Skip to main content

3. Das Staatsgebiet a) Territoriale Souveränität und Gebietshoheit

131 Entgegen der früher vertretenen Ansicht wird das Staatsgebiet nicht als Eigentum des Staates betrachtet. Es stellt vielmehr den Bereich dar, in dem ein Staat ausschließlich räumlich zustän¬dig ist (Kompetenztheorie). Der Schiedsrichter Max Huber umschrieb die territoriale Sou¬veränität im Fall Island of Palmas als „the exclusive competence of the state in regard to its own territory in such a way as to make it the point of departure in settling most questions that con¬cern international relations."
132 In Anlehnung an das Bürgerliche Recht und die dort getroffene Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz wird zwischen der territorialen Souveränität und der Gebietshoheit unter- schieden. Unter der Gebietshoheit eines Staates versteht man die tatsächliche Herrschaft, während die territoriale Souveränität über die Gebietshoheit hinaus das Recht des Staates auf das von ihm beherrschte Gebiet erfasst.
133 Territoriale Souveränität und Gebietshoheit können auseinander fallen, wenn ein Staat ei¬nem anderen Rechte über sein Gebiet oder einen Teil des Gebietes einräumt, ohne dadurch seine endgültige Verfügungsbefugnis aufzugeben. Hier werden Servituten und Verwaltungszessionen unterschieden. Durch eine Servitut erhält ein anderer Staat einzelne Rechte über ein fremdes Staatsgebiet. Sie hat dinglichen Charakter, ist an das jeweilige Gebiet geknüpft und wirkt gegen¬über dritten Staaten. Zu den Servituten zählen vor allem Grenzzollämter und Grenzbahnhöfe. Aufgrund einer
Verwaltungszession kann ein Staat ein Gebiet insgesamt regieren und verwalten, ohne dass der die Rechte einräumende Staat dadurch seine territoriale Souveränität verliert.
Ein Bsp für eine Verwaltungszession ist der zwischen den USA und Panama am 18.11.1903 134 geschlossene, die Herrschaft über den Panama-Kanal betreffende Hay-Varilla-Vertrag. Trotz die¬ser Verwaltungszession blieb Panama territorialer Souverän, was in einem neuen Vertrag v 1974 bestätigt wurde. Am 7.9.1977 wurde die Vereinbarung v 1903 dahingehend geändert, dass den USA bis zum 31.12.1999 nur noch einzelne Rechte zustanden.
Üben mehrere Staaten die territoriale Souveränität gemeinsam aus, spricht man von einem 135 Kondominium. Ein solches existierte etwa zwischen Österreich und Preußen v 1864 bis 1866 über Schleswig-Holstein. Ein gemeinschaftliches Hoheitsgebiet wurde im Vertrag v 19.12.1984 zwi¬schen der BR Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über den Verlauf der gemein¬samen Grenze für Mosel, Sauer und Our vereinbart. Als Koimperium bezeichnet man die gleichzeitige Ausübung der Gebietshoheit.
a) Erwerb und Verlust von Staatsgebiet
Beim Erwerb und Verlust von Staatsgebiet durch bestehende Staaten orientiert sich das Völker- 136 recht ebenfalls an zivilrechtlichen Kategorien. Unterschieden wird zwischen der Okkupation, der Eroberung, der Zession, der Ersitzung oder Anschwemmung und der Adjudikation, wobei diese Tatbestände wiederum zwei Gruppen, nämlich dem originären und dem derivativen Erwerb zugeordnet werden können. Eine eindeutige Zuordnung eines Erwerbs auf völkerrechtlicher Ebene zu einer der Kategorien kann im Einzelfall jedoch schwierig sein, da zB ein Gebiets¬erwerb aufgrund eines Friedensvertrags auch Elemente einer Eroberung oder Zession aufwei¬sen kann. Die Versuche, neue Kategorien zu bilden, haben sich bislang nicht durchsetzen kön- nen.
Ist unklar, wer territorialer Souverän eines bestimmten Gebietes ist, wird in der Staatenpra- 137 xis darauf abgestellt, welcher Staat nach einem eventuellen Erwerb die Herrschaft in diesem Gebiet effektiv ausübt (Grundsatz der Effektivität). Die Regelungsdichte, die vorliegen muss, richtet sich nach dem Einzelfall. So kann berücksichtigt werden, ob es sich um leicht zugängli¬ches und bewohntes Gebiet oder aber um unzugängliches Gebiet handelt.
