a) Diplomatischer Schutz
Der diplomatische Schutz umfasst zum einen die Möglichkeit, dem Staatsangehörigen im Aus- 117 land durch diplomatische und konsularische Organe zu helfen (Art 3 I lit b WÜD, Art 5 lit a und e WÜK), zum anderen das Recht eines Staates, zugunsten eines Staatsangehörigen gegenüber fremden Staaten Ansprüche aus der Verletzung völkerrechtlicher Regeln über die Behandlung fremder Staatsangehöriger geltend zu machen. Der Heimatstaat handelt hierbei nach herkömm-licher Theorie nicht als Sachwalter für den Einzelnen, sondern ist selbst Anspruchsträger.
Der Einzelne kann daher nicht auf diplomatischen Schutz verzichten. Die von den latein- 118 amerikanischen Staaten mit Ausländern vereinbarten Calvo-Klauseln, durch welche diese auf den
diplomatischen Schutz verzichten sollten, um im Vergleich zu Inländern nicht besser ge¬stellt zu sein, waren daher völkerrechtlich unbeachtlich. Denkbar ist allenfalls, dass der Ein¬zelne auf ein Recht verzichtet, das andernfalls zu einer Verletzung von Völkerrecht geführt hät¬te. Bevor der Heimatstaat über den diplomatischen Schutz eingreifen kann, muss der Einzelne den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft sowie alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehel¬fe ausgeschöpft haben (local remedies rule).
Ein dritter Staat hat die Ausübung diplomatischen Schutzes nur zu dulden, wenn der Ein- 119 zelne zu dem ausübenden Staat über eine effektive Staatsangehörigkeit (genuine link) verbun¬den ist. Dieser völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz, zunächst in Art 5 der Haager Konvention v 12.4.1930 enthalten, wurde durch die Entscheidung des IGH im Fall Nottebohm bestätigt. Der IGH wies die Klage Liechtensteins gegen Guatemala auf Schadensersatz ab, da der Geschädigte zum einbürgernden Staat keine hinreichend enge Beziehung aufgewiesen habe. Er sei unter Verzicht auf das dreijährige Aufenthaltserfordernis und gegen Zahlung einer Geldsumme einge¬bürgert worden. Abgesehen von Kurzbesuchen bei seinem Bruder in Vaduz seien weitere Bezie¬hungen nicht erkennbar. Demgegenüber habe er 34 Jahre in Guatemala gelebt, entfalte dort wirtschaftliche Aktivitäten und sei nach der Einbürgerung in Liechtenstein auch dorthin zu- rückgekehrt. Zweifelhaft ist, ob diese Auslegung des genuine link durch den IGH von der Staa¬tenpraxis gedeckt ist. Diese geht davon aus, dass ein Staat auch befugt ist, seine Staatsangehö-
rigkeit an Personen zu verleihen, zu denen eine lockere Anknüpfung besteht. Die Auffassung des IGH, die von einer Trennung zwischen der Verleihung der Staatsangehörigkeit und der sich daraus ergebenden Befugnis zur Ausübung diplomatischen Schutzes ausgeht, führt zu einer völkerrechtlich unerwünschten „hinkenden" Staatsangehörigkeit, die völkerrechtlich durch den Heimatstaat nicht in derselben Weise geschützt werden kann wie bei „echten" Staatsangehöri-gen.
