzes" in Fichtes Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798): „Der Gebrauch der Freiheit in mehreren Individuen soll sich nicht gegenseitig hemmen und widersprechen [.]; es ist sonach Pflicht eines jeden, dieses Beisammenstehen der Freiheit aller zu befördern. - Aber dieses Beisammenstehen ist nur dadurch möglich, daß jeder Einzelne, mit Freiheit - denn er soll frei seyn und bleiben - den Gebrauch seiner Freiheit auf eine gewisse Sphäre einschränke, welche alle andere ihm ausschließend überlassen; dagegen er an seinem Theile den andern alles übrige gleichfalls zur Theilung unter sich, überläßt. So ist in derselben Sinnenwelt jeder an seinem Theile frei, ohne die Freiheit irgend eines andern zu hemmen. Diese Idee wird realisirt im Staate, welcher überdies, da auf den guten Willen Aller nicht gerechnet werden kann, mit Zwang jedes Individuum innerhalb seiner Gränzen erhält" (GA I, 5, 266).

Fichte kommt daher zum Ergebnis: „Es ist nothwendig, daß jedes freie Wesen andere seiner Art ausser sich annehme; aber es ist nicht nothwendig, daß sie alle, als freie Wesen, nebeneinander fortbestehen; der Gedanke einer solchen Gemeinschaft, und die Realisation desselben ist sonach etwas willkührliches" (GA I, 3, 320)[1]. Dies bedeutet, daß die Errichtung eines solchen Rechtsverhältnisses nur durch den gemeinschaftlichen Willen aller Personen, „mit anderen in Gesellschaft zu leben", bedingt ist.

Somit formuliert Fichte das „Urtheil des über die Möglichkeit einer Gemeinschaft freier Wesen reflektirenden Philosophen": „Das postulirte Beisammenstehen der Freiheit mehrerer [vernünftiger Wesen, WS] ist [...] beständig und nach einer Regel, nicht etwa blos hier und da zufälliger Weise [.] nur dadurch möglich, daß jedes freie Wesen es sich zum Gesez mache, seine Freiheit [d.i. den Umfang seiner mit Freiheit beschlossenen Handlungen und Äußerungen in der Sinnenwelt, WS] durch den Begriff der Freiheit aller übrigen einzuschränken" (GA I, 3, 389); wobei „Gesetz" meine, daß es unmöglich sein müsse, daß davon eine Ausnahme geschehe; ein Gesetz gelte allgemeingültig und kategorisch (GA I, 3, 390). Der Philosoph kommt also nur zu einem hypothetischen Urteil: „wenn freie Wesen als solche beisammenstehen sollen, so läßt sich dies nur auf die angezeigte Weise denken" (GA I, 3, 389), nämlich daß sich „jedes dieses Gesez geben [muß]; und wenn sie es sich nicht geben, so können sie nicht bei einander bestehen" (GA I, 3, 391). Nicht aber kann geurteilt werden, daß sie dies auch tun sollen. „Der einzige Grund für den Philosophen, eine solche Gesezgebung anzunehmen, ist [.] jene Voraussetzung" (GA I, 3, 391).

Die Konsequenz, die Fichte zieht, ist eindeutig: „Das Gesez ist bedingt, und ein mögliches Wesen, welches [.] jenes Gesez sich geben dürfte, kann es sich [.] nur als ein bedingtes geben" (GA I, 3, 391). Wird der Rechtsbegriff als ein praktischer

Begriff gedacht, so ist er „bloß technisch-praktisch" (GA I, 3, 320)[2]. Wenn eine Gemeinschaft freier Subjekte wirklich werden soll - was dann der Fall ist, wenn diese freien Subjekte dies willkürlich wollen -, dann kann dies nur als Rechtsverhältnis erreicht werden. Wenn sie in Gemeinschaft in der Sinnenwelt leben wollen, dann müssen sie diese als dem Rechtsgesetz unterworfen denken und wollen. Aber sie sind rechtlich nicht verpflichtet, diese Gemeinschaft zu wollen. Die Bedingung liegt somit in der Gemeinsamkeit der rechtlichen Selbstgesetzgebung der Einzelnen, wobei der Grund nicht in ihrem Vernunftcharakter gesehen werden kann - da es sich nicht um die sittliche Dimension handelt -, sondern in der Willkür, die Fichte als Selbstliebe
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[1] Vgl. auch die Bemerkung in Fichtes Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798): „Ich kann die theoretische Ueberzeugung, daß der andere denn doch, ohnerachtet meiner rechtswidrigen Behandlung Rechte habe, nicht verläugnen, noch mich ihrer entledigen, aber diese Überzeugung führt keinen praktischen Zwang bei sich" (GA I, 5, 74).
[2] Dazu Fichtes Bemerkung in Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798): „Technisch praktisch" bedeutet, daß die Vernunft „die Mittel für irgend einen außer ihr etwa durch unser Naturbedürfniß, oder durch unsre freie Willkühr, gegebnen Zweck finden müsse"; im Gegensatz zu „schlechthin praktisch", wo die Vernunft aus sich selbst und durch sich selbst einen Zweck aufstellt (GA I, 5, 68). Fichte bezeichnet das Technisch-Praktische auch als „Räsonnir-Vermögen" (GA I, 5, 68).

charakterisiert (worauf noch einzugehen sein wird).

Verweigerung des Rechtsverhältnisses

Fichte anerkennt die willkürliche Entscheidung einer Person, ihre Freiheit nicht gesetzlich beschränken zu wollen. Sie ist rechtlich nicht dazu verbunden, kann daher auch nicht dazu gezwungen werden. Nur in ihrem Gewissen ist sie durch das Sittengesetz verpflichtet, handelt also jedenfalls unsittlich. Sie handelt aber nicht unrechtlich, weil das Rechtsverhältnis für sie nicht Geltung beanspruchen kann, die nur aufgrund ihres Willens zu ihm zu begründen ist, der wieder bedingt ist durch den gleichen Willen aller anderen.

Fichte meint: „so kann [ihr] auf dem Gebiete des Naturrechts weiter nichts ent- gegen[gestellt werden, WS], als das, daß [sie] sodann aus aller menschlichen Gesellschaft sich entfernen müsse" (GA I, 3, 322). Aber auch dieses „Müssen" folgt nur aus dem Denkgesetz, das für die Person nicht verbindlich ist. Dies bedeutet, daß sie von den anderen gegebenenfalls mit Zwang, selbst mit Gewalt entfernt (ausgeschlossen) werden darf; „darf", weil diesem Zwang, dieser Gewalt kein Recht der Betroffenen entgegenstehen kann, da sie das Rechtsverhältnis nicht will; „darf", aber nicht, weil die Ausschließenden dazu ein Recht hätten[1]. Es herrscht zwischen den Subjekten ein rechtloser Zustand, da dieser durch gemeinschaftlichen Willen nicht errichtet worden ist. Daher ist nicht nur der die Gesellschaft verneinende Betreffende rechtlos (vgl. GA I, 3, 412, 415; GA I, 4, 59), sondern Rechtlosigkeit ist das Verhältnis der anderen zu ihm als solches. Aber noch mehr: eigentlich besteht zwischen ihm und den anderen überhaupt kein wirkliches „Verhältnis". Es bleibt nur die „völlig willkührliche Behandlung" des Betreffenden: „nicht, daß man ein Recht dazu habe, sondern, daß auch kein Recht dagegen ist"; der Betreffende kann wie „eine Sache [oder] ein Stük Vieh" behandelt werden (GA I, 4, 73), wobei allerdings wiederum zu beachten ist, daß diese Konsequenz (z. B. als Martern oder Töten) vom Sittengesetz unbedingt verboten ist (weshalb man dies auch unterläßt „nicht wegen eines Rechts des andern, sondern aus Achtung gegen sich selbst, und seine Mitmenschen", denn immerhin trägt er doch menschliches Angesicht [GA I, 4, 73]). Für die Rechtsdimension entsteht eine Lücke: „es ist hier überhaupt vom Rechte gar nicht die Frage, sondern vom physischen Vermögen"; „es läßt sich gar kein Grund aus dem (äußeren) Rechte anführen, warum ihn nicht der erste der beste, dem es einfällt, ergreifen, willkürlich martern und tödten sollte; aber auch keiner dafür" (GA I, 4, 73). Der Betroffene „kann durch das bloße Rechtsgesez (wohl etwa durch andere, durch physische Stärke, oder durch Berufung auf das Sittengesetz) meinen Zwang nicht verhindern. Er ist nicht gegen dieses Gesez"
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[1] Daher ist folgende Bemerkung Fichtes nicht richtig: „Jeder Einzelne hat [...] das Recht, den Einzelnen, den er antrift, zu nöthigen, daß er mit ihm in einen Staat trete, oder aus seiner Wirkungssphäre entweiche" (GA I, 4, 151, Heraushebung WS); ähnlich auch GA I, 4, 415: „Das Rechtsgesez will das Recht. Es will daher nothwendig, daß dieser Zustand aufgehoben werde. Es giebt mithin ein Recht, auf seine Aufhebung zu dringen". - Zum Problem des „Zwangrechts" siehe weiter im Text.

(GA I, 3, 387).

Es ist schwierig, diese Zwangs- oder Gewaltaktion des Ausschlusses desjenigen, der nicht ein Rechtsverhältnis begründen will, begrifflich zu fassen. Denn das (jedes) Individuum weiß notwendig den Begriff des Rechtsverhältnisses und weiß auch jeden anderen als Vernunftwesen, d. h. der Begriff des Sinnenwesens ist mit dem Begriff der Vernünftigkeit in seinem Bewußtsein notwendig vereinigt und daher nicht mehr trennbar. Handelt jedes Individuum vernünftig (und konsequent nach seiner Einsicht), muß das wirkliche Verhältnis ein solches Rechtsverhältnis sein, in dem jeder alle anderen als Vernunftwesen handelnd anerkennt. Nun aber verhält der Andere sich unvernünftig und inkonsequent, indem er nicht in eine Gemeinschaft treten will.

