Skip to main content

II. Zu Fichtes revolutionärer Einsicht in den §§1-4

Fichtes Naturrecht geht nicht nur einen Schritt über Kant, sondern auch über die WL von 1794 hinaus. Dazu seien einige Punkte angedeutet: Die WL war nach Fichte eine einzige Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Sie hat gezeigt, daß das zum Selbstbewußtsein als unendliche Tätigkeit gelangte theoretische Ich das praktische Ich ist. Dieses ist der absolute Trieb, der Trieb zum Erreichen der Entsprechung zwischen endlichem und unendlichem Ich in der wirklichen Selbstbestimmung. Diese Entsprechung bleibt aber ein Sollen. Das sichselbstsetzende Ich des Anfangs der WL wird durch das praktische Ich am Ende nicht eingeholt, ja es darf um willen der Selbsterhaltung des Triebes, mithin des Ich als Tathandlung auch nie eingeholt werden. Das individuelle, endliche Ich soll sich zwar zum Ich als Idee erheben, kann dies aber nur im unendlichen Progreß. Der Schluß der WL schließt nicht, es kommt zu keiner wirklichen Realisierung der Selbstbestimmung. So steht auch die WL als Ganze im Zeichen des relativen Nebeneinanders der ersten beiden Grundsätze, von Setzen und Entgegensetzen. Im Begriff des Ich als des absoluten Triebes zur
Selbstbestimmung oder der Freiheit liegt es aber, daß Setzen und Entgegensetzen zusammengedacht werden.[1]

Das Naturrecht stellt nun nicht bloß einen Perspektivenwechsel oder eine lineare Erweiterung des Deduktionsganges der WL dar, sondern macht einen Schritt im Einholen der Voraussetzungen der WL von 1794. So liegt schon im Begriff des Rechts als der Gemeinschaft (endlicher) freier Wesen, daß der Ausgleich zwischen endlichem (praktischem) und unendlichem Ich nicht ein bloßes Sollen ist. Die Deduktion des Rechtsbegriff fragt von vornherein, was a priori vorauszusetzen ist, damit dieses Entsprechen im Sinne rechtlicher Selbstbestimmung auch wirklich sein kann. Daß dieses Entsprechen möglich und wirklich sein können muß, liegt schon im Begriff der Freiheit, die nichts bloß Inneres, sondern Einheit von Innerem und Äußerem, von Begriff und Wirklichkeit ist:

„Im Begriffe der Freiheit liegt zuvörderst nur das Vermögen durch absolute Spontaneität, Begriffe von unsrer möglichen Wirksamkeit zu entwerfen; [...] Aber, daß ein vernünftiges Individuum, oder eine Person sich selbst frei finde, dazu gehört noch etwas anderes, nemlich daß dem Begriffe von seiner Wirksamkeit, der dadurch gedachte Gegenstand in der Erfahrung entspreche; daß also aus dem Denken seiner Thätigkeit etwas in der Welt ausser ihm erfolge." (GA I, 3, 319 f.)

Das praktische Ich ist der konkreteste Punkt, zu dem die WL gekommen ist. So ist dieses im Naturrecht als die „innigste Wurzel des Ich", der „wesentliche Charakter der Vernunft" (I, 3, 332) zunächst der Anknüpfungspunkt. Gegenüber der WL wird nun aber gezeigt, daß es die Voraussetzung des (praktischen) Ich als des absoluten Triebes ist, daß das Entsprechen von endlichem und unendlichem Ich nicht bloße Idee, sondern, wenn man so will, wirkliche Idee ist. Im Einholen der Möglichkeitsbedingungen von Selbstbewußtsein (näher des praktischen Ich) stößt Fichte im ersten Hauptstück so an einen Punkt, wo er prinzipielle Setzungen erreicht, die zugleich seinsförmig sind, die sich selbst auf ihr Gesetztsein hin transzendieren. Diese dem Bewußtsein des Sollens bzw. des absoluten Triebes vorausgesetzte Freiheitswirklichkeit hat zwei Momente:

Zunächst das Nicht-Ich als Realisationsraum der Selbstbestimmung. Von der Freiheit her wurde das Nicht-Ich schon in der WL verstanden. So war für das theoretische Ich die Welt „das in seinen ursprünglichen Schranken angeschaute Ich", für das praktische Ich Material der Pflicht. Nun wird mit der Mittelhaftigkeit des Nicht-Ich ernst gemacht, d. h. das Auseinanderfallen von Mittel und Zweck, die bloße (undialektische) Mittelhaftigkeit des Nicht-Ich hebt sich auf. Als das dem Zweck entsprechen sollende Mittel wird die Freiheitssphäre als in die Objektivität hinein ausgedehntes Ich gedacht werden müssen. Unmittelbar wird das der Leib sein, mittelbar das Eigentum.

