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Zweites Kapitel Kriminologische Entwicklungsrichtungen und Theorien

Obwohl die Gesellschaft seit ihren Anfängen Verbrechen kennt, sich Dichter, Richter und Gesetzgeber im Laufe der Jahrtausende immer wieder mit als kriminell geltenden Handlungen beschäftigt haben, sind deren Entstehungsgründe umstritten. Entsprechendes gilt für die Antworten der Gesellschaft auf das Verbrechen. Trotz partieller Informationsfülle sowie bedeutsamer Fortschritte in der Datenerhebung und -analyse bestehen wenig gesichertes Erfahrungswissen und nur geringe Erfolge in der Kriminalitätsverhütung. Dies stimmt mitunter resignierend. Manchen Betrachtern erscheint die steigende Verbrechensentwicklung, sei es als Tribut der Freiheit oder aktueller der Modernisierung, als unbeeinflußbar. Weithin scheint man sich auf eine gewisse Kriminalitätsbelastung eingerichtet zu haben. Man atmet auf, wenn die als „normal“ zu erwartende Verbrechensrate nicht erheblich überschritten wird. Doch mit der Zurückweisung des Gesetzes konstanter Verhältnisse ist zugleich die Annahme von der Konstanz des Verbrechens zu verwerfen. Dies bedeutet nicht, sich mit der gegenwärtigen Verbrechensbelastung fatalistisch abfinden zu müssen, wohl aber sich mehr auf dynamisch gefaßte Konzepte der Verbrechensanalyse einzustellen und ferner bereit zu sein, auch ohne herkömmlich gesicherte Zurüstung wissenschaftliches Neuland zu betreten. Liefert daher die Wissenschaft für Entstehung, Entwicklung und Struktur der Kriminalität die einleuchtende Erklärung, so scheint zwar nicht alles zum Besten bestellt, aber doch erträglicher zu sein.

§4 Entwicklungsrichtungen moderner Kriminologie
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Geschichte und Kriminologie: Was kann der historische Zugang für Untersuchungen kriminologischer Fragestellungen leisten? In: Literatur, Kriminalität und Rechtskultur im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Böker. Dresden 1996, 36-53; Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136-149; Bussmann/Kreissl (Hrsg.), Kritische Kriminologie in der Diskussion. Opladen 1996; Ferri, I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale. Bologna 1881; Garland, Penal Modernism and Postmodernism. In: Punishment and Social Control. Essays in Honor of Sheldon L. Messinger, ed., by Blomberg u.a. New York 1995, 181-209; Göppinger/ Vossen (Hrsg.), Humangenetik und Kriminologie. In: KrimGegfr 16 (1984); Kaiser, Abolitionismus — Alternative zum Strafrecht? In: FS für Lackner. Berlin u.a. 1987, 1027-1046; ders./Kury/Albrecht (Eds.), Victims and Criminal Justice. Victimological Research: Stocktaking and Prospects. Freiburg 1991; Krüger (Hrsg.), Kriminologie. Eine feministische Perspektive. Pfaffenweiler 1992; Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962 (deutsch: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1979°); Lösel, Kriminologische Forschungsperspektiven aus psychologischer Sicht. In: Entwicklungstendenzen kriminologischer Forschung: Interdisziplinäre Wissenschaft zwischen Politik und Praxis, hrsg. v. Kury. Köln u.a. 1986, 65-91; Ouensel, Krise der Kriminologie: Chancen für eine interdisziplinäre Renaissance? MschrKrim 72 (1989), 391-412; Sack, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Wege der Reflexion einer Disziplin. In: Zukunftsperspektiven der Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Savelsberg. Stuttgart 1989, 71-141; ders., Das Elend der Kriminologie und Überlegungen zu seiner Überwindung. In: Strafe, Strafrecht, Kriminologie, hrsg. v. Robert. Frankfurt/M. 1990, 15-55; Savelsberg, Die Zukunft der Kriminologie — Neue Perspektiven in der kriminologischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland in den 90er Jahren. MschrKrim 70 (1987), 89-111; Taylor/Walton/Young, The New Criminology. For a Social Theory of Deviance. London u.a. 1973; Vierhaus, Historische Kriminologie in der neuen Kriminalsoziologie. MschrKrim 73 (1990), 137-162.

  1. Kriminologischer Paradigmawechsel und seine Folgen
    Wissenschaftliche Auffassungen finden weite Anerkennung und genie- Ben großes Ansehen, wenn sie innerhalb der Disziplin nicht angefochten sind. Doch entspricht es normaler Wissenschaftsentwicklung, wenn von Zeit zu Zeit die alten Denkstrukturen fragwürdig werden und zerbrechen. So spiegelt auch kriminologisches Denken heute den Aufgaben- und Theorienwandel der letzten Jahrzehnte wider. An Zweifeln, wachsender Kritik und Neuentwürfen werden die Veränderungen sichtbar. Dabei kann das Attribut „kritisch“ natürlich nicht meinen, daß die Kritik erst mit der dahingehenden Selbsteinschätzung einer Denkrichtung entstanden ist. Vielmehr kennzeichnet es nur eine Phase innerhalb der Wissenschaftsentwicklung. Derartige Veränderungen pflegt man in Anlehnung an Kuhn (1979, 122, 147 f.) als Paradigmawechsel auszudrücken. Auch im Laufe der kriminologischen Wissenschaftsgeschichte ist wiederholt eine neue Konzeption gefordert, vermutet und beschrieben worden. Das Spektrum reicht von den „neuen Horizonten“ im Sinne Ferris (1881) bis zur „neuen Kriminologie‘ von Taylor/Walton/Young (1973). Daran läßt sich überdies erkennen, daß „neue Kriminologie‘ nicht erst eine Bezeichnung der siebziger Jahre ist. Vielmehr wird deutlich, daß fast jede Generation mit „ihrer“ Kriminologie auftritt, die sie als „neu“ und selbstverständlich „kritisch“ begreift. So brach auch Ende der sechziger Jahre in der kriminologischen Diskussion der Bundesrepublik ein Streit aus, der in seiner Grundsätzlichkeit und Heftigkeit alle bisherigen kriminologischen Erörterungen in der Nachkriegszeit in den Schatten stellte. Die Kontroverse wurde von einer Richtung ausgelöst und genährt, die Bezeichnungen wie „Labeling approach‘ ebenso abdeckt wie „neue“, „Kritische“ oder „radikale“ Kriminologie.

