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a) Die Nachfolge in völkerrechtliche Verträge

Die Konvention über die Nachfolge in völkerrechtliche Verträge geht vom Grundsatz der Kon- 191 tinuität vertraglicher Pflichten aus. Hiervon ausgenommen sind die newly independent states, die unabhängig von den durch den Kolonialstaat geschlossenen Verträgen with a clean slate (tabula rasa) ihre Existenz beginnen sollten. Art 17 räumt ihnen jedoch die Möglichkeit ein, multilatera¬len Verträgen beizutreten (free choice doctrine).
Für den Fall einer Zession enthält Art 15 in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Völker- 192 recht den Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen (moving treaty frontiers). Hiernach erstre-cken sich Verträge des Gebietserwerbers automatisch auf das neue Gebiet, und Verträge des Vorgängerstaats sind nicht mehr anwendbar. Unberührt von der Staatensukzession bleiben Grenzverträge, Verträge, die ein Grenzregime betreffen, sowie die sog radizierten Verträge wie etwa solche über Transitrechte.
Der Grundsatz der Kontinuität vertraglicher Pflichten fand Eingang in Art 153 des Verfas- 193 sungsgesetzes Nr 4 des tschechischen Nationalrats über die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Untergang der CSFR und in entsprechenden Bestimmungen der slowakischen Verfassung.
Die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion garantierten in Art 12 des Minsker GUS- 194 Gründungsabkommens die Erfüllung internationaler Verpflichtungen. Dies wurde in der Erklä-rung von Alma-Ata mit dem Zusatz „entsprechend ihrer Verfassungsprozeduren" übernommen.
Am 6.7.1992 einigten sich die GUS-Staaten darauf, dass bei multilateralen Verträgen von allge¬meinem Interesse keine gemeinsamen Beschlüsse gefasst werden sollten, sondern dass jeder GUS-Staat selbständig über die Fortgeltung entscheiden könne. Bei bilateralen Verträgen, die für mindestens zwei Staaten von Interesse sind, sollte eine zwischenstaatliche Einigung gesucht werden. Sondervereinbarungen wurden für Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge getrof¬fen.
195 Bei der Nachfolge in Mitgliedschaftsrechte in I. O. findet keine automatische Nachfolge statt.
Neue Staaten müssen vielmehr um Aufnahme ersuchen. So behielt etwa nach der Sezession Pakistans von Indien 1947 und der Loslösung Bangladeschs von Pakistan 1971 der ursprüngliche Staat seine mitgliedschaftlichen Rechte bei, während die sezessionierten Staaten um Aufnahme ersuchen mussten. Nach dem Zerfall der UdSSR setzte die Russische Föderation die Mitglied¬schaft
der UdSSR in den UN-Organen fort, während die neuen GUS-Staaten, mit Ausnahme der bisherigen UN-Mitglieder Ukraine und Weißrussland, als neue Mitglieder aufgenommen wur-den.
a) Die Nachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive, Staatsschulden und Haftungsansprüche
196 Die Nachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden ist Gegenstand der Wiener Konvention v 8.3.1983. Der Aufbau entspricht der Konvention v 1978. Zusätzlich wird zwischen dem Vermögen, den Archiven und den Schulden getrennt.
197 Das Staatsvermögen des Vorgängerstaats wird in Art 8 als Vermögen, Rechte und Interessen definiert, die im Zeitpunkt der Staatennachfolge gemäß innerstaatlichem Recht des Vorgänger¬staats diesem gehörten. Eine Unterscheidung zwischen dem Verwaltungsvermögen und dem nicht unmittelbar zur Aufgabenerfüllung benötigten Finanzvermögen trifft die Konvention nicht.
198 Grundsätzlich geht das gesamte Vermögen auf den Nachfolgestaat über, sofern keine anders lautende Vereinbarung getroffen wurde. Liegt eine Zession oder Separation vor, geht das gesam¬te auf dem betreffenden Gebiet belegene unbewegliche Vermögen auf den Gebietsnachfolger über. Dasselbe gilt für das bewegliche Vermögen, das mit einer Aktivität des Vorgängerstaats in Bezug auf das abgetretene oder abgetrennte Territorium in Zusammenhang steht.
199 Staatsarchive, die für die Verwaltung des betreffenden Gebiets notwendig sind, gehen un-abhängig von der Art und Weise des Gebietswechsels auf den Nachfolgestaat über (sog Betreff¬prinzip). Dies gilt auch für den Teil der Staatsarchive, der ausschließlich oder hauptsächlich das Staatennachfolgegebiet betrifft.