Fichte gibt die Konsequenz wie folgt an: So „kann [das, d. h. jedes andere Individuum, WS] ihm die Vernünftigkeit nur noch als zufällig zuschreiben. [Die] Behandlung seiner, als eines vernünftigen Wesens, wird nun selbst auch zufällig, und bedingt, und findet nur für den Fall statt, daß er selbst [es] so behandele. [Es] kann demnach, mit vollkommner Consequenz, die hier [das] einzige Gesez ist, ihn für diesen Fall behandeln, als bloßes Sinnenwesen" (GA I, 3, 355 f.). Fichte deutet diesen Fall dann wie folgt weiter. Das Individuum kann dem die Gesellschaft Ablehnenden mitteilen, daß dies seiner eigenen Voraussetzung - nämlich ein vernünftiges Wesen zu sein - widerspreche, daß er inkonsequent handle; daß die nunmehrige Behandlung als (bloßes) Sinnenwesen aber ebenfalls konsequent sei. „Ich stelle mich daher auf einen höhern Gesichtspunkt, zwischen uns beiden, gehe aus meiner Individualität heraus, berufe mich auf ein Gesez, das für uns beide gilt, und wende dasselbe an auf den gegenwärtigen Fall. Ich setze mich daher als Richter, d. i. als seinen Oberen. Daher die Superiorität, die sich jeder zuschreibt, der Recht zu haben vermeint, über den, gegen welchen er Recht hat. - Aber, indem ich mich gegen ihn auf jenes gemeinschaftliche Gesez berufe, lade ich ihn ein, mit mir zugleich zu richten, und fordere, daß er in diesem Falle, mein Verfahren gegen ihn selbst consequent finden und billigen müsse, durch die Denkgesetze gedrungen. Die

Gemeinschaft des Bewußtseyns dauert immer fort. Ich richte ihn nach einem Begriffe, den er, meiner Aufforderung nach, selbst haben muß" (GA I, 3, 356).

Daraus könnte gefolgert werden, daß der Betroffene konsequent das nunmehrige Recht, ihn aus der Gesellschaft auszuschließen, also diesen Ausschluß als berechtigt anerkennen müßte. In der Tat spricht Fichte in diesem Fall von einem „Zwangsrecht" (GA I, 3, 391, Heraushebung WS); derjenige, der das Rechtsverhältnis nicht will, „berechtigt zu einem unendlichen Zwang" (GA I, 3, 415). „Er hat ein Recht gegen den Anderen" (GA I, 3, 387). Doch gibt es - wie oben zitiert - für Fichte keine rechtliche Verbindlichkeit zu konsequentem Handeln, keine Geltung des Denkgesetzes. Deshalb muß diese Aufforderung an den Betreffenden, den zwangs- und gewaltsamen Ausschluß als berechtigt anzuerkennen, leer laufen. Dieser muß sich nur der physischen Übermacht der ihn aus der Gemeinschaft Entfernenden beugen.

So kann sich der Betroffene nicht gegen den Ausschluß auf sein Recht aus seiner Persönlichkeit - also auf ein „Urrecht" - berufen, also geltend machen, daß er ein Recht auf Verhinderung dieses Angriffs auf seine Freiheit und seinen Leib habe (GA I, 3, 390). Aber auch die Berufung der Ausschließenden auf irgendein Recht ist unmöglich. Deshalb sind diese „Urrechte", die aus dem Begriff der Persönlichkeit abgeleitet werden können (GA I, 3, 390), eine „bloße Fiktion" (GA I, 3, 404); wie auch ein solches Zwangs„recht" eine solche ist.

Die Konsequenz sieht und zieht Fichte. „Es ist sonach, in dem Sinne, wie man das Wort oft genommen hat, gar kein Naturrecht, d. h. es ist kein rechtliches Ver- hältniß zwischen Menschen möglich, ausser in einem gemeinen Wesen, und unter positiven Gesetzen" (GA I, 3, 432), worauf noch einzugehen sein wird. Daher ist der Titel des Buches eigentlich ungenau: es geht eigentlich um „Natur- und Staatsrecht"[1].

Selbstliebe und Sicherheit

Etwas anderes muß gelten, wenn der auf seine Konsequenz und Vernunft Angesprochene diesen Vorbehalt übernimmt, also dem ihn so Ansprechenden Recht gibt und sich nun in seinem Handeln dieser Konsequenz und Vernunft unterwirft; und in das Rechtsverhältnis der Anderen eintritt; genauer: dies verspricht und den anderen zusagt (freilich wieder nur unter der Bedingung, daß die anderen dasselbe zusagen). Fichte verlangt, daß er „in seinem Herzen das Gesez übernimmt, als ein solches, und sich ihm unterwirft. Sobald er es aber übernimmt hört das Zwangsrecht auf [...]; und jeder weitere Zwang ist von nun an widerrechtlich" (GA I, 3, 393). Aber wie soll diese „herzliche Unterwerfung unter das Rechtsgesetz", diese „Re- volution in seiner Denkungsart" (GA I, 3, 393) zugrunde gelegt, sozusagen bewiesen werden? Das bisherige Handeln des Betreffenden spricht nicht gerade für ihn, weshalb seine Glaubwürdigkeit fraglich ist. Im Gegenteil ist sogar durchaus Mißtrauen verständlich.

Eigentlich besteht dieses Problem allgemein. Denn nur die tatsächlich begangenen Handlungen können den hinter ihnen stehenden rechtlichen Willen manifest machen, verweisen aber damit in die Zukunft. Wie sollen die Personen, die sich in einer solchen Gemeinschaft als Rechtsverhältnis einbringen wollen, wissen, daß es die jeweils anderen wirklich ernst meinen? Dies könnte nur die zukünftige Erfahrung ergeben[2].

Das Problem verschärft sich, da dieser Wille zu einem rechtlichen Verhältnis aller von Fichte als Willkür gedacht wird, die weder den Denkgesetzen noch dem Sittengesetz folgen muß, sondern den Regeln der Selbstliebe folgt. Fichte nennt diese Einstellung die „politische" Liebe, im Gegensatz zur moralischen Liebe (um der Pflicht willen). Hier geht es um die „Liebe sein selbst um sein selbst willen, Sorge für
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[1] Vgl. Daß der Titel eigentlich nicht paßt, schrieb Fichte bereits am 15.11. 1795 an den Verleger Johann Friedrich Cotta: „Ich habe den Sommer zugebracht mit Untersuchungen über das Natur- und damit verbundene Staats-Recht, und habe Entdekungen gemacht, die diese Wissenschaft auf einen ganz neuen Standpunkt setzen" (GA I, 3, 294). Es geht in diesem Buch daher um „Natur- und Staatsrecht".
[2] Vgl. GA I, 3, 424: „Die Möglichkeit des Rechtsverhältnisses zwischen Personen auf dem Gebiete des Naturrechts ist durch gegenseitige Treue und Glauben bedingt. Gegenseitige Treue und Glauben aber ist von dem Rechtsgesetze nicht abhängig; sie läßt sich nicht erzwingen, noch giebt es ein Recht, sie zu erzwingen." Für Fichte beruht daher der Staat auf dem Mißtrauen Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA, I, 4, 22 f. (so ausdrücklich z. B. GA I, 4, 83).

die Sicherheit seiner Person, und seines Eigenthums", getreu dem Motto: „Liebe dich selbst über alles, und deine Mitbürger um dein selbst willen" (GA I, 4, 69). Fichte nennt dieses Motto das „Grundgesetz" des Staates, der auf dieser Selbstliebe aufbaut und in ihr in der Realität der Willkür gegründet ist: „diese über alles gehende Liebe für sich selbst [ist ...] das Mittel, den Bürger zu nöthigen, daß er die Rechte anderer ungekränkt lasse [...]. Dieser Sorge für die eigene Sicherheit ist es, welche den Menschen in den Staat [treibt]" (GA I, 4, 69). In einem Brief an Johann Jakob Wagner vom 9.9. 1797 betonte Fichte diesen Ausgangspunkt. Er hält den von Wagner in einer Besprechung der „Grundlage des Naturrechts" geschriebenen Satz für richtig: „Der Wille, sich selbst einzuschränken, kann bei den Menschen, nach Rechtsbegriffen, nur dadurch bewirkt werden, daß man ihre Selbstliebe in Bewegung setzt". Die Behauptung Wagners aber, daß jeder Mensch andere Güter liebe, weist Fichte zurück: „So? Soweit, daß ein physischer Zwang nicht möglich wäre? Giebt es eine Selbstliebe, die sich nicht für Gut, und Leib, u. Leben interessierte? - Wer dieses Interesse nicht hat, dem ist die Selbstliebe ganz u. gar abzusprechen; er ist [.] des Lebens in der menschl. Gesellschaft ganz unfähig. Er wird ausgestossen. Auf ihn sonach rechnet die Gesetzgebung nicht. Ich hoffe, daß dergl. Menschen nur die Ausnahme machen."[1]

Die Selbstliebe verlangt Sicherheit für Leib und Leben und für das Gut, zusammen für die Freiheit der Person, für deren Urrechte. Von daher zeigt sich, daß die Bedingung - von der die Willkür der einzelnen Personen sich abhängig macht - die Garantie dieser Sicherheit ist. Es ist erforderlich (nicht aus sittlicher Notwendigkeit, sondern aus praktischer Klugheit und Selbstliebe), daß die zukünftige Erfahrung des rechtlichen Handelns der jeweils anderen schon für den Zeitpunkt der Willensbildung vorweggenommen werden kann, daß also „gegenseitiges Freilassen, und die ganze künftige Erfahrung [...] Eins, und ebendasselbe seyn [müssen]" bzw. daß „in der gegenseitigen Freilassung [...] schon die ganze künftige Erfahrung, welche begehrt wird, liegen, und durch sie verbürgt werden [muß]" (GA I, 3, 395).

Fichte meint, daß zunächst alle Personen auf ihre physische Macht verzichten, diese einem Dritten übergeben, der dadurch „übermächtig" wird, und darüber hinaus sich der Beurteilung ihres Verhältnisses durch diesen Dritten unterwerfen müßten (GA I, 3, 396); dies aber nur in vollkommener Freiheit (und Denken). Erforderlich ist somit vor der Unterwerfung das „Urtheil, daß im Zustande der Unterwerfung meiner rechtmäßigen Freiheit nie Abbruch geschehen wird, daß ich nie etwas von derselben werde aufopfern müssen, als dasjenige, was ich auch meinem eigenen Urtheile nach, zu Folge des Rechtsgesetzes, hätte aufgeben müssen" (GA I, 3, 397). Auf diese Weise kann die ganze künftige Erfahrung vor der Unterwerfung vergegenwärtigt werden (GA I, 3, 397). Die Selbstliebe erhält die erforderliche Sicherheit (als Garantie und Gewährleistung), weshalb die Person diese willkürliche Entscheidung für diese Unterwerfung treffen und ausführen wird. Denn sie weiß aufgrund dieses Urteils, daß ihre rechtliche Freiheit nicht angetastet werden wird, weil nicht angetastet werden kann. Handelt sie rechtlich, ist die Unterwerfung von vornherein für sie nicht relevant;
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[1] Abgedruckt in GA I, 3, 304.

und sie kann wegen dieser Unterwerfung nicht anders handeln als rechtlich. „Obgleich ich unterworfen bin, bleibe ich immer fort nur meinem Willen unterworfen" (GA I, 3, 398).