Die überragende Bedeutung und internationale Ausstrahlungskraft dieser neueren Entwicklungen bestehen vor allem

  • inder Blickschärfung für bisher kriminologisch vernachlässigte Aspekte der strafrechtlichen Sozialkontrolle, einschließlich Verbrechensbegriff, Strafverfahren und stigmatisierende Sanktionen, ® außerdem in der Entdeckung von Herrschaft und Macht für die kriminologische Analyse, sei es durch Ideologiekritik am Strafrecht als dem Herrschaftsund Disziplinierungsinstrument mächtiger Interessengruppen, durch Betonung der sozialen Ungleichheit oder sei es durch Blickschärfung für die „Kriminalität der Mächtigen“, insbesondere durch „Makrokriminalität“, Amtsmißbrauch und Anwendung der Folter (vgl. unten “ 23). ®e Die Bedeutung liegt ferner in der Erweiterung und Dynamisierung des kriminologischen Forschungsspektrums, nicht zuletzt durch Untersuchung der Handlungs- und Entscheidungsmuster von Polizei, Kriminaljustiz, Strafvollzug und Bewährungshilfe. ° Schließlich ist die Skepsis gegenüber der Aussagekraft von Kriminal- und Rechtspflegestatistik als Indikator für die wirkliche Kriminalität belangvoll sowie die Umdeutung kriminalstatistischer Daten zum Indikator für die Verbrechenskontrolle (dazu unten „“ 19 f.).

Aber auch die Kehrseite der neueren Richtungen, soweit sie von Labeling approach, Konfliktperspektive und kritischer Kriminologie getragen werden, läßt sich nicht verkennen. Zu deren Mängelprofil gehört vor allem

  • die sowohl theoretische als auch empirische Vernachlässigung der sogenannten Primärabweichung, also die Entstehung, die Struktur und der Umfang des Verbrechens, einschließlich des Dunkelfelds. ® Ferner wird die Erforschung und Behandlung des Täters als sinnlos verworfen. °e Sinngemäß das gleiche gilt für die Verbrechensopfer als die offenbar „Ohnmächtigen“, deren Stellung, Schäden und Belange zunächst keine Forschungsaufgabe darstellen. ° Dieser Sichtweise liegt offensichtlich eine Neigung zu theoretisch übermäßiger Vereinfachung zugrunde, indem die Erklärung kriminellen Verhaltens im wesentlichen im politisch-ökonomischen Machtverhältnis gesucht wird. ® Daraus folgt wiederum die Überbetonung eines politisch verstandenen Aktionismus mit streng futuristischer Orientierung bis hin zu Entwürfen „konkreter Utopie“ und des sog. Postmodernismus, der inzwischen auch die Kriminologie erreicht hat (kritisch Garland 1995, 181 ff.). ® Damit verbinden sich die Entbehrlichkeit empirischer Überprüfung und die Vernachlässigung erfahrungswissenschaftlicher Forschung. ® Soweit Versuche zu empirischer Überprüfung unternommen werden, greift man häufig auf „weiche“ Beobachtungsverfahren wie teilnehmende Beobachtung oder bei historischen Analysen auf essayistische Darstellungsweisen zurück. e Nicht nur wegen der unterstellten Ubiquität des Verbrechens und Sinnlosigkeit der Täterforschung, sondern vor allem aus Opposition gegenüber einer Reformorientierung oder aus Kritik an der Modernität des Strafrechts werden Resozialisierung und Behandlung verworfen. Diese Strategien könnten das Strafrecht „legitimieren“, die bestehende kapitalistische Machtstruktur stärken und zu einer Art „Korrektionalismus‘ führen. ° Im übrigen wird die „Behandlungsorientierung“, zum Teil in Anlehnung an Foucault, einseitig in Abhängigkeit vom „medizinischen Modell“ als Ausdruck wachsender Medikalisierung gesehen. Diese erscheint besonders im Hinblick auf die favorisierten Analysen der politökonomischen Machtstrukturen als verfehlt.

2. Neue Strukturen der Kriminologie
Wo stehen wir nun? Befindet sich die moderne Kriminologie etwa „am Scheideweg“ (so etwa Göppinger 1997, VIL ff.)? Die Bestandsaufnahme zeigt folgende Aspekte:

Welches das Konzept sein mag, wie theoriegeleitet oder theorielos kriminologische Forschung international auch ist, überall und stets befaßt sie sich neben dem Verbrechen, der Persönlichkeit des Rechtsbrechers und der Opfersituation auch mit den Instanzen und Handlungsmustern der Verbrechenskontrolle. Alle Definitionsfragen, Diagnose- und Sanktionsprobleme hängen mit der Problematik dieser Gegenstände zusammen. Dies gilt ferner für die wichtigsten Entwicklungstendenzen, für deren Erfassung Begriff, Aufgabe und Rolle der Kriminologie sowie Erkenntniswandel, Gegenstand und Ansätze die Orientierungspunkte liefern.