120 Die herkömmlichen Regeln über den diplomatischen Schutz von doppelten Staatsangehöri¬gen sind in Art 4 und 5 der Haager Konvention über gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsan-gehörigkeitsgesetzen v 12.4.1930 niedergelegt. Danach darf ein Staat keinen diplomatischen Schutzanspruch zugunsten eines Staatsangehörigen erheben, wenn diese Person zugleich die Staatsangehörigkeit des Staates, gegen den sich der Anspruch richtet, besitzt. Wird ein An¬spruch zugunsten eines eigenen Staatsangehörigen geltend gemacht, der zugleich die Staatsan¬gehörigkeit eines Drittstaats besitzt, so ist nur der Drittstaat zuständig, einen Schutzanspruch zu erheben, wenn er in einer engeren Beziehung zu dem Staatsangehörigen steht. Obwohl diese Regeln weitgehende Anerkennung in der Staatenpraxis gefunden haben, gibt es im Hinblick auf die Entwicklung der neueren Staatenpraxis Anhaltspunkte für eine größere Flexibilität und Abweichungen von den erwähnten Grundsätzen. Im Hinblick darauf, dass die Staatsangehö¬rigkeit als Anknüpfungspunkt generell an Bedeutung verloren hat, sind in der Staatenpraxis in verschiedenen Fällen diplomatische Schutzansprüche auch für Doppelstaater und fremde Staatsangehörige, deren gewöhnlicher Aufenthalt sich auf dem Gebiet des anspruchserheben¬den Staates befindet, geltend gemacht
worden. Nach den Regeln der United Nations Compen¬sation Commission ist eine Regierung auch befugt, neben Ansprüchen zugunsten ihrer Staats¬angehörigen Ansprüche zugunsten solcher Personen zu erheben, die auf ihrem Staatsgebiet wohnhaft sind. Auch die Regel, dass diplomatischer Schutz nicht gegenüber einem Heimat¬staat eines Doppelstaaters ausgeübt werden kann, wird in der Staatenpraxis nicht durchgehend angewendet. Im Canevaro-Fall und später im Fall Mergé wurde durch ein Schiedsgericht der Grundsatz bestätigt, dass ein Heimatstaat diplomatischen Schutz gegenüber einem anderen Staat ausüben kann, der diesen Staatsangehörigen ebenfalls als seinen Staatsangehörigen an¬sieht, sofern die staatsangehörigkeitsrechtliche Verbindung mit dem schutzausübenden Staat als die effektivere angesehen werden kann. Das Canevaro-Prinzip hat in die Staatenpraxis als Bestätigung des Prinzips der effektiven Staatsangehörigkeit Eingang gefunden. So sieht zwar auch der ILC Draft über den diplomatischen Schutz im Grundsatz vor, dass Staaten zugunsten von Doppelstaatern keinen diplomatischen Schutz gegen den anderen Heimatstaat ausüben können (Art 7 ILC Draft). Etwas anderes soll jedoch dann gelten, wenn die Staatsangehörigkeit eines Staates deutlich überwiegt. Bei Doppelstaatern ist daher zu prüfen, zu welchem Staat sie unter Berücksichtigung des gewöhnlichen Aufenthalts, des Mittelpunkts der Lebensführung
und der privaten, wirtschaftlichen und politischen Interessen die engere Beziehung aufwei- sen.
Als eine zweite gewohnheitsrechtliche Regel des diplomatischen Schutzrechts wird im tradi- 121 tionellen Völkerrecht angesehen, dass ein Einzelner nur dann diplomatisch geschützt werden kann, wenn er die Staatsangehörigkeit des einen Anspruch geltend machenden Staates sowohl zur Zeit der Verletzung als auch zur Zeit der Geltendmachung eines Anspruchs besitzt (nationali¬ty rule). Die Staatsangehörigkeit muss daher auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch bestehen. Im Hinblick auf die Entwicklung des Völkerrechts und insbesondere die Anerkennung eines eigenen Rechts des Geschädigten auf Wiedergutmachung wird allerdings zunehmend auch diese Regel in Frage gestellt. Stellt man entscheidend darauf ab, dass es sich im Kern um eine Verletzung eigener