a) Staatsähnliche Völkerrechtssubjekte
160 Zu den staatsähnlichen Völkerrechtssubjekten gehören Staatenverbindungen unterschiedlicher Art wie Protektorate oder die ehemaligen Treuhands- und Mandatsgebiete. Definiert wird die Staatenverbindung als ein auf eine gewisse Dauer angelegtes Rechtsverhältnis zwischen zwei oder mehreren Staaten, wobei idR ein gewisser Grad an Organisation und eine gewisse institu¬tionelle Verfestigung – wie bei einem Bundesstaat oder einem Staatenbund zu finden – voraus¬gesetzt wird.
161 Ein Bundesstaat ist eine staatsrechtliche Staatenverbindung, bei der der Bund als Völker¬rechtssubjekt am völkerrechtlichen Verkehr teilnimmt. Die Gliedstaaten, in den USA States, in der Schweiz Kantone, in Deutschland Länder genannt, besitzen nicht die völkerrechtliche Rechtsstellung von Staaten; ihnen kommt allenfalls eine potentielle partielle Völkerrechtssub¬jektivität zu. Dies hängt davon ab, inwieweit ihnen die gesamtstaatliche Verfassung ein unab¬hängiges Handeln auf völkerrechtlicher Ebene gestattet.
162 Ein einheitliches oder gar allgemeingültiges Modell des Bundesstaats existiert nicht. So können die Funktionen von Gesamtstaat und Gliedstaaten klar voneinander getrennt sein, wie dies in den USA der Fall ist. Es ist aber auch möglich, dass sich die Funktionen wie etwa in Deutschland überschneiden, wo die Länder nach Art 83 GG Gesetze des Bundes im Regelfall als eigene
Angelegenheiten ausführen, und Gerichte der Länder auch für die Anwendung von Bun-desrecht zuständig sind.
163 Die bundesstaatliche Ordnung Deutschlands ist in Art 20 Abs 1 GG verankert. Art 32 Abs 1 GG bestimmt, dass die Pflege der Beziehungen zu ausländischen Staaten dem Bund obliegt. Die Länder können nach Art 32 Abs 3 GG mit Zustimmung der Bundesregierung Verträge mit auswär¬tigen Staaten auf Gebieten schließen, auf denen sie gesetzgebungsbefugt sind. Ein Bsp für einen solchen Vertrag ist das Abkommen v 27.10.1969 über den Schutz des Bodensees gegen Verunrei¬nigung, bei dem sowohl Baden-Württemberg als auch Bayern Vertragspartner sind.
Beabsichtigt der Bund, sich völkerrechtlich in Bereichen der Länderkompetenzen zu ver- 164 pflichten, muss er zuvor entsprechend der im sog Lindauer Abkommen v 14.11.1957 getroffenen Durchführungsregelung die Zustimmung der Länder einholen.
Ein Staatenbund ist eine Staatenverbindung auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Ver- 165 trags. Die Mitglieder behalten ihre Völkerrechtssubjektivität bei; ihre Beziehungen sind durch Völkerrecht geregelt. Im Gegensatz zum Bundesstaat existiert keine Zentralregierung, doch verfügt der Staatenbund, der selbst Völkerrechtssubjekt ist, über eigene, von den Mitgliedstaa¬ten getrennte Organe zur Erfüllung der gemeinsamen im Bundesvertrag umschriebenen Aufga¬ben. Ein Bsp für einen Staatenbund ist der Deutsche Bund (1815–1866). Kein Staatenbund ist der Commonwealth of Nations.
Eine zwischenstaatliche I. O. beruht auf einer Vereinigung von zwei oder mehr Staaten 166 durch einen völkerrechtlichen Gründungsvertrag. Die I. O. wird in diesem Vertrag mit der selb-ständigen Wahrnehmung von Aufgaben betraut. Neben diesen ausdrücklich genannten Aufga¬ben kommen der Organisation diejenigen Kompetenzen zu, die zur Erfüllung der vertraglich festgelegten Aufgaben notwendig und mit eingeschlossen sind (implied powers). Außerdem muss die I. O. zumindest ein handlungsbefugtes Organ haben.