Insgesamt betrachtet haben sich Begriffe und Forschungsbereich der Kriminologie erheblich ausgeweitet. Verbrechensbegriff und Einrichtungen der Verbrechenskontrolle werden nicht mehr so wie ehemals fraglos hingenommen. Auch Verbrechensopfer, Anzeigeerstatter, Polizei und Strafverfahren sind in die kriminologische Analyse einbezogen. Erst mit der Aufnahme rechtssoziologischer Fragestellungen ist die Kriminologie zur umfassenden Wirklichkeitswissenschaft des Strafrechts geworden. Zu dieser Ausweitung des Blickfeldes hat der sogenannte Labeling approach oder soziale Reaktionsansatz erheblich beigetragen (dazu unten “ 14, 2). Freilich kann sich Kriminologie nicht darin oder in einer „Strafrechtssoziologie“ (so aber Sack 1990, 27 ff.) erschöpfen (siehe auch den Diskussionsbericht über „die Zukunft der Kriminologie“ von Savelsberg 1987, 89 ff.).

Aufgrund des erweiterten Blickfeldes, insbesondere wegen der erörterten Aspekte des Verbrechensbegriffes und der Verbrechenskontrolle, hat die nur täterorientierte Analyse an Bedeutung verloren. Mag diese Veränderung auch auf dem Zuwachs vornehmlich sozialwissenschaftlich ausgebildeter Forscher und der dadurch mitbedingten Zuwendung zu anderen Fragestellungen beruhen, so lassen sich doch fortbestehende Bedürfnisse, die Persönlichkeit des Rechtsbrechers in ihrem Umfeld zu untersuchen, nicht übersehen. Ort und Aufgabe der Strafrechtspflege und des Strafvollzugs, aber auch der Bewährungs- und Jugendhilfe, machen Diagnose, Prognose und individualisierende Behandlung mehr denn je erforderlich. Selbst die partiell mögliche Überwindung von Mängeln traditioneller Handhabung durch sozialpolitisch wirksame Gestaltung und größere Rechtsstaatlichkeit können doch nur teilweise zu überlegenen Problemlösungen führen. Auch dann bleiben die Fragen, was die Gesellschaft mit Gewalt-, Verkehrs- und Wirtschaftskriminellen tun und wie sie die negativ sozialauffälligen Jugendlichen behandeln soll. Um der Zurechnung, Gleichheit und Wirksamkeit, um rationaler und humaner Behandlung willen kann man auf die Beurteilung der straffälligen Persönlichkeit nicht verzichten. Fraglich kann nur sein, ob der bisherige Stand der Persönlichkeitsforschung den neuen Einsichten kriminologischen Denkens schon ausreichend Rechnung trägt.

Mit der Blickschärfung für den Verbrechensbegriff und die Probleme der Verbrechenskontrolle werden freilich auch die politischen Implikationen sichtbar und bleibt infolgedessen kriminalpolitische Kritik nicht aus. Wird die gegenwärtige Praxis als anstößig empfunden und tritt man engagiert für die Veränderung der sozialen Verhältnisse ein, so läßt die Polarisierung auch im kriminologischen Bereich nicht auf sich warten. Daher wird die Aufgabe der Kriminologie heutzutage praxisbezogener und vor allem politischer verstanden, als dies seit Jahrzehnten der Fall war. Dies äußert sich als Kritik an der „etatistischen“ Grundorientierung der Kriminologie und selbst in dem neuentdeckten Interesse an der Geschichte, das sich von den weit zurückreichenden Ansätzen historischer Kriminologie teilweise grundlegend unterscheidet. Gleichwohl gehört die historisch- kriminologische Untersuchung zum festen Bestand heutiger Wissenschaft (siehe dazu den anregenden und materialreichen Beitrag von Blasius 1988, 145 ff., der auf dem genuin historischen Erkenntnisinteresse beharrt; ferner Vierhaus 1990, 137 ff. und Albrecht 1996, 36 ff.).

Als weitere Bereicherung des kriminologischen Rollenspiels ist die Kontroverse mit den verschiedensten Spielarten neomarxistischer Kriminologie hinzugetreten (vgl. dazu unten “ 14, 4). Derartige Strömungen erscheinen auch im Gewand sogenannter Konfliktkriminologie (dazu unten “ 14, 3) oder feministischer Kriminologie (siehe Krüger 1992) oder gar des sog. Postmodernismus (kritisch Garland 1995, 181 ff.). Nicht selten dient als Ausgangspunkt die marxistische Hypothese, daß es in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Konsens über grundlegende Werte und Ziele gäbe. Immerhin ist die sogenannte Kriminalität der Mächtigen (siehe unten „23) zu einer untersuchungswürdigen Forschungsperspektive geworden. Demgegenüber hat der politisch-soziale Umbruch in Ostmitteleuropa die Versuche zur Begründung einer eigenständigen „sozialistischen Kriminologie“ (dazu LB “ 18, 2) schlagartig beendet, ohne noch einer anstrengenden Überwindung des „Stalinismus“ in der Kriminologie zu bedürfen.

Wissenschaftliches Erklären ist ein theoretischer, d.h. theorieerzeugender und -anwendender Prozeß. Die theoretischen Erkenntnisse bilden dabei das Führungswissen zum Vorausdenken und Erklären. Sie versuchen für mehr als eine Erscheinung zu beantworten, wie und warum etwas geschieht.