200 Zu den Staatsschulden gehören nach Art 33 die in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht entstandenen finanziellen Verpflichtungen. Grundsätzlich führt ein Übergang von Staatsschul-den dazu, dass Verpflichtungen des Vorgängerstaats erlöschen und Verpflichtungen des Nach-folgestaats entstehen. Hinsichtlich des Umfangs bestimmt Art 37 für die Zession und Art 40
für die Dismembration, dass ein Übergang der zwischenstaatlichen Schulden in einem angemes-senen Verhältnis stattfindet.
Bei der Auflösung der Tschechoslowakei wurde bereits am 13.11.1992, dh noch vor dem Auf- 201 lösungsgesetz, ein Verfassungsgesetz über die Aufteilung des Vermögens zwischen der Tsche-chischen Republik und der Slowakischen Republik verabschiedet. Nach diesem Gesetz gingen das unbewegliche Vermögen sowie das bewegliche Vermögen, das in Zusammenhang mit der Zweckbestimmung des unbeweglichen Vermögens stand, auf die Teilrepublik über, in der es sich befand. Eine Aufteilung nach dem Anteil an der Gesamtbevölkerung fand in allen übrigen Fällen statt.
Ausgenommen vom Übergang sind Schulden, deren Übernahme dem Nachfolgestaat nicht 202 zugemutet werden kann, weil sie in Widerspruch zu dessen wesentlichen Interessen stehen, etwa Kriegsanleihen zur Niederschlagung eines Aufstands (sog dettes odieuses oder odious debts). Als
Merkmale solcher nicht im Einklang mit dem Völkerrecht stehender Schulden wer¬den genannt, dass sie von einem diktatorischen Regime (1) zu Zwecken aufgenommen wurden, die dem Gemeinwohl und den Interessen der Bevölkerung zuwiderlaufen (2). Schließlich müs¬sen diese Umstände dem Kreditgeber bewusst gewesen sein (3). Bspw hat die US-Regierung nach der Besetzung des Iraks die Auffassung vertreten, dass der neu konstituierte irakische Staat nach den Grundsätzen der „odious debts-Doktrin" nicht für die Schulden haftbar sein soll, die in der Herrschaftszeit Saddam Husseins (1979–2003) aufgenommen wurden. Allerdings werfen die genannten Merkmale auch Fragen auf. So hängt es von wertenden Einschätzungen ab, ob zugewendete Finanzmittel tatsächlich „interessenwidrig" verwendet wurden. Ferner ist unge¬klärt, welche Beweisanforderungen an Kenntnisse des Kreditgebers um belastende Umstände und interessenwidrige Verwendung im Schuldnerstaat anzulegen sind. Beides zeigt, dass die „odious debts-Doktrin" in der praktischen Anwendung großen Schwierigkeiten begegnet, die dazu geführt haben, dass sich noch kein Staat in einem Gerichtsverfahren erfolgreich hierauf berufen konnte.
Besonders schwierige Rechtsfragen ergeben sich bei der Staatensukzession im Hinblick auf 203 Haftungsansprüche aus deliktischem Handeln (obligations arising from an internationally wrongful act), die Drittstaaten gegenüber dem ursprünglichen Staat inne haben. Nach dem Be-richt der ILC besteht in dieser Frage bislang noch keine hinreichende Klarheit, was auch durch die jüngere Staatenpraxis bestätigt wird. Dabei sind grundsätzlich drei Möglichkeiten für eine rechtliche Behandlung denkbar: (1) Die Haftungsansprüche gehen mit dem ursprünglichen Staat unter, so dass der nachfolgende Staat hierfür nicht haftet (clean slate-/tabula rasa-Theorie). (2) Nach einer anderen Auffassung gehen etwaige deliktische Ansprüche vollständig auf den fort-bestehenden (Rest-)Staat über (universal succession) und können ihm gegenüber geltend ge-macht werden. (3) Schließlich werden Haftungsansprüche nach einer weiteren Theorie nur teil-weise auf den durch Sukzession entstandenen Staat übertragen (partial succession). Während in Anschluss an einschlägiges Case Law des frühen 20. Jhs und den Grundgedanken persönli¬cher Verantwortung in der Völkerrechtswissenschaft lange Zeit vor allem die clean slate- oder tabula rasa-Theorie vertreten wurde, führte das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, Jugos¬lawiens und der Tschechoslowakei in
jüngerer Zeit zu differenzierteren Ansätzen. Dabei spie¬len die Natur der infrage stehenden Ansprüche, der Verlauf der Staatensukzession sowie seine Begleitumstände eine entscheidende Rolle. Im Hinblick auf die „Nachfolge" der früheren Sozia¬listischen BR Jugoslawien wurden Fragen der Staatensukzession zwischen den selbständig ge¬wordenen Republiken Serbien und Montenegro (bis 2006), Kroatien, Slowenien und Bosnien- Herzegowina zB im Rahmen einer umfassenden völkerrechtlichen Vereinbarung (2001) gere- gelt. Zur Frage von Haftungsansprüchen Dritter hieß es darin, ein Gemeinsames Komitee der beteiligten Vertragsparteien werde solche Ansprüche „berücksichtigen". Wenn damit auch das Schicksal der einzelnen Ansprüche nicht geklärt ist, zeigt sich hierin eine zumindest ansatzwei¬se Abkehr von der clean slate-Theorie.