Die Völkerrechtssubjektivität der Mitgliedstaaten bleibt erhalten; allerdings kann die völ- 167 kerrechtliche Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden, sofern Aufgaben und Funktionen, die herkömmlicherweise von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden, nunmehr durch die I. O. erfüllt werden. Das Prinzip der Staatengleichheit führt im Allgemeinen zu einer Stimmengleich¬heit innerhalb der I. O. Eine Sonderstellung unter den I. O. nimmt wegen ihrer umfangreichen Aufgaben die UNO ein.
Nicht in die Gruppe der I. O. gehören die multilateralen diplomatischen Konferenzen. Sie 168 können sich jedoch allmählich zu einer Organisation weiterentwickeln, wie das Beispiel der OSZE zeigt. Die Schaffung einer Organisation ist im Budapester Dokument v 5./6.12.1994 ent¬halten, das der KSZE neue Dynamik verleihen sollte. Die seit 1.1.1995 bestehende OSZE ist ein
Hauptinstrument zur Frühwarnung, Konfliktverhütung sowie Krisenbewältigung in der Region. Daneben wurde zusätzlich zu den bereits bestehenden Einrichtungen wie dem Sekretariat in Prag und dem Hohen Kommissar für Minderheiten ein Vergleichs- und Schiedsgerichtshof in Genf beschlossen, dessen konstituierende Sitzung am 29.5.1995 stattfand.
3. O. wie die EU weisen einen höheren Grad an Integration auf als die übrigen I. O. Sie verfü- 169 gen über weitergehende Kompetenzen wie etwa die Befugnis, für die Mitgliedstaaten bindende Beschlüsse – auch gegen den Willen einzelner Mitglieder – zu fassen. Beschlüsse gelten in den
Mitgliedstaaten unmittelbar ohne staatliche Durchführungsmaßnahmen, und es besteht eine effektive Möglichkeit der Durchsetzung dieser Beschlüsse (zB durch innerstaatliche Gerichte oder Klagen vor einem Gericht der S. O.). Daneben existieren weisungsunabhängige (quasi-)par- lamentarische Organe und gerichtliche Organe mit obligatorischer Gerichtsbarkeit.
170 In Europa wurde im Anschluss an die Einheitliche Europäische Akte v 1.7.1987 am 7.2.1992 in Maastricht der Vertrag über die Europäische Union unterzeichnet, der durch den Amsterdamer Vertrag v 2.10.1997 und den Vertrag von Nizza v 26.2.2001 modifiziert wurde. Hinsichtlich der Rechtsqualität der EU stellte das BVerfG fest, dass durch den Unionsvertrag ein Staatenver¬bund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Eu¬ropas (vgl Art 1 Abs 2 EU aF) begründet werde, jedoch kein sich auf ein europäisches Staatsvolk stützender Staat. Nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags (2004) wurde am 13.12.2007 der Vertrag von Lissabon unterzeichnet, der sich seit dem 1.12.2009 in Kraft befin- det. Ungeachtet der zwischenzeitlichen Entwicklungen stellt die EU nach Auffassung des BVerfG weiterhin lediglich einen Staatenverbund dar, dessen Befugnisse auf einer Vereinbarung der Mitgliedstaaten und der von diesen enumerativ übertragenen
„Zuständigkeiten zur Verwirk¬lichung ihrer gemeinsamen Ziele" beruhen (Art 1 Abs 1 EUV).
5. Entstehung und Untergang von Staaten
a) Entstehung und Untergang von Staaten
171 Staaten wurden früher auf unbesiedeltem Gebiet bzw in Gebieten gegründet, die nach damaliger Vorstellung von nichtzivilisierten Völkern besiedelt waren. Heute entstehen Staaten durch Veränderungen des bisherigen Staatengefüges. Diese können entweder gegen den Willen eines Staates erfolgen oder mit dessen Zustimmung, wie der Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundes¬republik Deutschland zeigt (vgl u Rn 216 ff).