Rechte des Geschädigten handelt, die mit der diplomatischen Schutzausübung geltend gemacht werden, könnte argumentiert werden, dass die Situation sich nicht deshalb verändert, weil im Anschluss an die Verletzung die Staats¬angehörigkeit des Betroffenen gewechselt hat. Hiergegen lässt sich einwenden, dass aus Gründen der Rechtssicherheit einiges für die Beibehaltung der traditionellen Regel spricht. De lege ferenda könnte eine Lösung darin liegen, dass der betroffene Einzelne ein Wahlrecht hat, ob sein früherer oder sein jetziger Heimatstaat diplomatischen Schutz ausübt. Ein neuerer Konven¬tionsentwurf amerikanischer Völkerrechtler sieht vor, dass ein Staat diplomatischen Schutz auch zugunsten seiner unlängst eingebürgerten Staatsangehörigen ausüben kann, ohne Rück¬sicht darauf, ob diese möglicherweise zur Zeit der Verletzung noch nicht die amerikanische Staatsangehörigkeit besessen hatten. Dementsprechend sieht der Helms-Burton-Act v 1996 vor, dass die USA zugunsten von ihren Staatsangehörigen, die in Kuba enteignet wurden, diplomati¬schen Schutz auch dann ausüben können, wenn es sich um Staatsangehörige handelt, die zum Zeitpunkt der Enteignung noch kubanische
Staatsangehörige waren. Nach dem ILC-Entwurf gilt grundsätzlich, dass der Geschädigte zwischen dem Zeitpunkt der Schädigung und der Gel¬tendmachung die Staatsangehörigkeit dauerhaft besessen haben muss (Art 5 Nr 1). Ausnahms¬weise soll es aber auch genügen, wenn er die Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Geldendma- chung inne hatte (Art 5 Nr 2). Letztere Ausnahme greift jedoch nicht, wenn Ansprüche gegen den früheren Heimatstaat des Geschädigten geltend gemacht werden sollen (Art 5 Nr 3), oder der Geschädigte nachträglich die Staatsangehörigkeit des schädigenden Staates angenommen hat (Art 5 Nr 4). Auch zugunsten solcher Personen, die niemals die Staatsangehörigkeit des den Schutz ausübenden Staates besessen haben, wird in bestimmten Ausnahmefällen die Ausübung des diplomatischen Schutzes befürwortet, etwa dann, wenn es sich um die Verletzung funda¬mentaler Menschenrechte handelt. Auch zu Gunsten von Flüchtlingen oder staatenlosen Per¬sonen wird in dem ILC-Entwurf über diplomatischen Schutz eine Ausnahme vom Erfordernis der Staatsangehörigkeit zu Gunsten eines ständigen Wohnsitzes gemacht. Die Erosion der her¬kömmlichen Kriterien wird in der Literatur teilweise als Zeichen dafür gewertet, dass das Rechts¬institut des diplomatischen Schutzes in der modernen Völkerrechtsordnung zunehmend obsolet
geworden ist. Die Völkerrechtspraxis stützt diesen Befund jedoch nicht, auch wenn durch die Veränderung der internationalen Schutzmechanismen im Bereich der Menschenrechte zum Teil eine gewisse Abschwächung des herkömmlichen diplomatischen Schutzrechts zu beobachten ist.
122 Darüber hinaus enthält Art 23 AEUV eine Abweichung von der nationality rule für diejeni-gen Unionsbürger, die sich in einem Drittstaat aufhalten, in dem der Heimatstaat keine diploma¬tische Vertretung unterhält: Sie haben das Recht, den Schutz unter denselben Bedingungen in Anspruch zu nehmen wie ein Staatsangehöriger des ersuchten Staates, sofern der Drittstaat dies anerkennt. In der Praxis erfolgt die Zusammenarbeit auf der Grundlage des Beschlusses 95/553/ EG der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten v 19.12.1995 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen und den Beschluss über die von Konsularbeamten zu ergreifenden praktischen Maßnahmen. Beide Beschlüsse sind rechtsverbindlich, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten übernommen worden sind.