Vereinigung von Privatwille und gemeinsamem Willen​


Freilich muß dieses Urteil auch begründet sein. Dies gilt zunächst für den übermächtigen Dritten, dessen Entscheidung sich alle unbedingt und durch Aufgabe des eigenen Urteilsrechtes unterwerfen müssen[1], soll diese Bedingung der garantierten Sicherheit aller erfüllt sein. Jeder muß „einsehen können, daß alle möglichen künftigen Rechtsurtheile, die in meinen Angelegenheiten gesprochen werden dürften, nur so ausfallen können, wie ich selbst, nach dem Rechtsgesetze, sie würde sprechen müssen" (GA I, 3, 397). Fichte verlangt daher, daß die künftigen Rechtsurteile in Normen niedergelegt sein müssen, die er die „positiven Gesetze" nennt. Sie seien die Konkretisierungen des allgemeinen Rechtsgesetzes und würden von den bürgerlichen Richtern angewendet (GA I, 3, 397).

Zugleich muß aber auch gesichert sein, daß der Wille dieser positiven Gesetze notwendig und keiner Ausnahme fähig das Rechte ausführen muß. „Es soll [...] überhaupt unmöglich seyn, daß [meine] Rechte verletzt werden", nämlich zunächst durch die Gesetzgebung und die Judikative, dann aber auch durch die Exekutive als die Durchführung der Gesetze und richterlichen Urteile. Es muß unmöglich sein, „daß je eine Gewalt, ausser der des Gesetzes, sich gegen mich richte" (GA I, 3, 399). Es muß ein Wille gefunden werden, „von dem es schlechthin unmöglich sey, daß er ein anderer sey als der gemeinsame Wille", was zugleich erfordert, „einen Willen zu finden, in welchem Privatwille, und gemeinsamer synthetisch vereiniget sey" (GA I, 3, 433).

Auf die näheren Ausführungen Fichtes zu diesem übermächtigen Dritten ist hier nicht einzugehen. Fichte denkt als Voraussetzung einen (Staats-)Bürgervertrag aller, durch den alle sich nicht nur unterwerfen, sondern sich auch vereinigen zu einem Ganzen, zu einem Staatskörper, in den sie alle als Teile eintreten. Dadurch entsteht ein Staat, der sich - gebildet aus den Verträgen mit den Einzelnen - schließlich selbst erhält und dadurch souverän wird (vgl. GA I, 4, 17 f.). Dieser grundlegende (Staats-)Bürgervertrag wird zwischen den Einzelnen und diesem ganzheitlichen Staat geschlossen. „Durch den Vertrag erhält der Bürger ein sicheres Eigenthum[2] von seiner Seite, und der Staat die für den rechtlichen Besiz aller seiner übrigen Bürger nöthige Verzichtleistung dieses Einzelnen auf seine natürlichen Rechtsansprüche auf
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[1] Vgl. die Bemerkung in Fichtes „Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre" (1798): „Der Staat überzeugt nicht; ob man die Richtigkeit, und Gerechtigkeit seines Ausspruchs einsehe, oder nicht, muß man sich demselben doch unterwerfen, und er wird mit physischer Kraft ausgeführt: der Staat behandelt in so fern den Menschen nicht als vernünftiges Wesen, sondern als bloße Naturgewalt, die in ihre Grenzen zurückzuweisen ist: und daran hat er ganz Recht, denn er ist darzu eingesetzt" (GA I, 5, 273).
[2] Worunter Fichte einmal den Besitz, aber dann auch in einem weiteren Sinne des Worts „Rechte auf freie Handlungen in der Sinnenwelt überhaupt" versteht (GA I, 4, 8).

diesen Besiz, wie auch einen bestimmten Beitrag zur schützenden Gewalt" (GA I, 4, 18).

Freilich bleibt das Problem, daß dieser Staat nur das Rechtsgesetz (konkretisiert durch die positiven Gesetze) verwirklichen können muß (mit Notwendigkeit), ungelöst. Zwar findet Fichte hier starke Worte, indem er seine bereits oben genannte Ablehnung eines Naturrechts vertieft. Das Rechtsverhältnis kann nur verwirklicht werden in dem „gemeinen Wesen" des Staates und unter positiven Gesetzen. „Der Staat selbst wird der Naturzustand des Menschen, und seine Gesetze sollen nichts anderes seyn, als das realisierte Naturrecht" (GA I, 3, 432). Seine Forderung ist dabei klar formuliert: es müsse der Staatsgewalt „unmöglich [seyn], irgend etwas anders zu bewirken, als das Recht", d. h. „physisch unmöglich seyn, daß die öffentliche Macht [.] einen anderen Willen ha[t], als den des Rechts" (GA I, 3, 444 f.). Fichte verlangt dafür eine „vernunftmässige Staatsverfassung" (GA I, 3, 446), auf eine „Constitution", die unabänderlich Bestand haben müsse (GA I, 3, 458), stellt auf den einheitlichen Willen der Staatsbürger ab, sieht die Institution des Ephorats vor (GA I, 3, 448 ff.); aber letztlich muß auch Fichte einräumen, daß ein verdorbenes Volk eine solche Naturanstalt der Freiheit nicht errichten könne (GA I, 3, 456).

Mechanik des strafenden Staats

In dem Rahmen dieses Beitrags interessiert mehr die zweite Sphäre der erforderlichen Sicherheit, nämlich die vor den Handlungen der anderen, die sich ebenfalls unterworfen haben. Auch hier muß Sicherheit garantiert sein, daß keiner von ihnen einen unrechtlichen Willen handelnd ausführen kann, daß es also jedem physisch unmöglich wird, unrechtlich zu handeln. Nur dann ist das Rechtsgesetz ein Gesetz, „d. h. es soll unmöglich seyn, daß davon eine Ausnahme geschehe, es soll allgemeingültig und kategorisch gebieten" (GA I, 3, 390). Nicht also geht es um ein Gesetz des Sollens: das Gesetz muß notwendig wirken. „Es soll also überhaupt unmöglich seyn, daß [meine] Rechte verlezt werden" (GA I, 3, 399).

Dieses Verständnis des Gesetzes muß berücksichtigt werden, vor allem von Juristen, die in der Regel das Gesetz in die Dimension des bloßen Sollens rücken. Fichte stellt aber auf ein wirkendes Gesetz ab, das allerdings nicht mechanisch wirken kann, sondern sich an den Willen selbst richten muß (GA I, 3, 426). Deshalb ist das Gesetz eine Veranstaltung, eine Anstalt (vgl. GA I, 3, 427), eben der Staatskörper. Die zu lösende Aufgabe ist klar gestellt: es muß der Staat als eine Instanz gedacht und dann auch realisiert werden, die es dem (d. h.: jedem) Einzelnen unmöglich macht, einen unrechtlichen Willen handelnd zu verwirklichen. Fichte spricht von einer „mit mechanischer Nothwendigkeit wirkenden Veranstaltung" (GA I, 3, 427), die sich an den Willen selbst wendet und diesen zur Rechtlichkeit zwingt. In diesem Sinne setzt Fichte „Zwangsgesetz" und „mit mechanischer Nothwendigkeit wirkende Veranstaltung" gleich (GA I, 3, 427).

Die Argumentation Fichtes ist einfach. Wenn der Wille etwas (z. B. ein unrechtmäßiges A) will - und jeder Wille muß etwas Bestimmtes wollen -, dann verabscheut er das Gegenteil (z. B. ein rechtmäßiges Non-A). „Wenn es nun so eingerichtet werden könnte, daß aus dem Wollen jedes unrechtmäßigen Zwecks nothwendig, und nach einem stets wirksamen Gesetze, das Gegentheil des beabsichtigten erfolgte, so würde jeder rechtswidrige Wille sich selbst vernichten. Gerade darum, weil man etwas wollte, könnte man es nicht wollen; jeder unrechtmäßige Wille würde der Grund seiner eigenen Vernichtung" (GA I, 3, 426). Wenn also eine Person „vorhersähe, daß aus ihrer Wirksamkeit, A. zu realisiren, nothwendig das Gegentheil von A. erfolgen werde, so könnte sie A, nicht realisiren wollen [...] Sie könnte A. nicht wollen, gerade darum, weil sie es will" (GA I, 3, 427). Es geht um die Selbstvernichtung des Willens, weshalb nicht einem Zwang von Außen das Wort geredet wird: der Zwang geschieht dem Willen selbst, ist in ihm (nämlich in der Vorstellung dessen, was er bewirken wird [nämlich: A und zugleich Non-A]), weshalb er sich selbst aufhebt.

Fichte fordert deshalb (mit dem Anspruch, diese Konsequenz aus dem Rechtsgesetz selbst deduziert zu haben, vgl. GA I, 3, 427), daß eine Veranstaltung errichtet werden müsse, „durch welche aus jeder rechtswidrigen Handlung das Gegentheil ihres Zwecks erfolgte", und zwar mit mechanischer Notwendigkeit, eine Veranstaltung, die er das „Zwangsgesetz" nennt (GA I, 3, 427). Der Vereinigungsvertrag aller Einzelnen, die den Staatskörper errichten, müsse daher auch die Errichtung dieser Zwangsanstalt umfassen (GA I, 3, 427), mit der Folge, „daß aus jeder Verletzung des Rechts, für den Verletzenden unausbleiblich, und mit mechanischer Nothwendigkeit, so daß er es ganz sicher voraussehen könne, die gleiche Verletzung seines eignen Rechts unausbleiblich erfolge" (GA I, 3, 430). Eine solche mechanisch zwingende Macht müsse eingesetzt werden. Fichte nennt sie eine „bestrafende" Macht (GA I, 3, 430). Aber zunächst geht es um die wirksame und daher auch den Willen beeinflussende Inaussichtstellung des Gegenteils von dem, was der Betreffende will, als notwendige Folge dieses Wollens. Eigentlich geht es um eine Warnung, die den Betreffenden zu dem Urteil führt, daß er - wenn er A wolle - er Non-A erreichen werde, weshalb er den Willen zur Herbeiführung von A aufgeben müsse. Erforderlich ist nur diese Zwangsanstalt, die diesen Zusammenhang von A und Non-A als mechanisch wirkend begründet: sie muß dafür sorgen, daß der Einzelne zu der Einsicht kommt, daß auf A wirklich notwendig Non-A folgen wird.

