c) Der Grundsatz des Non-Refoulement
Der Grundsatz des Non-Refoulement in Art 33 GFK, der sowohl auf die Auslieferung und Ab- 304 schiebung als auch – nach überwiegender Auffassung – auf die Zurückweisung an der Grenze angewendet wird, verpflichtet die Staaten zur Zufluchtgewährung vor dem unmittelbaren Zugriff des Verfolgerstaats, enthält aber weder einen subjektiven Asylanspruch noch eine zwischen¬staatlich verbindliche Aufnahmepflicht. Diese Auslegung findet sich auch in Empfehlungen des Europarates und der UN-Generalversammlung. So empfiehlt eine Resolution des Europara- tes, den Vertragsstaaten „zu gewährleisten, dass niemand an der Grenze abgewiesen, zurück-
geschickt, abgeschoben oder in anderer Weise so behandelt wird, dass er gezwungen wäre, in das Staatsgebiet zurückzukehren oder dort zu verbleiben, wo er aufgrund seiner Rasse, seiner Religion, seiner Staatszugehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Meinung von Verfolgung bedroht ist." Ebenso bestimmt Art 3 der Erklärung der UN-Generalversammlung über das territoriale Asyl, dass niemand „Ma߬nahmen wie einer Zurückweisung an der Grenze oder, wenn er das Gebiet, in dem er Asyl sucht, bereits betreten hat, der Ausweisung oder einer zwangsweisen Rückstellung in einen Staat, in dem er einer Verfolgung ausgesetzt sein könnte, unterworfen werden soll."
305 Das Refoulement-Verbot steht daher einer Zurückweisung oder Abschiebung von Schutzsu¬
chenden in sichere Drittstaaten nicht entgegen. In diesem Fall muss allerdings gewährleistet sein,
dass der Schutzsuchende nicht in den Verfolgerstaat weiter geschoben wird. Ein Anspruch darauf, nur in einen Staat zurückgewiesen oder zurückgeschoben zu werden, in dem ein Recht auf Zugang zum Asylverfahren besteht, existiert hingegen nicht. Art 33 GFK gewährleistet le-diglich einen Mindestschutz vor Verfolgung, aber kein Recht auf Asyl oder andere Vergünstigun¬gen.
306 Nach Art 3 EMRK gilt bei drohender Foltergefahr oder bei Gefahr unmenschlicher oder ent-würdigender Behandlung oder Strafe ein ähnliches Verbot der Aus- oder Zurückweisung wie bei Art 33 Abs 1 GFK. Eine Zurückweisung oder Zurückschiebung in Folterstaaten ist daher unzu¬lässig. Erforderlich ist jedoch eine latente Gefahr durch Folter oder unmenschliche Behandlung. Solange Ausländer, die vor einem Bürgerkrieg, schweren inneren Unruhen oder einem Klima allgemeiner Gewalt fliehen, jedoch nicht Opfer einer persönlich gegen sie gerichteten Gewalt sind, können sie sich nicht auf Art 3 EMRK berufen.
d) Maßnahmen im Rahmen des Europarates
307 Im Rahmen des Europarates wurden zahlreiche Übereinkommen oder Erklärungen und Empfeh¬lungen zum Schutz oder zur Verbesserung der Stellung von Flüchtlingen getroffen. Hierzu zäh¬len das Europäische Übereinkommen über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs für Flücht¬linge v 20.4.1959, die Resolution des Ministerkomitees über Asyl für Personen, denen Verfolgung droht, die Erklärung über das territoriale Asyl, das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge v 16.10.1980, die Empfehlung des Mi¬nisterkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten über die Angleichung von staatlichen Asylverfahren, die Empfehlung zur Rechtsstellung der De-facto-Flüchtlinge, die Empfehlung des Ministerkomitees über die Familienzusammenführung von Flüchtlingen und anderen Per¬sonen, die des internationalen Schutzes bedürfen, sowie die Empfehlung über die vorüberge¬hende Schutzgewährung.