172 An Entstehung und Untergang von Staaten werden hohe Anforderungen gestellt, um eine größtmögliche Stabilität auf völkerrechtlicher Ebene zu gewährleisten. Territoriale Veränderun-gen allein haben auf den Bestand eines Staates keinen Einfluss, wie der Grundsatz der bewegli-chen Vertragsgrenzen zeigt (vgl u Rn 191 ff). Ebenso wirken sich Verfassungsänderungen, Revo¬lutionen oder Regierungswechsel auf Bestand oder Identität eines Staates nicht aus. Notwendig
für einen Untergang ist vielmehr, dass das Staatsgebiet oder das Staatsvolk auf Dauer und gänz¬lich verloren geht.
Einen Sonderfall stellen Staaten dar, die gewaltsam einem anderen durch Annexion einver- 173 leibt wurden. Erlangen solche Staaten nach einigen Jahren wieder ihre Unabhängigkeit und Souveränität, werden diese wiederhergestellten Staaten im Wege der juristischen Fiktion als mit dem früheren Staat identisch angesehen. Zu den wiederhergestellten Staaten zählen Öster¬reich und die baltischen Staaten. Die Annahme, dass die Unabhängigkeit nicht kraft Sezession von der früheren UdSSR erfolgt sei, sondern dass es sich um die Wiederherstellung des früheren annektierten Staates gehandelt habe, wird bei der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung deutlich.
Bei der Entstehung und dem Untergang von Staaten können Prozesse der Integration und 174 der Desintegration unterschieden werden.
Eine Integration kann durch Fusion oder Inkorporation erfolgen. Eine Fusion liegt vor, wenn 175 sich zwei oder mehrere bisher unabhängige Staaten zu einem neuen Bundes- oder Einheitsstaat auf der Ebene der Gleichberechtigung zusammenschließen. Auf diese Weise sind der Norddeut¬sche Bund und 1870 das Deutsche Reich entstanden. Bei einer Inkorporation tritt ein Staat in einen bestehenden Staatsverband ein. Um Aufnahme in den US-amerikanischen Staatsverband ersuchten Texas und Hawaii 1845 bzw 1898.
Ein Auseinanderbrechen bestehender Staaten ist durch Sezession oder durch Dismembra- 176 tion möglich (zu den neuen mittel- und osteuropäischen Staaten Rn 183 ff). Dismembration liegt vor, wenn ein Staat in zwei oder mehrere Nachfolgestaaten zerfällt und der Vorgängerstaat voll-ständig untergeht. In der Geschichte fand eine Dismembration beim Auseinanderfall des Hei-ligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 – sofern man dieses als Staat bezeichnet – oder 1832 im Fall von Großkolumbien statt, das in die drei Staaten Neugranada, Venezuela und Ecua¬dor zerfiel. Bei einer Sezession löst sich ein Teilgebiet aus einem bestehenden Staatsverband, um sich einem anderen Staat anzuschließen oder um einen eigenen unabhängigen und souveränen Staat zu gründen.
Bei einer Sezession besteht der Vorgängerstaat auf einem verkleinerten Gebiet im neuen 177 Rechtsstatus unverändert weiter. Auch wenn die Sezession in Art 72 der Verfassung der Sowjet¬union v 7.10.1977 und in der Präambel der Verfassung Jugoslawiens v 21.2.1974 enthalten war, gibt es dennoch kein allgemeines, aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker resultierendes Recht auf Sezession (s o Rn 125 ff). Die Bsp für Sezessionen sind zahlreich, betrachtet man die Staatenentstehung in Asien und Afrika. Voraussetzung dafür, dass die neue Einheit einen Staat bildet, ist eine tatsächliche Unabhängigkeit. Dies bedeutet, dass die Herrschaftsgewalt eine aus-reichende Stabilität und Effektivität aufweisen muss.
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