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II. Selbstsein aus der Einheit mit anderen

Der abschließende Teil meiner Überlegungen gilt einer etwas genaueren rechtlichen Entfaltung des Begriffs der Anerkennung und des Anerkennungsverhältnisses. Es ist schon deutlich herausgestellt worden, daß an Fichtes eigener Entwicklung dieses Fundaments des Rechts der Verlust der ursprünglich in ihm enthaltenen Substanz zu kritisieren ist. Fichtes Konzept des Verhältnisses der einzelnen untereinander und ihres Verhältnisses zum Staat und seinen Gesetzen krankt an der Schwäche eines nur technisch-praktischen Rechtsbegriffs. Mißtrauen untereinander ist dann das leitende Prinzip; die im Interpersonalverhältnis anwesende positive Kraft des Vertrauens hat scheinbar keine Wirkung mehr. Doch kann man, am Anerkennungsverhältnis ansetzend, in Verbindung mit Gedanken aus Kants Rechtslehre, einen anderen Weg
gehen, der in seiner Grundrichtung noch immer dem genialen Wurf Fichtes folgt.[1]

Kant setzt im ersten Teil seiner Rechtslehre, dem Privatrecht, an den Interaktionen von Personen in äußerer Welt an; es geht um eine genauere Kennzeichnung der Freiheit der Willkür eines jeden. Aus der Schwierigkeit, die jeweilige Rechtssphäre gültig zu bestimmen (eine Leistung, die aus der Perspektive der einzelnen nicht erbracht werden kann),[2] geht das Postulat des öffentlichen Rechts hervor, in einen bürgerlichen Zustand öffentlich- allgemeiner Gesetze zu treten, also eine verfaßte Gemeinschaft zu bilden.[3] Kant ist entgegen einer landläufigen Meinung kein Vertragstheoretiker des Staates; er entwickelt den Staat aus der Praxislogik des Rechte begründenden Handelns. Aber dadurch ist bei Kant ein Problem angelegt, das nur mit etwas mühevoller und wohlwollender Interpretation gelöst werden kann: Die nicht Handlungsmächtigen, also die Nichtbesitzenden, sind Mitmenschen, aber nicht Mitbürger. In der Verlängerung dieses Problems kann man zum Schluß kommen, daß hier das Rechtssubjekt nur der selbständige Bürger-Eigentümer ist, als Staat nur die verfaßte Republik so konzipierter Individuen anzusehen ist. Es ist zu vermuten, daß einer der Hauptgründe für die Ablehnung eines vermeintlich westlich zu verortenden Vernunft- und damit auch Rechtsbegriffs der Aufklärung darin besteht, daß man als seine notwendige Folge den Status eines indivi- dualistischen Bürger-Eigentümers ansieht, dessen Leben wesentlich darin besteht, seine höchsteigenen Zwecke zu verfolgen.

Aber schon für Kant ist das ein Zerrbild.[4] Fichtes Ansatz beim Anerkennungsverhältnis läßt aber eine ganz andere Konzeption deutlich werden. Das Recht hat nun bewußtseinskonstitutive Bedeutung. Entscheidend ist, daß der Aufgeforderte sich überhaupt bewußt verhält, also freie Wirksamkeit entfaltet. Damit aber, verbunden mit der genannten Welthaltigkeit der Äußerung,[5] führt das Rechtsverhältnis aus seiner Einheit sowohl zur Distanz der Personen selbst (die von der Natur schon durch die Einheit ihres Körpers vorbestimmt ist) als auch zur Besonderheit ihrer jeweiligen, je eigenen Äußerungen. So begründet es wechselseitig Selbständigkeit und die Grenze zum anderen ist dann wesentlich eine Grenze, die zur Bildung der eigenen Identität notwendig ist; sie konstituiert Selbstsein, ist nicht in erster Linie Abschottung gegen den anderen. Selbstsein aus der Einheit mit einem anderen - ich möchte dies den ersten Horizont des Rechtsverhältnisses nennen. Rechtsphilosophiegeschichtlich wurde das
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[1] Die folgenden Ausführungen können nur thesenhaft sein. Genauer entfaltet wird dieser Ansatz in meiner Schrift Selbstsein und Recht, Frankfurt a. M. 2013.
[2] Nach Kant zeigt sich das daran, daß im „natürlichen Zustand" „kein kompetenter Richter" zu finden ist (MdS, in: AA VI, S. 312 = A 163/B 193).
[3] MdS § 42, in: AA VI, 307 = A 157/B156.
[4] Vgl. MdS § 46 (AA 6, 313 ff. = A 165 ff/B 195 ff.) sowie den Abschnitt C in der „Allgemeine(n) Anmerkung. Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins", AA 6, S. 325 ff = A 173 ff./B 203 ff. Zu diesen Fragen auch Gerald Süchting: Eigentum und Sozialhilfe. Die eigentumstheoretischen Grundlagen des Anspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt gem. § 11 Abs. 1 BSHG nach der Privatrechtslehre Immanuel Kants, Berlin 1995.
[5] Bei Fichte kommt dieser Punkt im sog. Urrecht besonders prägnant zum Ausdruck, s. GAI, 3, 403 ff. (§§ 9-12). Dazu auch Th. S. Hoffmann (in diesem Band).

oft mit dem Naturzustand verbunden. Bei Kant heißt dieser Zustand Privatrecht, und das trifft die Sache sehr viel besser, denn es macht verständlich, daß die einzelnen immer schon als in einem Rechtsverhältnis stehend zu denken sind, auch wenn das noch nicht der letzte Schritt des Rechts ist.