308 Das Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge soll Regelungs-lücken bei der Zuständigkeit der GFK beseitigen. Die unterschiedliche Übernahmepraxis der
einzelnen Staaten führte häufig dazu, dass Flüchtlinge nach der GFK von dem Staat, in dem sie anerkannt wurden, nicht wieder zugelassen, andererseits aber von dem Staat, in den sie einge¬reist waren, nicht aufgenommen wurden. Bzgl der Angleichung der staatlichen Asylverfahren ist u a die Durchführung eines formalisierten Verfahrens vor einer zentralen Behörde mit verfah-rensrechtlichen Garantien für den Asylbewerber vorgesehen sowie die Bereitstellung eines effek¬tiven Beschwerdeverfahrens und eines vorläufigen Aufenthaltsrechts für die gesamte Verfah¬rensdauer, sofern die zentrale Überprüfungsbehörde nicht festgestellt hat, dass ein Asylantrag offensichtlich nicht auf die Verfolgungsgründe der GFK gestützt werden kann oder aus sonsti¬gen Gründen missbräuchlich ist.
e) Flüchtlinge in den EU-Mitgliedstaaten
Seit der Einfügung der Art 67 bis 89 AEUV (früher: Art 61 bis 69 EG), vor allem Art 78 AEUV, in 309 das
europäische Vertragswerk gibt es europarechtliche Kompetenztitel für eine gemeinsame Asylpolitik. Zudem nimmt Art 18 der EU-Grundrechtecharta Bezug auf das Asylrecht. Ziel des Unionshandelns ist die Schaffung einer europaeinheitlichen Asylkonzeption. Geplant ist eine schrittweise Einführung und Erweiterung eines gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das zu einem gemeinsamen Asylverfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Status für die Personen führen soll, denen nach der GFK Asyl zu gewähren ist. Beabsichtigt ist das Erreichen dieses Ziels in zwei Harmonisierungsschritten.
Ein wichtiger Baustein der ersten Harmonisierungsstufe ist die Überführung der Dublin- 310 Regelungen in das Unionsrecht. Hierunter sind Bestimmungen zu verstehen, die es ermöglichen, einen Mitgliedstaat zu ermitteln, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Das Kon¬zept ist getragen von dem Gedanken, dass jedenfalls ein Mitgliedstaat der EU für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, und gleichzeitig von der Erwägung, dass ein Asylbegehren in¬nerhalb der EU nur einmal geprüft wird. Hierbei soll über die Zuständigkeit des Asylprüfungs¬staats zügig Gewissheit geschaffen werden. Die Dublin-Regeln gehen zurück auf Art 28 bis 38 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ). Im Rahmen dieses Abkommens, das bis 31.8.1997 anzuwenden war, existierten auf völkerrechtlicher Basis zum ersten Mal derartige Zuständigkeitsregeln. Diese wurden vom Dubliner Übereinkommen (DÜ), das für den Zeit-
raum v 1.9.1997 bis 1.9.2003 anzuwenden war, abgelöst, daher auch die Bezeichnung „Dublin¬Regeln". Dem DÜ als völkervertraglicher Regelung gehören alle Mitgliedstaaten der EU sowie
Norwegen und Island an. Im September 2003 wurde das DÜ von der Dublin-II-VO verdrängt, die seitdem zum maßgeblichen Regelungswerk für Asylzuständigkeitsfragen innerhalb der EU- Staaten geworden ist. Die Zuständigkeit bestimmt sich nach einem Katalog von Kriterien, die entsprechend ihrer Reihenfolge die Zuständigkeit eines Staates für die Durchführung der inhalt¬lichen Prüfung eines Asylbegehrens festlegen.
311 Zur Durchsetzung der Ziele einer gemeinschafts-europäischen Asylpolitik dient die EURO- DAC-Verordnung. Sie hat die Aufgabe, dem Dubliner Übereinkommen und ab September 2003 der Dublin-II-VO zur besseren Durchsetzung zu verhelfen. Auf diese Weise wird die Effektivität der Dublin-Regeln durch Gewinnung von Beweismitteln zur Feststellung der Zuständigkeit eines Staates gestärkt. Das EURODAC-System arbeitet seit Januar 2003. Dabei werden Fingerabdrü¬cke von allen Asylantragstellern und bei einem illegalen Grenzübertritt festgestellten Personen aufgenommen und einer zentralen Datenbank zur Verfügung gestellt.