Fichte spricht von der „Strafe des gleichen Verlustes, poena talionis" in dem Sinne, daß jeder wissen müsse: „was du dem andern schadest, schadest du nicht dem anderen, sondern lediglich dir selbst" (GA I, 4, 61). Dies paßt hier (noch) nicht. Es geht in diesem Zusammenhang der Errichtung der Zwangsanstalt (des Zwangsgesetzes) um den „Geist dieses Princips": „es muß dem ungerechten Willen[1] [...] ein
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[1] Fichte fügt hinzu: „oder der Unbesonnenheit". Dahinter steht seine These, daß die Sicherheit nur zu gewährleisten sei, wenn die Zwangsanstalt auch gegen unbedachtsame Schädigungen (modern gesprochen: Unrechtshandlungen aus Fahrlässigkeit) wirken könnte. Jeder müsse „soviel Sorge tragen, daß er die Rechte des Anderen nicht verletze, als er Sorge trägt, daß die seinigen nicht verletzt werden". Dies meint Fichte dadurch erreichen zu können, daß die Befriedigung des Willens - den der Betreffende habe - dadurch bedingt werde, „daß sie den anderen Willen haben, den sie haben sollen, und vielleicht nicht haben möchten". D.h.: „Jeder Verlust, der durch meine Unbesonnenheit dem Andern erwachsen ist, muß mir selbst zugefügt werden" (GA I, 3, 428 ff.). - Es ist unbestritten, daß diese Begründung nicht stichhaltig ist; vgl. nur Rainer Zaczyk: Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981, 88.

hinlängliches Gegengewicht gegeben werden" (GA I, 3, 61); und selbstverständlich dafür gesorgt werden, daß dieser Zusammenhang (Gewicht A und Gegengewicht Non-A) auch wirklich durchgesetzt wird.

Von daher erweist sich der durch Vertrag aller einzusetzende Staat(skörper) als übermächtiger Zwangsapparat, der mit mechanisch wirkender Notwendigkeit die handelnde Ausführung eines unrechtlichen Willens unmöglich macht, indem er in jedem eine Verletzung des Rechts eines anderen vorstellenden Willens unmittelbar die Vorstellung des notwendig eintretenden Gegenteils erzeugt, wodurch dieser Wille sich selbst aufheben muß. Insofern muß es der Leviathan sein, wie bei Thomas Hobbes das alttestamentliche übermächtige Ungeheuer; allerdings aus sich und in sich selbst gebunden an den allgemeinen Willen zu einem rechtlichen Verhältnis aller. Daher will auch jeder, der die Gemeinschaft mit anderen freien Vernunftwesen als Rechtsverhältnis will, einen solchen Zwangsapparat, weil dieser ja nur für rechtlichen Willen zuständig ist.

III. Errichtung eines strafenden Staates​


Fichte nennt diese Zwangsanstalt, die zur Selbstaufhebung des rechtswidrigen Willens mit mechanischer Notwendigkeit führt, die „bestrafende Macht" (GA I, 3, 430). Um zu diesem Ergebnis zu kommen, bedarf es allerdings noch einiger Überlegungen.

Abschreckung und Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft

Bis jetzt geht es - um mit den Juristen zu sprechen - um eine Warnung. Dem A wollenden Willen wird gezeigt, daß er notwendig in der handelnden Verwirklichung Non-A erreichen wird, das er aber gerade nicht will, weshalb er sich selbst vernichtet und aufgibt: damit wird A nicht handelnd ausgeführt. Erforderlich ist deshalb nur, Non-A als notwendige Folge des handelnd sich verwirklichenden Wollens des A aufzuzeigen.

Diese Aufgabe weist Fichte der peinlichen Gesetzgebung im Staatskörper zu. Denn er setzt voraus, daß es eine bürgerliche Gesetzgebung (legislatio civilis) und eine peinliche Gesetzgebung (legislatio criminalis, jus criminale, poenale) im Staat gibt, wobei die erstere bestimmt, wie weit die Rechte einer jeden Person gehen sollten, und die letztere, wie derjenige, der sie auf diese oder jene Art verletzt, bestraft werden sollte (GA I, 3, 434 f.). Damit behauptet er, daß die gesetzlich vorgesehene Strafe (als Übel, weil Einbuße der Rechtsstellung des Betroffenen) Mittel für die Erreichung des genannten Zwecks ist, nämlich daß die Rechtsverletzung - die in den Strafgesetzen als Verbrechen umschrieben wird - überhaupt nicht geschehen wird. „Der Zweck des Strafgesetzes ist, daß der Fall seiner Anwendung gar nicht vorkomme. Der böse Wille
soll durch die angedrohte Strafe unterdrückt[1] [...] werden [...]. Damit nun dieser Zweck erreicht werden könne, muß jeder Bürger ganz sicher wissen, daß falls er sich vergehe, die Drohung des Gesetzes an ihm unausbleiblich in Erfüllung gehen werde" (GA I, 4, 60 f.). Aus der Warnung vor der notwendigen Folge ist damit eine Drohung geworden, aus der gegenteilige Folge des Nachteils ein Strafübel. Doch muß die Drohung sich weiterhin an den Willen richten, zu seiner Selbstvernichtung führen, weshalb das Strafübel konsequent der Theorie des Gegengewichts folgen muß. Wenn jemand A handelnd verwirklichen will - wobei dieses A im Gesetz als Verbrechen umschrieben wird (z. B. als Tötung oder Körperverletzung oder Sachbeschädigung) -, dann droht das Strafgesetz ein Übel an, das als Gegengewicht zu A wirken soll (und auch um der Garantie der Sicherheit wirken muß); man denkt eigentlich (konsequent zu den genannten Beispielen) an Androhung von Tod oder Körperverletzung oder Vermögensverlust. Die Verwirklichung dieser Androhung - also die Tötung des Totschlägers, die Verletzung des Körperverletzers, die Schädigung des Sach- beschädigers - kann dann nur den Zweck haben, den mechanisch wirkenden Zu- sammenhang von A und Non-A allen aufzuzeigen: „Die Strafe ist [...] um des Beispiels willen da, damit alle in der festen Überzeugung von der unfehlbaren Ausübung des Strafgesetzes erhalten werden" (GA I, 4, 61). Für die anderen mag dies im Sinne der generalpräventiven Abschreckung gelten. Für den Verbrecher selbst kann der Zweck nur darin bestehen, ihm diesen Zusammenhang erneut und nun mit mechanisch wirkender Wucht einsichtig zu machen: denn offensichtlich hat die Androhung von Non-A nicht bewirken können, daß er seinen Willen auf A selbst aufgehoben hat; er hat an diesen mechanisch wirkenden Zusammenhang nicht gedacht.

Allerdings argumentiert Fichte in dieser Weise nicht. Er verknüpft das Verbrechen des Totschlags nicht mit der Strafe der Tötung, das Verbrechen der Körperverletzung nicht mit der Strafe des körperlichen Eingriffs. Er will diese Theorie des Gegengewichts - verstanden als „poena talionis" („Strafe des gleichen Verlusts") (GA I, 4, 61) - nur für den Willen heranziehen, der „materialiter böse", d.h. ein „eigennütziger und nach fremden Gütern lüsterner Wille" ist (GA I, 4, 61 f.). Will der Verbrecher einen materiellen Vorteil durch sein Handeln erreichen, also z. B. eine Sache sich zueignen, dann müsse ihm nicht nur die Sache wieder abgenommen und dem Geschädigten zurückgegeben werden (was Schadenersatz sei [GA I, 4, 62), sondern ihm auch als Strafübel eine gleichwertige eigene Sache weggenommen werden (als Vermögensstrafe). Für den „formaliter" bösen Willen, der lediglich handelnd schädigen will (wie in den oben genannten Beispielen) (GA I, 4, 62), dagegen soll diese poena talionis (beruhend auf der Theorie des Gegengewichts) ausscheiden.

Fichte vertritt damit die Meinung, daß ein solcher Wille, der nur schädigen will, sich nicht durch die Strafandrohung des gleichen Verlustes abhalten lassen werde: „der boshafte schadenfrohe Mensch unterwirft sich wohl gerne dem Verluste, wenn nur sein
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[1] Fichte fährt fort: und „der ermangelnde gute Wille durch sie hervorgebracht werden soll". Zum Hintergrund vgl. GA I, 3, 428 ff.

Feind auch in Schaden kommt" (GA I, 4, 62). Fichte kommt auf die Idee, auf die poena talionis (als Gegengewicht) zu verzichten und in diesen Fällen „härter zu bestrafen", was eigentlich meinen muß: ein härteres Strafübel anzudrohen (GA I, 4, 63). In diesem Sinne wäre zu fragen, ob dann z. B. gegen den Willen, unrechtlich zu töten, die Tötung als Todesstrafe, gegen den Willen, unrechtlich zu verletzen, eine Körperstrafe (oder in schweren Fällen auch die Todesstrafe) angedroht werden könnte, ja wegen der Garantie der Sicherheit angedroht werden müßte. Gegen die Todesstrafe würde Fichte einwenden, daß diese als eine rechtliche Strafe nicht möglich sei, weil dadurch das Rechtsverhältnis aufgehoben werden würde[1]: „Der Staat als solcher, als Richter, tödtet nicht, er hebt bloß den Vertrag auf" (GA I, 4, 74), wodurch der Betroffene in den Zustand der Rechtlosigkeit verfallen würde und dann durch die staatliche Polizei wie ein schädliches Tier getötet werden könnte, falls dies zum Schutz der Gesellschaft erforderlich wäre (GA I, 4, 74). „Wer den

Bürgervertrag in einem Stücke verlezt[2] [...], verliert der Strenge nach dadurch alle seine Rechte als Bürger, und als Mensch, und wird völlig rechtlos. [...] Jede Vergehung schließt aus vom Staate, (der Verbrecher wird Vogelfrei; d. h. seine Sicherheit ist so wenig garantirt, als die eines Vogels, exlex, hors de la loi). Diese Ausschließung müßte durch die Staatsgewalt exekutiert werden" (GA I, 4, 59). Aber dann wäre weiter zu fragen, warum dann nicht mit dieser Aufhebung des Vertrages und dem damit verbundenen Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft - der für Fichte das „schrecklichste Schicksal" darstellt (GA I, 4, 68) - gedroht werden könnte, ja müßte. Fichte würde antworten, daß dieser Ausschluß - da er die Aufhebung des Rechtsverhältnisses voraussetzt - keine rechtliche Strafe darstellen, daher nicht der peinlichen Gesetzgebung zugeordnet werden könne. Es wurde oben bereits angemerkt, daß aber dann die staatliche Tötung des Ausgeschlossenen (wie die eines schädlichen Tieres) durch eine Sicherheitsmaßnahme der Polizei - die Fichte im Abschnitt über die „Constitution" behandelt (GA I, 4, 84 ff.) - erfolgen kann.