Denn es bleibt richtig, daß die interpersonal gültige Festlegung der Grenze möglicher eigener äußerer Wirksamkeit zwar wegen der Endlichkeit der Welt notwendig ist, durch die einzelnen als solche aber nicht erfolgen kann. Die Lösung dieser Aufgabe setzt eine gemeinschaftliche Leistung voraus. Der erste Horizont des Rechts geht also notwendig über in einen zweiten Horizont, die verfaßte Gemeinschaft, also Gesellschaft und Staat.[1] In ihm bleibt es dabei, daß die einzigen wirklichen Personen eben die Subjekte des Rechtsverhältnisses sind, die nun aber als Teil einer ganzen Kultur und für unseren Zusammenhang genauer: einer Rechtskultur begriffen werden können. Schon Montesquieu hatte erkannt, daß hier vielfach äußere Bedingungen das Gemeinschaftsleben formen. In diesem Horizont treten Institutionen auf, die Verfassung einer Gemeinschaft im weitesten Sinn. Im Übernehmen dieser Gemeinschaftsformen und dem Leben in ihnen bildet sich das Rechtsverhältnis konkreter aus. Mit der Verwendung des Begriffs „Rechtskultur" soll auch verdeutlicht werden, daß die konkrete Rechtsform einer solchen Ge- meinschaft nicht erfahrungsunabhängig festzulegen ist. Feststeht nur, daß sie mit Bewußtsein gebildet ist und so interpersonale Existenz voraussetzt. Aber die Variationsmöglichkeiten sind groß. So ist beispielsweise die Bedeutung geschriebener Gesetze in den Rechtskulturen sehr verschieden. Wie der angloamerikanische Rechtsbereich zeigt, kann eine Rechtskultur gut auch dann bestehen, wenn sie bei Entscheidungen auf die Tradition einer Rechtsprechung verweist.[2] Aber es kann gar nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, daß die Rechtskultur Teil einer Gesamtkultur ist, aus der man sie nicht beliebig herausbrechen und quasi als Exportartikel in fremde Länder verschiffen kann - auch dies einer der Fehler, die heute begangen werden, da der globale wirtschaftliche Austausch und seine ihm eigenen Gesetze für das Ganze des Rechts gehalten werden. - Innerhalb dieses zweiten Horizonts des Rechtsbewußtseins wird Gemeinschaftlichkeit rechtlich (aber nicht nur rechtlich) objektiviert.

Die Grenze dieses zweiten Horizonts ist nach innen genauso bedeutsam wie die erste. Die je eigene Kultur in ihrer Gesamtheit ist identitätsbildend auch für die einzelnen, von denen sie ihrerseits geschaffen wird. Für das Recht bedeutet das, daß Kant zuzustimmen ist, wenn er die Idee eines Weltstaats für eine überschwängliche Idee hält: Sprache, Religion, die je eigenen Lebensumstände bestimmen und begrenzen zugleich.[3] Rechtszwang, stets auf einen einzelnen treffend, aber ausgelöst von einem ihm fernen Punkt der Erde, muß als gesichtsloser Terror empfunden werden, sei der Zwang auch noch so minimal. Es gibt deshalb, und muß ihn geben,
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[1] Mit Rousseau zu sprechen also der Übergang von der volonte de tous zur volonte generale.
[2] Vgl. dazu E.-W. Böckenförde: Vom Ethos der Juristen, Berlin 2010, 28 ff.
[3] Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, Zweiter Definitivartikel, in: AA VIII, 354 ff. = BA 28 ff. Zu dieser Frage auch Thomas Jacob: Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung, Göttingen 2010, bes. 143 ff.

einen dritten Horizont des Rechtsverhältnisses, die Gemeinschaft von Gemeinschaften auf der Welt, nach Kant das Völker- oder besser Staatenrecht. Dies ist, selbst heute noch, das fragilste aller Rechtsgebiete, zumal es auch geschichtlich eine allzu enge Verbindung mit bloß politischer Macht und Kriegen aufweist. Und dennoch ist es merkwürdigerweise das Gebiet, auf dem der Begriff Anerkennung eine erheblich größere Bedeutung hat als auf jedem anderen Rechtsgebiet. Freilich wird er im Völkerrecht nur als Begriff für ein bestimmtes Staatshandeln verwendet, wenn es nämlich um die völkerrechtliche Anerkennung eines anderen Staats geht. Und doch sollte man einmal das gedankliche Experiment wagen, auch auf das Staatenverhältnis als Rechtsverhältnis die Denkform des Anerkennungsverhältnisses zu übertragen. Wenn es richtig ist, daß zur Ausbildung der verschiedenen den Menschen möglichen Lebensformen die Existenz verschiedener verfaßter Gemeinschaften auf der einen Erde notwendig ist, dann folgt ihre Souveränität und damit ihr Selbstsein aus einer Anerkennung durch die anderen Staaten, und zwar als notwendige Leistung, nicht als zufällig-willkürlicher Vertrag. Das klingt fast naiv angesichts der Zustände in dieser Welt. Solange im Völkerrecht die bloße Macht überwiegt, kann ein solcher Gedanke als unerläßliche Bedingung rechtlicher und damit friedlicher Verhältnisse nicht Platz greifen. Vertritt man aber die Forderung, daß die bloße Macht von der Macht des Rechts abgelöst werden soll, muß dieser Gedanke sich von selbst Bahn schaffen.

Ein so auf der Basis von Kants und Fichtes praktischer Philosophie ausgearbeiteter Begriff rechtlich-praktischer Vernunft zeichnet den Rechtsbegriff unnachläßlich in das Ziel friedlicher Weltverhältnisse ein. Aus dem Begriff der Vernunft entwickelt, streitet für seine Wahrheit aber allein die Tat.