Der „Rechtsbegriff = die Denknothwendigkeit aller als frei“
Violetta L. Waibel
Fichte erklärt sich schon im April 1795 in einem Briefentwurf an den Dichter Jens Immanuel Baggesen zum entschiedenen Denker der Freiheit, wenn er die Wissenschaftslehre als „das erste System der Freiheit" bezeichnet; es reiße den Menschen von den „Feßeln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los".[1] [2] Zu der Zeit hatte Fichte die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre veröffentlicht, die er retrospektiv zum System der Freiheit erklärt. Von Freiheit war darin nicht ebenso explizit die Rede, wie Fichte später davon sprach. Auch in der Rechtslehre von 1812 ist der Bezug zur Freiheit allgegenwärtig. Doch das Ich von 1794 als Tathandlung, als reine Spontaneität, als Instanz der Einbildungskraft, die zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung schwebt, als Instanz eines fortwährenden Strebens, ausgestattet mit Trieben, läßt bei tieferer Betrachtung erkennen, was Fichte schon früh unter dem System der Freiheit verstanden wissen wollte.[3]
Neben Fichte ist es wohl nur Jean-Paul Sartre, der mit einer so vehementen Konsequenz die Grundbestimmung des Menschen durch Freiheit gegeben sieht. So kann es kaum überraschen, daß Fichte noch in der Rechtslehre von 1812 dem frühen Gedanken von der Freiheit weitere Modifikationen hinzufügt. Er notiert sich in seinen Aufzeichnungen der „Erörterung des Rechtsbegriffs" der ersten Vorlesungstage vom April 1812:
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[1] Überarbeitete Fassung des Vortrags für die Tagung Zur Aktualität der Fichteschen Rechtsphilosophie, interdisziplinäre Tagung an der Fernuniversität Hagen unter Leitung von Thomas Sören Hoffmann vom 26.-28. September 2010. Ich danke Patricia Ene und Max Brinnich für die sorgfältige redaktionelle Unterstützung bei der Fertigstellung des Textes für den Druck.
[2] Fichte an Baggesen, Briefentwurf, Jena oder Osmannstädt, April/Mai 1795, in: Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. (im folgenden GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl). Und ferner SW mit Band und Seitenzahl für Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, 8 Bde., Berlin 1845/46, hier: GA III/2, 297 - 299, 298 (Brief Nr. 282 a).
[3] Violetta L. Waibel: „Das ,System der Freiheit' und die ,Feßeln der Dinge'. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95)", in: Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): System der Vernunft - Kant und der Deutsche Idealismus: II. Kant und der Frühidealismus, Hamburg 2007, 103 - 128.
„Rechtsbegriff = die Denknothwendigkeit aller als frei, in der synthetischen Einheit des Begriffs aller. / Das Gegentheil wäre ein Widerspruch. d.i. eine Zurüknahme des gesezten, als frei gesezten, im Gedanken. [...] Zusammenfassen in einen Gedanken der Freiheit mehrerer, heißt alle ihre Zukunft umfassen: weil Freiheit die Zukunft sezt: In dieser Zukunft nun wird die Freiheit ein Soll[,] ein Postulat: weil das Gegentheil durch die Freiheit einzelner selbst natürlicher Weise möglich ist."[1]
In der Denknotwendigkeit der Freiheit, die dem Rechtsbegriff zugeschrieben wird, artikuliert sich eine Grundeinsicht Fichtes - die nämlich, daß Freiheit nicht ist. Sie ist erst dort, wo Vernunftwesen Freiheit denken und nach Grundsätzen der Freiheit handeln. Freiheit ist eine menschliche Setzung, die essentiell durch die Kraft des Denkens, durch Erkenntnis hervorgebracht wird. Freiheit ist jedoch nicht bloß eine philosophische, sondern auch eine zentrale politische Grundbestimmung. Denken und Erkennen sind der Anfang, freies Handeln muß dem folgen. Fichte ist überzeugt davon, wer sich der Denknotwendigkeit der Freiheit enthebt, der hat keine Chance, Freiheit lebbar und erlebbar zu machen. Es bedarf des spekulativen Begriffs von einer idealen Rechtsordnung, um die Realität an diesen Begriff anzupassen. Andernfalls wird das geordnete Zusammenleben von Menschen denjenigen Mächten überlassen, die ohne den Eingriff der klar denkenden Vernunft eine Ordnung herbeiführen.
In unserer Zeit wird die Realität der Freiheit nur allzu schnell bestritten, weil Neurologen behaupten, die durchgängige Herrschaft eines Kausalmechanismus beweisen zu können. Die Verfechter dieser Position treten damit in die Falle, die Kant schon vor 200 Jahren mit der Diskussion des Transzendentalen Scheins der dritten Antinomie der Freiheit, in die Verstand und Vernunft immer wieder und unabdinglich hineingeraten werden, abgewiesen hat. Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen umso wichtiger, mit Fichte und anderen der Frage nach der Formierung der Freiheit unter den Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens nachzugehen und sie auch heute noch fruchtbar zu machen. Kant und Fichte würden dies bestätigen. Freiheit ist nicht. Sie ist nur, wenn sie gedacht und wenn überdies ihr Begriff von selbstbewußten Subjekten realisiert wird.
Nun ist die Vorstellung von der Freiheit aller Individuen, die sich vergesellschaften und die es rechtlich zu sichern gilt, kein neuer Gedanke in Fichtes Rechtslehre von 1812. Fichte hat schon in der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1796 das Theorem der wechselseitigen Anerkennung aller als freier Wesen begründet und als ein zentrales Thema in die Philosophie vom Recht eingebracht. Hegel wird in den Jenaer Systemfragmenten von 1803/04 und 1805/06, in der Phänomenologie des Geistes von 1807 und in der Enzyklopädie das Theorem der Anerkennung aufnehmen und über Fichtes Ansatz hinaus fortdenken.[2] Mit der Einführung des Theorems von der wechselseitigen Anerkennung aller als freier Wesen
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 203.
[2] Zur Anerkennung bei Fichte und Hegel vgl. Robert R. Williams: Recognition. Fichte and Hegel on the Other, New York 1992. - Wolfgang Janke geht den begriffshistorischen Filiationen der Anerkennung nach und stellt Fichtes Konzeption derselben im Naturrecht, in der Wissenschaftslehre von 1804 und in der Rechtslehre von 1812 gegenüber in seinem Beitrag, „Anerkennung. Fichtes Grundlegungen des Rechtsgrundes", in: Kant-Studien 82 (1991) 197-218.
und der Begrenzung der individuellen Freiheit mit Rücksicht auf die Freiheit anderer führt Fichte auch den wichtigen Gedanken ein, daß das Ich zwar jederzeit seiner Anlage und der Idee nach als Vernunftsubjekt ein freies Wesen ist. Überdies aber muß die Freiheit von ihrer Idealität in die Realität überführt werden. Das bedeutet, das in der Anlage freie Vernunftwesen muß zur Realität der Freiheit im wirklichen Leben erst erzogen werden. Die systematische Entwicklung der Freiheit aller und das Theorem der Anerkennung im Naturrecht von 1796 werden in diesem Beitrag zunächst skizziert.
Entgegen der frühen Annahme Fichtes in den Beiträgen zur Berichtigung des Publikums über die französische Revolution von 1793 hat sich Fichte im Kontext der Rechtslehre von 1796 davon überzeugt, daß Recht und Sittlichkeit keine gemeinsame Wurzel haben und in ihrer Grundlegung strikt voneinander zu trennen sind. Recht und Legalität ermöglichen die Ordnung, die den späteren Konzeptionen zufolge notwendigerweise für ein geregeltes Zusammenleben etabliert werden muß. Die Forderungen von Moralität und Sittengesetz sind Forderungen höherer Ordnung, die bei ihrer Erfüllung über die notwendige Grundordnung hinausgehen. Ihre Verbindlichkeit ist von anderer Art als die einer gelingenden Rechtsordnung.
An die Darstellung der Theoreme der Erziehung zur Freiheit und der Anerkennung schließt sich eine Darlegung von Fichtes systematischer Aufstufung des Begriffs der Freiheit an, wie er dies in der Sittenlehre von 1798 zur Ausführung gebracht hat. Diese Aufstufung der Freiheit liegt vielen weiteren Überlegungen Fichtes zur Freiheit, so auch der 1812 gehaltenen Vorlesung über die Rechtslehre zugrunde, ohne daß Fichte auf sie explizit verweisen würde. Sie gehört zu den von Fichte früh eingesehenen und im Prinzip beibehaltenen Lehrstücken der Wissenschaftslehre.
Bereits in der Grundlage von 1794 hat Fichte deutlich gemacht, daß er der praktischen Philosophie den normativen Primat einräumt. Daß der Mensch seiner zentralen Bestimmung nach Sittlichkeit zu verwirklichen hat, wird explizit erst in der Sittenlehre von 1798 ausgearbeitet. Die Realisierung einer sittlichen Ordnung ist als die Hauptaufgabe des vernünftigen Wesens Mensch bestimmt. Diese ist wesentlich von der klaren Erkenntnisfähigkeit des Menschen abhängig. In dieser Perspektive sind theoretische und praktische Vernunft immer schon wechselseitig aufeinander verwiesen und voneinander abhängig. Das theoretische Vermögen muß zuerst geschult werden, soll Freiheit und im besonderen sittliche Freiheit denkbar und daher möglich sein. Dies spiegelt sich auch in Fichtes Konzept einer dreistufigen Freiheit wieder, wie im folgenden zu zeigen ist.
Die erste Stufe der Freiheit ist Fichte zufolge die Einsicht der theoretischen Vernunft, die sich Begriffe von der gegebenen Ordnung der Natur machen kann, die die Ordnung der inneren menschlichen wie der äußeren Natur mit dem erkennenden Begriff begleitet. Eine zweite Stufe ist dann gegeben, wenn das theoretische Vermögen nicht bloß Begriffe vom Gegebenen entwickelt, sondern eigene Begriffe entwirft, Zwecke setzt, eigene Ziele formuliert und damit die Bedingungen dafür entfaltet, sich aus dem Mechanismus der Naturordnung zu lösen. Erst auf der dritten Stufe erlangt die Vernunft Fichte zufolge die Fähigkeit, die Forderungen des Sittengesetzes zu erkennen und diese gegen die Anmutungen und die Anmaßungen der Natur durchzusetzen.
Diese Stufenleiter der Freiheit von 1798 ist ebenso reich an Einsichten, wie sie schablonenhaft ist. In Fichtes Werken finden sich weit mehr Differenzierungen zum Begriff der Freiheit, die er dieser Stufung nicht explizit zuordnet. So verdient das Theorem der Aufforderung zur Freiheit und der wechselseitigen intersubjektiven Anerkennung der Freiheit von 1796, im Rahmen dieser Stufen der Freiheit verortet zu werden. Schließlich wird im letzten Teil dieses Beitrags die systematische Erweiterung thematisiert, die mit dem Rechtsbegriff von 1812 als einer „Denknothwendig- keit aller als frei" gegeben ist. Fichte fordert ein Recht auf Bildung, das das Aufforderungstheorem und die Stufen der Freiheit zur Voraussetzung hat.
das Theorem der Freiheit in der Grundlage des Naturrechts
von 1796
Mit der Grundlage des Naturrechts, die 1796 und 1797 in zwei Teilen erschien, eröffnete Fichte - sieht man von kleineren Schriften ab - die systematische Ausarbeitung der angewandten und praktischen Teile der Wissenschaftslehre.[1] Für die systematische Ausarbeitung einer Theorie der menschlichen Freiheit kommt dieser Schrift eine bedeutende Rolle zu, da in ihr erstmals das Theorem der wechselseitigen Anerkennung der Freiheit als explizites Verhältnis von Subjekten untereinander formuliert ist. Die vehemente Kritik, die das Theorem des absoluten Ich der Grundlage erfahren hat, wird durch eine Theorie der Subjektivität abgefangen, die den Menschen wesentlich durch die Beziehung zu anderen Subjekten bestimmt sieht.
