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3. Das völkerrechtliche Fremdenrecht a) Einführung

Unter völkerrechtlichem Fremdenrecht versteht man Regelungen über die Rechtsstellung von 280 Ausländern, dh denjenigen Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats besitzen. Die Staaten sind bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtslage grundsätzlich frei. Allerdings müssen sie die Grenzen beachten, die sich aus zwischenstaatlichen Verträgen wie etwa Freundschafts-, Handels- oder Schifffahrtsverträgen oder aus Völkergewohnheitsrecht ergeben, wonach dem Ausländer ein Mindeststandard an Rechten zu gewähren ist.
Sonderregelungen gelten auf zwischenstaatlicher Ebene für Wanderarbeitnehmer. Neben 281 Empfehlungen der ILC wurde hier im Rahmen der UNO die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer v 18.12.1990 erarbeitet, die u a menschliche Ar-beitsbedingungen und einen arbeitsrechtlichen Mindeststandard fordert. Seit dem 1.7.2003 ist die UN-Wanderarbeitnehmer-Konvention in Kraft getreten; sie verfügt über 46 Vertragsparteien (Stand Dezember 2012), vorzugsweise Entsendestaaten, jedoch nur wenige Empfangsstaaten. Die BR Deutschland ist bislang weder Signatar- noch Vertragsstaat der UN-Wanderarbeitneh¬mer-Konvention geworden.
Im europäischen Raum sind das Europäische Niederlassungsabkommen v 1955, die EMRK 282 und die ESC zu beachten. Ein weitergehender Schutz der Wanderarbeitnehmer wurde 1977 mit der 1983 in Kraft getretenen Europäischen Konvention über die Rechtsstellung der Wanderar- beitnehmer ausgearbeitet. Ferner finden sich Vorschriften über die Freizügigkeit und die Nie¬derlassungsfreiheit in Art 45 ff und 49 ff AEUV.
Die Rechtsstellung der Staatenlosen ist Gegenstand des Übereinkommens v 28.9.1954, das 283 Deutschland 1976 ratifizierte. Art 7 verpflichtet jeden Vertragsstaat, den Staatenlosen die gleiche Behandlung zukommen zu lassen, wie er sie Ausländern allgemein gewährt. Art 31 schränkt die Befugnis des Aufenthaltsstaats bei Ausweisungen ein.
a) Die Einreise von Ausländern
Es besteht keine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht, Ausländern die Einreise in das eigene Ho- 284 heitsgebiet zu gestatten. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um einen befristeten oder unbe-fristeten Aufenthalt im Hoheitsgebiet handelt, oder ob lediglich eine Durchreise beabsichtigt ist. Noch nicht hinreichend geklärt ist die Frage, inwieweit nach der Einreise das Recht eines Aufenthaltsstaats zur Beschränkung oder Beendigung des Aufenthalts völkerrechtlichen
Schranken unterliegt. Die Befugnis, den Aufenthalt eines Ausländers räumlich zu beschrän¬ken, hat der EuGH selbst im Falle von Unionsbürgern aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anerkannt, wenn anderenfalls eine Ausweisung zur Gefahrenabwehr zulässig wäre. Anerkannt ist, dass aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit und Moral der weitere Aufenthalt eines Ausländers eingeschränkt werden kann.
285 Im Völkerrecht nachweisbar ist das korrelierende Recht eines Staatsangehörigen, sein Hei-matland verlassen zu dürfen. Es findet sich in Art 13 der AEMR v 1948, in Art 2 Abs 2 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK, in Art 18 Nr 4 der ESC, in der Straßburger Erklärung über das Recht auf freie Ausreise und Rückkehr v 26.11.1986 sowie in Art 4 Abs 1 des Europäischen Ab¬kommens über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer. Nr 9.5 des Kopenhagener Ab¬schlussdokuments des OSZE-Folgetreffens v 29.6.1990 bestimmt ebenfalls, dass Beschränkun¬gen der Ausreise den Charakter von seltenen Ausnahmen haben müssen und nur dann als notwendig angesehen werden können, wenn sie einem öffentlichen Bedürfnis und der Errei¬chung eines legitimen Ziels dienen.