123 Im Hinblick auf den diplomatischen Schutz von Unternehmen besteht im Schrifttum noch keine Einigkeit darüber, welche Voraussetzungen für die Annahme einer effektiven Verbindung zwischen
Unternehmen und demjenigen Staat erforderlich sind, der diplomatischen Schutz ge¬währen kann. Der IGH hatte im Fall Barcelona Traction eine „permanent and close connection" zwischen Unternehmen und dem jeweiligen Staat für erforderlich gehalten, wobei im Grundsatz davon auszugehen ist, dass der Gründungsstaat diese Voraussetzung idR erfüllen wird. Auf dieser Linie liegt auch der ILC-Entwurf, wonach grundsätzlich der Staat, nach dessen Rechtsvor¬schriften die Gründung des Unternehmens erfolgte, für den diplomatischen Schutz verantwort¬lich ist. Etwas anderes soll hingegen gelten, wenn ein Unternehmen von Staatsangehörigen eines anderen Staates kontrolliert wird, ohne dass es über substantielle Aktivitäten im Grün¬dungsstaat verfügt, und außerdem die Geschäftsleitung und Anteilseigentümerschaft beide in einem anderen Staat gelegen sind. Sofern diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, soll der Staat, in dem sich die Geschäftsleitung und Anteilseigentümerschaft befinden, für die Zugehö¬rigkeit entscheidend sein. Fehlt es an einer der im ILC-Entwurf genannten Bedingungen, bleibt es bei der Zuständigkeit des Gründungsstaats. Ähnlich wie bei natürlichen Personen ist der ur¬sprüngliche Zuordnungsstaat eines Unternehmens zur Geltendmachung von Ansprüchen nicht mehr befugt, wenn – nach einem Wechsel der Zuordnung – der Staat, gegen den Ansprüche gel¬tend gemacht werden, sein neuer Zuordnungsstaat ist (Art 10 Nr 2 ILC-Entwurf). Hierdurch wur¬den die im Fall Loewen Group Inc v USA von einem Schiedsgericht des ICSID entwickelten Grundsätze in eine allgemeine Bestimmung überführt. Keine Auswirkung auf die Geltendma¬chung von Ansprüchen hat hingegen der Umstand, dass ein Unternehmen nach dem Recht des Gründungsstaats zwischenzeitlich aufgehört hat zu bestehen, sofern Ansprüche wegen der Rechtsverletzung geltend gemacht werden sollen, die zum Untergang des Unternehmens geführt
hat (Art 10 Nr 3 ILC-Entwurf). Obwohl diese Frage in den bisherigen Entscheidungen nicht akut geworden war, gab es Bedenken, welche Folge der durch staatliche Maßnahmen herbeigeführte Untergang eines Unternehmens im Hinblick auf seinen diplomatischen Schutz haben soll. Die in Art 10 des ILC-Entwurfs gefundene Lösung gilt als pragmatisch und auf sehr spezielle Gege-benheiten hin konzipiert, kann aber noch nicht den Anspruch erheben, bereits Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts zu sein.
Zusätzlich zum Schutz von Unternehmen bestehen Fragen im Hinblick auf den diplomati- 124 schen Schutz von Anteilseignern. Hierbei herrscht nach den vom IGH im Fall Barcelona Traction aufgestellten Grundsätzen die Auffassung vor, dass der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die Anteilseigner besitzen, generell nicht befugt ist, diplomatischen Schutz zu gewähren, da es auf den Gründungsstaat des Unternehmens ankommt. Somit sind Anteilseigner grundsätzlich auf den diplomatischen Schutz verwiesen, den das jeweilige Unternehmen genießt. Nach den Be-stimmungen des ILC-Entwurfs soll nur dann etwas anderes gelten, wenn (a) das Unternehmen nach dem Recht des Gründungsstaats aufgehört hat zu bestehen, oder (b) das Unternehmen im Zeitpunkt der Schädigung als notwendige Voraussetzung für dortige geschäftliche Tätigkeiten über die Staatszugehörigkeit desjenigen Staates verfügen musste, von dem angenommen wird, dass er für die schädigende Handlung zuständig war (Art 11 ILC-Entwurf). Diese Ausnahmen können dazu führen, dass mehrere Staaten, deren Staatsangehörigkeit Anteilseigner innehaben, sich dazu aufgerufen sehen, diplomatischen Schutz auszuüben. Allerdings sollen nach den Vor¬stellungen der ILC in diesen Fällen die berechtigten Staaten
