l) Der Staat a) Die Elemente des Staates
76 Ein Staat liegt nach der herrschenden Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek vor, wenn sich auf einem bestimmten Staatsgebiet ein Staatsvolk unter effektiver Staatsgewalt organisiert hat.
77 Das Staatsvolk bestimmt sich über das formale Bindeglied der Staatsangehörigkeit. Es muss nicht einer einzigen Nation angehören, sondern kann aus verschiedenen ethnischen, sprachli-chen oder religiösen Gruppen bestehen, wobei es dem Staat freisteht, die Bedingungen für Er-werb und Verlust der Staatsangehörigkeit im Rahmen des völkerrechtlich Zulässigen nach eige-nem Ermessen zu regeln. Die Staaten stützen sich hierbei entweder auf das Personalitätsprinzip, nach dem die Abstammung über die Staatsangehörigkeit entscheidet, oder auf das Territoriali¬tätsprinzip, wonach die auf ihrem Staatsgebiet geborenen Personen automatisch ihre Staats¬angehörigkeit erwerben, oder auf eine Verbindung beider Prinzipien, wonach die Staatsange¬hörigkeit entweder kraft Abstammung oder kraft Geburt auf dem Territorium, sofern weitere Voraussetzungen erfüllt sind, erworben wird. Eine Mindestgröße ist für das Vorliegen eines Staatsvolks nicht erforderlich, wie das Beispiel Naurus mit weniger als 10.000 Einwohnern zeigt.
78 Notwendig ist ferner ein Gebiet, in dem das Staatsvolk seine Herrschaft ausübt. Hier kann ein Staat in Ausübung seiner Gebietsherrschaft alle rechtlichen und tatsächlichen Maßnahmen treffen, während Hoheitsakte auf dem Gebiet anderer Staaten nicht erlaubt sind und abgewehrt werden dürfen. Hoheitsakte fremder Staaten können anerkannt werden, wenn sie nicht gegen die innere öffentliche Ordnung verstoßen (ordre public-Vorbehalt). Eine völkerrechtliche Pflicht zur Anerkennung der Hoheitsakte fremder Staaten mit Wirkung für das Territorium fremder Staaten (zB Enteignung) besteht aber nicht. Fremde und Staatenlose unterliegen der Rechtsord-nung des Aufenthaltsstaats. Das Staatsgebiet erfasst nicht nur einen Ausschnitt der Erdoberflä-che, sondern erstreckt sich auch auf das darunter liegende Erdreich sowie den darüber befindli-chen Luftraum. Dem „Fürstentum Sealand", das acht Meilen vor der britischen Küste auf einer ehemaligen Flakstellung gegründet wurde, sprach das VG Köln die Staatsqualität u a mit Hin-weis darauf ab, dass die 1.300 m2 große Fläche nicht natürlich gewachsen und nur durch Pfeiler mit dem Meeresgrund verbunden sei.
76 Getrennt werden die Gebiete der Staaten durch Grenzen. Diese können vertraglich verein¬bart werden, auf der geschichtlichen Entwicklung, der Anerkennung durch andere Staaten oder Völkergewohnheitsrecht beruhen. Eine exakte Grenzziehung ist zur Konfliktvermeidung zwar wünschenswert, jedoch nach Völkerrecht nicht Voraussetzung zur Entstehung eines Staates. Es reicht aus, dass die Grenzen des Staatsgebiets im Wesentlichen feststehen. Diese Vorausset-zung war nicht erfüllt, als am 15.11.1988 ein Palästinenser-Staat mit der Hauptstadt Ost-Jeru-salem ausgerufen wurde, obwohl der Gaza-Streifen und die Westbank noch unter israelischer Besatzung standen und somit hoheitliche Befugnisse seitens der Palästinenser nicht ausgeübt werden konnten.
77 Drittes Element des Staates ist die Staatsgewalt. Sie muss effektiv ausgeübt werden, dh in¬nerstaatlich muss der Staat sein Recht durchsetzen können, und auf internationaler Ebene muss er in der Lage sein, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen (Effektivitätsprin¬zip), da nur eine dauernde Ordnung die Gewähr für die Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten bietet. Staaten müssen im Übrigen eine gewisse Stabilität und Aussicht auf Dauer aufweisen, wobei die Beurteilung ex ante erfolgt. Von nur kurzer Dauer waren etwa die „Federation of Mali" und „British Somaliland", die beide nur für fünf Tage existierten. Ungeachtet zahlreicher Aner¬kennung durch dritte Staaten scheitert zB zurzeit auch die Einstufung des Kosovo als Staat am Fehlen einer effektiven Staatsgewalt. Auf Grundlage der Resolution Nr 1244 übte seit 1999 zunächst die UNO durch die UNMIK-Übergangsverwaltung unter der Führung eines Sonderbe¬auftragten des Generalsekretärs die Staatsgewalt aus, während in Anlehnung an den Ahtisaari- Plan nun zusätzlich die von der EU eingesetzte Rechtsstaatlichkeitskommission (EULEX Ko¬sovo) mit exekutiven Befugnissen bei der Strafverfolgung und bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betraut worden ist. Auch das BVerfG geht in seinem Be¬schluss v 13.10.2009 davon aus, dass die auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) eingesetz¬te zivile Verwaltung der UNMIK unverändert fortbesteht. Indessen ist nicht auszuschließen, dass zu einem späteren Zeitpunkt beim Übergang substanzieller Regierungs- und Verwaltungs¬befugnisse auf kosovarische Hoheitsträger die bestehenden Defizite ausgeglichen werden und effektive Staatsgewalt bestehen wird.
Von der Anerkennung von Staaten ist die Anerkennung von Regierungen zu unterscheiden. 81 Versuche, das Effektivitätsprinzip durch den Grundsatz der Legitimität (Tobar-Doktrin) zu erset-zen, konnten sich nicht durchsetzen. Auf Vorschlag des damaligen Außenministers von Ecua¬dor, Tobar, verpflichteten sich die mittelamerikanischen Staaten im Washingtoner Vertrag v 1907, eine durch Staatsstreich oder Revolution zur Macht gelangte Regierung solange nicht an¬zuerkennen, bis eine demokratische Bestätigung erfolgt sei. Der mexikanische Außenminister Estrada sah in dieser Haltung eine Einmischung in innere Angelegenheiten und erklärte 1930, Mexiko werde sich künftig jeder Anerkennung von Regierungen enthalten, da eine solche Aner¬kennungspraxis beleidigend sei (vgl u Rn 178 ff).
Über die in der Drei-Elemente-Lehre vorgesehenen Merkmale hinaus wurden in jüngerer 82 Zeit von verschiedener Seite zusätzliche Staats-Merkmale vorgeschlagen, die sich jedoch bislang nicht haben durchsetzen können (zB demokratische Verfassungsordnung mit Partizipations-möglichkeiten aller Bevölkerungsteile, keine Diskriminierungen von Minderheiten, keine illega¬len Gewaltmaßnahmen des Staates). Dennoch zeichnet sich hierin eine Entwicklung ab, wo¬nach die Staats-Qualität auf Dauer nicht mehr nur allein von den drei Elementen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt abhängig gemacht werden soll, sondern – jedenfalls im Hinblick auf neu entstehende Staaten – auch bestimmte innerstaatliche Anforderungen aufgestellt wer-den. Inwieweit sich diese gestiegenen Ansprüche in größeren Umbruchsphasen tatsächlich auf-rechterhalten lassen, bleibt jedoch abzuwarten.
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