Darüber hinaus ist allgemein festzuhalten, daß offensichtlich dem formaliter bösen Willen nicht mit mechanischer Sicherheit Einhalt geboten werden kann. Fichte fällt kein Mittel ein, gegen die einen solchen formaliter bösen Willen ausführenden Handlungen die anderen zu schützen. Es bleibt nur die Konsequenz: „die Ausschließung vom Staate" (GA I, 4, 62) und damit die Aufhebung des staatlich verfaßten Rechtsverhältnisses. Es stellt sich aber dann die Frage, welches Rechtsverhältnis damit eigentlich aufgehoben werden müßte.

Zunächst aber sind noch zwei Anmerkungen zu machen. Fichte sieht (erstens) für denjenigen, der einen Anderen unschuldig und boshafterweise an seiner Ehre angreift,
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[1] Fichte behauptet auch: „Der Tod des Verbrechers ist etwas zufälliges, kann daher im Gesetz nicht angekündigt werden" (GA I, 4, 74). Die Begründung kann nur darin liegen, daß diese Tötung nur Sicherungsmaßnahme der Polizei sein könne, die eine Notsituation voraussetze. Aber es geht gerade um diese Frage, ob nicht auch eine Todesstrafe möglich sein kann.
[2] Wieder stellt Fichte neben das willentliche Verletzen (Vorsatzverbrechen) die Verletzung aus „Unbedachtsamkeit, da, wo im Vertrage auf seine Besonnenheit gerechnet wurde" (260). Zum Hintergrund vgl. GA I, 3, 428 ff.

die Sanktion des Ehrverlustes vor: er wird an den Pranger oder die Schandsäule gestellt, um ihm seine Ehre öffentlich zu nehmen. Er sieht darin „Strafen für sich" (GA I, 4, 78). Doch läßt sich hier die Theorie des Gegengewichts (also der poena talionis) nicht heranziehen: die Androhung des Ehrverlusts kann dem boshaften ehrverletzenden Willen kein wirksames Gegengewicht entgegenstellen. Offensichtlich hat hier das Talionsprinzip eine andere Bedeutung: nämlich als Begründung des Strafübels aus dem durch die Handlung herbeigeführten Übel. Dies ist aber die von Fichte mit starken Worten[1] abgelehnte „absolute Theorie" der Vergeltung. Oder anders gesagt: Fichte argumentiert hier widersprüchlich.

Die zweite Anmerkung verschärft das Problem der Nichtanwendbarkeit der Theorie des Gleichgewichts (und damit der poena talionis) dadurch, daß für Fichte selbst eine Verletzung des Eigentums - die meist von einem materialiter bösen Willen getragen ist - mehr ist als nur das Streben nach dem Vorteil A (dem mit der Androhung von Non-A begegnet werden könnte). Da der Staat das Eigentum sichert und schützt, verletze der Verbrecher auch den Staat (mittelbar) selbst (GA I, 4, 66), weshalb wiederum nur der Ausschluß aus der Gemeinschaft bleibe, aber dieser nicht als Strafe angedroht werden könne (GA I, 4, 66). Selbstverständlich muß diese Konsequenz auch für die unmittelbaren Angriffe auf den Staat - Fichte nennt Rebellion und Hochverrat (GA I, 4, 67) - gelten. Schließlich ist die poena talionis (im Sinne der Theorie des Gegengewichts) auch auf Täter nicht anwendbar, die nichts zu verlieren haben, etwa Arme, die für sich etwas stehlen, aber denen als Strafübel nichts Vermögenswertes weggenommen werden kann (GA I, 4, 67).

Polizeiliche Regelung des Ausschlusses

Es geht aber nicht nur um die Unmöglichkeit einer Antwort zur Lösung dieses Problems, welches Strafübel nun die dem formaliter bösen Willen entspringenden unrechtlichen Handlungen mit mechanischer Notwendigkeit soll verhindern können. Fichte scheitert eigentlich an seinem grundlegenden Anspruch, die Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs in der Wirklichkeit der Gemeinschaft freier Vernunftwesen zu beweisen. Denn Voraussetzung war, daß aufgezeigt werden kann, daß die Selbstliebe ihre Befriedigung findet in ihrem Streben nach Sicherheit, weil es allen (d. h. jedem) mit mechanisch wirkender Notwendigkeit unmöglich gemacht wird, einen unrechtlichen Willen handelnd zu verwirklichen. Der willkürliche Wille des Einzelnen, sich dem Rechtsgesetz und in dessen Konsequenz dem Staat zu unterwerfen, war abhängig gesetzt worden von der Erreichung des angestrebten Zwecks. Er „kann [...] sich ihm nur insoweit unterwerfen, als dieser Zweck erreichbar ist; oder auch, das Gesez gilt für [den]selbe[n] nur insofern, als der Zweck erreichbar ist" (GA I, 3, 391). Dieser Zweck wird aber nun durch den Staat nicht erreicht.

Dies zeigt sich bereits in der Begehung des Verbrechens selbst. Denn hier wird manifest, daß die mechanisch wirken sollende Notwendigkeit nicht wirksam war. Die
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[1] Vgl. etwa die Kritik an Kant: GA I, 4, 76 ff.

Konsequenz, daß das staatlich verfaßte Rechtsverhältnis von allen mit dem Verbrecher aufgehoben, nur der Verbrecher rechtlos geworden ist, ist noch zu wenig. Es ist das Rechtsverhältnis aller aufgehoben, weil die Bedingung für ihren Willen - Sicherheit zu erlangen - nicht erfüllt ist. Zwar ist unmittelbar nur der durch die Handlung selbst Verletzte betroffen; aber mittelbar wirkt dieser Verlust der Sicherheit des Einen auf alle anderen. Da nützt der Ausschluß des Verbrechers nichts, nicht einmal seine physische Vernichtung als sichernde Polizeimaßnahme.

Aber auch allgemein(er) kann der Zweck des Staates nicht erreicht werden, da die Theorie des Gegengewichts auf die Handlungen aus formaliter bösen Willen sowie auf die Handlungen, die mittelbar oder unmittelbar gegen den Staat selbst gerichtet sind, nicht angewendet werden kann, weshalb diese Handlungen nicht mit mechanischer Notwendigkeit verhindert werden können. Kann dieser Zweck aber nicht erreicht werden, dann ist ein Wille, sich zu einem Staatskörper zu vereinigen und sich dessen Gesetzen zu unterwerfen, nicht mit dem dafür erforderlichen Streben der Selbstliebe nach Sicherheit zu vereinbaren. Er „kann sich ihm nur insoweit unterwerfen, als dieser Zweck erreichbar ist" (GA I, 3, 391).

Fichte hat diese Konsequenz in einem anderen Fall selbst anerkannt. Er sieht „die ausschließende Bedingung der Wirksamkeit der Gesezgebung, und der ganzen Staatseinrichtung" darin, „daß jeder, der zu einer Vergehung gegen das Gesez versucht ist, ganz sicher vorhersehe, er werde entdeckt, und auf die ihm wohlbekannte Weise bestraft werden". Denn könne sich der Verbrecher „Verborgenheit und Un- gestraftheit" versprechen, dann werde ihn nichts von der Begehung des Verbrechens abhalten können. Daher: „Die Foderung an die Dienerin der Gesezgebung, die Policei, daß sie jeden Schuldigen ohne Ausnahme herbeischaffe, ist schlechthin unerlaßlich" (GA I, 4, 91)[1]. Und die Konsequenz: „Wäre die Behauptung [der Unmöglichkeit, diese Forderung zu verwirklichen, WS] gegründet, so würde ich ohne alles Bedenken folgern: also ist auch der Staat überhaupt, und alles Recht unter den Menschen unmöglich" (GA I, 4, 91). Nur glaubt Fichte, daß durch eine wohldurchdachte polizeiliche Ordnung diese Forderung erfüllt werden könnte (GA I, 4, 92). Genauso wie er annimmt, daß „ein gutes Civilgesez, und die strenge Verwaltung desselben [...] die Ausübung der Criminalgesezgebung ganz auf[hebt]. - Ueberdies, wer wagt ein Verbrechen, wenn er sicher weiß, daß es entdekt, und bestraft wird? Nur ein halbes Jahrhundert so verlebt, so werden die Begriffe der Verbrechen aus dem Bewußtseyn des glücklichen Volks, das nach solchen Gesetzen regiert wird, verschwinden" (GA I, 3, 460).

Strafoptionen

An diese zuletzt zitierte These, daß die Begriffe des Verbrechens verschwinden würden, ist anzuknüpfen. Denn eigentlich kann es nach der Fichteschen Begründung
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[1] In eben diesem Sinne verweist Fichte bereits im Abschnitt über die peinliche Gesetzgebung auf die Wirksamkeit der Polizei (vgl. GA I, 3, 68).

des staatlichen Zwangsapparates überhaupt kein Strafrecht, keine „peinliche Gesetzgebung", geben. Denn der das unrechtliche A wollende Wille wird sich durch die Vorstellung des notwendig damit verbundenen rechtlichen Non-A selbst aufheben, weshalb es zu keiner unrechtlichen Handlung kommen kann. Handelt dennoch jemand in dieser Weise unrechtlich, dann zeigt sich die Unwirksamkeit des Zwangsgesetzes, das dadurch mangels Zweckerreichung vernichtet wird bzw. ist; und zwar für alle, die diese Unwirksamkeit erkennen.

Fichte versucht, das Zwangsgesetz für die anderen aufrecht zu erhalten. Er sieht die Parteien des Vereinigungsvertrages einmal in jedem Einzelnen und dann in dem Staatskörper selbst (GA I, 4, 17 f.). „Nur unter Bedingung seines Beitrags ist mit ihm der Vertrag geschlossen: mithin ist der Kontrakt aufgehoben, sobald der Bürger diesen Beitrag nicht entrichtet" (GA I, 4, 17). Für die anderen soll er weiter bestehen: denn sie seien in diesem Staatskörper mit ihren notwendigen Beiträgen vereinigt enthalten. Jeder Einzelne werde Teil des organisierten Ganzen (GA I, 4, 15). Das Ganze schütze und sichere die Freiheit der Einzelnen, soweit sie nicht in dieses Ganze eingegangen sei; und das Ganze sichere ihm diese Freiheit, weshalb er auch den Vertrag eingegangen sei. Daraus muß aber doch gefolgert werden: Wird ihm diese Freiheit nicht gesichert, sondern durch ein Unrecht verletzt, dann tritt auch für ihn der Vertrag außer Kraft; wie auch für die alle anderen, die den Zweck ihrer Verträge nicht erreicht sehen.