Fichte entwickelt im Ersten Hauptstück des Naturrechts eine allgemeine „Deduc- tion des Begriffes vom Rechte", die die konkrete Subjektivität als wesentlich abhängig von anderen Subjekten begreift. Das Subjekt wird darin schrittweise in seinem Selbstverhältnis, in seinem Verhältnis zur äußeren Sinnenwelt und schließlich in seinem Verhältnis zur Gemeinschaft aller Vernunftwesen dargestellt.
Schon in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten betonte Fichte die zentrale Bedeutung des sozialen Rahmens von Subjektivität: „Der gesellschaftliche Trieb gehört demnach unter die Grundtriebe des Menschen. Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt."[2]
Der methodologische Ansatz des Naturrechts steht der Wissenschaftslehre nova
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[1] Fichte hatte kurz zuvor eine Rezension zu Kants Schrift Zum ewigem Frieden verfaßt, die im ersten Heft des Philosophischen Journals, wohl im Januar 1796, erschien. Die Datierung ergibt sich aus einer Anzeige im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 29 vom 5. März 1796, derzufolge das fragliche Heft des Philosophischen Journals erschienen sei (vgl. Fichte: Rezension, GA I/3, 219).
[2] Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, GA I/3, 37; SW VI, 306.
methodo nahe, eine neue Methode, die sich bereits im praktischen Teil der Wissenschaftslehre der Grundlage von 1794/95 abzeichnete. Die neue theoretische Struktur der Wissenschaftslehre nova methodo ist eine sukzessive Entfaltung der Bedingungen des Selbstbewußtseins, im Gegensatz zur ausdrücklich als künstlich bezeichneten Konstruktion der Einbildungskraft durch Einbildungskraft, die die Methode des theoretischen Teils der Grundlage bestimmt. Die Annahme vernünftiger Wesen außer dem Subjekt ist somit eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewußtsein, wie Fichte mehrfach betont.
Hinzu kommt eine systematisch enge Verknüpfung von theoretischer und praktischer Wissenschaftslehre, anstelle ihrer getrennten, wechselseitig aufeinander verweisenden Behandlung in der Grundlage,[1] sowie die basale Bedeutung des Zweckbegriffs für die Wissenschaftslehre insgesamt. Mehrfach bemerkt Fichte, daß das Verhältnis vernünftiger Subjekte untereinander primär ein theoretisches Verhältnis ist. Der Andere wird als Vernunftsubjekt erkannt. Das Erkennen des Anderen aber ist wesentlich vermittelt durch die Fähigkeit, Begriffe aufzustellen, die das Handeln bestimmen. Handlungsrelevante Begriffe sind jedoch Zwecke, die sich Subjekte setzen und durch welche sie sich auch gegenseitig als Vernunftwesen erkennen.
Fichte führt den Ansatz der Grundlage darin fort, daß er den Rechtsbegriff aus der Verfasstheit des reinen Ich und seiner Identität mit sich selbst, das heißt, aus dem Charakter der Vernünftigkeit und Freiheit abzuleiten beabsichtigt. Er macht deutlich, daß der reine Charakter des Ich für sich gesehen nur ein abstrakter Gedanke ist, den es in seiner Relationalität auf seine Inhalte darzustellen gilt. Daher wird zuerst der konkrete Bezug des Ich auf Gegenstände der Erfahrung dargelegt und dann die Beziehung vernünftiger Wesen untereinander als Bedingung der Möglichkeit einer naturrechtlichen Gemeinschaft begründet.
Wesentliches Merkmal des reinen Ich ist die Identität des Ich mit sich. Die Menschen in der Gesellschaft sind zwar untereinander sehr verschieden, sie haben nach Fichte aber ein gemeinsames Ziel, die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. „Mithin ist das lezte höchste Ziel der Gesellschaft völlige Einigkeit und Einmüthig- keit mit allen möglichen Gliedern derselben."[2] Da die Menschen aber nicht göttlich, sondern fehlbar sind, ist dieses Ziel nicht unmittelbar erreichbar. Fichte schränkt daher ein: „Völlige Einigkeit mit allen Individuen ist mithin zwar das lezte Ziel, aber nicht
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[1] Friedrich Immanuel Niethammer hat im Philosophischen Journal im 4. Heft des 3. Bandes (1796) einen Aufsatz mit dem Titel „Einige Bemerkungen über den Gebrauch der Ausdrücke Theoretisch, und Praktisch und Theorie und Praxis" veröffentlicht (321-351). Die darin vorgebrachten Überlegungen wenden sich nicht explizit, der Sache nach aber doch deutlich gegen Fichte. Die Vermutung liegt nahe, daß sich Fichte möglicherweise auch durch diese Kritik veranlaßt sah, die Trennung von theoretischer und praktischer Wissenschaftslehre in der neuen Ausarbeitung der Wissenschaftslehre fallen zu lassen. - Vgl. auch Ludwig Siep in seinem Beitrag „Einheit und Methode von Fichtes Grundlage des Naturrechts", in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt/Main 1992, 41 - 64, vor allem 46-53.
[2] Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, GA I/3, 40; SW VI, 310.
die Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft."[1] [2]
In der frühen Schrift von 1793, dem Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, vertritt Fichte die in der Zeit verbreitete Ansicht, daß das Naturrecht aus dem Sittengesetz abzuleiten sei. Im Naturrecht revidiert Fichte die diesbezügliche zeitgenössische Ansicht ebenso wie seine eigene Theorie im Beitrag. Er vertritt nun die These, daß das Naturrecht nicht aus dem Sittengesetz hergeleitet werden könne, da beide aus je unterschiedlichen Prinzipien ent- springen.11 Der Grund liegt für Fichte darin, daß das Sittengesetz ein ursprüngliches Gesetz des Ich ist, dem sich keiner entziehen kann. Das Rechtsverhältnis wird dagegen erst aufgrund eines Aktes der Willkür wirksam, durch den die Rechtsprinzipien übernommen werden. Sittliches Wesen ist man durch die Natur der Vernunft, Staatsbürger ist man durch freien Entschluß. Im gleichen Atemzug betont Fichte, daß menschliche Subjekte wesentlich auf die Gemeinschaft mit anderen Subjekten angewiesen sind. Er reflektiert damit auch auf den entwicklungsgeschichtlichen Aspekt von Subjektivität. Das aber bedeutet, daß ein durch seine Freiheit bestimmtes Subjekt den zunächst unbestimmten Umfang seiner Freiheit in der Beziehung zu anderen einschränken muß. Überdies zeigt sich durch die Reflexion auf das entwicklungsgeschichtliche Verhältnis zu anderen, daß Freiheit nicht an sich schon ist, sondern Subjekte erst lernen müssen, sich ihrer Freiheit zu versichern und als freie Subjekte zu leben. Mit der Natur der Vernunft ist Freiheit gegeben. Aber die Vernunft muß, wie die Freiheit, erst entwickelt werden. Menschen müssen zur Freiheit erzogen werden, auch wenn sie potenziell als freie Wesen geboren werden.
Fichte geht über zu seinem Lehrstück von der Aufforderung und Erziehung zur Freiheit, indem er in einem ersten Schritt expliziert, wie es zu denken ist, daß ver- nünftige Wesen sich eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuschreiben. Das Ich kann sich als frei nur denken, wenn es etwas anderes als unfrei, gebunden, gezwungen denkt. Das unreflektierte Bewußtsein schreibt den Gegenständen seines Anschauens eine unabhängige Existenz zu. Das kritische Denken reflektiert darauf, daß es die Gegenstände seines Anschauens selbst im Bewußtsein hervorbringt. Reflektiert es daher auf sein Anschauen, so bemerkt das Subjekt darin sowohl Momente der Selbsttätigkeit als auch ein Bestimmtsein durch die Objekte. „Wir müssen die
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[1] Ebd.
[2] Vgl. Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution 1793, GA I/1, 278; SW VI, 131. - Zum Verhältnis von Recht und Moral liegt eine umfassende Untersuchung vor von Carla De Pascale: „Die Vernunft ist praktisch". Fichtes Ethik und Rechtslehre im System, Berlin 2003. Vgl. auch Violetta L. Waibel: „On the Fundamental Connection between Moral Law and Natural Right in Fichte's Contribution (1793) and Foundations of Natural Right (1796/97)", in: Tom Rockmore / Daniel Breazeale (Hrsg.): Rights, Bodies, and Recognition. New Essays on Fichte's ,Foundations of Natural Right', Aldershot / Burlington 2006, 45 - 58. Wolfgang Kersting profiliert in seiner Schrift Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin / New York 1984, Kants Begründung des Rechts gegen die systematischen Unzulänglichkeiten der Zeitgenossen. Zur Kritik an Fichtes Beitrag und am Naturrecht von 1796/97, vgl. ebd., 52-57 und 63-70.
Gegenstände so vorstellen, wie sie unserm Dafürhalten nach, ohne unser Zuthun sind, unser Vorstellen muß sich nach ihrem Seyn richten."[1] Wenn damit das Anschauen und Erkennen vollständig beschrieben wäre, würde dies bedeuten, daß wir in dieser Tätigkeit weitgehend bestimmt, also wesentlich unfrei sind, was nach Fichte dem Begriff des Ich widerspricht. Nun aber ist es so, daß wir niemals bloß anschauen, sondern mit jeder einfachsten Einstellung zur Sinnenwelt immer Zweckbestimmungen verbunden sind. Auch scheinbar bloßes Betrachten, Erkennen um seiner selbst willen hat einen Zweck, nämlich den des Betrachtens, des Anschauens. Dem Anschauen, Erkennen und Denken ist damit eine Richtung, eine Intention gegeben. Zwecke zu setzen, also zu wollen, ist etwas, das nur Vernunftwesen zugesprochen werden kann. Im zwecksetzenden Wollen stellt sich die Freiheit des Vernunftwesens dar, das zugleich gebunden ist durch das Vorstellen seiner Objekte. „Wollen und Vorstellen stehen sonach in steter nothwendiger Wechselwirkung, und keines von beiden ist möglich, ohne daß das zweite zugleich sey."[2]
Zur Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität gehört das Wechselverhältnis von Vorstellen und Gebundensein durch Objekte und ferner das Wollen, durch das sich die Intention des Vorstellens artikuliert.
Anschauen und Erkennen ist ohne Selbstzuschreibung einer freien Wirksamkeit nicht denkbar. Wollen ist eine Äußerungsform der Freiheit, die die Realisierung des Ich in der Wirklichkeit möglich macht. Nun behauptet Fichte, daß die bloße Form der Vernünftigkeit und Freiheit im Ich liegt. Für das Wollen aber muß ein Grund vorliegen, der nicht allein aus dem Ich zu schöpfen ist.
Den Grund für das Wirksamwerden des Wollens sieht Fichte in der „Aufforderung" anderer Vernunftwesen gegeben, sich zur freien Wirksamkeit zu entschließen. Er nennt diese Realisierung der freien Wirksamkeit auch die Erziehung zur Vernunft durch andere Vernunftwesen, dank derer wir notwendig andere Vernunftwesen außer uns annehmen müssen. Doch was dem unreflektierten Bewußtsein als gewohnte Erfahrung gegenwärtig ist, muß aus der Perspektive der philosophischen Reflexion der Wissenschaftslehre entwickelt werden. Fichte stellt daher folgenden Überlegungsgang an.