Voraussetzung alles Freiheitsrealisierens ist aber das Gesetztsein des Sollens. Anders gesagt: Dem praktischen Ich als dem Bewußtsein des absoluten Triebes ist schon wirkliche Freiheit im Sinne der Aufforderung und Anerkennung vorausgesetzt.
[HR=3][/HR]
[1] Vgl. Wladika: Moralische Weltordnung, a.a.O. 73.

Die Konstitution des praktischen Ich setzt voraus, daß da ein anderes Ich ist, das sich schon frei bestimmt hat, indem es mich zur Freiheit auffordert und als frei sein sollendes anerkennt. Das ursprüngliche Selbstbewußtsein, das praktische Ich, muß sich also verdoppeln (womit die prinzipielle Vielheit der Iche gesetzt ist). Das hat keine schlecht psychologischen Gründe (z. B. Willensschwäche), sondern der Grund dafür liegt im „Begriff des Menschen" (I, 3, 347), der der Begriff der Freiheit ist. Ein unmittelbares Bestimmtsein zur Selbstbestimmung widerspricht dem Begriff der Freiheit (Freiheit wäre analog der naturalen Wesensverwirklichung gedacht). So liegt es im Begriff der Freiheit, daß der Mensch „nur unter Menschen ein Mensch" (ebd.) wird.

Darin ist aber schon der auf die Dialektik vorausweisende Gedanke enthalten, daß Ich existierender Begriff ist. Die Existenz von Ich ist mit der Anerkennungslehre gegenüber dem, was von Kant her zu dieser Frage erreichbar war, revolutionär neu gedacht: sie ist das Gegenteil der absoluten Position. Die Existenz des Ich ist keine ruhige Unmittelbarkeit, sondern das Sich-von-sich-Abstoßen[1] des Ich in ein System von Personen, die sich wechselseitig auffordernd und anerkennend in ihrem Personsein aktualisieren. Die Ursprünglichkeit des praktischen Ich der frühen WL ist also transzendiert auf die Ursprünglichkeit eines Systems der Iche: Selbstbewußtsein muß sich verdoppeln bzw. das allgemeine Ich muß sich besondern und immer schon besondert haben, um wirkliches Selbstbewußtsein sein zu können. Damit ist das sichsetzende (unendliche) Ich nicht mehr als bloße Idee ins Jenseits des praktischen Ich gesetzt, sondern es ist erkannt, daß die Voraussetzung alles Sollens (zunächst im Sinne des Rechtsverhältnisses) immer schon die Wirklichkeit der Selbstbestimmung im Sinne der wechselseitigen Aufforderung und Anerkennung war. Endliches und unendliches Ich fallen nicht mehr auseinander:

„das Vernunftwesen kann sich ... nicht etwa als Vernunftwesen überhaupt, es kann sich nur als Individuum setzen;" (GA I, 3, 365)[2]

Ich ist nicht in sich ruhendes reines Prinzip, sondern sich bewegende (auslegende) Einheit von Prinzip und Tatsache, von endlichem und unendlichem Ich.[3] Das absolute Ich ist in seiner reinen Prinzipialität als Garant widerspruchsfreier Gegenständlichkeit fixiert ein Abstraktum. Kantisch war die Form ,Ich denke' ein Vehikel, das zwar alle Vorstellungen begleiten können muß, das aber in sich, im Punkt bleibt, sich selbst nicht bewegt, reine Selbstreferenz ist.[4] Fichte beginnt hier einzusehen, daß dieser Punkt des reinen Ich nur ist, indem er sich in ein System von einander zur Freiheit auffordernden und als frei sein sollend anerkennenden Individuen kontinuiert. Die ursprüngliche Apperzeption muß somit als sich selbst bewegend
[HR=3][/HR]
[1] Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, a.a.O., 258.
[2] Weiters: GA I, 3, 319; 329.
[3] Wobei diese Einheit von Allgemeinem und Einzelnem über das Aristotelische tode ti insofern hinausgeht, als es hier nicht bloß um die Einheit von atomon eidos und dem Einzelnen im Sinne der individuellen Substanz geht, sondern um die Einheit der individuellen Substanz mit dem transzendentalen Ich als der forma formarum.
[4] Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, a.a.O., 248.