a) Staatennachfolge und Staatsangehörigkeit
204 Die Frage, ob und ggf welche Regeln des allgemeinen Völkerrechts über den Wechsel der Staatsangehörigkeit bei einem Gebietsübergang bestehen, ist umstritten. Nach einer vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten Auffassung folgt die Staatsangehörigkeit der Bevölke¬rung dem Wechsel der territorialen Souveränität, dh die Bevölkerung eines Gebiets, das von der Herrschaft eines Staates in die eines anderen übergeht, verliert automatisch ihre bisherige Staatsangehörigkeit und erwirbt die des neuen Staates. Die hM in Literatur und Rechtspre¬chung lehnt diese Auffassung zu Recht ab. Die Staatenpraxis zeigt bis in die neueste Zeit zu starke Schwankungen und Ungleichmäßigkeiten, um als Basis für eine entsprechende Regel des Völkergewohnheitsrechts herangezogen werden zu können. Der Praxis der Staaten der ehemaligen Sowjetunion, der Tschechoslowakei und der beim Auseinanderbrechen Jugosla¬wiens lässt sich entnehmen, dass die meisten Staaten dem Grundsatz folgen, dass der Wechsel der Souveränität über ein Gebiet auch den Wechsel der Staatsangehörigkeit der dort lebenden Personen zur Folge hat, wobei allerdings in einigen Staaten die Staatsangehörigkeit des Vor¬gängerstaats oder eine bestimmte Aufenthaltsdauer im Staatsgebiet Voraussetzung waren. Bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen wurden vom Erwerb auch sich im Ausland befindliche Personen erfasst, sofern sie eine bestimmte Beziehung zum Inland, zB die Geburt eines Eltern-
teils im Hoheitsgebiet des neuen Staates, vorweisen konnten, oder eine Zwangsausbürgerung vorausgegangen war. Der Wille des Einzelnen wurde in vielen der neuen Staaten berücksichtigt, jedoch lässt sich eine einheitliche Praxis hinsichtlich Einräumung eines Optionsrechts nicht nachweisen.
Sowohl der Vorschlag der ILC als auch die Draft Declaration on the Consequences of State 205
Succession for the Nationality of Natural Persons v 14.9.1996 der European Commission for Democracy Through Law des Europarats bestätigen diese Staatenpraxis im Wesentlichen. Art 1 des Entwurfs enthält ein Recht des Einzelnen auf Staatsangehörigkeit. In Art 5 ist die Ver-mutung enthalten, dass die Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem von der Staatensukzession betroffenen Gebiet haben, mit dem Übergang die Staatsangehörigkeit des Nachfolgestaats erwerben. Der Wille des Einzelnen findet in Art 11 Berücksichtigung. Weitere Bestimmungen betreffen u a die Einheit der Familie und die Staatsangehörigkeit von Kindern. Art 15 enthält den Grundsatz der Nichtdiskriminierung; Art 16 verbietet willkürliche Entschei¬dungen, Art 17 enthält verfahrensrechtliche Vorgaben. Im Rahmen seines zweiten Teils orientiert sich der Entwurf der ILC an den Wiener Konventionen v 1978 und 1983 und unterscheidet zwi¬schen verschiedenen Tatbeständen der Staatennachfolge.
In Art 18 Abs 1 EuStAngÜbk findet sich die Verpflichtung der Staaten, in Staatsangehörig- 206 keitsangelegenheiten in Fällen der Staatennachfolge, insbesondere um Staatenlosigkeit zu ver-meiden, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die Vorschriften der Menschenrechte und die in Art 4 und 5 des Übereinkommens und in Art 18 Abs 2 enthaltenen Grundsätze, zu denen die ech¬te und tatsächliche Beziehung des Betroffenen zum Staat, der gewöhnliche Aufenthalt des Be¬troffenen zur Zeit der Staatennachfolge, der Wille des Betroffenen und die territoriale Herkunft des Betroffenen gehören, zu beachten.