Wenn es zu den Bedingungen der Möglichkeit wesentlich gehört, daß dem wollenden Subjekt Vorstellungen möglich werden, so liegt darin auch die Bedingung dafür, daß sich dem wollenden Subjekt eine äußere sinnliche Welt konstituiert. Das Wollen bliebe freilich unbestimmt, würde es nicht den Widerstand von Objekten, die unabhängig vom Subjekt sind, also von äußeren Gegenständen, erfahren. Damit findet das Subjekt eine Welt außer sich vor, in der ihm die verschiedensten Objekte begegnen.
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[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, GA I/3, 330; SW III, 18/19.
[2] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 333; SW III, 21. - Zur Entwicklung von Fichtes Begriff des Willens, ausgehend vom Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792/93) bis zur Wissenschaftslehre nova methodo (jedoch unter Auslassung der Grundlage des Naturrechts) vgl. Günter Zöller: „Bestimmung zur Selbstbestimmung: Fichtes Theorie des Willens", in: FichteStudien 7 (1995) 101 - 118.
Zu diesen Objekten zählen bloße Gegenstände und Sachverhalte ebenso wie andere Vernunftsubjekte.
An diesem Punkt ergibt sich für Fichte die philosophisch wichtige Frage, wie dem auf die Sinnenwelt gerichteten Subjekt die Unterscheidung von Gegenständen der sinnlichen Welt von Vernunftwesen möglich ist. Diese Frage soll am Leitfaden der Untersuchung der Bedingungen und der Möglichkeit von Selbstbewußtsein beantwortet werden. Da sich Subjekte durch ihr Wollen, also durch ihre freie Wirksamkeit auszeichnen, muß genau darin das differenzierende Kriterium liegen, wodurch Vernunftwesen im Unterschied zu anderen Objekten erkannt werden.
Fichte scheint nun offenkundig die These zu vertreten, daß die freie Wirksamkeit erst dann als freie Wirksamkeit begriffen wird, wenn sie durch eine andere freie Wirksamkeit angestoßen, also durch ein anderes Subjekt bestimmt wird. Mit Fichtes Worten: „[W]enn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjekts zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen."[1] Die Aufforderung zur freien Wirksamkeit, die von einem Subjekt an ein anderes ergeht, ist philosophisch dann brisant, wenn diese Aufforderung in einem genetischen Sinne als ursprünglicher Anlaß für das Wirksamwerden von Selbstbestimmung und bewußtem Wollen begriffen und interpretiert werden soll. Genau dies ist von Fichte intendiert. Eine Aufforderung nimmt von einem Subjekt seinen Ausgang, das über sein Wollen und seine Zwecksetzungen verfügt. Das Subjekt, das noch nicht über seine freie Wirksamkeit verfügt, soll den Gebrauch derselben lernen. Durch Erziehung wird die Fähigkeit zu wollen geweckt, die in der Anlage der Vernunft schlummert. Wie dieser Akt der Erziehung im Detail gelingen kann, darüber gibt Fichte keine nähere Auskunft.
Fichte geht jedoch davon aus, daß die Aufforderung dann gelingt, wenn sich beide Subjekte durch Begriffe verständigen können. Die Erkenntnisfähigkeit und die begriffliche Verständigung ist wesentliche Bedingung dafür, daß sich Subjekte wechselseitig als vernünftige Ursachen erkennen. Vernunftursachen sind nämlich solche, denen der Begriff von einem Zweck vorausgeht. Fichte behauptet, erwiesen zu haben:
„Das vernünftige Wesen kann sich nicht setzen, als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln, nach I-IV. Geschieht aber eine solche Auffor- derung zum Handeln auf dasselbe, so muß es nothwendig ein vernünftiges Wesen ausser sich setzen als die Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen ausser sich setzen, nach V."[2] Fichte behauptet überdies: „Der Mensch [...] wird nur unter Menschen ein Mensch".[3]
Das ausgeführte Theorem der Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit wird von Fichte als Erziehung zur Realisierung der Freiheit ausgewiesen. Damit tut sich das Dilemma auf, daß er einerseits in Anspruch nimmt, eine transzendentalphilosophische Darstellung der Bedingungen von Selbstbewußtsein entwickelt zu haben, andererseits aber offenkundig auch die genetische Frage der Erziehung vom kindlichen zum reifen
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[1] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 342; SW III, 32/33.
[2] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 347; SW III, 38/39.
[3] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 347; SW III, 39.
Vernunftsubjekt thematisiert. Tatsächlich stellt Fichte auch die Frage, wer das erste Menschenpaar zur Freiheit erzogen habe. Er findet nur die systematisch ziemlich unbefriedigende Antwort, daß dies ein Geist gewesen sein müsse. Diese Antwort zeigt die Begründungsnot auf, in die Fichte mit seinem Reflexionsgang hinein geraten ist. Verständlicherweise läßt dies die Frage aufkommen, ob Fichte seinen reflexionslogischen Gang des Aufweises der Bedingungen des Selbstbewußtseins verlassen hat und indes einem Empirismus verfallen ist, obwohl Fichte die Frage der Erziehung außerhalb seines systematischen Begründungsganges anspricht.[1]
Will man Fichte nicht einfachhin der Inkonsequenz und einer wenig durchdachten Konzeption der intersubjektiven Aufforderung zur Freiheit bezichtigen, so bietet es sich an, den Widerstreit zwischen Reflexionslogik und empirischer Erscheinung als antinomischen Zusammenhang nach dem Vorbild der dritten Antinomie der Freiheit in Kants Kritik der reinen Vernunft zu verstehen.[2] Kant läßt bekanntlich bei der dritten Antinomie der Freiheit keine Entscheidung für nur eine der beiden Thesen zu. Er zeigt, daß beide Seiten der Antinomie koexistieren können und wichtige, einander ergänzende Explikationsweisen des einen Sachverhaltes zu bieten haben. Wahr ist zudem, daß die Aufforderung ein wiederkehrendes Ereignis für intersubjektive Verhältnisse ist, denn mit einer Aufforderung allein ist Freiheit nicht dauerhaft wirksam.
Die Erziehung zur Freiheit erfordert dauerhafte und wiederholte Anstrengung, bis sich ihr Gebrauch stabil entwickelt hat. Faktum ist freilich auch, daß es ein erstes Auffordern in der Entwicklung des Einzelnen wie der Menschheit geben muß, das in ursprünglicher Weise die Bestimmung zur Freiheit in einem einzelnen Subjekt weckt und dadurch weitere und wiederholbare Verfügung über Freiheit allererst etabliert. Daher scheint der Hinweis auf die antinomische Struktur der intersubjektiven Aufforderungsakte den Streit schlichten zu können. Es ist sowohl ein erstes Auffordern, das die Geltung von Freiheit in den Blick bringt, als auch ein Mechanismus der anhaltenden Einübung erforderlich.
Der Doppelcharakter spiegelt sich auch darin wider, daß Fichte mit dem Naturrecht behauptet, eine „reelle" Philosophie geschaffen zu haben,[3] wie er in der Einleitung
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[1] Axel Honneth stellt in seiner Untersuchung: „Die Transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität (Zweiter Lehrsatz: § 3)", in: Jean-Christoph Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001 (=Klassiker Auslegen, Bd. 24), 63-80, pointiert den aporetischen Charakter von Fichtes Methodik heraus, der sich durch die transzendentallogische Begründung und die Bezugnahme auf konkrete Subjektivität in Raum und Zeit ergibt. - Christian Stadler hebt trotz der ungelösten systematischen Probleme Fichtes Anspruch der notwendigen Vermittlung von Faktizität und Geltung in seinem Beitrag hervor: „Der Transzendentalphilosophische Rechtsbegriff und seine systematische Begründungsleistung", in: Fichte-Studien 24 (2003) 19-48. In dem Beitrag „Dimensionen und Wandlungen des Fichteschen Rechtsbegriffes im Vergleich Jena - Berlin", in: Fichte-Studien 29 (2006) 57-66, verweist Christian Stadler zurecht auf die in Fichtes Rechtslehre fortwirkende Idee der Platonischen Paidaia.
[2] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Angaben wie üblich nach der A-Auf- lage von 1781 und der B-Auflage von 1787), nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg 1998, hier A 444/B 472-A 451/B 479 und A 462/B 490-A 476/B 504.
[3] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 319; SW III, 7.
zur Schrift betont, die die Bedingungen der Wirklichkeit der Gemeinschaft von Vernunftwesen aufzeigt. Das Ich ist seiner Natur nach zur Freiheit bestimmt, wirksam wird diese erst in der Gemeinschaft. In der Grundlage sprach er noch vom Sprung in die Freiheit: „Durch kein Naturgesez, und durch keine Folge aus dem Naturgesetze, sondern durch absolute Freiheit erheben wir uns zur Vernunft, nicht durch Uebergang, sondern durch einen Sprung."[1]
Bedauerlicherweise erinnert sich Fichte nicht an diese weit einleuchtendere Metapher, wenn er im Naturrecht die Frage beantwortet, wie das erste Menschenpaar zur Freiheit erzogen wurde. Den Sprung in die Vernunft durch Spontaneität und Freiheit zu vollziehen, so darf man, Fichte korrigierend, annehmen, ist dem Genie, dem besonderen Subjekt in ausgezeichneten Situationen möglich, das aus innerer Kraft zu einem philosophischen oder moralischen Bewußtsein gelangt und das daher auch einen klaren Instinkt für Gerechtigkeit und rechtes Handeln entwickeln kann. Es ist hingegen das gewöhnliche, endliche Vernunftwesen, das zur Freiheit erzogen wird, indem an es eine Aufforderung ergeht, sich zur freien Wirksamkeit zu entschließen. „Der Grund der Wirksamkeit des Subjekts, liegt zugleich in dem Wesen ausser ihm, und in ihm selbst".[2]
In der Aufforderung zur freien Wirksamkeit liegt zugleich die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung der Freiheit des Auffordernden. Diese Selbstbeschränkung bedeutet auch Anerkennung der Freiheit des anderen.
„Die Erkenntniß des Einen Individuums vom andern, ist bedingt dadurch, daß das andere es als ein freies behandle, (d. i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten.) [...] Das Verhältniß freier Wesen zu einander ist daher das Verhältniß einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln."[3]
Aus der gegenseitigen Anerkennung freier Wesen und der damit verbundenen Einschränkung der eigenen Freiheit entsteht das Rechtsverhältnis. „Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken."[4]
Der Begriff des Rechts bezieht sich nur auf das, was sich im Handeln in der Sinnenwelt äußert. Zum Begriff der Moral zählen hingegen auch die Gesinnungen im Inneren des Gemüts und des Gewissens. So ist es nach Fichte unsinnig, vom Recht auf Denk- und Gewissensfreiheit zu sprechen. Gesinnungen werden erst dann zu einer rechtlichen Frage, wenn sie nach außen vertreten werden.
Im Zweiten Hauptstück legt sich Fichte die Frage vor, welches die Bedingungen
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[1] Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, GA I/2, 427; SW I, 298.
[2] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 349; SW III, 41.
[3] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 351; SW III, 44.