Kriminologische Theorien können sich auf unterschiedliche Erkenntnisgegenstände beziehen. Sie können sich primär

  • am Verbrechen,
  • am Verbrecher,
  • ander Verbrechenskontrolle oder
  • andem Verbrechensopfer

orientieren, greifen jedoch häufig darüber hinaus. Denn die Erkenntnisgegenstände sind vielschichtig und miteinander verflochten. Schon das Verbrechen umfaßt einen weiten Verhaltensbereich. Auch tragen verschiedene Wissenschaften zur Deutung bei. Daher stößt man auf eine Vielzahl von Erklärungsansätzen. Diese treffen aus unterschiedlicher Perspektive allgemeine Aussagen über die Kriminalität. Dieser Sachverhalt wird nicht selten als frustrierend, verwirrend, ja abschreckend erlebt. Die Orientierung wird zusätzlich erschwert, wenn man auch Strafkonzepteund viktimologische Ansätze einbezieht. Daraus schöpft wiederum das Bemühen um Überblick seine Kraft.

§5 Theorien der Verbrechenskontrolle und der Kriminalisierung
Schrifttum: Baratta, Criminologia critica e critica del diritto penale. Introduzione alla sociologia giuridico-penale. Bologna 1982; Davis/Starz, Social Control of Deviance. A Critical Perspective. New York u.a. 1990; Frehsee/Löschper/Schumann (Hrsg.), Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung. Opladen 1993; Garland, The Limits of the Sovereign State. Strategies of Crime Control in Contemporary Society. BritJCrim 36 (1996), 445-470; Jung, Zur Privatisierung des Strafrechts. In: Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, hrsg.v. Jung u.a. Baden-Baden 1996, 69-78; Lowman u.a. (eds.), Transcarceration: Essays in the Sociology of Social Control. Aldershot u.a. 1987; Sack, Das Elend der Kriminologie und Überlegungen zu seiner Überwindung. In: Strafe, Strafrecht, Kriminologie, hrsg. v. Robert. Frankfurt/M. 1990. 15-55; Vold/Bernard, Theoretical Criminology. New York u.a. 1986.

Versteht man unter Verbrechenskontrolle die Anstrengungen von Staat und Gesellschaft, Verhaltenskonformität im strafrechtlich geschützten Normbereich zu sichern, so sind an Erklärungskonzepten in erster Linie Straf- und Strafrechtstheorie gemeint, aber auch deren schärfster Widerpart in den Gestalten kritischer Strafrechtstheorie. Herkömmlich wird der strafrechtlich orientierte Theorienwandel durch den Streit um klassisches Strafrecht, Zweckstrafrecht, Schuldstrafrecht, defense sociale, Maßnahmenrecht und neuerdings wiederum durch ein neoklassisches Strafverständnis (hierzu unten “ 12, 1) bestimmt. Hingegen stützt sich die strafrechtskritische Theorie hauptsächlich auf psychoanalytische Annahmen wie die sogenannte Sündenbocktheorie, auf den Labeling approach sowie auf konfliktorientierte Ansätze der Herrschaftskritik.

Hierzu werden unterschiedliche Auffassungen vertreten (Vold/Bernard 1986, 13 ff., 361 ff.). Sie umfassen ebenso den kritischen Objektbezug zum Staat und zur Staatstheorie (Lowman u.a. 1987, 4, 111 f.,; Sack 1990, 30 ff.; Garland 1996, 448 ff., 459 ff.; Jung 1996, 72 ff.) wie die abolitionistischen und feministischen Perspektiven (dazu unten “ 14, 5). Wegen der Rolle von Macht und Interessengruppen sowie der „gefährlichen Qualität“ sozialer Kontrolle erblickt man im politischen Prozeß oder,im Staat die zentrale Forschungsaufgabe. Obwohl die Erarbeitung kriminalpolitischer Problemlösungen verworfen wird, ist der Anspruch implizit stets derselbe, nämlich das Verbrechen besser, gerechter, humanerund mit geringeren sozialen Kosten zu bewältigen. Die Ansätze unterscheiden sich nur darin, daß sie sich teils in distanzierter Kritik erschöpfen, teils bis zu Empfehlungen, Vorschlägen und Alternativen reichen. Dazu werden verschiedene Strategien der Entregelung herangezogen: Dezentralisierung, Entkriminalisierung, Entinstitutionalisierung, Diversion und radikale Nichtintervention (,do-less-Strategie“). Sie gewinnen bei unterschiedlicher Motivierung in der gegenwärtigen Diskussion eine herausragende Bedeutung, zumal nicht selten die offene oder verdeckte „Expansion des Strafrechtssystems“ sowie die Verlagerung von einem zum anderen Subsystem angenommen wird. Als Alternative wird demgegenüber das Modell der Selbsthilfe oder Gegenseitigkeit empfohlen (Davis u.a. 1990, 6, 15, 23 f.).

Zwar pflegt man Theorien der Verbrechenskontrolle traditionell im Bereich des Strafrechts oder der Kriminalpolitik unter den Leitideen von „Repression“ und „Prävention“ zu erörtern. Steht jedoch die Verbrechenskontrolle wie hier als Erkenntnisgegenstand der Kriminologie derart im Blickpunkt, so kann man auf ihre theoretische Durchdringung, und d.h. auch auf die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen theoretischen Positionen im kriminologischen Zusammenhang, nicht verzichten (dazu eingehend unten “ 10). Dabei muß den verschiedenen Möglichkeiten und Wegen externer Verhaltenskontrolle — der Kriminalisierung, Überwachung, Sanktionierung, Schlichtung, Wiedergutmachung und Verhütung — ebenso wie den Implikationen für die Menschenrechte die Aufmerksamkeit gelten.

