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VI. Fichtes Begründung des Kulturstaats. Das unveräußerliche Recht auf Freiheit zu freien Zwecken

Wie der Sozialstaat, so gründet auch der Kulturstaat in der Idee des Rechts. Genauer leitet er sich her 1. aus dem Begriff des Urrechts, 2. aus dem Prinzip der Moral und 3. aus der Kulturgeschichte; dabei ist die Begründung aus der Moral für Fichte die zentrale.

Die formale Begründung des Kulturstaates aus dem Urrecht

Alles Recht beruht auf der Beschränkung des (fiktiv angenommenen) unbeschränkten Urrechts aller auf alles. Als ihr Urrecht fordert die Person „eine fortdauernde Wechselwirkung zwischen ihrem Leibe und der Sinnenwelt als bestimmt und bestimmbar, lediglich durch ihren frei entworfenen Begriff von derselben"[1] Nichts schließt aus, daß der Anspruch des Urrechts sich außer auf natürliche auch auf solche Zwecke bezieht, die über den Bereich der Erfüllung natürlicher Bedürfnisse hinausreichen in denjenigen unbegrenzt freier Zwecke. Diese Zwecke erstrecken sich über die Befriedigung naturbedingter Bedürfnisse hinaus auf eine „übernatürliche" Gestaltungsfreiheit, in der die Idee der Freiheit sich erst erfüllt. Mit dem Urrecht auf freie Zwecke ist allerdings zunächst nur eine Leerstelle bezeichnet, denn was dieses Urrecht konkret bedeutet, worin es bestehen soll, geht erst aus einer näheren Bestimmung dessen hervor, was Fichte mit „Moral" oder „Sittlichkeit" bezeichnet.

Die Begründung des Kulturstaates

Das Rechtsgesetz legt einem jeden Verbindlichkeiten auf, doch verlöre es seine faktische Geltung, wenn es grundsätzlich nicht respektiert würde. Recht bedarf der Unterwerfung aller Rechtssubjekte unter seinen Anspruch, und das kann nur eine überlegene Staatsmacht garantieren. Dagegen hängen moralische Verbindlichkeiten von keiner Bedingung ab, auch nicht befolgt verlieren sie ihren Geltungsanspruch nicht. Darüber hinaus ist das moralische Gesetz auch nicht im Sinne des Rechtsgesetzes allgemeinverbindlich, fordert nicht von jedem in gleicher Lage das Gleiche, vielmehr wendet es sich auf je besondere Weise an die Freiheit jedes einzelnen, entsprechend seinem Selbstverständnis, seiner Lebenssituation und seinen besonderen Fähigkeiten. In zweifachem Sinne sind also moralische Pflichten unbedingt.[2]


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[1] Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I, 3, 409.
[2] Das sittliche Gesetz richtet sich an das unmittelbaren Bewußtsein, es ist immer ein individuelles Gebot für einzelne, und das Kriterium der Richtigkeit unserer Überzeugungen ist ein inneres; ein objektives gibt es nicht, da das Ich, wo es moralisch betrachtet wird, ganz selbstständig ist. So ist das Sittengesetz jeweils an jeden einzelnen allein gerichtet. „Freilich kann die bloße S.- L. über diesen Inhalt nichts weiter sagen, als daß eben einer sei, jener Begriff mithin nicht ein leerer und bloß formaler kategorischer Imperativ sei. Welches er sei, darüber muß sie Jeden an sein eigenes sittliches Bewußtsein verweisen" (vgl. Fichte: Das System der Sittenlehre (1812), in: SW XI, 25). - Wenn in der Rechtslehre galt, daß das, was der Eine darf, durchaus kein anderer dürfe, so hier auf dem Boden der sittlichen Idee, daß das, was der eine soll, durchaus kein anderer soll.

Die grundsätzliche Unterscheidung von Legalität und Moralität legt den Gedanken nahe, beide könnten in der Wirklichkeit unabhängig von einander bestehen. Diese Auffassung vertrat Immanuel Kant, die unterscheidenden Charakteristika von Legalität gegenüber Moralität prägnant hervorhebend, in der Überzeugung, selbst ein Volk von Teufeln könne einen perfekten Rechtsstaat bilden.[1] Doch diese Auffassung ist unhaltbar. In seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht hat Kant es besser gesagt, als er einräumte, das wenigstens „das höchste Oberhaupt [...] gerecht für sich selbst sein [müsse]", ohne von einem höheren „Herrn" im Zaume gehalten zu werden.[2] Ein „vorbereiteter guter Wille" im Staatsvolk ist deshalb „für eine vollkommene bürgerliche Vereinigung" grundlegende Voraussetzung. Reine Egoisten können keinen Rechtsstaat aufrecht erhalten, vielmehr kann der Rechtszustand nur insoweit bestehen, als wenigstens in einem entscheidenden Teil der Bürger der moralische Wille zum Recht kultiviert und entwickelt ist. [3]