[4] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 358; SW III, 52.
der Möglichkeit der Realisierung des Rechts sind. Ist das Recht, mit dem die Annahme einer Objektwelt und vernünftiger Wesen außer uns verknüpft ist, im Ersten Hauptstück in seiner Denkbarkeit entwickelt, so wird im Zweiten Hauptstück die Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes dargelegt. Dazu gehört die Selbstzuschreibung eines materiellen Leibes, die physische Wechselwirkung der realen Gestalten aufeinander, die Unterscheidung von einem niedereren und einem höheren Organ des Mentalen, was grob der Unterscheidung von sinnlich-körperlichen Handlungen und dem vom Hören und Sehen abhängigen Denkvermögen entspricht. So kann Fichte behaupten: „Ich käme gar nicht zum Selbstbewußtseyn, und könne nicht dazu kommen, äusser zu Folge der Einwirkung eines vernünftigen Wesens äusser mir auf mich. [...] Ich werde zu einem vernünftigen Wesen, in der Wirklichkeit, nicht dem Vermögen nach, erst gemacht".[1]
Überblickt man die ersten beiden Hauptstücke der Grundlage des Naturrechts, so werden im Ersten Hauptstück mit dem Titel „Deduktion des Begriffs vom Rechte" diejenigen ersten Momente der Freiheit dargelegt, die sich im Ausgang vom Begriff des Ich ergeben. Zuerst wird das Wirkungsfeld eines Subjekts, also die Sinnenwelt, sodann die Beziehung eines Ich zu anderen Vernunftwesen durch das Theorem der Anerkennung der Freiheit des Anderen unter Einschränkung der eigenen Freiheitsansprüche als Fundament möglicher Rechtsverhältnisse entfaltet. Im Zentrum des Zweiten Hauptstücks, der „Deduction der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes" steht der Gedanke, daß vernünftige Subjekte durch ihre Leiblichkeit erst Teil der sinnlichen Welt sind und daher auch über Organe verfügen, die die Wechselwirkung mit der sinnlichen Welt ermöglichen. Fichte betont, daß nicht das Vernunftwesen überhaupt, sondern nur das konkrete Individuum sich als Person, das heißt als Vernunftwesen begreifen kann. Das konkrete Individuum steht in Wechselbeziehung mit der es umgebenden Welt im allgemeinen, wie in den ersten beiden Paragraphen gezeigt, und es steht im besonderen mit anderen Vernunftwesen in Wechselbeziehung.
Die Erziehung zur Freiheit und der damit verbundene Charakter der Aufforderung von freien Subjekten an die, die es werden sollen, ist eine wichtige Einsicht für den konkreten Umgang mit dem Menschen als einem Wesen, das seiner vernünftigen Anlage nach als frei geboren gilt, aber dennoch erst lernen muß, seine Freiheit zu gebrauchen und zu realisieren.
Während Fichte im Naturrecht subjektivitätslogische und pragmatische Aspekte der Freiheit durchdenkt, entfaltet er im System der Sittenlehre von 1798 eine sehr bedenkenswerte Stufenleiter der Freiheit. Diese impliziert vor dem Hintergrund des Aufforderungstheorems des Naturrechts, daß jede Person, die eine Art und eine Stufe der Freiheit für sich realisieren konnte, aufgefordert ist, die gewonnene Freiheit mittels geeigneter Interventionen in anderen zu mehren, um auf diese Weise Freiheit
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[1] Fichte: Naturrecht, GA I/3, 375; SW III, 74.
überhaupt zu einem festen Bestand des Zusammenlebens in menschlicher Gemeinschaft zu machen. Dies gilt es nun, näher zu untersuchen.
der Freiheit im System der Sittenlehre von 1798
Fichtes grundlegende Einsicht, daß Freiheit nur dann real werden kann, wenn Menschen einen Impuls von anderen erhalten, ihre Freiheit zu entdecken und zu erkennen und folglich auch in ihr Handeln zu integrieren, findet eine konsequente Fortsetzung in einem Theoriekonzept menschlicher Vernunft, dem zufolge Freiheit in verschiedenen Stufen wachsender Komplexität durchlaufen wird. Im System der Sittenlehre von 1798 entfaltet Fichte das Konzept einer dreigliedrigen Aufstufung der Freiheit, das systematisch wiederum den grundlegenden Akt der Selbstsetzung des Ich zur Voraussetzung hat.
Die einfachste Erscheinungsform subjektiver Freiheit ist die Spontaneität, die begriffliches Denken ermöglicht. Dieser ersten Stufe einer formalen Freiheit folgt die materiale Freiheit als zweite Stufe. Diese sieht Fichte in der Fähigkeit gegeben, mittels der gewonnen Begriffe Zwecke und Handlungsintentionen zu setzen, die den natürlichen oder mechanischen Gang der Dinge durch eine Kausalität umwenden, die ihren Ausgang in der Vernunft hat. Die höchste und letzte Stufe ist mit der sittlichen Autonomie menschlicher Vernunft gewonnen. Genauere systematische Bestimmungen dieser Stufen der Freiheit sollen nun näherhin zur Ausführung gelangen.
Formale Freiheit
Begriffliches Denken löst Fichte zufolge die Vorstellung von Dingen von deren unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung und Anschauung los. Begriffliches Denken erlaubt Negation, mithin die Vorstellung von Dingen in Abwesenheit ihrer unmittelbaren Präsenz. Fichte nennt dies explizit eine formale Freiheit, die er als Kausalität des Subjekts neben die Kausalität der Natur stellt und betont:
„Was auf den Trieb folgt, wirkt nicht die Natur, denn sie ist mit Erzeugung des Triebes erschöpft; ich wirke es, zwar mit einer Kraft, die von der Natur abstammt, die aber doch nicht mehr ihre, sondern meine Kraft ist, weil sie unter die Botmäßigkeit eines über alle Natur hinausliegenden Princips, unter die des Begriffs, gefallen ist. Wir wollen die Freiheit in dieser Rücksicht nennen die formale Freiheit. Was ich nur mit Bewußtseyn thue, thue ich mit dieser Freiheit. Es könnte demnach jemand dem Naturtriebe ohne Ausnahme folgen, und er wäre, wenn er nur mit Bewußtseyn, und nicht mechanisch handelte, dennoch frei in dieser Bedeutung des Worts; denn nicht der Naturtrieb, sondern sein Bewußtseyn des Naturtriebs wäre der letzte Grund seines Handelns."[1]
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[1] Fichte: Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), § 10, GA I/5, 129; SW IV, 135.
Die Transparenz des Begriffes für das Bewußtsein ist es folglich, die dem Menschen eine Form der Freiheit gewährt, die dem Naturmechanismus nicht zu eigen ist. Das denkende Wesen weiß auf dieser Stufe, was es tut, auch dann, wenn es nicht gezielt in den Ablauf von Handlungen eingreift.
Daß Fichte das Denken und den Erwerb des begrifflichen Bewußtseins von einer Sache als einen Akt der Freiheit versteht, ist mit Blick auf die gegenwärtigen Debatten um Freiheit und Verantwortlichkeit sehr bedenkenswert. Bedeutsam ist nämlich, daß die formale Freiheit jedes Handeln, unabhängig von der Beurteilung des moralisch Guten oder Bösen, begrifflich durchdringt. Der Erwerb der Begriffe von seinem Handeln, das neutrale reflektierende Nachdenken also, ist als Bedingung für jede höhere Stufe der Freiheit anzusehen. Menschliche Subjektivität ist Fichte zufolge dem Wesen und der Anlage nach zur Freiheit fähig und zwar durch die Kraft des Begriffes und des Denkens. Ob aber auf höherer Stufe Freiheit wirklich als eine gewollte Möglichkeit des Handelns ergriffen wird, darüber entscheiden weitere Bedingungen.[1]
Die formale Freiheit erlaubt, auch solche Handlungen, die durch Naturkausalität, durch Steuerungen des Unbewußten oder durch soziale Prägungen motiviert sind, mittels der Einsicht durch Begriffe begleitend zu reflektieren. Der formalen Freiheit ist es jedoch offenkundig nicht möglich, die reflektierte Einsicht in verantwortlicher Weise aufzunehmen und dem Gang der Dinge, sofern nötig, eine andere Richtung zu geben.
Dies ist erst auf der nächsten Stufe möglich, wenn die die Sache begleitenden Begriffe ein Reflexionspotenzial freisetzen, das Veränderungen denkbar und schließlich auch wünschbar macht. Damit käme bereits die zweite Stufe in Gang, die Fichte materiale Freiheit nennt. Wie der Umschlag vom bloßen Durchdenken einer Sache durch Begriffe in ein verantwortliches Handeln erfolgt, wird von Fichte nicht im Detail entwickelt.
Fichtes Impuls aufnehmend darf man sagen, daß das Reflektieren von Handlungen durch Begriffe zunächst eine deskriptiv zu nennende Abbildung des Geschehens, des Ereignisses oder des Erlebnisses darstellt. Auch wenn Fichte dies nicht hinreichend deutlich vorgesehen hat, so ist es wichtig zu sehen, daß durch eine tiefergehende Reflexion auf das begrifflich Abgebildete sich die Möglichkeit eröffnet, daß Geschehnisse, Ereignisse und Erlebnisse, die immer schon in Bewertungshorizonte eingebunden sind, in ihren versteckten und offensichtlichen Wertungen erfaßt werden.
Zufolge dem erkenntnistheoretischen Ansatz der Grundlage wie dem Theorem des Interesses, das Fichte im § 11 des Systems der Sittenlehre ausarbeitet, verbindet sich nämlich mit dem bloßen Begriff ein strebendes, intentional gerichtetes Wollen, so daß zum begrifflichen Erkennen ein beurteilender Beifall oder ein Mißfallen hinzu- tritt.[2] So ist durch das begriffliche Reflektieren auf die Sache und ihren Bewertungshorizont möglich, die Bewertungen selbst zu bewerten und bewußt anzunehmen oder
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[1] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 18, GA I/5, 211; SW IV, 233.
[2] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 11, GA I/5, 137; SW IV, 145.
abzulehnen. Damit können, modern gesprochen, die vielfach unbemerkten, automatisierten Bewertungen in Frage gestellt werden. So werden neue Bewertungen und Beurteilungen der Geschehnisse, Ereignisse, Erlebnisse möglich, die in weiterer Folge Handlungsimpulse beeinflussen können.
Fichte beachtet und reflektiert nicht hinreichend die Tatsache, daß mit der begrifflichen Durchdringung von Gegebenheiten auch die eigene Ohnmacht, nicht anders handeln zu können und getrieben sein durch Naturimpulse, sichtbar gemacht und erkannt werden können. Doch es kann festgehalten werden, daß die Fähigkeit zur begrifflichen Durchdringung von Sachverhalten auch bei einem ohnmächtigen Suchtverhalten etwa die Chance in sich birgt, daß die begriffliche Einsicht durch hilfreiche Vermittlungswege zu einer verbesserten Handlungsmotivation führt. Das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den - warum auch immer - fehlgesteuerten Naturtrieben erzeugt das Bewußtsein von Unlust, das längerfristig ein Bedürfnis nach Selbstbehauptung wecken und motivieren könnte.
Damit zeigt sich, daß die formale Freiheit zunächst nichts anderes als das eine Sache begleitende Bewußtsein durch den Begriff ist. Hinzu kommt aber über Fichtes explizite Ausführungen hinaus, daß das begriffliche Bewußtsein die Sache nicht bloß einsehend begleiten, sondern ein Gefühl hinzutreten kann, das Zusammenstimmung, Neutralität oder Widerstand zwischen der Einsicht und dem Handeln anzeigt. Dieses Gefühl nun ist geeignet, zu einer Freiheit auf höherer Stufe überzuleiten, weil es danach strebt und dazu antreibt, Änderungen und Weiterungen herbeizuführen.
Materiale Freiheit
Eine höhere Stufe der Freiheit liegt nun vor, wenn das Subjekt nicht nur frei in dem Sinne ist, daß es über Begriffe und Sprache verfügt und die Einsichten mit einem wachen Selbstbewußtsein begleitet, sondern, wie Fichte sagt, wenn es sich als frei setzt. Damit ist diejenige Spontaneität bezeichnet, die einen gezielten Einsatz intentionalen Wollens möglich macht. Auf dieser Stufe der Freiheit weiß sich ein Subjekt als zielsetzende Kausalität, es weiß sich als bestimmendes und selbstbestimmendes Wesen, als Ichlichkeit. Fichte nennt dies die Freiheit um der Freiheit willen und grenzt sie mithin als materiale im Unterschied zur formalen Freiheit ab.