312 Allerdings ist im Zusammenhang mit Entscheidungen des EGMR und des EuGH zu abge¬
lehnten Überstellungen von Asylsuchenden nach Griechenland fraglich geworden, ob das bishe¬rige System zur Feststellung asylrechtlicher Zuständigkeiten auf der Grundlage der Dublin-II- Verordnung noch weiter Bestand haben kann. Insbesondere der dem Dublin-System zugrunde liegende Grundsatz von im Wesentlichen vergleichbaren Schutzstandards in den beteiligten Staaten wird gegenwärtig in Zweifel gezogen. Die Beibehaltung des Dublin-Systems muss da¬her an diesen Aspekt anknüpfen, wie es schon seit geraumer Zeit durch administrative Unter¬stützungsmaßnahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten geschieht.
313 Durch die RL 2003/9 über Mindestaufnahmebedingungen von Asylantragstellern in den
Mitgliedstaaten soll der Standard der Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens
angeglichen werden, so dass es letztlich nicht darauf ankommt, in welchem EU-Staat ein An-tragsteller um Aufnahme ersucht. Es soll aber auch ein Ausgleich dafür erreicht werden, dass sich Asylantragsteller nach den Dublin-Regeln nicht aussuchen können, in welchem Staat ihr Antrag geprüft wird.
Ein weiterer Bestandteil des europäischen Regelwerks im Bereich des Flüchtlingsschutzes 314 ist die RL 2001/55 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms.
Danach wurden weitere wichtige Richtlinien verabschiedet, um die erste Harmonisierungs- 315 stufe im Bereich des Asyls im Wesentlichen abzuschließen. Es handelt sich dabei um die RL 2004/83 zur Qualifikation der Flüchtlingseigenschaft bzw der Personen, die subsidiär schutzbe-rechtigt sind (Qualifikations-RL) und die RL 2005/85 über Mindestnormen für das Asylverfah-ren (Verfahrens-RL).
Gegen die Verfahrens-RL 2005/85 hat das Europäische Parlament im Jahr 2006 Klage er- 316 hoben. In seiner Entscheidung vom 6.5.2008 erklärte der EuGH sowohl die Regelung über die gemeinsame Minimalliste sicherer Herkunftsstaaten (Art 29) als auch über die Annahme einer Liste sicherer Drittstaaten (Art 36) für nichtig. Im Oktober 2009 legte die Kommission zwei Vorschläge zur Überarbeitung der Verfahrens-RL und der Qualifikations-RL vor.
Die RL zur Qualifikation der Flüchtlingseigenschaft beschränkt sich nicht darauf, eine 317 materielle gemeinschaftsrechtliche Flüchtlingsdefinition vorzunehmen. Vielmehr soll dadurch ein umfassendes Instrumentarium entwickelt werden, das auch denjenigen, die dem Flücht¬lingsbegriff nicht unterfallen, gleichwohl aber internationalen Schutz benötigen, einen effekti¬ven Schutzmechanismus gewährt. Die Zielrichtung und der Inhalt des subsidiären Schutzes vari¬ierten bislang erheblich
entsprechend der nationalen Auslegung des Begriffs. In Deutschland werden mit dem Begriff „subsidiärer Schutz" Abschiebungshindernisse im Sinne von § 60 Auf- enthG bezeichnet. Mit der RL werden nunmehr erstmals auf europarechtlicher Ebene die Vor¬aussetzungen des subsidiären Schutzes und die damit verbundenen statusrechtlichen Folgen festgelegt. Die in der RL enthaltene Definition des Flüchtlings ist weitgehend identisch mit Art 1 Abschn A GFK. Die RL enthält darüber hinaus Auslegungsregeln zu einzelnen Elementen des Flüchtlingsbegriffs, etwa zu den Akteuren der Verfolgung, den Verfolgungshandlungen, den Verfolgungsgründen, dem Konzept der inländischen Fluchtalternative und den Nachflucht-
gründen. Ferner werden statusrechtliche Folgen der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiä-ren Schutzes festgelegt.