Mit dieser Erkenntnis ist die Voraussetzung für das Verständnis der modernen Staatstheorie im Sinne eines Kulturstaats gewonnen, das Fichte nach seiner Übersiedlung nach Berlin entwickelte.

Die Vereinigung von Recht und Moral im Kulturstaat

Daß man sich den Zugang zu einem tieferen Verständnis des Rechtsstaats versperrt, wenn man ihn ausschließlich als Rechtsinstitution begreift und nicht wahrnimmt, daß seine Existenz nicht allein auf dem formalen Rechtswillen seiner Bürger beruht, hatte die Kritik an Kant ursprünglicher Rechtsstaatsauffassung zeigen wollen.

Bei dieser Kritik handelt es sich nicht um eine zweihundert Jahre zurückliegende, abgelebte Philosophendiskussion, sondern um ein den Rechtsstaat für alle Zeiten begleitendes Thema. Der bekannte Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde hat es in der Diktion der Gegenwart auf den Nenner gebracht: „der freiheitliche, säkularisierte Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Diese Voraussetzungen hießen zu Kants und Fichtes Zeiten „Sitte", „Moral" und „Kultur", Hegel hatte sie als sittliche Substanz bezeichnet.

Aber: nicht nur lebt der Rechtsstaat aus Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann, auch die Umkehrung des Verhältnisses von Recht und Moral muß bedacht
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[1] Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, in: AA VIII, 341 - 386.
[2] Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA VIII, 15-31.
[3] Vgl. Richard Schottky: „Rechtsstaat und Kulturstaat bei Fichte. Eine Erwiderung", in: Fichte-Studien 3 (1991) 139.

werden, da sich auch diese erst auf dem Boden rechtsstaatlichen Lebens entfalten kann, denn nur der Staat bietet den Rahmen, innerhalb dessen höhere, sich über das Lebensnotwendige erhebende Daseinsformen zu voller Blüte entwickeln. Ohne damit den internen Unbedingtheitsanspruch der Moral in Frage zu stellen, gilt es festzuhalten, daß erst die wechselseitige Beziehung von Recht und Moral, von rechtlichen und moralischen Institutionen und vor allem die Sitte[1] als „zur Natur gewordnen, und darum im deutlichen Bewußtseyn nicht vorkommenden Prinzipi- en"[2], zu der bei Kant vermißten Einsicht führen.

Fragen wir nach den Voraussetzungen staatlich verfaßten Lebens, so sind es vor allem diese „zur zweiten Natur gewordnen, und darum im deutlichen Bewußtseyn nicht vorkommenden Prinzipien", (das was Fichte „Sitte" nennt), die das konkrete Sozialverhalten bestimmen, und alle mit ihm verbundenen tradierten Überzeugungen, zu denen auch kollektive historischen Erfahrungen, ästhetische Ideale, religiöse Überzeugungen, tradierte Techniken und wissenschaftliche Erkenntnisse einer Gesellschaft zählen. Alles zusammen bildet die Grundlage staatlichen Daseins.

Um an dieser Stelle noch einmal an die Einsicht des Staatsrechtslehrers Böckenförde zu erinnern: „der freiheitliche, säkularisierte Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", so wird diese Erkenntnis durch Fichtes Begründung des Rechtsstaat in der Sitte durchaus bestätigt. Was uns aber heute von Fichtes Staatslehre trennt, ist nicht sein über angelsächsische Staatstheorien hinausgehendes Staatsverständnis, sondern sein ungetrübtes Vertrauen in das historische Fundament des Rechtsstaates, das er mit anderen Zeitgenossen, insbesondere mit Hegel, teilte. Denn daß auf diesem Fundament errichtete Staaten auch zu kriminellen Institutionen degenerieren könnten, war im aufgeklärten Vertrauen in den Gang des göttlichen Geistes durch die Weltgeschichte