gefaßt werden. Anders gesagt: Das allgemeine Ich oder das reine Selbstbewußtsein muß sich besondern, sich als ein individuelles, d. h. bestimmtes „materiales" Ich (als bestimmter Bewußtseinsinhalt) setzen können. Das ist ein entscheidender Schritt über Kant und die WL von 1794 hinaus: Empirisches und transzendentales Ich können nicht äußerlich zusammengebracht werden, „sondern beider spekulative Identität [muß] als Resultat der Bewegung der Ichheit überhaupt angesehen werden"[1]. Diese Bewegung der Ichheit ist nichts anderes als die Selbstbestimmung oder die Freiheit. Das allgemeine Ich ist es, sich zu bestimmen, d. h. sich eine bestimmte Freiheitssphäre zu geben und in dieser Bestimmtheit seine Individualität (Personalität) zu haben. Der transzendentale Ansatz ist damit nicht einfach durchgestrichen[2], sondern dies bedeutet eine Dynamisierung des höchsten Prinzips der Transzendentalphilosophie und zugleich eine Renovierung des Ente- lechie-Begriffs: Ich ist die Bewegung seiner Ichwerdung, die sich auslegende Einheit von endlichem und unendlichem Ich. Der grundlegende Gedanke des Naturrechts ist so der spekulative Gedanke der Freiheit als der wahrhaften Unendlichkeit, dem Beisichsein im Anderen. Zu einem wirklichen Selbstverhältnis gelangen wir immer schon über den anderen.

Auf diesem Boden steht der spekulative Inhalt des Fichteschen Naturrechts: Recht als die äußere Einheit im System der Iche ist nur begründbar, wenn Freiheit als Einheit von Intelligiblem und Empirischem, Begriff und Wirklichkeit gedacht wird.[3] Wenn die sich selbst bewegende Ichheit als die wirkliche Selbstbestimmung der Inhalt der Philosophie als Wissenschaftslehre ist, dann kann die Methode nicht mehr diejenige der Deduktion prinzipieller Setzungen als Möglichkeitsbedingungen von Selbstbewußtsein im Sinne der WL von 1794 sein, sondern im Grunde fordert dieser Inhalt, daß sich die WL zu einer Erscheinungslehre von Wissens- bzw. Freiheitsgestalten fortbildet.[4] Der Anfang mit dem absoluten Ich, mithin die

Methode der Voraussetzungsreflexion der WL hat sich aufgehoben. Der oberste Aufhänger des Systems ist keiner mehr.[5] Damit ist auch das relative Nebeneinander
[HR=3][/HR]
[1] Franz Ungler: Zu Fichtes Theorie des Gewissens, in: ders.: Zur antiken und neuzeitlichen Dialektik, hrsg. von Michael Höfler u. Michael Wladika, Frankfurt a. M. 2005, 62.
[2] Die WL hebt sich nicht in Soziologie auf. Fichte hat mit der Anerkennungslehre dasjenige im Blick, was Hegel das Ich, das Wir ist, bezeichnet hat. Ich und Wir sind nicht aufeinander zu reduzieren: weder ist das Ich zugunsten des Wir zu streichen, noch ist das Wir die bloße Summe der vorgestellten Ich-Atome.
[3] „Intersubjektivität" ist also nicht eine bloß empirische Bestimmung im Sinne soziologischer Lesarten, sondern bedeutet geradezu die Vermittlung actu von Prinzipialität und Faktizität des Ich.
[4] Vgl. dazu die in diese Richtung weisende Interpretation von Ludwig Siep: Einheit und Methode von Fichtes ,Grundlage des Naturrechts', in: ders.: Praktische Philosophie im
Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, 41-64. Siep vertritt die These, daß sich im Naturrecht „Ansätze zu einer Darstellung von Erfahrungen des Bewußtseins" (42) finden und zeigt, daß sich von diesem Ansatz her die ansonsten schwierig zu interpretierenden Übergänge von § 3 zu § 4 und von den ersten beiden zum dritten Hauptstück erklären lassen.
[5] Fichte ahnte wohl das fundamentalphilosophische Erbeben, das in diesen Paragraphen enthalten ist, denn schon im Wintersemester 1796/97 trug er die Wissenschaftslehre nova methodo vor. Zu dieser und ihrem Verhältnis zum Naturrecht vgl. Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986, 262. Die revolutionären Gedankenformen in der Rechtslehre weisen noch zur spätfichteschen Erscheinungslehre hinaus.