286 Der in zahlreichen Verträgen niedergelegte Familienschutz gewährt kein allgemeines Zu-zugsrecht für Ehegatten oder andere Familienmitglieder. Beim Familiennachzug ist der EGMR bislang davon ausgegangen, dass Art 8 EMRK keinen Anspruch enthält, im Ausland lebende Ehegatten und minderjährige Kinder nachzuholen, wenn die Möglichkeit besteht, die Familien-einheit in einem anderen Staat herzustellen. Er hat jedoch unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Nachzugsrecht minderjähriger Kinder bejaht, wenn eine Rückkehr der Familie als un¬zumutbar anzusehen ist und der Nachzug eines im Herkunftsstaat zurückgelassenen minderjäh¬rigen Kindes zur
Integration in die Familieneinheit erforderlich erscheint.
a) Die Rechtsstellung von Ausländern
287 Fremde, die sich auf dem Hoheitsgebiet eines Staates aufhalten, unterliegen grundsätzlich in vollem Umfang der dort geltenden Rechtsordnung, sofern es sich nicht um Diplomaten, Staats¬oberhäupter oder Angehörige der Streitkräfte fremder Staaten handelt (s o Rn 43 ff).
288 Das Völkergewohnheitsrecht gebietet, Ausländern einen Mindeststandard zu gewähren, so¬fern sich aus Vertragsrecht wie etwa Art 18 AEUV keine darüber hinausgehenden Rechte erge¬ben. Die Theorie der Inländergleichbehandlung, wie sie sich im lateinamerikanischen Bereich entwickelte, um eine bevorzugte Behandlung fremder Staatsangehöriger zu vermeiden, konnte im allgemeinen Völkerrecht nicht Fuß fassen.
Der völkerrechtliche Mindeststandard umfasst einen Grundbestand an Rechten, den jeder 289 zivilisierte Staat dem Einzelnen zuerkennen muss. Hierzu gehört das Recht auf Rechtsfähig¬keit und Rechtssubjektivität, das Recht auf Teilnahme am Wirtschaftsleben, das Recht auf Le¬ben, körperliche Unversehrtheit und Sicherheit der Person, auf Gleichheit vor dem Gesetz und vor Gericht, sowie das Recht auf ein geordnetes Verfahren. Ein Recht auf Freizügigkeit ist auch nach rechtmäßiger Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufenthaltsstaats nicht nachweisbar, auch wenn es in einigen Verträgen wie Art 12 IPbürgR oder Art 20 EMRK enthalten ist. Zwar besteht noch weitgehende Unklarheit über den tatsächlichen Umfang von Rechten, die unrechtmäßig aufhältigen Ausländern eingeräumt werden müssen. Unbestritten ist jedoch, dass auch diese un¬geachtet ihres rechtswidrigen Aufenthaltsstatus über ein Mindestmaß individueller Rechte ver- fügen.
Grundsätzlich ist auch Ausländern ein Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungs- und 290 Vereinigungsfreiheit zuzugestehen. Allerdings kann die politische Betätigung von Ausländern auch bei der Ausübung dieser Rechte eingeschränkt werden (vgl Art 16 EMRK). Ausländer haben auf Grund ihrer Nichtzugehörigkeit zum politischen Staatsverband kein Recht, sich an der poli¬tischen Willensbildung in gleicher Weise zu beteiligen wie Inländer. In der Praxis spielen die in nationalen Rechtsvorschriften niedergelegten besonderen Schranken für die politische Betäti¬gung von Ausländern nur eine relativ geringe Rolle. Für Staatsangehörige der EU entfallen der¬artige Beschränkungen auf Grund ihrer unionsrechtlich gewährleisteten Unionsbürgerschaft jedenfalls in dem Bereich, in dem es sich nicht um
den nur Inländern vorbehaltenen Bereich der internen politischen Willensbildung handelt.
a) Die Ausweisung von Ausländern
Es steht den Staaten frei, den Aufenthalt von Ausländern auf ihrem Hoheitsgebiet zu beenden. 291 Die Aufforderung zum Verlassen kann mit der Androhung verbunden werden, die Ausweisung notfalls zwangsweise durch Abschiebung vorzunehmen.