Dieses Ergebnis ist bitter. Jede Verletzung der positiven Gesetze, denen sich die Bürger unterworfen haben, führt konsequent zur Aufhebung des staatlich gesicherten Rechtsverhältnisses. Es ist erforderlich, einen neuen Vertrag zu schließen zumindest mit denen, die sich bis jetzt an die Gesetze gehalten haben, wohingegen der Gesetzesverletzer ausgestoßen und rechtlos gemacht wird (bzw. sich selbst rechtlos gemacht hat).

Dieses Ergebnis kann allerdings dadurch verhindert werden, indem die Personen von vornherein einen Vertrag schließen, der bestimmt, daß das staatlich verfaßte Rechtsverhältnis aller auch nach der Gesetzesverletzung eines von ihnen und dessen Ausschluß weiterbestehen soll. Dies macht es allerdings erforderlich, daß eine Einbuße an Sicherheit zugestanden wird: freilich nur für diese einzelne Unrechtshandlung, sofern wenigstens mit mechanischer Notwendigkeit auf sie mit dem Ausschluß reagiert wird.

Es muß gesehen werden, daß dies eine Veränderung des ursprünglichen Vertrages ist. Denn sein Zweck war, mit den anderen Person in einer Gemeinschaft der Freiheit zu stehen, was nur unter der Bedingung erreichbar war, daß diese Personen selbst sich das Gesetz gegeben haben, die Freiheit eines jeden Anderen oder seiner Urrechte zu respektieren. „Auf mein Betragen gegen den, der dieses Gesez sich nicht gegeben hat, ist es gar nicht anwendbar, denn der Zweck fällt hinweg" (GA I, 3, 391). Fichte hatte daraus - wie unter II.2. gezeigt - ein grenzenloses Zwangsrecht abgeleitet. Nun aber muß Inhalt des Vertrages auch seine Verletzung durch eine einzelne Unrechtshandlung werden; und ebenso die notwendige Reaktion des Staates, der den Ausschluß des Betroffenen exekutieren muß. Damit wird aber dieser Ausschluß zu einem rechtlichen Akt, allerdings zu einem solchen, durch den die Rechtsstellung des Betroffenen vernichtet wird, genauer: durch den festgestellt wird, daß der Betroffene diese seine Rechtsstellung selbst vernichtet hat. Man kann daher nicht davon sprechen, daß er ein Recht auf diesen Ausschluß hätte: bedeutet dieser doch seine Rechtlosigkeit. Aber zumindest hat der Betroffene ein Recht darauf, daß ein rechtliches Verfahren gegen ihn durchgeführt wird, das mit der „Erklärung der Rechtlosigkeit" (GA I, 4, 72) enden kann. Es wird von den FichteInterpreten meistens übersehen, daß diese von ihm geforderte „Erklärung der Rechtlosigkeit" - die er als „das Höchste, was der Staat, als solcher, gegen irgend ein vernünftiges Wesen verfügen kann" ansieht (GA I, 4, 72) - ein rechtliches Verfahren voraussetzt und selbst ein rechtlicher (und damit: ein öffentlicher [GA I, 4, 74]) Akt ist, was wiederum nur möglich ist, wenn der Betroffene als Rechtsperson anerkannt ist. Deshalb muß es die peinliche Gesetzgebung geben, durch die zumindest dieses Verfahren wegen Verletzung der Gesetze, die ebenfalls in den

Strafgesetzen als Tat genau bestimmt sein muß, geregelt werden muß[1]. Was dann mit dem als ausgeschlossen Erklärten geschieht, kann allerdings gesetzlich-rechtlich nicht mehr gesagt werden, zumindest nicht durch die peinliche Gesetzgebung, die auf die richterliche Anwendung abzielt. Aber eine Konsequenz ist plausibel: die peinliche Gesetzgebung kann dieses Ausschlußverfahren als rechtliche Sanktion androhen und so die Wirksamkeit der Gesetze stärken. In gewisser Weise kann man hier auch von „Strafe" sprechen: freilich bezogen nicht auf den Ausschluß selbst, wohl aber auf das Verfahren, das mit der Erklärung der Rechtlosigkeit endet. Der Betroffene erhält dadurch auch - wie entsprechend zu den unten noch behandelten Strafen festzuhalten ist (vgl. GA I, 4, 60) - „das vollkommene Recht, zu fodern", daß gegen ihn ein rechtliches Verfahren durchgeführt wird.

Doch wird das Verhältnis des Staates wie der übrigen Bürger zu dem Ausgeschlossenen zum Problem der Polizei, die für die konkrete Sicherheit, für Ruhe und Ordnung zuständig ist (vgl. GA I, 4, 84 ff.). Daher ist sehr fraglich, ob ein oder mehrere Bürger den rechtlosen Ausgestoßenen töten, verstümmeln oder mißhandeln können (was man nur eine Lynch„justiz" in einem nicht-rechtlichen Sinne nennen könnte). Zwar kann darin kein Unrecht liegen; es gibt dafür aber auch keinen Rechtsgrund (GA I, 4, 73). Fichte meint, daß deshalb eine Ahndung durch den Staat nicht erfolgen dürfe; aber die Folge sei die „Verachtung aller Menschen, die Ehrlosigkeit. Wer ein Thier zur Lust martert, oder ohne den Zweck eines Vort- heils tödtet, wird verachtet, als ein unmenschlicher Barbar, geflohen und verabscheut, und das mit Recht. Wie vielmehr der sich an einem Wesen, das doch immer menschliches Angesicht trägt, so verginge. Man unterläßt es sonach nicht wegen eines Rechts des anderen, sondern aus Achtung gegen sich selbst, und seine Mitmenschen" (GA I, 4, 73), also aus sittlichen Gründen, wie ausdrücklich festgehalten wird (GA I, 4, 75). Worin dieses „Recht" zur Verachtung liegt, sagt Fichte nicht. Es ist aber anzunehmen, daß die Polizeigesetze (dazu GA I, 4, 86) diese Handlungen gegen den Ausgeschlossenen untersagen können.


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[1] So sieht Fichte etwa vor, daß der Betroffene verhaftet werden könne (GA I, 4, 79).

Für den Staat gilt zunächst Vergleichbares. Zwar ist er im Verhältnis zu dem Ausgeschlossenen überhaupt ein Staat nicht mehr, sondern nur mehr eine übermächtige Gewaltmaschine („stärkere physische Macht", „Naturgewalt" [GA I, 5, 73]). Doch auch er sollte nach Fichte aus Achtung vor sich selbst, vor seinen Bürgern und vor anderen Staaten nicht töten (GA I, 4, 73). Das Ausweichen auf eine „ewige Gefangenschaft" hält Fichte schon wegen der anfallenden Kosten für die Bürger für nicht zumutbar (GA I, 4, 75). „Es bleibt nichts übrig, als ewige Landesverweisung", die man mit der Brandmarkung - so wenig schmerzhaft als möglich - verbinden kann, um die Wiederkehr auszuschließen; ein vorheriges Auspeitschen (Stäupen) lehnt Fichte als barbarisch ab (GA I, 4, 75 f.). Ausdrücklich stellt Fichte (nochmals) fest, daß auch diese Landesverweisung keine Strafe, sondern ein polizeiliches Sicherungsmittel sei (GA I, 4, 76). Doch wiederum ist dazu festzuhalten, daß auch sie nur in einem rechtlichen Verfahren ausgesprochen wer- den kann. So ist sie dennoch ein Rechtsakt, auch wenn Fichte noch kein Polizeirecht im Sinne des modernen Verwaltungsrechts, das ebenfalls eine gesetzliche Ermächtigung braucht, kennt.

Nur in einem Fall sieht Fichte die Tötung des Ausgeschlossenen vor, nämlich als letztes Mittel, den Staat und die Bürger vor ihm zu schützen. Dann wird er behandelt wie „ein schädliches Thier, das niedergeschossen, ein ausreissender Strom, der gedämmt wird, kurz, eine Naturgewalt, die durch Naturgewalt vom Staate abgetrieben wird" (GA I, 4, 74). Der Grund liegt also in der Not, in die das Gemeinwesen durch den gefährlichen Verbrecher gerät (GA I, 4, 74). Daraus zieht Fichte - trotz der weiter zugrunde gelegten Rechtlosigkeit des Betroffenen - eine Grenze für das staatliche Handeln. Die Tötung soll nicht öffentlich erfolgen, weil sie letztlich unehrbar und mit Scham verbunden sei und wegen der Not nur entschuldigt werden könne (GA I, 4, 74).

Abbüßung statt Ausschluß

Die peinliche Gesetzgebung beruht also nicht nur auf dem Vereinigungsvertrag als Begründung der Staatsgewalt überhaupt, sondern auf einem zusätzlichen Vertrag, der den Ausschluß des Gesetzesverletzers vorsieht, auf einem Vertrag, den Fichte allerdings nicht ausdrücklich nennt, dessen Notwendigkeit aber oben abgeleitet ist (und aus dieser öffentlichen Erklärung der Rechtlosigkeit folgt). Fichte führt einen weiteren zusätzlichen Vertrag ein, durch den die peinliche Gesetzgebung einen weiteren Anwendungsbereich erhält. Dabei sind die Gründe dafür einsichtig: denn dadurch ist ein Problem zu lösen.

Denn die Frage stellt sich, was zu geschehen hat, wenn der Verbrecher ausdrücklich seinen Willen bekundet, trotz seiner unrechtlichen Handlung weiterhin im Rechtsverhältnis bleiben zu wollen, und diesen auch durch seine Unterwerfung unter das Zwangsgesetz - hier in der Annahme des Ausschlusses - handelnd unterstützt. Unter II.2. ist gezeigt worden, daß Fichte die These vertreten hat, daß das unendliche, auf der Rechtlosigkeit beruhende Zwangsrecht aufhören müsse, wenn „der andere in seinem Herzen das Gesetz übernimmt, als ein solches, und sich ihm unterwirft" (GA I, 3, 393). Es ist nicht einzusehen, warum der Verbrecher diese Möglichkeit nicht haben soll. Zwar spricht Fichte an einer Stelle davon, daß der Auszuschließende das „ursprüngliche Menschenrecht", mit anderen durch Verträge in ein rechtliches Verhältnis kommen zu können, durch seine Handlung „verwirkt" habe, „weil er die absolute Unmöglichkeit, sich mit ihm in ein rechtliches Ver- hältniß zu setzen, schon gezeigt hat" (GA I, 4, 163 f.). Dafür fehlt aber jede Begründung. Vor allem ist diese Erklärung der absoluten Unmöglichkeit mit der menschlichen Freiheit nicht vereinbar[1].