Der Grundsatz der Effektivität war auch Gegenstand des Rechtsstreits Island of Palmas, als 138 sich die USA und die Niederlande über die Zugehörigkeit einer Insel im philippinischen Archipel stritten. Die USA stützten ihren Anspruch darauf, dass die Insel von Spanien entdeckt worden sei und die Philippinen 1898 von Spanien an die USA abgetreten worden seien. Von dieser Ab¬tretung sei auch die Insel „Island of Palmas" wegen ihrer Nähe zum philippinischen Archipel umfasst gewesen. Die Niederlande verwiesen darauf, dass sie und nicht die USA über einen lan¬gen Zeitraum die tatsächliche Herrschaft ausgeübt hätten. Der Schiedsrichter Max Huber stellte hier fest, „that the continuous and peaceful display of territorial sovereignty (peaceful in rela¬tions to other States) is as good as title."
Der Erwerb von Staatsgebiet durch Okkupation setzt die Inbesitznahme eines Gebiets sowie 139 den Willen des okkupierenden Staates zur effektiven Ausübung der Herrschaft voraus („the in-tention and will to act as sovereign, and some actual exercise or display of such authority"). Ein Gebietserwerb kommt nur in Betracht, wenn das betreffende Gebiet vom Gebietsvorgänger aufgegeben wurde, oder es sich um ein solches handelt, das zuvor noch keiner territorialen Sou-veränität unterstand (terra nullius). Ein Gebietserwerb durch Okkupation ist nicht möglich,
wenn das Gebiet wie der Weltraum oder die Hohe See als res communis von vornherein keiner Aneignung unterliegt.
140 Neben der Okkupation führte früher auch die Annexion eines Staates zum Gebietserwerb. Unter Annexion versteht man den einseitigen Akt eines Staates, durch den dieser fremdes Staatsgebiet gegen den Willen des betroffenen Staates zu seinem eigenen macht. Annexionen verstoßen heute gegen das Gewaltverbot in Art 2 Nr 4 UN-Charta. Daher wurde zB die Invasion des Irak in Kuwait verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat forderte den Irak zunächst auf, seine Truppen aus Kuwait zurückzuziehen und erklärte die Annexion im August 1990 für null und nichtig. Zugleich wurden die Staaten aufgefordert, die Annexion nicht anzuerkennen und von Handlungen Abstand zu nehmen, die als Anerkennung derselben verstanden werden könnten.
141 Darüber hinaus kann eine Ersitzung (Preskription) oder Anschwemmung zu Gebietserwerb führen. Erstere erfordert den Willen zum Gebietserwerb sowie die tatsächliche Ausübung der Gebietshoheit über längere Zeit. Voraussetzung ist weiter, dass der erwerbende Staat gutgläu¬big ist und der Gebietsvorgänger nicht protestiert. Auf Ersitzung stützte Großbritannien auch seinen Gebietsanspruch im Falkland-Konflikt, obwohl Argentinien seine Gebietsansprüche for¬mell nicht aufgegeben hatte.
142 Staatsgebiet kann auch durch Zession erworben werden. Diese kann auf einem Kaufvertrag, einem Gebietstausch oder einer Schenkung beruhen. Oftmals dienen Zessionen dazu, Grenzen zu bereinigen. Str ist, zu welchem Zeitpunkt das Gebiet auf den Gebietsnachfolger übergeht. In Betracht kommt ein Übergang mit Ratifikation des der Zession zugrunde liegenden Vertrags oder mit tatsächlicher Inbesitznahme durch den Nachfolgestaat.
143 Gebietserwerb ist schließlich durch Adjudikation möglich, dh durch die Entscheidung eines internationalen Gerichtshofs, Schiedsgerichts oder einer Staatenkonferenz.
144 Der Verlust von Staatsgebiet kann durch Dereliktion erfolgen. Das in Frage stehende Gebiet kann anschließend als terra nullius von anderen Staaten besetzt und durch Okkupation erwor¬ben werden. Dingliche Belastungen wie Servitute bleiben jedoch bestehen und gehen auf den Gebietsnachfolger über. Gebietsübergang kann auch durch Verzicht erfolgen. So hat zB der phi¬lippinische Präsident Marcos 1977 während einer ASEAN-Sitzung auf die Republik von Sabah verzichtet (heute Gliedstaat von Malaysia).
145 Keine Gebietsaufgabe wurde im Warschauer Vertrag v 7.12.1970 zwischen der BR Deutsch¬land und Polen vorgenommen. Zwar wird in Art 1 die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen den Vertragsstaaten festgelegt, ein Verzicht konnte aber nur von einem Vereinten Deutschland er-klärt werden. Eine endgültige Regelung der Grenzen wurde nach der Wiedervereinigung auf¬grund des Zwei-plus-Vier-Vertrags v 12.9.1990, dem Zustimmungsgesetz zum Zwei-plus-Vier¬Vertrag v 11.10.1990 sowie den deutsch-sowjetischen und deutsch-polnischen Vereinbarungen erreicht.