§6 Theorien des Verbrechens und der Kriminalität
Schrifttum: Brammsen, Kriminalität und Sozietät. Jura 11 (1989), 122-128; Kunz, Prüfungsgespräch: Kriminalitätstheorien. In: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, hrsg. v. Jung. München 1988, 29-41; Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens. München 1990*; Meier (ed.), Theoretical Methods in Criminology. Beverly Hills u.a. 1985; Williams/McShane, Criminological Theory. Englewood Cliffs/N.J. 1988.

Während die Theorien der Verbrechenskontrolle die Bewältigung des Verbrechens einschließlich der Modifikationen des Verbrechensbegriffs zum Gegenstand haben, wollen die von ihnen abhängigen Theorien des Verbrechens die besonderen Bedingungen des Entstehens und Verschwindens von Kriminalität angeben, und d.h. erklären. Dieser Bereich ist traditionell die Domäne kriminalsoziologischer und sozialpsychologischer Theoriebildung. Lern-, Kontroll- und Anomietheorien suchen hier ihre Erklärungskraft (eingehend unten „“ 24; 28; 31, 3). Von diesen Grundkonzepten (Meier 1985, 12 f.) sind die Theorien des Kulturkonflikts, der Subkultur, der Neutralisierungstechniken, ferner der jeweils differentiell begriffenen Assoziation, Identifikation, Antizipation und Sozialisation abgeleitet.

Je nachdem, ob das Verbrechen als eine Individual- oder als eine Sozialerscheinung betrachtet wird, sind unterschiedliche Konzepte zur Erklärung heranzuziehen und verschiedene Behandlungswege einzuschlagen. Dem steht nicht entgegen, daß viele Theorien für beide Phänomene zu passen scheinen. Deshalb werden sie auch häufig zur Erklärung sowohl für den Einzelfall des Verbrechens als auch für die gesamte Kriminalität, ja sogar für die Kriminalitätsentwicklung herangezogen. Im übrigen neigt man nicht selten dazu, im Einzelfall nach einer psychologisch plausiblen Ad-hoc-Erklärung oder naiven Verhaltenstheorie zu suchen und im Falle der Massenerscheinung nach einem soziologischen Konzept zu greifen. Dies weist auf die unterschiedliche Aussagekraft und Brauchbarkeit der Theorien hin. So leuchtet es ein, Verbrechen als Einzelerscheinung primär mit Hilfe täterorientierter Konzepte (Lern-, Sozialisations- und Kontrolltheorien), hingegen Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung mittels sozialstruktureller oder sozialkonfliktbezogener Konzepte (Anomie-, [Kultur-] Konflikt- und Subkulturtheorien, eventuell auch Labeling approach) zu erklären.

Zur Deutung der Kriminalitätsentwicklung empfiehlt es sich überdies, das Konzept des sozialen Wandels heranzuziehen und mit Elementen der Modernisierung, des Wertewandels, der Anomie- und der Kontrolltheorie zu verbinden (siehe unten “ 24, 3.4). Demgemäß sind die Kriminalitätstheorien hier explizit zu behandeln, während die mehr auf den Einzelfall bezogenen Erklärungsansätze als durchweg täterorientiert ihren legitimen Ort im Zusammenhang mit dem Erkenntnisgegenstand der Täterpersönlichkeit finden.

§7 Theorien der Täterpersönlichkeit
Schrifttum: Akers, Deviant Behavior: A Social Learning Approach. Wadsworth, Belmont/Ca. 1985”, Brammsen, Die Person des Täters aus kriminologischer Sicht. Persönlichkeitsbezögene Kriminalitätstheorien. JA 10 (1988), 57-67; Eysenck, Crime and Personality. London 1964 (deutsch: Kriminalität und Persönlichkeit. Frankfurt/M. 1977); Lösel, Kriminalitätstheorien, psychologische. In: KKW 1993? ‚253-267, Wilson/Herrnstein, Crime and Human Nature. New York 1985.

Weil soziale Lern-, Kontroll- und Sozialisationstheorien nicht nur die Entstehung des Verbrechens erklären, sondern zugleich der sogenannten Täterorientierung folgen, kann man sie auch den persönlichkeitstheoretischen Konzepten zurechnen (vgl. Schwind 1996, 99 ff.). Trotz gewisser Überlappungen besteht allerdings ein wichtiger Unterschied zu persönlichkeitsspezifischen Auffassungen darin, daß Lerntheorien mitunter das Auftreten situationsübergreifender Persönlichkeitsmerkmale (sog. traits) bestreiten (Akers 1985, 39 ff.).