der drei Grundsätze der frühen WL negiert. In der WL soll das absolute Ich zwar die absolute formende Form sein, wurde aber im ersten Grundsatz, nur als Positives genommen, d. h. als unmittelbare Selbstbeziehung fixiert, weshalb es die Beziehung auf anderes (das Entgegensetzen) außer sich hat, die im Sinne des dritten Grundsatzes mit dem ersten nur äußerlich vereinigt werden kann.[1] Die Notwendigkeit der Einheit von Setzen und Entgegensetzen wurde nicht gefaßt. So schien das absolute Ich relativ unabhängig vom teilbaren Ich des 3. Grundsatzes. So blieben auch die sich quantitativ begrenzenden Seiten von Ich und Nicht-Ich einander äußerlich. Die frühe WL faßt die Tathandlung somit noch nicht als Entelechie, sondern unter dem Vorzeichen der abstrakten Sichselbstgleichheit, die aber das Einzelne (teilbare Ich) letztlich außer sich hat. Diese Äußerlichkeit und Vermittlungslosigkeit von empirischem und allgemeinem Ich zeigt ist das eleatische, verständige oder prinzipienphilosophische Moment der WL. Zur Illustration dieses Eleatismus seien zwei Stellen angeführt:

„Wo hat er denn her, daß ich in meinen Deduktionen von Menschen rede? Wo habe ich in Schriften oder auf dem Katheder das Wort Mensch je in den Mund genommen, außer etwa, um, wie eben jetzt die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit dieses Wortes zu zeigen?"[2]

Damit betont noch der späte Fichte, daß die WL strenge Prinzipienreflexion betreibt (obwohl die Pointe der Erscheinungslehre des Berliner Fichte gerade in der Selbstaufhebung der prinzipiellen Reflexion besteht), also auch vom Menschen im Sinne einer Ontologie oder Anthropologie spricht. Sofern sich vom Ansatz der WL kein Weg zur Faktizität von Ich ergibt, ist das Wort „Mensch" für die WL sinnlos.

Widerspricht sich nun Fichte, wenn er im Naturrecht den Corollaria des § 3 vom „Begriff des Menschen" affirmativ spricht? Nein, sofern nämlich Fichte im Naturrecht Schritte zum Denken der Einheit von formalem und materialem Ich unternimmt, wird es aus transzendentallogischen Gründen notwendig, vom Menschen zu sprechen - und zwar von ihm als der Vorstellung eines Dinges mit Eigenschaften, sondern von ihm als der konkreten Einheit von Allgemeinem und Einzelnem. Dies führt sogleich zur zweiten Stelle, diesmal vom Jenaer Fichte:

„In der WissenschaftsLehre ist das Verhältniß [gegenüber der Ansicht des alltäglichen Bewusstseins, das für den Einzelnen als Nur-Einzelnen, in seiner Unmittelbarkeit schon Prinzipiencharakter usurpiert und sich zum Gedanken des allgemeinen Ich noch nicht erhoben hat] gerade umgekehrt; da ist die Vernunft das einige an sich, und die Individualität nur accidentell; die Vernunft, Zweck; und die Persönlichkeit, Mittel; die letztere nur eine besondere Weise, die
[HR=3][/HR]
[1] Bei Fichte „ist Ich als das Unbegrenzte (im ersten Satze der Fichteschen Wissenschaftslehre) ganz nur als Positives genommen (so ist es die Allgemeinheit und Identität des Verstandes), so daß dieses abstrakte Ich für sich das Wahre sein soll und daß darum ferner die Beschränkung - das Negative überhaupt, sei es als eine gegebene, äußere Schranke oder als eigene Tätigkeit des Ich - (im zweiten Satze) hinzukommt. - Die im Allgemeinen oder Identischen, wie im Ich, immanente Negativität aufzufassen, war der weitere Schritt, den die spekulative Philosophie zu machen hatte, ein Bedürfnis, von welchem diejenigen nichts ahnen, welche den Dualismus der Unendlichkeit und Endlichkeit nicht einmal in der Immanenz und Abstraktion, wie Fichte, auffassen." (G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 6 Zusatz)
[2] Fichte: Über das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik (1812), in: GA II, 14, 351 f.

Vernunft auszudrücken, die sich immer mehr in der allgemeinen Form derselben verlieren muß. Nur die Vernunft ist ihr ewig; die Individualität aber muß unaufhörlich absterben."[1]

Der Einzelne ist hier als Modus der Substanz des allgemeinen Ich ausgesprochen. Das sagt Fichte angesichts der Naivität, die den Unterschied von materialem und formalem Ich, d. h. den transzendentalen Standpunkt nicht kennt. Zugleich wird damit Individualität mit der schlechten Subjektivität, dem Nur-Einzelnen im Sinne eines vorgestellten nur-materialen Ich gleichgesetzt. Demgegenüber zeigen die Ausführungen des Naturrechts, daß Fichte sehr wohl zum Begriff des IndividuellAllgemeinen gelangt. Die Person, wenn sie die Vernunft ausdrücken können soll, kann nicht nur Mittel sein, sondern muß selbst im Zeichen des Zwecks stehen (ist somit nicht bloß schlechte Subjektivität), bzw. die Substanzialität der Vernunft erweist sich gerade in den Akzidenzien - den endlichen Vernunftwesen. Der Elea- tismus sieht daher auch nicht, daß das „Absterben" des nur Einzelnen bzw. die Erhebung des Einzelnen zum Allgemeinen nur die eine Seite einer in sich gedoppelten Bewegung der Ichwerdung des Ich ist. Das Allgemeinwerden des Einzelnen in der Realisierung des Sollens ist nur möglich, wenn das Gesollte schon ins Sein herabgestiegen ist, Freiheit schon realisiert ist. Ohne Aufforderung und Anerkennung wäre kein Selbst, das sich auch wirklich zum wahrhaften Selbst reinigen könnte.[2]

Der Gedanke der Begriffsexistenz fordert also, daß sich die WL zu einer Erscheinungslehre von Wissens- bzw. Freiheitsgestalten fortbildet. Wichtige Ansätze dazu zeigen sich im Naturrecht darin, daß mit den Bestimmungen der Aufforderung, Anerkennung und v. a. der Erziehung die Geschichte auf der einen Seite und mit der Bestimmung der „Sinnenwelt", näher der Leiblichkeit, die Natur als Stufen oder Momente der Bewegung der Ichheit erscheinen. So wird der Leib, wie wir sehen werden, als anschaulich Allgemeines deduziert werden.

Dies ist mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Fichteschen Denkens von Bedeutung. Indem Fichte einen Schritt in Richtung der Selbstaufhebung der reinen Prinzipialität des Ich unternimmt, ist nämlich die Jacobische Nihilismuskritik[3], in welcher sich das Problem der Unselbständigkeit der reinen Prinzipialität des Ich und damit zusammenhängend das Problem der Existenz von ich reflektiert, im Grunde bereits überwunden. Wenig später wird Fichte diese Problematik ausdrücklich
[HR=3][/HR]
[1] Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Zweite Einleitung, in: GA I, 4, 257 f.
[2] Der Gedanke der Selbstvernichtung ist daher gerade für die Bild-Lehre des späten Fichte zentral: „Sobald er [der Mensch, M.G.] sich aber rein, ganz, und bis in die Wurzel, vernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott. Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere, dem niedern, durch das Daseyn eines Selbst, bestimmten, Leben, durchaus entgegengesetzte Leben" (Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, in: GA I, 9, 149 f.).
[3] „Die Auseinandersetzung mit Jacobis Nihilismuskritik hatte Fichte zu der Einsicht geführt, daß Wissen und Handeln in ihren Fundamenten so lange problematisch bleiben müssen, wie sie sich nur auf das bloße Fürsichsein, auf das reflexive Spiegelkabinett des Ich gründen können; daß sie wirklichen Halt erst gewännen, wenn sie sich auf ein Sein zurückführen ließen, das mehr wäre als bloßes Gesetztsein des Ich." (Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, 70)