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[1] Sitte bedeutet uns „die angewöhnten, und durch den ganzen Stand der Kultur zur andern Natur gewordnen, und ebendarum im deutlichen Bewußseyn durchaus nicht vorkommenden Prinzipien, der Wechselwirkung der Menschen untereinander [...]. Die Prinzipien, sagten wir; darum, nicht etwa das Zufällige, und vielleicht durch zufällige Gründe bestimmte, wirkliche Verfahren, sondern den verborgenen sich immer gleichbleibenden Grund, den man eben dem, nicht sich selbst überlaßnen, Menschen voraussetzen, und aus ihm das Verfahren, welches erfolgen wird, so ziemlich sicher vorher berechnen kann.. Die zur Natur gewordnen, und darum im deutlichen Bewußtseyn nicht vorkommenden Prinzipien, sagte ich,: es sind daher alle auf Freiheit sich stützende Antriebe und Bestimmungsgründe dieses allgemeinen Betragens, - der innere der Sittlichkeit, der Moralität, so wie der äußere des Gesetzes, abzurechnen; was der Mensch erst bedenken, und frei beschließen muß, ist ihm nicht Sitte, und inwiefern einem Zeitalter eine Sitte zugeschrieben wird, wird es betrachtet, als bewußtloses Werkzeug des Zeitgeistes" (vgl. dazu: Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05), in: GA, I, 8, 365 f.).
[2] Vgl. dazu: Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05), in: GA I, 8, 365.

trotz des millionenfachen Massenmordes Napoleons damals schlechthin nicht vorstellbar.
Nichtsdestotrotz bleibt es sinnvoll, den Staat als rationalen Rechtsstaat allein aus apriorischen Prinzipien zu konstruieren, wie es Fichte unternahm. Denn auf der Grundlage einer solchen Konstruktion ohne empirische Anleihen läßt sich ein rationaler normativer Maßstab entwickeln, an dem sich der real existierende Staat und seine Institutionen messen und bewerten lassen.

Das Grundrecht auf Muße und Bildung​

Zuvor wurde der rationale Rechtsstaat unter dem Gesichtspunkt seiner Sozialstaatlichkeit behandelt. Die ihm zugrundeliegende Idee ließ sich ohne Schwierigkeiten aus der Idee des rationalen Rechts entwickeln.
Das Recht auf existenzerhaltende Arbeit ist jedoch nur die notwendige Bedingung für die Entwicklung der Freiheit in einem höheren Sinne. Freiheit dient nicht nur dem Erhalt des Lebens, sondern vornehmlich seiner Erhöhung. Ihren Sinn gewinnt sie nicht mittelbar, instrumental, sondern unmittelbar, aus sich und durch sich selbst, und insofern ist Freiheit nicht nur rechtlich, sondern zugleich auch aus sich, d. h. sittlich begründet. Durch den qualifizierenden Begriff einer Freiheit zu freien Zwecken erhält „die Rechtsregel, beschränke deine Freiheit durch den Begriff der Freiheit aller übrigen Personen, mit denen du in Verbindung kommst, durch das Gesetz der absoluten Übereinstimmung mit sich selbst (das Sittengesetz) eine neue Sanktion für das Gewissen"; wie Fichte ausführt, und „dann macht die philosophische Behandlung desselben ein Kapitel der Moral aus, keineswegs der philosophischen Rechtslehre"21. Es bleibt allerdings zu ergänzen, daß auch die höhere Freiheit im Sinne des Sittengesetzes des rechtlichen Schutzes und rechtlicher Grenzen bedarf. Denn obgleich sich über sinnenhaftes Daseins hinaus in der Sphäre der Idealität bewegend, kann die Ausübung höherer Freiheit auch die Freiheit anderer tangieren oder von ihr tangiert werden. Freiheit zu freien Zwecken ist demnach, wie alles Handeln in der Wirklichkeit, auf rechtliche Begrenzung und Schutz angewiesen. Zu diesem Thema gibt es bei Fichte keine expliziten Reflexionen. Anscheinend hatte er nicht gesehen, daß auch das moralisch gesinnte Handeln durchaus rechtsrelevanter Natur ist, weil nämlich moralisches Handeln sich nicht nur im Bereich der Innerlichkeit abspielt, sondern auch Auswirkungen in der empirischen Wirklichkeit hat.
Das unveräußerliche Grundrecht auf Freiheit zu freien Zwecken läßt sich folgendermaßen definieren: Jedem im Rechtsverhältnis Stehenden muß über die Erfüllung natürlicher Bedürfnisse hinaus Kraft und Zeit für beliebige, frei zu wählende Zwecke garantiert werden. Dazu gehört das Recht auf Muße, auch im Sinne

bloßen Nichtstuns. Wo diese Freiheit nicht garantiert wird, liegt kein Rechtsverhältnis vor. Bei Fichte heißt es dazu:

„[E]in Eigentum für Jeden, d.i. eine ausschließende Sphäre seines freien Handelns in der Sinnenwelt; dies ist auch wohl klar, eben so, daß gleich getheilt werden solle, d.i daß auf Jeden für seine Arbeit gleichviel Ruhe und Genuß, eigentlich Freiheit und Muße komme: [...] Aber das Entscheidende ist Folgendes: die fortzuerweiternde Herrschaft über die Natur, die das Recht Aller ausmacht; (daß sie nämlich in jedem Zeitabschnitt so frei seien, als sie in ihm seyn können); [sowohl] über die äußere Natur, [durch] Verbesserung des Ackerbaues, der Künste und Gewerbe, stets im richtigen Verhältnisse zu einander; [als auch] über die innere, [durch] allgemeine Bildung des Verstandes und des Willens Aller [.]."[1]

Freiheit zu freien Zwecken als Staatsziel​


Die Grundrechtsforderung einer Freiheit zu freien Zwecken begründet den Sinn staatlichen Daseins über den Zweck bloßer Lebenssicherung hinaus, und erst von diesem Ziel her vermag sich die Zwangsinstitution des Staates voll zu legitimieren. Denn „alle haben das Recht, nur ihrer Einsicht zu folgen: dies [ist] das ewige und unveräußerliche [Recht]: daß sie vorläufig dem Zwange gehorchen müssen, [aber das] geschieht nur aus Not, weil ihre Einsicht nicht die rechte ist. Um ihres Rechtes willen aber muß eine Anstalt errichtet werden, wodurch ihre Einsicht zur rechten gebildet werde [.]". „Kein Zwang, außer in Verbindung mit der Erziehung zur Einsicht in das Recht. Dieser letzte Bestandteil fügt jenem erst die Form der Rechtmäßigkeit hinzu. Der Zwingherr [hat] zugleich Erzieher [zu sein], um in der letzten Funktion sich als den ersten zu vernichten."[2] „[.] die rechtmäßige Vereinigung von Menschen zu einem Volke unter der Herrschaft des Reiches setzt [.] Erziehung zur Einsicht des Rechtes überhaupt."[3] Das Grundrecht eines jeden Bürgers, sich in Freiheit frei schöpferischen Zwecken widmen zu können, gehört also wesentlich zur Idee des Rechts, deren Sinn sich in der Aufhebung jeden Zwangs zugunsten der Einsicht in den Sinn des Rechts allerdings nicht erschöpft, sondern über ihn hinaus einen unbegrenzten Raum für freie „sittliche" Selbstgestaltung ermöglicht.

Darüber hinaus geht es Fichte jedoch nicht nur um das Recht eines jeden Einzelnen, sich durch Bildung und Einsicht über jeden staatlichen Zwang ideell zu erheben, sondern auch darum, daß sich in der Verwirklichung des Kulturstaats ein weltgeschichtlicher Auftrag erfüllt, nämlich die Verwirklichung der sittlichen Idee, unangesehen dessen, ob einem jedem Bürger oder dem Rechtsstaat die Bedeutung dieses Auftrags bewußt ist oder nicht.

„Der Staat, je größer der Theil der Kraft, und der Zeit, seiner Bürger ist, die er für seinen Zweck der Selbsterhaltung bedarf und in Anspruch nimmt, und je inniger er seine Mitglieder zu durchdringen, und sie zu seinen Werkzeugen zu machen strebt; je mehr muß er, da er doch die physische Existenz seiner Bürger wollen muß, die Mittel dieser Existenz, durch Erhöhung der
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[1] Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche (1813), in: GAI, 16, 70.
[2] Fichte: Die Staatslehre, in: GA I, 16, 67.
[3] Fichte: Die Staatslehre, in: GA I, 16, 70.