„Die erstere [die formale Freiheit] besteht lediglich darin, daß ein neues formales Princip, eine neue Kraft eintritt, ohne daß das Materiale in der Reihe der Wirkungen sich im mindesten ändere. Die Natur handelt nun nicht mehr, sondern das freie Wesen; aber das letztere bewirkt gerade dasselbe, was die erstere bewirkt haben würde, wenn sie noch handeln könnte. Die Freiheit in der zweiten Rücksicht besteht darin, daß nicht nur eine neue Kraft, sondern auch eine ganz neue Reihe der Handlungen ihrem Inhalte nach eintrete. Nicht nur die Intelligenz wirkt von nun an, sondern sie wirkt auch etwas ganz anderes, als die Natur je bewirkt haben würde."[1]
Fichte faßt zunächst noch einmal zusammen und bekräftigt, daß das freie Wesen auf der ersten formalen Stufe der Freiheit handle, wie die Natur handeln würde, wäre
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[1] Fichte: System der Sittenlehre, § 10, GA I/5, 132; SW IV, 139.
sie Subjektivität. Dann leitet er zur zweiten Stufe fort, die er materiale Freiheit nennt. Diese ist dadurch ausgezeichnet, daß bewußt intentionale Möglichkeiten des Handelns eingesetzt werden. Jedes längerfristige Ziel fordert, Teilziele zu bestimmen und in Handlungen umzusetzen. Dazu gehört, daß Handlungsziele insgesamt und auf jeder Teilstufe bewußt unter verschiedenen Optionen ausgewählt werden. In der Regel gibt es für ein Handlungsziel eine Mehrzahl von Handlungsstrategien. Jedes Ziel läßt sich zudem in eine Vielzahl von Handlungseinheiten und Etappen untergliedern, die ihrerseits wieder, sobald eine Handlungseinheit abgeschlossen ist, einen Fächer von Wahlmöglichkeiten bieten. Die materiale Freiheit besteht Fichte zufolge genau darin, an den Schnittpunkten von Entscheidungsmöglichkeiten Gebrauch von der Auswahl zu machen, die dem Wollenden jeweils offen stehen. Freiheit ist für Fichte keine amorphe Projektion der Selbstbestimmung über alle Natur hinweg. Die Auffächerung der Möglichkeiten, die von Fall zu Fall durch die Einsicht der Reflexion offen stehen, sind klarerweise bestimmt durch den Möglichkeitshorizont, den die unhintergehbaren Naturgesetze zulassen. Diesen Möglichkeitshorizont optimal zu nutzen und zur jeweils besten Entscheidung zu gelangen, ist ein Wechselprodukt aus einem persönlichen Handlungsfreiraum und einer möglichst guten Einschätzung der äußerlich gegebenen wie der eigenen Möglichkeiten. Daß es hierfür eines begrifflich differenzierten, durchgearbeiteten Sachwissens auf den verschiedensten Ebenen bedarf, wird damit offenkundig. Hinzukommen muß die Fähigkeit zu einer geeigneten und zielführenden Handlungsmotivation des Selbst und der Anderen, die in die fraglichen Projekte eingebunden sind. Spätestens bei der materialen Freiheit wird deutlich, daß in ihr Einsicht und Handeln bald zusammenfallen, bald innere Gegenkräfte bilden können.
Daher sei an dieser Stelle auf Fichtes Überlegungen in der Wissenschaftslehre nova methodo verwiesen, in denen er den für sich sprechenden Gedanken eines ganzen, ungeteilten Wollens einführt. Die Vorlesungen, in Kollegnachschriften erhalten, hat er etwa zeitgleich mit dem Erscheinen des Systems der Sittenlehre, nämlich 1798/99 abgehalten.
Über ein ganzes ungeteiltes Wollen verfügt das in idealer Weise bei sich seiende Ich. Das Ich ist dann sein Wollen und nichts anderes. Tatsächlich aber erweist sich manches Wollen als Schein. Es ist dann kein Wollen, es ist ein bloßes Wünschen.
Dieses Wünschen ist nun deshalb Fichtes Gegenstand der Untersuchung in der Wissenschaftslehre nova methodo, weil es um so deutlicher die eigentliche Natur des Wollens hervortreten läßt. Wollen ist für Fichte in Wahrheit ein emphatischer Begriff, der in der Wissenschaftslehre nova methodo mit Macht hervortritt. Es ist das ungeteilte und energische Wollen einer Sache, ein Wollen mit ganzer Kraft, ein Wollen, das identisch ist mit dem Wirken und mit dem Handeln des Subjekts: „Wollen und Wirken ist nichts als Wollen. Die Wahrnehmung unserer Würksamkeit ist nichts als die Wahrnehmung unseres gedachten reinen Willens."[1]
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[1] Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99, hrsg. sowie mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Erich Fuchs, Hamburg 1982 (im folgenden WLnm Krause mit Seitenangabe), hier: Fichte: WLnm Krause, 164; GA IV/3, 457.
Um sich begreiflich zu machen hinsichtlich des wahren Sinnes von Wollen, erklärt Fichte, was dem Wünschen mangelt im Vergleich zum Wollen. Fichte konstatiert: „Ich kann nicht wollen, was nicht wird; alles was ich nicht kann und nicht wirklich thue[,] will ich nicht, sondern es ist ein bloßer ohnmächtiger Wunsch."[1] Fichte spricht dem bloßen Planen, dem theoretischen Entwerfen von Projekten und Intentionen ab, ein wirkliches Wollen zu sein. Fichtes lakonische Behauptung ist, daß ein solches scheinbares Wollen in Wirklichkeit ein bloßes Denken, Vorstellen, Wunschdenken ist. In der Sittenlehre von 1798 stuft er das bloße Denken als formale Freiheit ein. Freilich mag zwischen einem bloßen Denken und einem zwecksetzenden Denken bereits ein qualitativer und struktureller Unterschied bestehen. Während das bloße Denken ganz der formalen Freiheit zuzurechnen ist, ist das Wünschen auf begehrte Objekte gerichtet. Daher ist das Wünschen bereits als eine Vorstufe der materialen Freiheit zu beurteilen. Diese Überlegung unterstützt Fichtes implizite These, daß die Stufen der Freiheit nur grobe Klassifikationen sind, die fließende Übergänge kenntlich machen. Hinzu kommt, daß die einzelnen Stufen, sind sie einmal erreicht, in keinem Fall dauernder Besitz sind. Sie sind vorwärts und rückwärts durchlässig.
Wollen im eigentlichen Sinne ist für Fichte Wirken und Wirken zu können. Der erste Grund dafür, daß ein Wollen nicht Wollen ist, weil es im bloßen Wünschen und Phantasieren verharrt, ist im Subjekt selbst zu suchen. An sich ist das Streben des Subjekts ein Handeln, dem eine Richtung, ein Fokus gegeben ist, auf den hin sich alle Teilkräfte richten. Das Subjekt, das nur wünscht und nicht will, findet sich in Zuständen, die Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo ein Deliberieren[2] nennt. Diese Zustände sind dem reinen Wollen entgegen, stören es: „Im Deliber- iren ist das Streben zerstreut und in sofern kein Wollen. Die Concentration dieses zerstreuten Strebens in einem Punct heißt erst Wollen. Dieß ist eine Folge aus dem oben aufgestellten Satz: das Ich findet sich im Uibergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit; nur in diesem Uibergehen kann man sich seines Wollens bewust werden."[3] Ferner schreibt Fichte: „Das Wollen ist Concentration des ganzen Menschen mit seinem ganzen Vermögen auf einen Punct; das richtige Bild davon ist der Act der angestrengten Aufmerksamkeit."[4]
Daß dieser emphatische Begriff vom Wollen in Abgrenzung gegen ein bloßes De- liberieren oder Wünschen nicht bloß psychologischer Natur ist, sondern einen systematisch entscheidenden Geltungsanspruch erhebt, wird an zwei Aspekten ersichtlich, die in diesem Gedankengang gegenwärtig sind. Zum einen behauptet Fichte nämlich,
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[1] Ebd.
[2] Lat. „delibero", erwägen, reiflich überlegen, sich bedenken, zu Rate gehen (Karl Ernst Georges: Lateinisch-Deutsch. Deutsch-Lateinisch. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch; Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch, 2. Erweiterte Auflage, Directmedia Berlin 2004, Digitale Bibliothek Band 69, Spalten 16.876-16.878). - Fichte interpretiert das Deliberieren offenkundig als unentschlossenes, innerlich zerrissenes Erwägen für und wider eine Sache.
[3] Fichte: WLnm Krause, 124; GA IV/3, 423-424.
[4] Fichte: WLnm Krause, 126; GA IV/3, 425-426.
daß mit dem Wollen das Bewußtsein und mit diesem die Freiheit schlechthin zur Reflexion entstehe: „Hier haben wir den wahren Entstehungspunct des Be- wustseins, die Freiheit der Refiexion[.] [...] In dieser freien und absolut höchsten Reflexion erscheine ich mir als wollend; diese Reflexion erscheint mir nicht als solche, sondern als Wille."[1] Mit dem Erscheinen der Freiheit im Willen steht die Synthese des intelligiblen und des sinnlichen Seins des Subjekts im Blick. Die sinnliche Repräsentanz des Willens aber ist der Leib, wie Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo behauptet: „Unser Leib ist die ursprüngliche Darstellung unsres ganzen ursprünglichen Wollens".[2] Und ferner: „Mein reines Wollen ist anschaulich dargestellt in meinem Leibe, dieser ist die sinnliche Kraft".[3] Genau diese Synthese des Intelligiblen und des Leiblich-Sinnlichen habe Kant nicht geleistet, da er bei den Praktischen Postulaten und dem bloß gedachten Sollen stehen geblieben sei.[4] Dieser wichtige Gedanke des ganzen Wollens durch den ganzen sinnlich leiblichen Menschen könnte, ich erwähne dies nur, Spinoza geschuldet sein. Die Leiblichkeit und die leibliche Präsenz von Subjekten spielt sowohl im Naturrecht als auch in der Sittenlehre eine wichtige Rolle.[5]
Wenn Fichte im System der Sittenlehre von der zweiten Stufe der materialen Freiheit spricht, unterscheidet er nicht explizit zwischen einem Wünschen und Wollen wie in der Wissenschaftslehre nova methodo. Wie schon bemerkt, ist das Wünschen als eine systematische Zwischenform im Übergang von der formalen zur materialen Freiheit anzusehen. Im Wünschen verbindet sich die Kraft des Denkens mit dem in- teressegeleiteten Blick auf ein Objekt des Begehrens, das doch kein Wollen ist, weil die Kraft zum tatsächlichen Handeln ausbleibt.
Fragt man sich nun, wie Fichte die Aufforderung zur Freiheit, die er im Naturrecht von 1796 einführt, systematisch in seiner Stufenleiter verorten müßte, so lautet die Antwort, daß die Aufforderung zur Freiheit auf jeder Stufe erfolgen muß, wo ein Subjekt über Freiheit und Selbstbestimmung verfügt, das dem Gegenüber auf seinem Bildungsweg zum reifen Vernunftsubjekt nicht oder noch nicht zur Disposition steht. Derjenige, der eine Aufforderung zur Freiheit artikuliert, muß wenigstens auf der zweiten Stufe der Freiheit stehen. Er muß von seinen naturgegebenen Handlungsweisen nicht bloß einen Begriff, sondern darüber hinaus auch ein Wissen davon haben, wie man zu einer freien Handlung fähig ist, die sich im Bedarfsfall gegen die Naturtriebe zu behaupten vermag. Überdies muß der Auffordernde dies dem Aufgeforderten vermitteln können. Im System der Sittenlehre nimmt Fichte das Thema der Aufforderung im Kontext der Ausführungen der sittlichen Freiheit kurz nochmals auf, da
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[1] Fichte: WLnm Krause, 157; GA IV/3, 452.