Spezifische Persönlichkeitstheorien haben zwar in der Kriminologie der Gegenwart an Bedeutung verloren (siehe dazu oben “ 4, 1), sind jedoch unverändert notwendig. Andernfalls würde man der Vielschichtigkeit des kriminologischen Geschehens und seiner Entstehung nicht gerecht. Eine Reduktion der Verhaltenskomplexität unter Ausblendung der Mikroperspektive führte zum Wirklichkeitsverlust. Deshalb bezieht sich eine der drei kriminologischen Erklärungsebenen auf das Individuum. Herkömmlich war dies nur der Täter; neuerdings ist das Verbrechensopfer hinzugetreten. Grundannahme aller Täterperspektiven ist seit jeher, daß sich Rechtsbrecher von Rechtskonformen durch Persönlichkeitsdimensionen unterscheiden. Traditionell stehen Besonderheiten der Erb-, Konstitutions- und Verhaltensbiologie im Vordergrund (siehe Brammsen 1988, 57 ff.), neuerdings biosoziale Perspektiven und unterschiedliche Ausprägungen von Persönlichkeitsdimensionen (Wilson u.a. 1985, 41 ff.). Die größte, obschon nicht unumstrittene Bedeutung hat in der Gegenwart die Theorie unterschiedlicher Konditionierbarkeit von Eysenck (1977, 161 ff.) erlangt. Demgegenüber hat die Frustrations- Aggressions-Hypothese, die jede Aggression auf vorausgegangene Frustrationen zurückführt, erhebliche Einschränkungen in Aussagekraft und Brauchbarkeit sowie Umdeutungen erfahren. Andere Forschungsansätze suchen Persönlichkeitstheorie mit sozialpsychologischen Sichtweisen zu verknüpfen. Dies trifft sowohl für die neueren biosozialen Perspektiven (siehe dazu unten “ 26), ferner für streßinduzierte Ansätze (vgl. “ 39, 2) wie auch für differentielle Lern- und Sozialisationstheorien zu (vgl. Akers 1985). Diese haben sich nicht zuletzt deshalb als ergiebiger erwiesen, da sie neben Persönlichkeitsdimensionen auch Sozialprofil, soziale Bezüge und Wertorientierung des Rechtsbrechers mit einbeziehen, Aspekte, denen nach den Bindungsund Kontrolltheorien herausragende Aussagekraft zukommt. Im Gegensatz zur Annahme von der Verinnerlichung von Normen und Werten, wie sie von den Lern-, Sozialisations- und Bindungstheorien vertreten oder vorausgesetzt wird, betont die Theorie der Moralentwicklung nach Kohlberg die aktive Konstruktion von individualisiertem moralischen Urteilen aufgrund von Erfahrungen sozialer Interaktion.

§8 Theorien des Verbrechensopfers und der Viktimisierung
Schrifttum: varı Dijk, Viktimologie in Theorie und Praxis. In: Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz, hrsg. v. Janssen, u.a. Bonn 1985, 3-24; Fattah, Understanding Criminal Victimization. An Introduction to Theoretical Victimology. Scarborough/Ont. 1991; Garofalo, Reassessing the Lifestyle Model of Criminal Victimization. In: Positive Criminology, ed. by Gottfredson u.a. Beverly Hills u.a. 1987, 23-42; Hindelang/Gottfredson/Garofalo, Victims of Personal Crime: An Empirical Foundation for a Theory of Personal Victimization. Cambridge/Mass. 1978; Mawby/Walklate, Critical Victimology. International Perspectives. London 1993; Seligman, Helplessness. San Francisco 1975 (deutsch: Erlernte Hilflosigkeit. München u.a. 1979); Zauberman, Sources of Information about Victims and Methodolocigal Problems in this Field. In: EuCrimRes 23 (1985), 17-63.

Obwohl der Viktimisierung in der Gegenwart mit Recht große Beachtung geschenkt wird und das Verbrechensopfer einen der kriminologischen Erkenntnisgegenstände darstellt, ist die theoretische Durchdringung und Entfaltung der viktimologischen Perspektive noch nicht weit gediehen. Offenbar überlagern rechtspolitische Interessen dieses Forschungsfeld, kann doch hier die viktimologische Bewegung ihre größten Erfolge verbuchen (dazu kritisch van Dijk 1985, 4, 19). Anspruchsvoller in der Erklärungskraft haben sich hauptsächlich die sogenannten Lebensstilkonzepte (Risikoverhalten) und die Theorie unterschiedlicher Gelegenheitsstruktur erwiesen (Hindelang u.a. 1978, 121 f.; Zauberman 1985, 39 ff.). Allerdings läßt sich dabei die Tatsache nicht verkennen, daß die opferorientierte Perspektive prinzipiell an demselben Mangel wie die Täterorientierung leidet, nämlich an dem Unvermögen, das Gesamtphänomen empirisch erfassen zu können, das sie kriminologisch zu erklären meint. Entsprechendes gilt auch für Krisistheorie, die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1975) und die Theorie der gerechten Welt, die in diesem Zusammenhang zur Erklärung herangezogen werden.

§9 Theorienvergleich und Folgerungen
Die kriminologischen Grundbegriffe Verbrechen, Verbrecher, Verbrechensopfer und Verbrechenskontrolle zeigen die relevanten Erkenntnisgegenstände und zugleich verschiedene Erklärungsebenen an, nämlich die

  • individuelle,
  • strukturelle und
  • institutionelle.

Täter und Opfer stehen danach für die individuelle, die Schichtung der Zugangschancen für die strukturelle und die Verbrechenskontrolle für die institutionelle Ebene. Jede Vernachlässigung eines Erkenntnisgegenstandes würde notwendig mit Wirklichkeitsverlust erkauft werden. Demgemäß müssen auch alle drei Erklärungsebenen die Strukturierung der kriminologischen Theorien bestimmen. Der vorausgehende Überblick (siehe oben „“ 4 ff.) trägt ihnen deshalb Rechnung. Ihnen sind überdies die vier bedeutendsten Theorietraditionen verpflichtet, und zwar

  • soziale Lern- und e Kontrolltheorien sowie
  • e Anomietheorie und
  • Labeling approach.

Allerdings läßt die Analyse des Zusammenhangs erkennen, daß kriminologische Theorien ihren Schwerpunkt herkömmlich in den individuellen und strukturellen Erklärungsebenen suchen, während sich an der institutionellen Ebene außer dem Labeling approach hauptsächlich strafund kriminalpolitische Konzepte oder übergreifend Theorien der Verbrechenskontrolle orientieren. Lediglich die viktimologische Perspektive ist theoretisch erst wenig entwickelt.