ihre Aktivitäten koordinieren und darauf achten, dass diejenigen Staaten, in denen sich die Mehrheit oder jedenfalls ein Großteil der Anteile befindet, an der Geltendmachung beteiligt sind. Darüber hinaus ist der Staat, des¬sen Staatsangehörigkeit die Anteilseigner besitzen, zu diplomatischem Schutz befugt, wenn eine unerlaubte Handlung sich als direkte Verletzung der den Anteilseignern als solchen zustehen¬den Rechte darstellt, die sich von denen des Unternehmens unterscheiden. Wie der IGH ent¬schied, handelt es bei diesen den Anteilseignern unmittelbar zustehenden Rechten um Befug¬nisse im Zusammenhang mit der Organisationsgewalt sowie der Aufsicht und Geschäftsleitung des Unternehmens, um Teilnahme- und Stimmrechte in Unternehmensgremien und individuelle Ansprüche auf Auszahlung angemessener Anteile im Falle der Liquidation. Obwohl die Auf¬zählung nicht abschließend ist, weist der Wortlaut des Art 12 des ILC-Entwurfs darauf hin, dass es vor allem darauf ankommt, dass diese Befugnisse unabhängig von den dem jeweiligen Unter¬nehmen zustehenden Rechtspositionen existieren müssen. Mithin wird eine tendenziell restrik¬tive Auslegung durch die Gerichte vorzunehmen sein. Dies zeigte sich zuletzt in der IGH- Entscheidung im Diallo-Fall, mit welcher der Gerichtshof die in Barcelona Traction und ELSI aufgestellten Grundsätze bestätigte, dabei jedoch betonte, dass der diplomatische Schutz für Anteilseigner nicht als Ausnahme vom allgemeinen Rechtsregime zu betrachten sei, wenn es denn um Rechtspositionen ginge, die diesem unmittelbar selbst und unabhängig vom jeweiligen Unternehmen zustünden.
a) Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
125 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist heute grundsätzlich als Teil des geltenden Ge-wohnheitsrechts anerkannt. Es ist in Art 1 Nr 2 und Art 55 UN-Charta genannt und diente vor allem aufgrund der Resolution 1514 (XV) der UN-Generalversammlung v 14.12. 1960 als Grundla¬ge für den Dekolonisierungsprozess. 1966 wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Menschenrechten in den gleichlautenden Art 1 der beiden Menschenrechtspakte vorangestellt. Den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts umschreibt die Friendly Relations Declaration der UN¬Generalversammlung v 14.10.1970 (Res 2625 [XXV]).
126 Außerhalb des Dekolonisierungsprozesses unterscheidet man zwischen innerem und äuße¬rem (offensivem) Selbstbestimmungsrecht. Kraft des inneren Selbstbestimmungsrechts kann ein Staatsvolk frei und ohne Einmischung von außen über seinen politischen Status entscheiden und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung frei gestalten. Zusätzlich enthält dieses Recht eine
demokratische Komponente dergestalt, dass hierunter auch das Recht eines Volkes fällt, seine Eigenarten zu bewahren und zu pflegen. Diese Rechte gleichen denen der An¬gehörigen von Minderheiten (vgl u Rn 324 ff). Eine Minderheit kann dann als Volk angesehen werden, wenn sie auf einem geschlossenen Territorium lebt, eine zur Staatenbildung geeignete Größe aufweist, auf diesem Territorium die ausschließliche oder doch deutliche Mehrheitsbe¬völkerung darstellt, und es sich um ein traditionelles Siedlungsgebiet handelt.
127 Während des Dekolonisierungsprozesses war das Selbstbestimmungsrecht gleichbedeutend mit dem Recht auf einen eigenen politischen Status, dh mit einem Recht auf Loslösung aus dem bisherigen Kolonialstaat. Das äußere Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker wurde in er-heblichem Maße durch die Verpflichtung zur Respektierung der bestehenden Grenzen (uti possi- detis-Prinzip) eingeschränkt. Als der Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts auf alle Völker ausgedehnt wurde, stellte sich die Frage, ob damit allen Völkern ein Recht auf Sezes¬sion zusteht. Zunächst könnte man meinen, ein solches Sezessionsrecht ließe sich aus der Friendly Relations Declaration ableiten. Doch wird das Recht auf Sezession abgelehnt und nur in Ausnahmefällen zugelassen, wenn zB die Existenz eines Volkes durch ein Verbleiben im Staats¬verband bedroht ist.