reflektieren: zunächst - in Jacobi sehr entgegenkommender, populärer Weise - in der Bestimmung des Menschen[1], dann freilich gründlich von seinem neuen Standpunkt der Erscheinungs- bzw. Bild-Lehre her:

„Was wäre denn das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus zu entgehen? Das Wissen erkennt sich als bloßes Schema: darum muß es doch wohl irgendwo auf reiner Realität fußen: eben als absolutes Schema, absolute Erscheinung sich erkennen. Man muß darum grade reflektieren bis zu Ende. Die Reflexion, als vernichtend die Realität, trägt in sich selbst ihr Heilmittel; den Beweis der Realität des Wissens eben selbst."[2]

Man wird behaupten können, daß Fichte schon im Naturrecht, insbesondere in der Deduktion der Leiblichkeit, eine solche Schematisierung des Wissens in Angriff nimmt. Die für die Fassung des Systems entscheidende Frage ist, was dies in der Fassung des Logischen voraussetzt. Der Begriff eines anschaulichen Allgemeinen oder der Identität des Einzelnen und Allgemeinen ist sowohl für die formale Logik, nach der das Individuum ineffabile ist, als auch für die Kantische Transzendentalphilosophie ein Unding. Kant betont laufend, daß unsere Anschauung nicht intellektuell, sondern sinnlich ist und daß nur unter diesen Bedingungen Erkenntnis im Sinne der Erkenntnis a priori von Gegenständen möglich ist. Der Jenaer Fichte geht nun aber in der WL von einer unmittelbaren Einheit von Sinnlichkeit und Verstand im Sinne der intellektuellen Anschauung aus und entwickelt diese Einheit von Sinnlichkeit und Verstand sogar in seiner Deduktion der Leiblichkeit. Fichtes Einsichten forderten so eigentlich, daß der Widerspruch nicht im Sinne des Vorgehens der frühen WL bloß vermieden oder ins Sollen hinausgeschoben (und damit be- gangen) wird, sondern daß er als die Seele der Selbstbewegung der Ichheit gedacht wird.[3]


[HR=3][/HR]
[1] Am Ende des zweiten Buches.
[2] Fichte: Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Jahre 1812, in: GA II, 13, 51 f.
[3] Zur Bedeutung der Kategorie Widerspruch für die Aufhebung der Transzendentalphilosophie vgl. Franz Ungler: „Die Kategorie Widerspruch", in: ders.: Zur antiken und neuzeitlichen Dialektik, a.a.O., 135- 155.
Fichte ist freilich der Auffassung, daß die Inhalte, die er im Naturrecht entwickelt, auf dem Boden der Methode der WL stehen können. Dies zeigt sich etwa in der Unterscheidung zwischen einer Deduktion des Rechtsbegriffs und einer Deduktion seiner Anwendbarkeit. Diese soll die der Sinnenwelt angehörenden Bedingungen der Realisierung einer Rechtsgemeinschaft betreffen, die im Sinne der Fichteschen Dialektik eingeschoben werden müssen. Der Sache nach ist aber die Notwendigkeit dessen bereits in dem Sichsetzen als freie Wirksamkeit (§ 1) und dem Voraussetzen einer Sinnenwelt (§ 2), die im Sinne des Primats des Praktischen von vornherein als Freiheitssphäre bestimmt wird, enthalten. Es bedürfte daher nicht einer separaten Deduktion des Leibes im Sinne des Nachweises der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes, sondern die Deduktion des Leibes kann nur eine weitere Explikation des Begriffs und seiner Verwirklichung sein. Im System der Rechtslehre (1812) findet sich aufgrund des Ansatzes der Erscheinungslehre daher auch keine eigene Deduktion der Leiblichkeit mehr.