Aber - von diesen Fall der absoluten Unmöglichkeit einmal abgesehen - stellt sich die Frage, wie man mit einem Verbrecher, den man für nur relativ unmöglich für ein Rechtsverhältnis hält, umgehen soll bzw. kann; freilich vorausgesetzt, daß dieser weiterhin in dem staatlich verfaßten Rechtsverhältnis bleiben will oder zumindest neu in dieses kommen will, weil er sein Unrecht einsieht und es zukünftig nicht mehr begehen will. Zwar hat er das staatlich gesicherte Vertragsverhältnis aller durch seine Tat aufgehoben, weshalb er im strengen Sinne kein Recht hat, wieder zugelassen zu werden, geschweige denn weiterhin in diesem Verhältnis zu stehen. Aber es ist auch nicht einzusehen, warum er ausgeschlossen und ewig des Landes verwiesen werden müßte oder sollte, sofern er nur für die weitere Zukunft Sicherheit gewährleistet, indem er sich den staatlichen Gesetzen unterwirft. Diese müssen dann allerdings inhaltlich so beschaffen sein, daß sie diese Möglichkeit, dem Ausschlußverfahren zu entgehen, vorsehen. Konkret bedeutet dies, daß die peinliche Gesetzgebung für bestimmte Verbrechen nicht das Ausschlußverfahren vorsieht (und - wie oben abgeleitet - androht), sondern diese Reaktion durch andere Sanktionen „abzubüßen" zuläßt.

Fichte nennt daher diesen zusätzlichen Vertrag - der dann zum Staatsgesetz werden und die exekutive Gewalt darauf verpflichten soll (GA I, 4, 60) - den „Abbüßungsvertrag", mit dem Inhalt: „Alle versprechen Allen, sie, inwiefern dies mit der öffentlichen Sicherheit vereinbar ist, um ihrer Vergehungen willen nicht vom Staate auszuschliessen, sondern ihnen zu verstatten, diese Strafe[2] auf andere Weise abzubüßen" (GA I, 4, 60). Dadurch erhalte „der Einzelne das vollkommene Recht, zu fodern, daß man sie [d.h.: die Strafsanktion] statt der verwirkten größern Strafe [d.h.: dem Ausschlußverfahren] annehme. Es giebt ein Recht, und ein sehr nützliches und wichtiges Recht des Bürgers, abgestraft zu werden" (GA I, 4, 60). Damit ist das eigentliche Strafrecht bzw. genauer: der Gegenstand der peinlichen Gesetzgebung begründet (oder - nach dem oben zum Ausschließungsverfahren Gesagten - jedenfalls erweitert). Die staatlichen Gesetze bestimmen im (materiellen) Strafrecht die einzelnen Verbrechenstatbestände und geben das Strafübel an, das mit mechanisch wirkender Notwendigkeit auf deren Begehung folgen soll, wodurch zugleich die Drohung mit diesem Strafübel verbunden ist, die die Bürger von der Begehung dieser Taten abhalten soll. Das (formelle) Strafverfahrensrecht regelt das Verfahren der Urteilsfindung und der Verhängung des Strafübels. Das Strafvollzugsrecht gibt die
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[1] Vgl. Fichte selbst in Bezug auf den Hochverräter: „wer wollte die absolute Unmöglichkeit [seiner Besserung, WS) behaupten?" (GA I, 4, 70).
[2] Fichte ist hier ungenau: denn der Ausschluß ist nach seinen eigenen Ausführungen keine Strafe. Wie oben gezeigt, kann aber das Ausschließungsverfahren als Strafe verstanden werden.

rechtlichen Regeln für den praktischen Vollzug an.

Freilich bleibt zu fragen, aus welchen Gründen die Menschen einen solchen Abbüssungsvertrag abschließen werden. Ein Gebot des Sittengesetzes scheidet von vornherein als Begründung aus. Es bleibt nur wiederum die Selbstliebe aus dem schon genannten Grund über. Fichte bemüht sich aufzuzeigen, daß diese Vermeidung des Ausschlusses für alle Beteiligten von Vorteil sei (sofern die Sicherheit gewahrt bleibe). Dem Staat sei an der Erhaltung seiner Bürger gelegen; jedem Einzelnen sei daran gelegen, nicht wegen eines einzelnen Vergehens sogleich ausgeschlossen zu werden (GA I, 4, 60).

Fichte meint, daß „die Strafe" Mittel für den Endzweck des Staates - die öffentliche Sicherheit - sei, „das Strafgesetz" den Zweck habe, die Begehung des Verbrechens zu verhindern, und „die Strafe" bzw. „die Bestrafung" den Zweck zu erreichen suchten, alle in der festen Überzeugung von der unfehlbaren Ausübung „des Strafgesetzes" zu erhalten, also alle anderen wie auch den Verbrecher für die Zukunft vom gleichen Vergehen abzuhalten (GA I, 4, 60 f.), wobei dann noch die bereits oben genannte Aufgabe der Polizei kommt, jeden Verbrecher aufzuspüren und dem Gericht zu übergeben (GA I, 3, 272; I, 4, 91). Hier ist Fichte sprachlich ungenau. Das Strafgesetz hat durch die Androhung des Strafübels sicherlich den Zweck, im Sinne der Theorie des Gegengewichts die verbrecherische Handlung zu verhindern, ja sie unmöglich zu machen (worüber oben unter III.1. ausführlich gehandelt ist, auch darüber, daß diese Theorie bei den formaliter bösen Handlungen und den Verbrechen gegen den Staat, was bedeutet: bei allen Verletzungen der staatlichen Gesetze, scheitern muß). Diesen Zweck erreicht das Strafgesetz bzw. der dahinter stehende Staat nur, wenn der Zusammenhang von Verbrechen und Strafübel als ein notwendiger - mit mechanisch wirkender Notwendigkeit - aufgezeigt wird und dadurch auf den Willen der Bürger einwirken kann. Das Strafübel muß als notwendige Folge des Verbrechens gewußt werden (GA I, 4, 64), als ein Non-A, das das vom Verbrechen gewollte A aufhebt und den entsprechenden Willen auf A in sich selbst vernichtet. Man könnte sagen: der verbrecherische Wille will das Unrecht, muß aber erkennen, daß er nur das Recht herbeiführt; er will das Verbrechen, führt aber nur die Bestrafung - die die Nichtigkeit dieser Handlung offenbart und öffentlich allen zeigt - als Bestärkung des Rechtsverhältnisses herbei. Das Verbrechen kann das Rechtsverhältnis nicht aufheben, nicht einmal zu ihm selbst, weil es durch seine Bestrafung im Rahmen der Strafrechtsordnung aufgehoben und dadurch in seiner Geltung bestätigt wird. In dieser Hinsicht liegt eine „Vergeltungstheorie" in dem Sinne zugrunde, daß die Strafe die notwendige Konsequenz des Verbrechens selbst ist.

Die Bestrafung des Verbrechers im Rahmen der Rechtsordnung stellt also eine „Abbüssung" dar. Dabei spricht Fichte einerseits von der „Abbüssung des Ausschlusses" (bzw. des Ausschließungsverfahrens) (so z. B. GA I, 4, 60). An anderer Stelle aber kann man lesen, daß der Täter „seine Schuld abbüssen" könne (GA I, 4, 17). Entscheidend jedenfalls ist, daß die Bestrafung ein Übel für den Täter darstellt, ihn leiden läßt, allerdings nicht in der massiven Schrecklichkeit des Ausschlusses (GA I, 4, 68), aber doch spürbar und schwerwiegend. Warum dies so sein muß, wird nicht wirklich begründet. Für die Theorie des Gegengewichts ist zwar die Konsequenz eines Nachteils zwingend. Für die Handlungen, für die diese Theorie sich als unanwendbar erwies, fehlt aber die letzte Begründung. Es bleibt einzig das Argument, ein verbrecherischer Wille lasse sich durch die Androhung eines Strafübels beeindrucken (was allerdings mit der zugrunde gelegten Freiheit nur schwer zu vereinbaren wäre).

Fichte vermag es auch nicht, ein plausibles Strafensystem zu entwickeln, das für diesen Zweck - die Abbüßung des Ausschlusses (des Ausschlußverfahrens) zu sein - geeignet wäre. Er nennt neben der Ehrenstrafe des Prangers und der Schandsäule für Beleidigungen und falsche Verdächtigungen (GA I, 4, 78) die Strafe des Arbeitshauses für die Verbrecher, die wegen ihrer Armut nicht nach der Theorie des Gegengewichtes mit einem materiellen Nachteil bestraft werden können (GA I, 4, 67). Denn auch der Arme habe Eigentum, nämlich an seinen Kräften; und er müsse sowohl den Schadenersatz als auch die Vermögensstrafe abarbeiten (GA I, 4, 67). Konsequent müßte Fichte auch die Vermögensstrafe kennen (vgl. GA I, 4, 62), aber nur für Delikte, die von einem materialiter bösen Willen begangen werden und sich nicht gegen den Staat richten (was in der Regel nicht vorkommen wird, wie oben gezeigt wurde).

Zeitliche Begrenzung

Dieser Mangel eines ausgearbeiteten Strafensystems fällt aber aus einem wichtigen Grund nicht ins Gewicht. Denn Fichte bleibt bei seinem Abbüssungsvertrag nicht stehen. Die Strafe des Arbeitshauses war dafür bereits der erste Schritt. Denn diese Zwangsarbeit stellt ein Strafübel dar, das nicht die Abbüßung durch „den gleichen Verlust" (also im Sinne der Theorie des Gegengewichts, hier als poena talionis) bedeutet. Es gibt damit also auch andere Mittel, „statt der absoluten Ausschließung vom Staatsbürgervertrage" (GA I, 4, 67, Heraushebung WS).