Auch aus der jüngeren Staatenpraxis in Mittel- und Osteuropa lässt sich kein generelles Se- 128 zessionsrecht ableiten. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass auch die nunmehr selbstän¬dig gewordenen Staaten mit Problemen der Desintegration durch Sezessionsbestrebungen von Minoritäten zu kämpfen haben.260 Diesen Eindruck unterstreicht auch der Umgang mit der Un-abhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17.2.2008.261 Zwar wurde der Kosovo mittlerweile von mehr als 90 Staaten anerkannt, dabei wurde jedoch sorgsam vermieden, sich ausdrücklich auf die Grundlage dieser Unabhängigkeit – ein mögliches Recht zur Sezession – zu beziehen.262
Ein Auseinanderbrechen von Staaten durch Dismembration oder Sezession (s u Rn 176 ff) 129 wird aber jedenfalls dann anerkannt, wenn dies wie bei der Auflösung der CSFR zum 1.10.1993 friedlich erfolgt. Schwieriger ist die Lage dann, wenn die Unabhängigkeit aufgrund des Selbst-bestimmungsrechts wie in Berg-Karabach, in Abchasien oder Tschetschenien gewaltsam durch-gesetzt werden soll.263 Um solche Konflikte zu vermeiden, muss ein Ausgleich zwischen der terri¬torialen Integrität bestehender Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gefunden werden. Durch rechtzeitig gewährte Autonomie können Sezessionsbestrebungen vermieden werden.264 Aufgrund des einheitlichen Menschenrechtsstandards und des Ausbaus des Minder¬heitenschutzes bietet sich diese Möglichkeit gerade im europäischen Raum an. Nur im Ausnah¬mefall schwerer Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen würde dann das innere Selbstbestimmungsrecht im Notfall auch zu einem äußeren Selbstbestimmungsrecht erstarken.265 Und selbst dann ist davon auszugehen, dass eine Sezession nur als ultima ratio zulässig ist, wenn alle anderen Lösungsmöglichkeiten gescheitert sind oder keine Aussicht auf Erfolg ha- ben.266 Der Generalsekretär der UNO hat dem Sicherheitsrat am 17.6.1992 eine Agenda for Peace unterbreitet, die zur Konfliktvermeidung das Mittel der vorbeugenden Diplomatie nennt.267 Trotz der noch durch die Kolonialerfahrung geprägten Aggressionsdefinition, die es nahe legt, den
Kampf eines Volkes um das Selbstbestimmungsrecht als Ausnahme vom Gewaltverbot zu deu-ten, wird in der Staatenpraxis jedenfalls ein Eingreifen von Drittstaaten in nationale Befreiungs¬kriege, die mit dem Anspruch eines Volkes auf Selbstbestimmung geführt werden, als Verstoß gegen das Gewaltverbot angesehen.
130 Wie das Beispiel des Kosovo zeigt, sind mit der Begründung eines äußeren Selbstbe-stimmungsrechts durch schwere Diskriminierungen oder gravierende Menschenrechtsverletzun-gen jedoch weitere Fragen verbunden. So bestehen Zweifel, ob die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo v 17.2.2008 noch auf die von serbischer Seite im Jahr 1999 und davor begangenen Menschenrechtsverletzungen gestützt werden konnte. Andere Stimmen im Schrifttum gehen auch bei erheblicher zeitlicher Distanz von einem Fortwirken früherer Gewaltmaßnahmen einer¬seits bzw einer Verwirkung infolge Souveränitätsmissbrauchs andererseits aus, die einen Ver¬bleib im Staatsverband dauerhaft unzumutbar machen können. Allerdings tritt die einseitige Ausübung des äußeren Selbstbestimmungsrechts hinter Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats zurück, wie sie im Fall des Kosovo mit der Resolution 1944 und der Einsetzung eines internatio¬nalen Verwaltungsregimes (UNMIK) erfolgt sind.
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