Völkergewohnheitsrechtliche Beschränkungen der Ausweisung sind nicht nachweisbar, ins- 292 besondere gibt es kein Verbot der Ausweisung, sofern es sich nicht um Kollektivausweisungen handelt (vgl zB Art 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK). Der EGMR definiert die Kollektivaus-weisung als Maßnahme einer Behörde, durch die Ausländer als Gruppe zur Ausreise gezwungen werden, außer wenn eine solche Maßnahme nach und nach auf der Grundlage einer angemes¬senen und objektiven Prüfung des Einzelfalls erfolgt. Im Fall der gleichzeitigen Ausweisung zahlreicher Angehöriger der Volksgruppe der Roma durch die belgischen Ausländerbehörden hat der EGMR trotz individueller Ausweisungsentscheidungen eine Verletzung von Art 4 des 4. Zusatzprotokolls mit dem Argument angenommen, es habe sich um ein gleichartiges Verfah¬ren auf Grund der Gruppenzugehörigkeit gehandelt.
In formeller Hinsicht fordert etwa die UN-Wanderarbeitnehmer-Konvention v 1990 das Vor- 293 liegen einer Ausweisungsentscheidung in Übereinstimmung mit der Rechtslage. Die Entschei-
dung müsse in einer dem Betroffenen verständlichen Sprache und auf Verlangen schriftlich er-gehen und mit einer Begründung versehen werden. Es müsse danach eine Möglichkeit zur Über¬prüfung bestehen, während der die Aufschiebung der Ausweisungsvollstreckung beantragt werden könne.
294 Im europäischen Raum bestimmen Art 1 und Art 2 des Europäischen Abkommens über die Befreiung vom Visumszwang v 13.12.1957, dass Staatsangehörige der Vertragsstaaten in einen anderen Staat einreisen und in diesem bis zu einer Dauer von sechs Monaten verbleiben können, ohne dass sie einen Reisepass oder ein Visum benötigen. Diese Bestimmung ist nach Art 1 Abs 3 auch anwendbar bei Personen, die einer Erwerbstätigkeit unter drei Monaten nachgehen wollen. In der Konvention über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer ist darüber hinaus vorgese¬hen, dass die Aufenthaltserlaubnis für die Dauer der gültigen Arbeitserlaubnis, bei unbefristeter Arbeitserlaubnis um mindestens ein Jahr, verlängert werden soll. Beschränkungen der Möglich¬keit zur Ausweisung wurden ferner vom EGMR anhand von Art 3 und Art 8 EMRK entwickelt. Er entschied, dass ein Vertragsstaat einen jungen Ausländer, der zusammen mit seiner Familie im Aufenthaltsstaat lebt und den größten Teil seiner Jugend im Aufenthaltsstaat verbracht hat, selbst bei Begehung zahlreicher Straftaten nicht ausweisen dürfe.