318 Die GFK enthält als das wesentliche Instrument des völkerrechtlichen Flüchtlingsschutzes
keine ausdrücklichen verfahrensrechtlichen Regelungen. Solche sind nur aus dem Ziel und Zweck der GFK zu ziehen und Resultat der Bestimmungen der GFK. Hierbei spielen die völker-rechtlichen Auslegungsmethoden und die Staatenpraxis eine entscheidende Rolle. Ein Mindest-standard der Verfahrensregeln wird nun durch die Asylverfahrensrichtlinie geschaffen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Fragen des Zugangs des einzelnen Asylantragstellers zum Asylverfahren, eines Bleiberechts bis zum Abschluss des Verfahrens, der Rechte des Einzelnen im Verfahren und der Anwendung der Prinzipien der sicheren Dritt- oder Herkunftsstaaten. Die RL sieht besondere Bestimmungen für ein Asylfolgeverfahren, das Verfahren an der Grenze und das der Rücknahme des Flüchtlingsstatus vor. Noch keine abschließende Regelung ist für den Umgang mit Flüchtlingen gefunden worden, die sich den Mitgliedstaaten der EU auf dem See¬weg nähern.
319 Zwischenzeitlich hat der EGMR im Hirsi-Urteil entschieden, dass Italien gegen Art 3 EMRK
verstoßen habe, indem es im Jahr 2009 Schiffe mit Flüchtlingen aufgebracht und nach Libyen zurückgeschoben hat. Allerdings anerkannte der Gerichtshof zunächst, dass auch Konven-tionsstaaten der EMRK wie Italien „vorbehaltlich ihrer Verpflichtungen aus dem Völkerrecht" unverändert das Recht hätten, den Aufenthalt und die Ausweisung von Personen zu regeln, die nicht ihre Staatsangehörigkeit besäßen. Da bei der infrage stehenden Konstellation die Situa-tion vor dem sog „Arabischen Frühling" vom Frühjahr 2012 zugrunde gelegt wurde, bleibt frag-lich, ob angesichts der veränderten Situation weiterhin von einer Art 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung in Libyen auszugehen ist. Fest steht nach dem Hirsi-Urteil jedoch, dass ein Flücht¬linge zurückschiebender Staat sich aufgrund der Gewährleistungen der EMKR vergewissern muss, dass es in einem Durchgangsstaat ausreichende Garantien gegen eine Rückführung in das Herkunftsland ohne Prüfung der damit verbundenen Gefahren gibt. Im Hinblick auf das Aufbringen von Schiffen auf Hoher See entschied der EGMR weiterhin, dass auch die extraterri¬toriale Ausübung von Staatsgewalt durch die
Zurückschiebung als Kollektivausweisung gewer¬tet werden kann. Dies gilt für Schiffe unter der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates ebenso wie für dort registrierte Flugzeuge. In diesen Fällen gilt Art 4 Prot Nr 4 zur EMRK mit dem Ver¬bot dieser Praxis auch dann, wenn die Betroffenen die Grenzen des Staates tatsächlich gar nicht erreicht haben. Tatsächlich hätte eine restriktive Interpretation auf das Staatsgebiet zu einer in dieser Hinsicht empfindlichen Verkürzung der EMRK-Gewährleistungen führen kön¬nen.
4. Die Auslieferung a) Einführung
Die Auslieferung ist die amtliche Überstellung einer im Verdacht einer strafbaren Handlung 320 stehenden oder ihrer überführten und verurteilten Person durch den Aufenthaltsstaat an einen anderen Staat ohne deren Zustimmung. Die Auslieferung ist ein Mittel der Rechtshilfe. Eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Auslieferung besteht nicht, vielmehr werden Fragen der Aus-lieferung vor allem durch völkerrechtliche Verträge wie das Europäische Auslieferungsabkom¬men v 13.12.1957, die Interamerikanische Konvention von 1981, das Auslieferungsabkommen der Arabischen Liga v 1952 oder durch bilaterale Verträge geregelt. Das Europäische Ausliefe-rungsabkommen wurde 1978 durch ein 2. Zusatzprotokoll ergänzt, das 1985 in Kraft getreten ist und vor allem den Geschäftsweg für die Übermittlung von Auslieferungsersuchen vereinfachen soll.