[2] Fichte: WLnm Krause, 160; GA IV/3, 454.
[3] Fichte: WLnm Krause, 163; GA IV/3, 456.
[4] Vgl. Fichte: WLnm Krause, 146; GA IV/3, 442.
[5] Vgl. zu Fichtes Theorie des Leibes den sehr aufschlußreichen Beitrag von Günter Zöller: „Leib, Materie und gemeinsames Wollen als Anwendungsbedingungen des Rechts (Zweites Hauptstück: §§ 5-7)", in: J. Merle (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichte, a.a.O., 97- 111.
Sittlichkeit auch intersubjektive Aspekte beinhaltet.[1] Die eigentlichen, intrikaten Probleme, die ein Gelingen der Aufforderung zur Freiheit sichern könnten, werden von Fichte nicht explizit behandelt.
Fichte hat über die vielen psychisch allgegenwärtigen Hinderungsgründe des Gelingens der Aufforderung der Freiheit nicht eigentlich nachgedacht. Der Alltag zeigt jedoch, daß es alles andere als selbstverständlich ist, daß ein Subjekt bereit ist, den anderen dazu aufzufordern, ihm auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Den anderen zur Freiheit aufzufordern bedeutet, das stille und häufig versteckte Bedürfnis seiner eigenen Macht und Superiorität zurückstellen zu können, um dem Anderen eine Chance zu geben, als gleichwertig anerkannt zu werden, sobald er sich fähig zeigt, die eigene Freiheit und Selbstbestimmung zu realisieren.[2]
Dem Naturrecht von 1796 zufolge schlägt die Unfähigkeit zur Anerkennung der Freiheit des Anderen in Zwangsrechte um. Die Hinderungsgründe einer wechselseitigen Anerkennung tangieren, wie Fichte betont, nicht das Rechtsverhältnis von Subjekten, sondern das moralische Verhältnis von Subjekten. Darum ist es an dieser Stelle angezeigt, die dritte Stufe der Freiheit in den Blick zu nehmen, die Fichte in seinem System der Sittenlehre vorsieht. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Frage nach dem Mißlingen der wechselseitigen Anerkennung, die einhergeht mit dem Mißlingen eines ganzen ungeteilten Wollens, weil die Anerkennung dann offenkundig im Wünschen verharrt, sofern nicht ohnehin ein schlechthin böser Wille das intersubjektive Verhältnis regiert.
3. Sittliche Freiheit
Fichtes dritte Stufe der Freiheit im System der Sittenlehre von 1798 ist die der Realisierung des Sittengesetzes, die Erlangung der vollen moralischen Autonomie. Fichtes Begründung der Sittlichkeit als einer „Freiheit - um der Freiheit willen"[3] kann hier nur in wenigen Rücksichten entwickelt werden. Wichtig ist der Hinweis darauf, daß für Fichte die Erfüllung der Sittlichkeit der absolute Endzweck der Menschheit ist. Der Endzweck des Sittengesetzes aber ist „absolute Unabhängigkeit, und Selbstständigkeit, nicht etwa bloß in Absicht unsers Willens, denn dieser ist immer unabhängig, sondern in Absicht unsers ganzen Seyns".[4] Die konstatierte Unabhängigkeit
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[1] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 18 GA I/5, 201 -202; SW IV, 221 -222. - Vittorio Hösle untersucht in seinem Beitrag „Intersubjektivität und Willensfreiheit in Fichtes ,Sitten- lehre'", in: Michael Kahlo / Ernst A. Wolff / Rainer Zaczyk (Hrsg.): Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1-4 der „Grundlage des Naturrechts" und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1992, 29 - 52, den aporetischen Charakter der Interpersonalität im System der Sittenlehre. Da Fichte hier auf das Model der prä- stabilierten Harmonie zurückgreife, erweise sich Interpersonalität mit dem Anspruch der Willensfreiheit als schwer vereinbar.
[2] Zu dieser schwierigen und hochkomplexen Frage der Erziehung zu innerer Freiheit vgl. Claude Steiner: Emotionale Kompetenz. In Zusammenarbeit mit Paul Perry, aus dem Englischen von Susanne Hornfeck, München 2001.
[3] Fichte: System der Sittenlehre, § 13, GA I/5, 143; SW IV, 153.
[4] Fichte: System der Sittenlehre, § 17, GA I/5, 191; SW IV, 209.
des Willens, die sich mit dem ganzen Sein eines Subjekts verbindet, bedeutet offenkundig, daß moralisches Handeln in seinem vollen Sinn einem ungeteilten Wollen entspricht, das Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo ausführlich thematisiert hat. Daneben kennt auch Fichte einen sittlichen Willen, der sich gegen diejenigen Triebe durchsetzen muß, die dem sittlichen Willen zuwider laufen.
Anders als für Kant und in bemerkenswerter Analogie zu Spinoza sind für Fichte nicht nur die Affekte und Neigungen, sondern auch das kognitive Geschehen, das Denken, die Erkenntnis mit einem Trieb korreliert. Fichte könnte auch diese systematische Konzeption der Triebe Spinoza schulden.[1] Die sittliche Pflicht identifiziert Fichte mit dem Formalen des Sittlichen. Die Pflicht ist verknüpft mit dem, was Fichte den reinen Trieb nennt, während die sinnlichen Neigungen, die die Pflicht unterstützen oder ihr zuwider laufen und die mit den Neigungen einhergehenden Triebe material genannt werden. Fichte führt daher aus:
„Der sittliche Trieb ist ein gemischter Trieb, wie wir gesehen haben. Er hat von dem Naturtriebe das materiale, worauf er geht, d. h. der mit ihm synthetisch vereinigte und in eins ver- schmolzne Naturtrieb geht auf dieselbe Handlung, auf welche er gleichfalls geht, wenigstens zum Theil. Die Form aber hat er lediglich vom reinen. Er ist absolut, wie der reine, und fodert etwas, schlechthin ohne allen Zweck außer ihm selbst."[2]
Wie Kant unterscheidet auch Fichte die bloß äußerliche Zusammenstimmung von Pflicht und Handlungsmaxime aus Motivationsgründen wie Angst, Gehorsam, Gewohnheit, u. a.m., als einer Form der Legalität, also einer äußerlichen Gesetzesför- migkeit des Sittlichen, von der echten Moralität, in der aus innerer sittlicher Gesinnung das von der Pflicht Geforderte auch gewollt und erfüllt wird.[3] Zwischen der bloßen Legalität, die am Übergang von der materialen zur sittlichen Freiheit verortet werden muß, und der reinen Moralität von sittlichen Handlungen lassen sich beliebig viele Zwischenstufen denken. Die von Kant herrührende Unterscheidung der bloßen Legalität sittlicher Handlungen und einer echten Moralität verknüpft sich offenkundig mit dem geteilten (legalen) oder ungeteilten (moralischen) Wollen, das Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo zur Darstellung brachte. Freilich gilt dies nicht umgekehrt, da nicht jedes ganze und ungeteilte Wollen auch moralisch konnotiert ist. Das Formale der sittlichen Pflichten wird gefüllt mit den materialen Gehalten und den jeweils aufgestellten Maximen, die sich der Urteilskraft und den Setzungen des Ich verdanken.
Höchst bemerkenswert ist nun Fichtes Theorie über die Ursache des Bösen, der er den langen § 16 widmet. An ihr tritt Fichtes Begriff der dritten Stufe der sittlichen Freiheit wie an einer negativen Folie hervor. Er betont in überzeugender Weise: „Die menschliche Natur ist ursprünglich weder gut noch böse. Sie wird erst eins von beiden
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[1] Zur zentralen Bedeutung des Triebes bei Spinoza vgl. Thomas Cook: „Der Conatus: Dreh- und Angelpunkt der Ethik", in Michael Hampe / Robert Schnepf (Hrsg.): Baruch de Spinoza. Ethik. Berlin 2006 (=Klassiker Auslegen, Bd. 31), 151 - 170.
[2] Fichte: System der Sittenlehre, § 12, GA I/5, 143; SW IV, 152.
[3] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 13, GA I/5, 146; SW IV, 156.
durch Freiheit."[1] Überdies greift er in dem Zusammenhang das Theorem der Erziehung zur Freiheit nochmals auf. Den Gebrauch der Freiheit lernen wir durch andere Subjekte und durch die Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum. Hier verweist Fichte jedoch überdies darauf, daß man bei diesem Erlernen nicht stehen bleiben dürfe, denn die Gesellschaft im Ganzen hat noch nicht die Reife der autonomen sittlichen Vernunft erlangt. So ist es essentiell, daß die jeweils erlernte Freiheit durch den Trieb zur Selbständigkeit zur höchsten Form der Freiheit fortgebildet wird.
Hat Kant in der Religionsschrift von 1793 und in ihrer Abhandlung über das radikal Böse in der menschlichen Natur bereits gezeigt, daß das Böse nicht einfach sinnlichen Neigungen gegebenenfalls zuzuschreiben ist, sondern daß es die Maximen eines Subjekts sind, die den bösen Neigungen die Herrschaft überlassen, sodaß mitunter rechte Einsichten von den schlechten Maximen außer Kraft gesetzt werden, so ist Fichtes Ansatz diesbezüglich weit radikaler. Für ihn sind es nur zu einem geringen Teil verwerfliche Neigungen, die zu bösen Handlungen führen.
Im Anhang zum § 16 der Sittenlehre von 1798 erklärt Fichte, daß die ursprüng- liehe Trägheit, und er betont, die „ursprüngliche Trägheit zur Reflexion [...] ein wahres positives radikales Übel" sei.[2] Die intentionale Entscheidung, sich auf ein klares Denken einzulassen, also auf das, was Fichte formale Freiheit nennt, ist die erste Bedingung für die Realisierung der Sittlichkeit. Überhaupt betont Fichte, daß der Natur die Kraft der Trägheit eingeschrieben sei und dies auch für die Reflexion gelte. Aus der Trägheit erwächst die Feigheit und Angepaßtheit sowie die Falschheit, die lieber das bequeme Jasagen, als einen unbequemen Widerspruch riskiert.[3] Die Ichsetzung ist für Fichte ein Akt der aktiven Selbstsetzung, der explizit ein hohes Maß an aktiver Kraft voraussetzt. Sich zur Vernunft und also zur höchsten Form der Freiheit zu erheben und nicht auf irgendeiner vorigen Stufe stehen zu bleiben, bedeutet, ein Höchstmaß an tätiger Aktivität in Gang zu setzen, also nicht in Trägheit, und sei es in der Trägheit zum Denken, verhaftet zu bleiben.
Folgt man Fichte, so ist das Böse, das aus dem Verhaftetsein im Naturtrieb und den sinnlichen Neigungen erwächst, dennoch nur ein geringeres Übel unter den möglichen Ursachen des Bösen. Doch auch für diese Umstände gilt, daß das Vernunftwesen Mensch nicht aus seiner Verantwortung und Schuldigkeit entlassen werden kann. Wie auch immer die prägenden sozialen Umstände sein mögen, der Mensch ist ein Vernunftwesen, und daher sind ihm leichter oder schwerer begehbare Wege gegeben, mit der Kraft des Denkens, der Urteilskraft und Vernunft den Weg zum Besseren zu gehen. „Es bleibt wahr, daß, ohnerachtet aller bösen Beispiele, und aller verkehrten Philosopheme, der Mensch dennoch über dieselben sich emporheben soll, und es auch kann; und es immer seine eigene Schuld bleibt, wenn er es nicht thut: denn alle diese äußern Umstände haben ja keine Kausalität auf ihn; sie wirken nicht in ihm und durch
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[1] Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 174; SW IV, 188.