  1. Strukturen und Leistungsfähigkeit kriminologischer Theorien
    Schrifttum: Hondrich, Entwicklungslinien und Möglichkeiten des Theorievergleichs. In: Verhandlungen des 17. Dt. Soziologentages. Stuttgart 1976, 14-35; Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens. München 1993°; ders., Wider den Schulenzwang. Ein sekundäranalytischer Beitrag zur Delinquenz und Kriminalisierung Jugendlicher. München 1985; McCord, Theory, Pseudotheory and Metatheory. In: Advances in Criminological Theory, ed. by Laufer u.a. New Brunswick u.a. 1989, 127-145; Merton, Three Fragments from a Sociologist’s Notebooks. ASR 13 (1987), 1-28; Opp/Wippler (Hrsg.), Empirischer Theorienvergleich. Opladen 1990.

Auch dann, wenn wir eine additive Aneinanderreihung von Theorien vermeiden und eine Strukturierung nach Erkenntnisgegenstand und Erklärungsebene versuchen, haben wir es noch immer jeweils mit einer Vielfalt theoretischer Angebote zu tun. Deshalb steht der Kriminologe vor schwierigen Auswahlproblemen: Er muß sich entscheiden, in welcher Theoriesprache er sein kriminologisches Problem formulieren, interpretieren und Lösungen suchen will; er hat zu prüfen, ob er die zunächst ins Auge gefaßte Theorie nicht besser durch eine andere ersetzt, die vielleicht mehr zu leisten verspricht, oder ob er im Hinblick auf die jeweils begrenzte Reichweite für sein Problem nicht mehrere Theorien miteinander verknüpfen muß (vgl. Hondrich 1976, 21 ff.). Ein Theorienvergleich kann hier helfen, die Entscheidungsfindung zu erleichtern (Lamnek 1993, 237 ff., 282 f.). Allerdings liegen Ergebnisse eines solchen Theorienvergleichs noch kaum vor (siehe jedoch Lamnek 1985, 82 f., 424 ff.), zumal es an allgemein verbindlichen Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Theorien und damit an vergleichender Analyse der verschiedenen Kriminalitätstheorien fehlt.

Theorien vermitteln uns bekanntlich eine bestimmte Orientierung; sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf einige Besonderheiten des Problemfeldes; doch sie entfernen uns von anderen und machen uns für diese „blind“ (siehe die „specified ignorance“ nach Merton 1987, 7). Auch wenn man systematisch vorgeht, sind Begriff und Aussageform „Theorie“ für kriminologische Überlegungen noch immer recht anspruchsvoll.

Diese Schwierigkeit läßt sich weder dadurch lösen, daß man sich das gesamte Theorienangebot der kriminologischen Grund- und Bezugswissenschaften vor Augen führt, noch, daß man beim bilanzierenden Theorienvergleich stehen bleibt oder resignierend gar darauf verzichtet. Methodisch sicher ist sie kaum zu bewältigen, es sei denn durch Entscheidung. Die Auswahlentscheidung zwischen konkurrierenden Theorien ist jedoch nicht selten von vorgefaßten Meinungen, Grundauffassungen oder der Herkunftsdisziplin geleitet. Überwiegend sind Forscher von dem Aussagevermögen ihrer Disziplin wohl mehr überzeugt als von der Weisheit anderer Wissenschaften. Demzufolge erweisen sich in der kriminologischen Forschung allgemein diejenigen theoretischen Ansätze als „bewährt“, die dem eigenen Fach entstammen. Dieser Sachverhalt kann weder zufällig noch richtig sein. Er ist wohl in erster Linie Ergebnis der professionellen Sozialisation, obgleich auch Karriereinteressen sowie Bequemlichkeit, sich auf vermeintlich sicherem Boden zu bewegen und darauf zu beschränken, mitspielen mögen.

Um wissenschaftlich vorgehen zu können, muß sich die Auswahl unter den alternativen Erklärungen letztlich auf empirische Beweiskraft stützen, eine Überprüfung, die heute auch möglich erscheint. Eine Beschränkung auf die wichtigsten Theorietraditionen erweist sich dabei als sinnvoll.

Die wesentliche Bedeutung einer weiter- oder fachübergreifenden Theorie scheint darin zu liegen, daß sie unsere Aufmerksamkeit auf „alle“ relevanten Faktoren lenkt und uns vor Teilerklärungen sowie unvollständigen Interpretationen schützt.

Wegen mangelnder Voraussetzungen, Inkonsistenzen im Maßstab und unzureichender Quantifizierbarkeit der Bewertung lassen sich Theorien „nur mit größten Schwierigkeiten“ vergleichen (Lamnek 1993, 237). Eine Gliederung allein nach dem „Härtegrad“ der Theorie (vgl. McCord 1989, 127 ff.) befriedigt nicht. Denn bekanntlich können auch „weiche“ Theorien eine große Fruchtbarkeit entfalten. Daraus folgt wiederum, daß ein Theorienvergleich hinsichtlich der zugrundegelegten Dimensionen vorerst nur sehr allgemein und qualitativ vorgenommen werden kann. Die Einschränkungen können freilich nicht dazu führen, relativistisch auf jeglichen Theorienvergleich zu verzichten und sich wie Eisenberg (1995, 32 ff.) auf das „Vorverständnis“ oder die „Verständnisebene“ zurückzuziehen. Vielmehr stellt das methodische Instrumentarium der Wissenschaft anerkannte Prüf- und Vergleichskriterien bereit. Dazu zählen vor allem der Grad empirischer Bewährung von Theorien und deren praktische Leistungsfähigkeit, insbesondere zur Prognose und technologischen Anweisung. Zu welchen Ergebnissen führt daher die vergleichende Analyse?