Der Wegfall der Binnengrenzen innerhalb der EU führte im Rahmen der Zusammenarbeit in 321 den Bereichen Justiz und Inneres dazu, ein Übereinkommen auf Grund des damaligen Art K EUV über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU am 10.3.1995 zu unterzeichnen. Die Anwendung des Verfahrens war jedoch an die Zustimmung der betrof¬fenen Person gebunden. Am 27.9.1996 wurde das Übereinkommen aufgrund von Art K.3 des Ver¬trags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union gezeichnet. Es sah eine Auslieferung auch bei bestimmten Steuerstraftaten und politischen Handlungen vor. Zudem sollten auch eigene Staatsangehörige ausgeliefert werden können. Die Einführung eines Europäischen Haftbefehls zeitigt die gravierendsten Auswirkun-gen auf das Auslieferungsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nachdem das BVerfG das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl für verfassungswidrig erklärt hat, hat der Bundesgesetzgeber den Rahmenbeschluss durch ein modifiziertes Gesetz v 20.7.2006 umgesetzt.
Im Auslieferungsrecht werden nicht nur völkerrechtliche Vereinbarungen durchgeführt. 322 Es werden darüber hinaus auch Individualrechte des Auszuliefernden berücksichtigt. Derartige Individualrechte stellen vor allem die grundlegenden Menschenrechte dar. Zunehmend wird daher vertreten, dass die Stellung des Einzelnen nicht nur als Reflex einer völkerrechtlich verbindlichen Bestimmung geschützt wird. Der Auszuliefernde soll vielmehr als Rechtssub¬jekt eigene Rechte geltend machen können, da in dem Zugriff des ersuchten Staates auf den Auszuliefernden stets ein
Grundrechtseingriff zu erblicken ist, der einer Rechtfertigung be- darf.
b) Grundzüge der Auslieferungsverträge
323 Die Auslieferung wird oftmals wie in Art 2 Abs 7 des Europäischen Auslieferungsabkommens vom Erfordernis der Gegenseitigkeit abhängig gemacht. Die für eine Auslieferung relevanten Straftatbestände sind entweder im Vertrag ausdrücklich genannt oder können sich nach dem Umfang der Strafandrohung richten (so Art 2 Abs 1 Europäisches Auslieferungsabkommen). Des Weiteren müssen die Handlungen sowohl im ersuchenden als auch im ausliefernden Staat straf¬bar sein (Artikel 2 Abs 1 Europäisches Auslieferungsabkommen).
324 Auf Grund des neu angefügten Art 16 Abs 2 Satz 2 GG können auch Deutsche an einen Mit¬
gliedstaat der EU oder an einen internationalen Gerichtshof ausgeliefert werden, soweit rechts-staatliche Grundsätze gewahrt sind.
325 Für den Fall, dass eigene Staatsangehörige nicht ausgeliefert werden, wurde der Grundsatz des aut dedere aut iudicare entwickelt, wonach bei Verweigerung der Auslieferung die Strafver-folgung im Heimatstaat stattfinden soll. Von Auslieferung kann abgesehen werden, wenn dem Beschuldigten die Todesstrafe droht (Art 11 Europäisches Auslieferungsübereinkommen), es sich um Militärstraftaten handelt oder Immunität vorliegt.
326 Zu beachten ist der Grundsatz der Spezialität, wonach eine Person nur wegen derjenigen Verbrechen verurteilt werden darf, wegen derer die Auslieferung erfolgte, Art 14 Europäisches Auslieferungsübereinkommen. Ein Verzicht hierauf steht nicht dem Einzelnen, sondern dem ersuchten Staat zu.
c) Die political offence exception
327 Ein Auslieferungsverlangen kann auf Grund entsprechender Klauseln in Auslieferungsverträgen dann abgelehnt werden, wenn es sich um politische Verbrechen handelt (political offenders). Diese Ausnahme kommt nicht zum Tragen, wenn es sich um Straftaten handelt, die dem Dro¬genhandel, dem Terrorismus oder den Kriegsverbrechen zuzuordnen sind.