[2] Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 182; SW IV, 199.
[3] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 185-186; SW IV, 202-203.
ihn, sondern er selbst ist es, der auf ihren Antrieb sich bestimmt."[1]
Weit größer ist die Gefahr, das Böse zu wählen, wenn nicht der Naturtrieb die Herrschaft übernimmt, sondern der Trieb zur Selbstbestimmung, sofern dieser sich seiner nicht wirklich bewußt wird. Dieser Trieb will herrschen, tätig sein, aber er wirkt aus gesetzloser Willkür, die sich in Wahrheit als Eigendünkel und Machtgier realisiert. Fichte identifiziert mit dieser Haltung Aufopferungswille und Heroismus, der doch eigentlich das Ziel nicht in der sittlichen Vernunft, sondern in der unbeherrschten Selbstmacht hat. Diese Haltung beruht nicht eigentlich auf Trägheit, erfordert sie doch ein hohes Maß an Engagement, Aktivität und Tätigsein für andere. Wohl aber liegt hier die Trägheit in der Unfähigkeit zur Achtung dessen, was das sittlich Gebotene ist, weil die willkürliche Selbstmacht und der gesetzlose Trieb nach absoluter Selbständigkeit bestimmt, was zu tun geboten ist[2] und eine Zerstreuung und Gedankenlosigkeit gegenüber dem herrscht, was das eigentliche moralische Gebot der Vernunft fordert. So ist es nicht nur Trägheit, sondern Überaktivität am falschen Ort, die Fichte zufolge das Böse möglich werden lassen. Das Böse hat in jedem Fall seine Wurzel in der menschlichen Freiheit, unabhängig von dem Maß an Freiheit und der Stufe der Freiheit, die ein Individuum je schon erreicht hat und die es zu leben im Stande ist.[3]
Fichte geht davon aus, daß Freiheit stufenweise realisiert wird und eine einmal erreichte Stufe auch keinen Dauergewinn darstellt, sondern als ein graduelles Geschehen erscheint. Die Stufen repräsentieren Beschreibungs- und Unterscheidungstypen und machen viele weitere Übergänge denkbar und möglich. Die dreistufige Ordnung der Freiheit im System der Sittenlehre von 1798 reserviert dem berühmten Theorem der Aufforderung zur Freiheit und der intersubjektiven Anerkennung von Freiheit im Naturrecht von 1796 nicht explizit eine eigene Stufenleiter. Offenkundig ist das Recht und die wechselseitige Anerkennung von Freiheit, die das Naturrecht von 1796 vorsieht, unterhalb von Moralität und Sittlichkeit platziert. Recht und Anerkennung können Moralität einschließen. Das Recht aber ist für Fichte primär dazu da, menschliches Zusammenleben dort zu sichern, wo die höchste Stufe freiheitlichen Zusammenlebens in einer sittlichen Gemeinschaft gerade nicht garantiert ist.[4] Eindringlich wiederholt er dies in der Rechtslehre von 1812.
aller als frei" in der Rechtslehre von 1812
Wie man von der Freiheit überhaupt sagen kann, daß sie nicht ist, sondern sich erst durch die Setzungen und Handlungen der Vernunft des Menschen konstitutiert, so behauptet Fichte 1812, daß die Rechtslehre ein sich selbst machender Gedanke sei,
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[1] Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 171; SW IV, 184-185.
[2] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 175-176; SW IV, 190-191.
[3] Vgl. Fichte: System der Sittenlehre, § 16, GA I/5, 169; SW IV, 183.
[4] Vgl. Fichte: Naturrecht, GA I/3, 432; SW III, 148.
und weiter: „Das in dem Gesetze ausgesagte Phänomen ist gar nicht, sondern es soll erst durch die Freiheit hervorgebracht werden. / Wenn es seyn wird [...], vermittelst eines freien Entschlusses. Drum a.) [es ist] eigentlich Gesez unmittelbar an die Freiheit: das zu einem Phänomen wird nur durch sie, nicht durch die Natur. b.). Freiheit handelt nur mit klarem Bewußtseyn und nach einem Zwekbegriffe."[1]
In den Notizen Fichtes zur Rechtslehre von 1812 ist implizit die Stufentheorie der Freiheit enthalten, die in den vorhergehenden Abschnitten dieses Beitrags zur Darstellung gekommen ist. Fichte betont auch 1812, daß Freiheit zuerst Erkenntnisfähigkeit erfordert. Sodann muß das Vernunftwesen fähig sein, sich Zwecke zu setzen, die geeignet sind, den Gang der Natur zu formen und zu modifizieren. Wie schon im Naturrecht von 1796 unterstreicht Fichte überdies, daß das Recht erforderlich ist, wo Sittlichkeit noch nicht den verbindlichen Maßstab und den Istzustand des Zusammenlebens in menschlicher Gemeinschaft darstellt.[2] Das Denken ist ihm seit dem Beginn der Wissenschaftslehre das genetisch Erste, das Freiheit möglich macht, die Sittlichkeit bildet hingegen den normativen Primat, auf den hin sich die Vernunft zu orientieren hat. Das Recht liefert Fichtes eigentümlichen Gedanken zufolge das Gesetz für das Zusammenleben, sofern das eine, das Denken, schon vorhanden und ein Stück weit entwickelt ist, das andere aber, das Sittengesetz, noch im Modus des
Sollens, also noch nicht oder nicht in vollem Umfang realisiert ist. Ausdrücklich behauptet Fichte:
„Thesis. In reiner Vft ist ein Rechtsgesez nicht möglich.
Antithesis. Aber das Sittengesez kann an das Individuum sich wenden erst, nachdem die Freiheit desselben entwikelt ist. Die Welt der Individuen muß drum frei seyn, u. frei handeln, um zur Möglichkeit vom Sittengesetze ergriffen zu werden, sich erst zu bilden. [...]
Synthesis. Das Rechtsgesez findet drum eine <Anwendung> nur, wiefern das Sittengesez noch nicht allgemein herrscht: und als Vorbereitung auf die Herrschaft desselben."[3]
Diese Eingangsüberlegungen zur Rechtslehre von 1812 wiederholen in eindrücklicher Weise das implizite Stufenmodell der Freiheit und sie betonen die Wichtigkeit, die Fichte diesem Modell zurechnet.
Wenn im folgenden die Rechtslehre von 1812 in den Blick kommt, dann geschieht
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II 13, 197/198. - Die Vorlesung über die Rechtslehre, die Fichte vom 20. April bis zum 17. Juni 1812 in Berlin vorträgt, liegt mit der Edition von 2002 im Band 13 der Nachgelassenen Schriften in der Gesamtausgabe erstmals als unveränderter Text der Vorlesungsaufzeichnungen Fichtes vor. Fichte verweist im Vorlesungsmanuskript häufiger auf das gedruckte Naturrecht von 1796/97. Das veranlasste den Sohn, Immanuel Hermann Fichte, Teile des Buches in den Druck der Rechtslehre von 1812 aufzunehmen, wodurch der tatsächliche Gang der Vorlesung zuweilen entstellt wurde. Dies ist mit der Akademie-Edition revidiert. Nun kann im einzelnen entschieden werden, ob Fichte kritisch oder affirmierend auf sein früheres Werk verweist. Die sonst üblichen Seitenverweise auf die Immanuel Herrmann Ausgabe der Werke Fichtes werden wegen der Differenzen in der Textkonstitution nicht angegeben.
[2] Vgl. Fichte: Naturrecht, GA/I,3, 432; SW III, 148.
[3] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 202. An anderer Stelle wiederholt Fichte nochmals: „Wenn das Sittengesez gilt, bedarf es keines besonderen Rechtsgesetzes." Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 214.
dies mit Rücksicht auf diejenigen Aspekte einer Theorie der Freiheit, die in Fichtes Denken neu sind oder wesentliche Modifikationen gegenüber der früheren Position darstellen. Die bislang behandelten Momente der Freiheit lassen sich in das Programm einer pragmatischen Geschichte des Selbstbewußtseins einschreiben. Der Erwerb des Denkens durch den Begriff, der Erwerb intentionalen Denkens, das ein Handeln im Hinblick auf nähere und fernere Zwecke möglich macht, die anerkennende Bezugnahme von Subjekten untereinander zur Gestaltung eines intersubjektiven Rechtsraumes unter freien Vernunftsubjekten und schließlich auch der Erwerb einer moralisch sittlichen Grundhaltung verstehen sich als wesentliche Bedingungen einer reifen, ausgebildeten und in ihr Zentrum gekommenen Subjektivität.
Der tätige Erwerb derjenigen Fähigkeiten, die die vernünftigen Möglichkeiten des Subjekts Wirklichkeit werden lassen, ist seit Beginn der Wissenschaftslehren das zentrale Anliegen Fichtes. Hatte Fichte aber 1796 in der Tradition der Zeit noch von einem Naturrecht gesprochen, das er auf der Grundlage der Prinzipien der Wissenschaftslehre ausgearbeitet hatte, so wendet sich Fichte 1812 einer Rechtslehre zu, die den Terminus Naturrecht explizit abstreift. Auf das Naturrecht von 1796/97 greift er dennoch mehrfach zurück, da schon die frühere Fassung der Sache nach in Wahrheit ein Vernunftrecht artikulierte. Der gesamte Umfang vernünftigen, menschlichen Tuns in der Gesellschaft beruht nach Fichte auf Setzungen. Die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens fordert, eine verbindliche Rechtsordnung zu schaffen. Ausdrücklich sagt Fichte 1812: „Es giebt kein Naturrecht, sondern nur ein Staats- recht."[1]
Fichtes Rechtslehre von 1812 orientiert sich an der Idee eines reinen Vernunftstaates, dem die Denknotwendigkeit zugrunde liegt, daß alle zu ihm zählenden Vernunftsubjekte grundsätzlich als freie Wesen anzusehen sind. Das ist die mit der Wissen- schaftslehre gewonnene unhintergehbare Bedingung. So gilt es auch, wie Fichte betont, den lebendigen und nicht den toten Begriff des Rechtes zu gewinnen: „Aber es soll herrschen das absolute Recht, d. i. das durch die Zeit in seinen Objekten wandelbare. Jene fassen den Begriff des Rechts auf als einen todten, wir als einen lebendigen, bildenden, u. zu bildenden. Die grossen Unterschiede in der Anwendung werden sich finden."[2]
Die bildende, tätige Kraft spielt für die Rechtslehre von 1812 eine noch offenkundigere und zentralere Rolle als in den früheren Rechts- und Gesellschaftskonzeptionen. Mit dem unveräußerlichen Recht der Selbsterhaltung des Lebens sind auch Grundbedingungen verknüpft, die diese Selbsterhaltung garantieren, nämlich eine „Sphäre der Thätigkeit, das Eigenthum, wodurch dessen Erhaltung" gesichert ist.[3] Mit dem lebendigen Begriff vom Recht, der sich mit den Objekten wandelt, ist die Idee verbunden, daß das wesentlichste Eigentum des Menschen gerade nicht im Dauerbesitz von Grund und Boden besteht. Daß der Staat, also die Gemeinschaft, den
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 213.
[2] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 222.
[3] Ebd.