295 Der in Art 8 EMRK garantierte Schutz des Privatlebens und der Familie gewährleistet nach der
Rechtsprechung des EGMR kein allgemeines Recht auf Nachzug von Familienangehörigen eines in einem fremden Staat wohnhaften ausländischen Staatsangehörigen. Art 8 EMRK gewährt weder ein Recht darauf, den Ort zu wählen, der am Besten geeignet ist, ein Familienleben aufzubauen, noch verpflichtet er einen Vertragsstaat dazu, die von einem Ehegatten getroffene Wahl des ge¬meinsamen Wohnsitzes zu achten und den Aufenthalt von ausländischen Paaren zu dulden. Der Vorschrift kann
auch nicht ein allgemeines Verbot entnommen werden, einen ausländischen Staatsangehörigen abzuschieben, weil er sich seit einer geraumen Zeit im Hoheitsgebiet des Ver¬tragsstaats aufhält. Nur ausnahmsweise kann ein sehr langer geduldeter Aufenthalt, ohne dass ein gesichertes Aufenthaltsrecht ausgestellt worden wäre, dazu führen, dass die Vorenthaltung eines Aufenthaltstitels Art 8 verletzt. Art 8 EMRK kann aber durch aufenthaltsbeendende Ma߬nahmen, die eine bestehende Familieneinheit zerstören (Auslieferung, Ausweisung, Abschie¬bung, Nichtverlängerung des Aufenthaltsrechts), verletzt sein. Auch das Recht des Staates, über Einreise und Aufenthalt von Ausländern zu entscheiden, wird deshalb durch das Gebot, die Fami¬lie zu schützen, eingeschränkt. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen müssen daher auf einer ge¬rechten Abwägung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung (zB Verhinderung von Straftaten) und den privaten Interessen an der Führung eines Familienlebens beruhen. Der EGMR geht in st Rspr davon aus, dass die Abschiebung, Auslieferung oder Ausweisung von Aus¬ländern, die im Gaststaat aufgewachsen oder dort geboren sind, und die keine Verbindungen mehr zu ihrem Herkunftsstaat haben, nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist. Danach kann Art 8 EMRK sogar in Fällen einer Ausweisung wegen zahlreicher gravierender Straftaten verletzt sein, wenn ein Ausländer der zweiten oder dritten Generation die Sprache seines Her-kunftsstaats nicht mehr spricht und dort keine Verwandten mehr hat.
296 Die ILC hat im Jahre 2012 die erste Lesung eines Konventionsentwurfs über die Ausweisung von Ausländern behandelt, der einen generellen Rechtsrahmen für diese Fragen vorsieht. So wird in Art 3 des Entwurfs zwar das grundsätzliche Recht von Staaten zur Ausweisung aner-
kannt, gleichzeitig werden jedoch Konstellationen genannt, in denen eine Ausweisung verbo¬ten ist. Dies gilt etwa für Ausweisungen aus Gründen der nationalen Sicherheit (Art 6 No 1 ILC- Entwurf) oder für den Zeitraum nach Beantragung einer Anerkennung als Flüchtling (Art 6 No 2 ILC-Entwurf). Außerdem wird ein umfangreiches Refoulement-Verbot statuiert, sofern im Falle einer Ausweisung Gefahren für Leben und Freiheit der betroffenen Person wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen oder sozia¬len Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen bestehen (Art 6 No 3 ILC-Entwurf). Diese Einschränkungen gelten allerdings dann nicht, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die Sicherheit des jeweiligen Staates darstellt, oder wenn sie infolge einer rechtskräftigen Verurteilung für ein besonders schweres Verbrechen eine Gefahr für die jeweilige Gesellschaft darstellt. Staatenlose sollen grundsätzlich nicht aus Gründen der nationalen Sicherheit oder im Hinblick auf die öffentliche Ordnung ausgewiesen werden (Art 7 ILC-Entwurf). Ferner sind auch Kollektivausweisungen, mittelbare Ausweisungen und Ausweisungen zur Beschlagnah¬mung von Vermögenswerten untersagt (Art 10 ff ILC-Entwurf). Im Weiteren werden umfangrei¬che Rechtspositionen der betroffenen Personen (Art 14 bis 16 ILC-Entwurf) wie auch Rechts¬pflichten der ausweisenden und aufnehmenden Staaten (Art 17-20 sowie Art 21-25 ILC-Entwurf) statuiert. Hervorzuheben sind ausführliche Bestimmungen über die Unterbringung von Aus¬ländern, die ausgewiesen werden sollen (Art 19 ILC-Entwurf), in denen der nicht-strafende Cha¬rakter der Ausweisungshaft hervorhoben wird. Abgeschlossen wird der ILC-Entwurf durch pro¬zessuale Gewährleistungen bis hin zum Suspensiveffekt von Rechtsmitteln (Art 27 ILC-Entwurf). In unverkennbarer Anlehnung etwa an Rechtsakte der EU (zB RL 2008/115) hat die ILC damit zahlreiche flüchtlingsrechtliche Desiderate der Gegenwart zusammengefasst. Offen bleibt in¬dessen, ob die Staaten sich bereit finden werden, diese über die bisherigen völkerrechtlichen Verpflichtungen hinausgehenden Bestimmungen im Rahmen einer Konvention verbindlich zu machen.