d) Auslieferung und EMRK
328 Die Freiheit des einzelnen Staates, Personen an andere Staaten zum Zwecke der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung zu überstellen, wird durch Bindungen in menschenrechtlichen Verträ¬gen begrenzt. Der EGMR nahm zur Anwendbarkeit von Art 3 EMRK im Fall Soering Stellung, als der Beschwerdeführer, der in Großbritannien festgenommen worden war, wegen Mordes an die USA ausgeliefert werden sollte. Das Gericht folgte in seiner Entscheidung nicht der Auffas¬sung, dass
die Verhängung der Todesstrafe in jedem Fall auf Grund der in Westeuropa entwi¬ckelten Standards als ein unmenschliches und erniedrigendes Strafmittel angesehen werden müsse, sondern stellte darauf ab, dass die death-row-Situation einen Verstoß gegen Art 3 EMRK darstelle. Großbritannien gab dem Auslieferungsersuchen daher erst statt, nachdem die USA zugesichert hatten, von der Verhängung der Todesstrafe abzusehen. In der unterschiedlichen
Behandlung von eigenen und fremden Staatsangehörigen im Bereich der Auslieferung sah der EGMR keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot.
e) Gewaltsames Verbringen in den Gerichtsstaat
Gelegentlich wird nicht der Weg über ein Auslieferungsersuchen an den Aufenthaltsstaat ge- 329 wählt, sondern nationale Behörden versuchen, des mutmaßlichen Täters selbst im Ausland habhaft zu werden, um ihn vor ein nationales Gericht stellen zu können. Die rechtswidrige Er¬greifung hat nach überwiegender Auffassung nicht die Unzulässigkeit eines innerstaatlichen Verfahrens zur Folge (male captus, bene detentus). So stellte das BVerfG etwa fest, dass keine allgemeine Regel des Völkerrechts dahingehend bestehe, „dass die Durchführung eines Straf¬verfahrens gegen eine Person, die unter Verletzung der Gebietshoheit eines fremden Staates in den Gerichtsstaat verbracht worden sei, ausgeschlossen sei, weil der völkerrechtliche An¬spruch des verletzten Staates auf ihre unverzügliche Übergabe bereits entstanden oder schon durch die Verbringung als solche ein völkerrechtlicher Unrechtstatbestand verwirklicht worden sei."
5. Der völkerrechtliche Minderheitenschutz
a) Einführung
Nachdem das öffentliche Interesse sich nach dem Zweiten Weltkrieg schwerpunktmäßig auf den 330 Schutz der Menschenrechte verlagert hatte, da man damals davon ausging, durch einen wirk-samen Menschenrechtsschutz würden die Belange von Minderheiten ausreichend geschützt, erfolgten Mitte der 1970er Jahre die ersten ausführlichen Arbeiten zum Minderheitenschutz, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Aufbrechen ethnischer Konflikte in den postkommunistischen Ländern vor allem Südosteuropas intensivierten. Die blutigen Konflikte u a in Bosnien-Herzegowina,
im Kosovo und in Tschetschenien zeigten, dass der Minderheiten¬schutz bis heute von hoher Relevanz ist, wobei Einigkeit besteht, dass trotz verschiedener ein-
schlägiger Übereinkommen Minderheitengruppen noch nicht ausreichend bzw effektiv ge-schützt sind.
331 Als problematisch bei der Verrechtlichung des Minderheitenschutzes erweist sich die Defini¬
tion des Begriffs „Minderheit". Mangels eines allseits akzeptierten Minderheitenbegriffs orien¬tiert man sich auf universeller Ebene an einer von Capotorti 1979 entwickelten Definition: „A mi¬nority is a group which is numerically inferior to the rest of the population of a State and in a non-dominant position, whose members possess ethnic, religious or linguistic characteristics which differ from those of the rest of the population and who, if only implicitly, maintain a sense of solidarity directed towards preserving their culture, traditions, religion or language."