Dieses Zitat zeigt bereits den Weg an, den Fichte einschlägt. Denn nun wird die Ausschließung als „absolut" gekennzeichnet, was zu der Möglichkeit einer „relativen" Ausschließung führt. Eine solche liegt in der Strafe des Arbeitshauses vor: „ehe abgearbeitet ist, ist [der Verurteilte] nicht Bürger; wie denn, da durch jedes Vergehen der Strenge nach das Bürgerrecht verwirkt wird [...] Nur nach Vollziehung der Strafe ist der Verurtheilte wieder Bürger" (GA I, 4, 67). Die Relativität der Ausschließung liegt - im Gegensatz zur absoluten Ausschließung, die ja zu der „ewigen" Landesverweisung führt - in der zeitlichen Begrenzung. Die zeitliche Ausschließung ist „eine Abbüßung der gänzlichen Ausschliessung" (GA I, 4, 68).

Fichte sieht daher die Unterbringung in einer Anstalt vor, die von der Gesellschaft „wirklich abgeschieden" sein muß und in der die Betroffenen zur Arbeit gezwungen werden müssen (GA I, 4, 70). Er betont den Übelscharakter dieser Strafart, die als Freiheitsstrafe zu begreifen ist. „Diese Anstalt soll [.] Strafe seyn, und als solche vom Vergehen abschrecken. Der Verlust der Freiheit, die Absonderung von der Gesellschaft, die strenge Aufsicht, alles ist dem, der jezt frei ist, fürchterlich genug; nichts verhindert überdem, daß denen, die draußen sind, das Schicksal der [Gefangenen, WS] noch härter vorgestellt werde, als es wirklich ist, und daß Unterscheidungen mit ihnen vorgenommen werden, die andere schrecken, ohne an sich ein Uebel zu seyn, und die Gemüther zu verwildern: z. B. ausgezeichnete Kleidung, eine Fessel, die nicht schmerzt und nicht sehr hindert" (GA I, 4, 71 f.). Insgesamt muß - wie Fichte ausdrücklich betont - die Sicherheit des Gemeinwesens bestehen und garantiert bleiben (GA I, 4, 60).

Damit aber entsteht das Problem der zeitlichen Begrenzung dieser Anstalts- als Freiheitsstrafe. Solange der Verbrecher verwahrt wird, ist die Gesellschaft vor ihm sicher. Er kann aber nur dann entlassen werden, wenn er für die Zukunft garantieren kann, daß er nicht wieder straffällig werden wird. Denn nach Ende des Vollzugs „kehren [die Betreffenden, WS] in die Gesellschaft zurück, und werden völlig wieder in ihren vorigen Stand eingesezt. Sie sind durch die Strafe [...] mit der Gesellschaft vollkommen ausgesöhnt" (GA I, 4, 71). Diese Folge macht eine Begrenzung der Anwendung der Freiheitsstrafe notwendig.

Zunächst kann sie - wie im Übrigen jede andere Strafe auch (GA I, 4, 68) - nur gegen denjenigen ausgesprochen werden, der sie als Bestrafung annimmt und damit sich ihr „frei" unterwirft (GA I, 4, 68). Zwar hat aufgrund des Abbüßungsvertrages jeder das „Recht, abgestraft zu werden" (GA I, 4, 60), doch muß er dieses Recht - wie allgemein für jedes Recht gilt - nicht in Anspruch nehmen. Die Folge seiner diesbezüglichen (Ver-)Weigerung ist das Ausschließungsverfahren (GA I, 4, 68). Darüber hinaus muß der Verurteilte zeigen, daß er durch den Aufenthalt in der Anstalt dazugelernt hat, weshalb er Gewähr bieten kann für die Zukunft nach der Entlassung, nicht rückfällig zu werden. Fichte sieht daher vor, daß diese Anstalten zugleich „Zucht- und Besserungshäuser" sind (GA I, 4, 67), in denen die Verwahrten nicht nur zu arbeiten, sondern sich auch rechtlich zu verhalten lernen sollen. Selbstverständlich kann es nicht um sittliche Besserung gehen, sondern - wie Fichte es nennt - um „politische" Besserung. Erstere soll zur Liebe der Pflicht um der Pflicht willen führen, letztere zu einer „Liebe sein selbst um sein selbst willen, Sorge für die Sicherheit seiner Person, und seines Eigenthums", also zu der bereits als wichtiger Grund für die Staatserrichtung genannten Selbstliebe (GA I, 4, 69). Dadurch wird der Betreffende geeignet für die abschreckende Wirkung der angedrohten Strafübel, lernt aber auch, auf die Rechte der anderen zu schauen, wenn er erkannt hat, daß die bei anderen gewollte Rechtsverletzung die Verletzung der eigenen Rechtsposition zwingend zur Folge hat. Selbst ein Rebell kann umgepolt werden: „er berichtige seine Begriffe, lerne die Wohlthat der bürgerlichen Verfassung überhaupt, und insbesondre der in seinem Staate kennen, und dann wird er vielleicht einer der treflichsten Bürger werden"; und bei einem Verräter geht es darum, „seinen Sinn [.] herunterstimmen [zu können]" (GA I, 4, 69 f.). Wichtig sei, daß man an ihrer Verbesserung nicht verzweifle und sie selbst nicht verzweifeln lasse, so daß sie selbst eine gewisse Zufriedenheit mit ihrem Zustande und die Hoffnung des Besseren beibehalten könnten (GA I, 4, 70). Dafür spricht nach Fichte bereits die Tatsache, daß sie diese Strafe mit Freiheit statt der Ausschließung gewählt und sich selbst die Aufgabe der Besserung gegeben haben. „Sie werden sich selbst vertrauen, weil ihnen ja der Staat vertraut" (GA I, 4, 70).

So führt Fichte einen weiteren Abbüssungsvertrag ein, der die peinliche Gesetzgebung erneut erweitert und vervollständigt, mit dem Inhalt: „Alle versprechen Allen, ihnen Gelegenheit zu geben, sich des Lebens in der Gesellschaft wieder fähig zu machen, wenn sie desselben für die Gegenwart unfähig befunden werden; und was in diesem Vertrage mit liegt, sie nach erfolgter Besserung wieder unter sich aufzunehmen". Dadurch erhält der Verbrecher „ein Recht, auf den Versuch der Besserung" (GA I, 4, 68). Und die Bestrafung wird zur Verhängung eines Strafübels, die zugleich die Aufgabe hat, die Begehung künftiger Straftaten dadurch zu verhindern, daß sie nicht nur die anderen und den Verurteilten abschreckt, sondern den letzteren zugleich in seinem Bemühen um Selbstbesserung zu unterstützen (GA I, 4, 61). „Der Staat, der dabei den Kostenaufwand scheute, verdiente keiner Antwort. Wozu sind denn die Einkünfte des Staats, wenn sie nicht für dergleichen Zwecke sind?" (GA I, 4, 70 f.).

Auch für diesen erweiterten Abbüssungsvertrag gelten die bereits oben genannten Gründe der Selbstliebe. Denn auch dieser Vertrag sei „wohlthätig: aber er kommt allen zu Statten" (GA I, 4, 68).

Es bleiben letztlich nur die Verbrecher über, die sich nicht bessern wollen, daher die Freiheitsstrafe nicht annehmen, und die sich nicht bessern können, selbst wenn sie es sich zur Aufgabe gemacht haben[1]. Es ist konsequent, daß sie nicht in dem staatlich verfaßten Rechtsverhältnis sein können, da ihnen der dafür erforderliche Wille fehlt. Für sie sieht Fichte die absolute Ausschließung vor (GA I, 4, 72), wie sie oben als Ende des Ausschlußverfahrens dargestellt wurde; bis hin zur letzten Konsequenz, bei Gefährlichkeit durch eine polizeiliche Sicherungsmaßnahme getötet zu werden. Es ist zu fragen, ob diese Konsequenz wirklich notwendig ist; oder ob es möglich wäre, auch für sie den (neuen und erweiterten) Abbüßungsvertrag heranzuziehen, der vom oben zitierten Wortlaut her durchaus paßt. Voraussetzung wäre allerdings, daß die Bürger diesen Mangel an rechtlichem Willen weiterhin als veränderbar und aufhebbar annehmen, nicht also von der „absoluten Unmöglichkeit, sich [...] in ein rechtliches Verhältnis zu setzen" (GA I, 4, 164), ausgehen und sich der schweren und kostenintensiven Aufgaben stellen, auch hier eine Besserung - die zunächst in der Hervorrufung des Willens zu rechtlichem Handeln überhaupt bestehen würde - zu versuchen.

Fazit

So erweist sich die Straftheorie Fichtes als eine durchaus differenzierte und interessante Darstellung der Strafrechtsinstitution (gegründet auf die peinliche Gesetzgebung des Staates), die nach dem hier Ausgeführten aber nicht mit der Begründung der staatlichen Zwangsgewalt selbst gleichgesetzt werden kann. Allerdings bedarf es durchaus einer Interpretation, die versucht, durch die manchmal
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[1] Fichte zählt zu den Auszuschließenden auch den Verbrecher eines „absichtlichen vorbedachten Mordes": nicht wegen dieser Tat, sondern deshalb, weil wegen dessen offensichtlicher Gefährlichkeit der Staat niemand zwingen könne, über ihn die Aufsicht in einer solchen Anstalt zu führen. Fichte anerkennt aber die Möglichkeit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, wenn sich eine milde Stiftung oder eine private Gesellschaft aus freien Stücken zu dieser Aufgabe der Verwahrung und Besserung anbietet (was Fichte selbst für wünschenswert hält) (GA I, 4, 72).

verwickelte und nicht immer leicht verständliche Argumentation eine einheitliche Linie zu verfolgen; zudem ist Fichte in manchen Punkten zu korrigieren, d. h. konsequent weiter zu denken. Ich hoffe, daß mir dies in verständlicher Weise gelungen ist, auch wenn manche Fragen nicht behandelt werden konnten.

Eine letzte, hier aber nicht mehr zu beantwortende Frage könnte noch gestellt werden: ob die Berufung des Strafrechtlers Günther Jakobs in seiner Theorie des Feindstrafrechts[1] auf diese Lehre Fichtes zu Recht erfolgt. Die Antwort müßte jedenfalls in sehr differenzierter Weise erfolgen.


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[1] Nur angemerkt sei, daß auch die strafrechtliche Behandlung der Fremden - die nicht zum Staatsbürgerverband gehören - von Fichtes Thesen her nur sehr schwer begriffen werden kann. Seine Ausführungen zum „Weltbürgerrecht" (GA I, 4, 162 ff.) geben dafür nichts Wesentliches her.