beschriebenen Herrschaft über die Natur, zu erweitern suchen: - Er muß sonach alle die vorhergenannten Zwecke der Gattung, um seines eigenen Zweckes willen, zu seinen Zwecken machen. Er wird somit - wie man gewöhnlich diese Zwecke ausspricht, - die Industrie zu beleben, die Land-Wirthschaft zu verbessern, Manufakturen, Fabriken, das Maschinen-Wesen, zu vervollkommnen, Erfindungen in den mechanischen Künsten, und in der Naturwissenschaft, zu ermuntern suchen. Möge er immer glauben, daß er dieses alles nur darum tue, um die Auflagen zu vermehren, und eine größere Arme halten zu können; - mögen sogar die Regierenden selber, wenigstens dem größern Theile nach keines höheren Zwecks sich bewußt seyn: - dennoch befördert er ohne alles sein Wissen den angezeigten Zweck der Gattung, als Gattung. Der äußere Zweck jener Herrschaft der Gattung über die Natur ist [...] wiederum ein doppelter: entweder nemlich soll die Natur bloß dem Zwecke unsrer sinnlichen, leichtern, und angenehmern Subsistenz unterworfen werden - welches die mechanische Kunst giebt; oder sie soll dem höhern geistigen Bedürfnisse des Menschen unterworfen [werden]".[1]

Diese doppelbödige Legitimation der Freiheit aus individual-rechtlichen sowohl als auch universal-historischen Gründen verleiht dem Fichteschen Grundrechtspostulat der Freiheit zu freien Zwecken eine höhere Sanktion, als die der Entwicklung individueller Freiheit, die wir nach heutigem Verständnis allein als Selbstzweck bereit wären anzuerkennen. Fichtes Geschichtsspekulation ist der überzeitlichen Sicht eines Zuschauers der Weltgeschichte geschuldet, teleologisch gedeutet als eine Geschichte der Entwicklung der praktischen Vernunft. Eine solche Konzeption vermag heute nicht mehr zu überzeugen. Sie ist, was sie schon immer war, eine Angelegenheit des Glaubens. Nicht, daß uns Fichtes apriorisch moralischer Bewertungsmaßstab fremd geworden wäre, wir vermögen nur nicht mehr, einen ihm entsprechenden Fortschritt in der Geschichte zu erkennen. Nur auf der Grundlage fortschreitender interner institutioneller Differenzierungen, d. h. einem rechtlichen Maßstab, hätte es heute noch einen vertretbaren Sinn, von mehr oder weniger fortgeschrittenen Staaten zu sprechen. Eine moralische Bewertung ist das aber gerade nicht.

Zusammenfassung und Würdigung​


Aufgabe einer transzendentalphilosophischen Rechtsphilosophie ist es, die Möglichkeit des Nebeneinanderbestehens freier Wesen und ihrer Bedingungen zu reflektieren. Angeregt von den Ideen der französischen Revolution hatte Fichte einen neuen philosophischen Eigentumsbegriff konzipiert und auf seiner Grundlage zwei unveräußerliche Rechte, die inzwischen für die Entwicklung rechtsstaatlichen Lebens welthistorische Bedeutung erlangt haben: Das Grundrecht auf lebenserhaltende Arbeit im Rahmen der Institution des Sozialstaates und das komplementäre Recht auf Muße als Freiheit zu freien Zwecken im Kulturstaat. Die Begründung dieser Rechte folgte aus seiner Staatskonzeption und deren Fundierung im sittlichen Leben.

Bei der Erörterung der Freiheit zu freien Zwecken überschritt Fichte den Bereich rechtsphilosophischer Reflexionen zu Gunsten geschichtsphilosophischer Erwägungen. An die Stelle einer Begründung des Grundrechts auf Muße und freie Bildung im Rahmen der Rechtsphilosophie treten staatsrechtliche und welthistorische
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[1] Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05), in: GA, I, 8, 323/4.

Erörterungen unter der leitenden Idee fortschreitender Kultivierung des Menschengeschlechts. In Fichtes geschichtsphilosophischen Erörterungen spielt jedoch die Weiterentwicklung von Bildunginstitutionen und ihnen entsprechender Bildungsrechte, wie wir sie heute in vielen Bereichen sozialen Lebens kennen, keine Rolle. So sehr Fichtes Grundidee bejaht werden muß, die Notwendigkeit des Staatszwangs mit Hilfe staatlicher Bildungsinstitutionen durch Einsicht zu überwinden, so wenig befriedigt seine Begründung des Rechts auf freie Zwecke im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Betrachtungen. Daß der Rechtsstaat seinerseits aber in einem höheren Prinzip als dem des Rechts begründet werden muß (und mit ihm das Sozial- und Kulturstaatsprinzip), gehört unangesehen der vorgetragenen Kritik zu den bleibenden Erkenntnissen seiner Rechts- und Staatsphilosophie.