332 Bedingt durch die großen Migrationsbewegungen unserer Zeit tauchte die Frage auf, ob
auch die sog neuen Minderheiten unter den Minderheitenbegriff fallen. Diese Frage wird re-gelmäßig mit der Frage verknüpft, ob Minderheiten die Staatsangehörigkeit des Landes besitzen müssen, in dem sie leben, um dort als Minderheit anerkannt zu werden. Dass letzteres Erfor¬dernis für sich allein bedenklich ist, zeigt das Bsp Estlands, wo Angehörige von Minderheiten um ihre Minderheitenschutzrechte gebracht wurden, indem ihnen die Staatsangehörigkeit vor- enthalten wurde. Besser sollte in diesem Zusammenhang unterschieden werden, welche Schutzrechte welcher Personengruppe zukommen sollen: Menschen, die seit vielen Generatio¬nen in einem bestimmten Gebiet wohnen und zu diesem eine lang dauernde Bindung haben, sollen Minderheitenrechte gewährt werden, da sie andernfalls Gefahr laufen, von der Mehr¬heit im Staat assimiliert zu werden. Wanderarbeitnehmer werden dagegen in der Staatenpraxis auch dann keine
Minderheitenrechte zuerkannt, wenn es sich um die zweite oder dritte Genera¬tion handelt, die die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats erworben haben. Einwan¬derungsländer sind bestrebt, neue Immigranten so schnell wie möglich zu integrieren. Asyl¬suchende, Flüchtlinge und Wanderarbeitnehmer können sich daher nur auf die ihnen zustehenden Schutzrechte berufen und bedürfen eines Schutzes als Minderheit idS nicht. Die völkerrechtliche Literatur ist allerdings nicht einheitlich. Teilweise werden auch die „neuen Minderheiten" in den Anwendungsbereich der Konvention als „nationale Minderheiten" einbe- zogen. Der EGMR hat sich bislang im Wesentlichen im Zusammenhang mit der Versamm- lungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 8 EMR) mit Rechten von Minderheitsangehörigen auf Re-gistrierung beschäftigt.
Die Entwicklung des Minderheitenschutzes in den letzten Jahrzehnten zeigt verschiedene 333 Dimensionen auf. Auf der einen Seite hat sich das Verständnis des Minderheitenschutzes als reines Diskriminierungsverbot – parallel zur Einsicht, dass die Menschenrechte allein den Schutz von Minderheiten nicht bewirken638 – dahingehend entwickelt, dass Minderheiten speziellen Schutz und besondere Förderung brauchen.639 Dieses Ergebnis wird ebenfalls aus dem Diskrimi-nierungsverbot hergeleitet: Eine rein formelle Gleichheit vor dem Gesetz zB beim Wahlrecht kann gerade in den Fällen von (zerstreut lebenden) Minderheiten dazu führen, dass sie in den gesetzgebenden Körperschaften unterrepräsentiert sind.640 Daher wird eine materielle Gleichbe-handlungspolitik gefordert, die eine spezielle Förderung von Minderheiten beinhaltet, um be-stehende Ungerechtigkeiten zu beseitigen641 und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Macht zu ermöglichen. Auf der anderen Seite verschiebt sich die Diskussion über die Schutzrich¬tung internationaler Übereinkommen vom individuellen zum kollektiven Schutz der Minderheiten, dh nicht nur dem einzelnen Angehörigen einer Minderheit werden eigene Rechte zugestanden, sondern auch der Minderheit als solcher kollektive Rechte.642 Der Grund für diesen Wandel ist darin zu sehen, dass ein individueller Schutz ohne kollektive Flanke oft als ungenügend ange¬sehen wird, da der Minderheitenstatus notwendigerweise die Zugehörigkeit zu einer Gruppe impliziert und es einem einzelnen Angehörigen einer Minderheit als Einzelperson schwer fällt, sich dem Assimilierungsdruck zu widersetzen.643 Des Weiteren macht es bei manchen Rechten, die zum Schutz von Minderheiten erforderlich sind, keinen Sinn, sie individualrechtlich zu ge¬währen, da sie typische Gruppenrechte sind wie zB das Recht auf Anbringung von Orts- und Hinweisschildern oder das Recht auf eigene Verwaltungseinheiten.644
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