Landleuten und Bauern den Boden zur Nahrungsgewinnung bereitstellt, will ich nur erwähnen, nicht vertiefen. Das bedeutendste Eigentum, das gewonnen werden kann, bezeichnet Fichte auf folgende Weise: „Das absolute Eigenthumsrecht aller ist freie Muße zu beliebigen Zweken nachdem sie die Arbeit, welche die Erhaltung ihrer selbst, u. des Staats von ihnen fodert, vollendet. Nur insofern hat jeder Ei- genthum, u. Recht."[1]
Obwohl wir heute in einer von Geld beherrschten Welt leben, ist doch vielen Menschen klar und ihr Verhalten zeigt es zuweilen, daß zu den kostbarsten Gütern eines Menschenlebens Zeit und Aufmerksamkeit zählen. Fichte hat dies bereits in seiner Rechtslehre von 1812 zum Ausdruck gebracht, wenn er gründlich über Arbeitsprozesse nachdenkt, die so angelegt sein müssen, daß sie zuerst den Lebenserhalt aller sichern, dann aber in der Weise optimiert werden müssen, daß freie Zeit der Muße für alle möglich wird. Das klingt ziemlich utopisch. Andererseits aber weiß man heute, daß so viel Zeit zur Muße entstanden ist, wenigstens für einen Teil der Bürger in den Staaten Europas, daß die Zeit der angeblichen Muße ihrerseits wieder zur Belastung geworden ist. Arbeitslosigkeit wird bekanntlich nur von einem Teil der Betroffenen als Entlastung von lästiger Arbeit erfahren. Andere würden eine gemäße Arbeit deutlich vorziehen, was immer auch gemäß heißen mag. Fichtes utopischer Staat kann auch nur von der primären, lebenserhaltenden Arbeit sprechen, deren Überschuß einen Freiraum für freie Zeit erwirtschaften läßt.
Fichte konnte sich den Zustand der Arbeitsverteilung von heute wohl schwerlich vorstellen. Doch er sorgt auch in seiner Zeit vor. Die absolute Freiheit der Muße muß seinen Überlegungen zufolge durch den Staat auf mehrfache und auf sichtbare Weise gesichert werden. Andernfalls, so Fichte, wäre der Staat kein Staat im eigentlichen Sinne des Wortes.
Fichte postulierte in der Jenaer Zeit, etwa in der zweiten der Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, daß sich der Staat allmählich selbst überflüßig mache. „Der Staat geht, eben so wie alle menschlichen Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüßig zu machen. Jetzt ist der Zeitpunkt sicher noch nicht - [...] aber es ist sicher, daß auf der a priori vorgezeichneten Laufbahn des Menschengeschlechts ein solcher Punkt liegt, wo alle Staatsverbindungen überflüßig seyn werden. Es ist derjenige Punkt, wo statt der Stärke oder der Schlauheit die bloße Vernunft als höchster Richter allgemein anerkannt seyn wird."[2]
Nun aber erkennt er im Staat dasjenige Gebilde, das das Zusammenleben von Subjekten
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA II/13, 229; vgl. ebd., 230: Der Staat sei schlechthin verbunden, „Muße für Freiheit, u. Bildung herbeizuschaffen". - Carla De Pascale verweist in ihrer Untersuchung „Die Vernunft ist praktisch", a.a.O., darauf, daß sich die Bedeutung der Muße in Fichtes Naturrechtsschrift von 1796 schon andeute (vgl. ebd., 242).
[2] Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 2. VL, GA I/3, 37; SW VI, 306.
in geeigneter Weise zu organisieren und zu sichern habe. Dieser Ansatz erscheint weit realistischer und menschengemäßer als der frühere überschwängliche Gedanke. Selbst die reinsten und vollkommensten Vernunftwesen bedürfen einer Selbstorganisation ihrer wesentlichen Belange. Und diese Organisation nennt man sinnvollerweise Staat.
Der Staat, den Fichte 1812 in seiner Exekutivfunktion erdenkt, hat für die gerechte Verteilung der freien Zeit zu sorgen. Fichte stellt probehalber Berechnungen an, wie der Zeitgewinn eines seine Arbeit optimierenden Gewerbes umgelegt werden und so etwa auch den das Staatsgefüge organisierenden Beamten zukommen könnte. Wichtiger als Fichtes diesbezüglicher Kalkül ist seine These, daß entsprechende Anstalten getroffen werden müßten für die „Bildung aller zur Freiheit".[1] Das aber heißt, daß entsprechend dem Arbeitspotenzial, das ein Staat, eine tätige Gemeinschaft von Menschen durch ihr Zusammenwirken schafft, auch das Freiheitspotenzial erwirkt werden kann. Der Staat kann mit seinen Bildungsanstalten nur die Bedingungen der Möglichkeit des Werdens der Freiheit aller sicherstellen. Einen gesicherten und festgesetzten Anspruch kann es nicht geben. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil Naturkatastrophen oder Kriege, deren Lasten alle Bürger zu teilen haben, schon entwickelte Freiräume zunichte machen können.
Die wichtigste Bildungsanstalt für die Freiheit, die Fichte erkennen kann, ist: „zum Vermögen, einen Willen, als erstes, u. anfange[nde]s zu haben, über den Staat hinaus, sich selbst Zweke zu setzen, u. übersinnl. Keinesweges etwa Anstalten zur Dressur, d. i. zur Fertigkeit u. Geschiklichkeit Werkzeuge zu seyn eines fremden Willens. Das leztere wird auch wohl der Despot, u. Tyrann gerathen finden. Das erstere thut allein der Staat."[2] Hier spricht sich der Philosoph der Freiheit in seiner ganzen Emphase aus. Fichte setzt freilich voraus, daß die Menschen auch wirklich die Stufen der Freiheit je einzeln zu durchlaufen fähig sind, die er im System der Sittenlehre von 1798 bereits im Detail bezeichnet hatte. Ohne auf seine frühere Schrift zu verweisen, stellt er kurz und bündig die Fähigkeit des Einzelnen vor Augen, sich selbst Zwecke setzen zu können, die Gesetzmäßigkeiten der Sachverhalte klar denkend erfassen und in Beziehung zu den Zwecken setzen und schließlich auch gemeinschaftliche Zwecke aufeinander abzustellen und koordinieren zu können.
So kann Fichte denn auch resümieren: „Der durch den Staat gesicherte Endzwek aller Verbindungen der Menschen zum Recht ist Freiheit, d. i. zuförderst Muße." Er fügt sogleich hinzu: „Dies der eigentl. Zwek, und die Arbeit nur das aufgedrungne Mittel."[3] Er kehrt dann auch das Verhältnis um, wenn er feststellt, daß „der Staat schlechthin verbunden ist Muße für Freiheit, u. Bildung herbeizuschaffen".[4] Diese Aufgabe verbindet Fichte schließlich auch mit dem Ständewesen, das die Arbeit zweckdienlich und sachgemäß nach Ständen regelt.[5] Der Wert der Arbeit bemißt
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 227.
[2] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 228.
[3] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 230.
[4] Ebd.
[5] Vgl. Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 235-239.
sich, wie schon erwähnt, wesentlich an der Freiheit, die für die Muße gewonnen wird.[1]
Offenkundig hält Fichte noch 1812 an dem Konzept der Freiheit fest, das er in der Systematik von 1798 ausgearbeitet hat. Daß er in der späten Rechtslehre von der Denknotwendigkeit der Freiheit spricht, die den Rechtsbegriff bestimmt und die umgekehrt der Staat zu sichern habe, zeigt, daß Freiheit kein ontologisch fixierbarer Bestand ist. Freiheit ist abhängig vom Maß der denkenden Selbsttätigkeit der Rechtsbürger eines Staates, von denen nie sicher zu sagen ist, ob, und wenn ja, welche Stufe der Freiheit sie als Individuen und in der Gemeinschaft zu realisieren und zu leben fähig sind. Die Zeit der wahren Muße, die den Menschen zur Verfügung steht, kann als Maßstab der erreichten und gelebten Freiheit einer gesicherten Rechtsordnung gelten.
Denknotwendig und nicht wirklich ist Fichtes Konzept der Freiheit aber auch, weil er aus heutiger Sicht einen utopischen Staat moralisch mehr oder weniger vollkommener Wesen entwirft, der dem Wissenschaftslehrer freilich nicht auf immer nur denkmöglich, sondern in ferner Zeit sogar realisierbar erscheint, dann nämlich, wenn die exekutiven und rechtlichen Vertreter des Staates auch selbst weitgehend freie Menschen sind. Dieser Staat ist nach Fichtes euphorischen Vorstellungen dann freilich kein Rechtsstaat mehr, sondern eine sittliche Gemeinschaft, in der das Sittengesetz absolut herrscht.
Ein wichtiger Aspekt, Freiheit zu sichern, ist von Fichte nicht hinreichend bedacht worden. Erforderlich wäre nämlich überdies, über die offenkundigen psychologischen Schranken nachzudenken, die Vernunftwesen zwar das Rechte einsehen lassen, das Rechtsbewußtsein aber unter den realen Bedingungen des Daseins, etwa aus der Angst um das eigene Leben, um das der Familie und der engsten Freunde, leicht korrumpieren. Politische Freiheit ist, aus der Perspektive Spinozas gesehen, die hier nicht näher ausgeführt wurde, nur dann tiefgehender zu sichern, wenn die affektiven Bedingungen des menschlichen Daseins in sachlich angemessener Ausgestaltung neben den kognitiven, vernünftigen Handlungen berücksichtigt werden. Dafür war Fichte mit seiner Wissenschaftslehre der Freiheit noch nicht reif, auch wenn er den Trieben des Begehrens, der verschiedensten Interessen und der Erkenntnis, einen bemerkenswerten Raum läßt. Bis in unsere Gegenwart hinein stellt Spinoza die große Ausnahme dar, die psychologischen Bedingungen der Subjektivität als ein genuin philosophisches Problem berücksichtigt zu haben. Erst in den letzten Jahren hat sich dies ein wenig geändert. Fichte jedenfalls hat zu dieser Frage nicht sehr viel beizutragen.
Fichte deutet ein diesbezügliches Problembewußtsein an, ohne es näherhin zu behandeln, wenn er feststellt, wahre Freiheit erlaube „[k]einesweges etwa Anstalten zur
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[1] Vgl. Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 242 ff.
Dressur, d. i. zur Fertigkeit u. Geschiklichkeit Werkzeuge zu seyn eines fremden Willens. Das leztere wird auch wohl der Despot, u. Tyrann gerathen finden. Das erstere [nämlich im Sinne einer echten Freiheit agieren] thut allein der Staat."[1]
Der Beitrag, den er mit der Rechtslehre von 1812 zum Thema der Realisierung der Freiheit geleistet hat, ist in meinen Augen jedoch auch ohne die nähere Reflexion auf die leichte Korrumpierbarkeit individueller und politischer Freiheit ein wichtiger und höchst aktueller Beitrag. Das eigentliche Eigentum des freien Individuums ist für Fichte bemerkenswerterweise nicht, wie man gewöhnlich erwarten würde, der Besitz an Grund und Boden, sondern der Gewinn von freier Zeit zur Muse. Um aber freie Zeit gewinnen zu können, muß das Arbeiten für den Lebenserhalt so intelligent geplant und zielgerichtet umgesetzt werden, daß freie Zeit für Muse überhaupt entstehen kann. Die Zeit der Muse ist nicht dazu vorgesehen, sich in Spiel und Unterhaltung zu verlieren, obwohl Fichte stellenweise betont, diese sei für den je eigenen Bedarf gedacht, sondern sie soll ihrerseits für die eigene Bildung wahrgenommen werden. Echte Bildung, nicht quantitative Wissensanhäufung, ist der fruchtbare Boden für die weitere Potenzierung einer intelligenten und zweckgerichteten Arbeit, die eine weitere Gewinnmaximierung des eigentlichen Eigentums an frei disponibler Zeit und gezielter Aufmerksamkeit für die wesentlichen Dinge des Daseins in Gang setzt.
Ein höchst attraktiver Gedanke, wie ich meine, der manches Umdenken auf den Weg bringen könnte und sollte.
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[1] Fichte: Rechtslehre 1812, GA/II,13, 228.
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