Am besten vermag eine Theorie ihre Erklärungskraft noch immer dann zu beweisen, wenn es um relativ gut abgrenzbare und beobachtbare Einzelerscheinungen geht (vgl. Lamnek 1985, 432 ff.,; Göppinger 1997, 103) wie Jugend-, Ausländer- und Frauenkriminalität sowie Wirtschafts-, Verkehrs- und Gewaltdelikte. Wohl ist auch jetzt noch die Erklärung schwierig genug. Aber nun läßt sich am ehesten überprüfen, welche Konzepte sich als ergiebig erweisen. Häufig bleiben nur Theoriebruchstücke und Erklärungen von begrenzter Reichweite übrig. Dies schließt das Eingeständnis ein, daß ein universelles System von widerspruchsfreien theoretischen Aussagen über die vielschichtige Verbrechensentstehung, geschweige denn über die Verbrechenskontrolle, nicht möglich ist.

Ausbaufähig erscheinen somit auf absehbare Zeit nur die Einbeziehung von „Dimensionen“ — sei es aus verhaltensbiologischer, sozialpsychologischer oder soziologischer Wissenschaft —, die Strukturierung der Theorie nach Erklärungsebenen und Erkenntnisgegenständen, die Möglichkeiten des Theorievergleichs und die Versuche nach Integration. Bislang hat man allerdings in der Kriminologie keine befriedigenden Konzepte entwickeln können, die fähig wären, die relevanten Elemente und Aspekte unterschiedlicher Theorieansätze integrativ zu vermitteln und zu verknüpfen (Schwind 1996, 129, Kürzinger 1996, 71). Eine gestuft-integrierende Verbrechenstheorie, die empirisch brauchbar wäre und auch nach ihren Implikationen für die Verbrechenskontrolle voll überzeugen könnte, ist noch kaum in Sicht. Immerhin gibt es Ansätze hierzu. Zu denken ist in erster Linie an Sozialisations- und Kontrolltheorie. Um die gegenwärtig unverkennbare Stagnation in der Theorientwicklung zu überwinden, ist die Rückbesinnung und Konzentration auf die wichtigsten vier Theorietraditionen hilfreich. Dazu gehören bekanntlich Anomie- oder Spannungstheorien, Lerntheorien und Kontrolltheorien sowie der Labeling approach.

Ferner ist die Differenzierung kriminologischer Konzepte nach Erkenntnisgegenständen geboten. Die Erklärungsebenen können dabei individuell, strukturell oder institutionell bestimmt sein. Demgemäß können sich kriminologische Theorien primär auf das Verbrechen, die Kriminalität sowie die Kriminalitätsentwicklung, den Verbrecher, das Verbrechensopfer oder die Verbrechenskontrolle beziehen. Sie stehen jedoch nicht selten in einem Gesamtzusammenhang.

2. Mängel und Schwächen kriminologischer Theoriebildung
Schrifttum: van den Haag, The Neoclassical Theory of Crime Control. In: Theoretical Methods in Criminology, ed. by, Meier. Beverly Hills 1985, 177-196; Heinz, Kriminalitätstheorien. In: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, hrsg. v. Jung. München 1975, 16-51; Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens. München 1993°; Meier (ed.), Theoretical Methods in Criminology. Beverly Hills u.a. 1985; Quensel, Let’s Abolish Theories of Crime: Zur latenten Tiefenstruktur unserer Kriminalitätstheorien. KrimJ 1986, 1. Beiheft, 11-23; Schneider, Ursachen der Kriminalität. Neue Entwicklungen in der internationalen kriminologischen Theoriediskussion. Jura 1996, 337-344, 397-404; Schöch, Schulenstreitfall. In: Jur. Studienkurs 1994*, 33-49.

Trotz ihrer Reichhaltigkeit kann die bisherige Theoriebildung — unabhängig davon, ob sie zur Verbrechenskontrolle, zum Verbrechen und zur Kriminalität, zur Täterpersönlichkeit oder zum Verbrechensopfer als Erklärung angeboten wird – nicht befriedigen.

So läßt sich generell sagen, daß die bisher entwickelten Theorien abweichenden Verhaltens sich zwar dadurch auszeichnen, daß sie sich von den überlieferten Persönlichkeitskonzepten gelöst und den Blick auf soziale Bezüge und Bedingungen gelenkt haben. Beurteilt man derartige Theorien jedoch inhaltlich und zieht dabei das Erklärungspotential, die praktische Brauchbarkeit und den Grad empirischer Bewährung mit heran, so muß den Konzepten „— zum Leidwesen eines jeden Soziologen —“ ein relativ schlechtes Zeugnis ausgestellt werden. Auch erschwert das hohe Abstraktionsniveau jener Theorien und ihre Erklärungsabsicht unter Zuhilfenahme globaler Konzepte die praktische Umsetzung. „Gerade die Soziologie … kann im Bereich abweichenden Verhaltens trotz (oder wegen) ihrer Theorien weniger leisten als multifaktorielle Ansätze mit theorie- und zusammenhanglosen induktiv gewonnenen Variablen“ (Lamnek 1993, 282 f.). Dem steht nicht entgegen, daß eine vergleichende Beurteilung mit nichtsoziologischen Verbrechenstheorien zu dem Ergebnis führt, daß auch hier kaum überlegene Erklärungsversuche zu erkennen sind.

Die vielfältigen Theorieangebote sehen sich denn auch außerhalb und innerhalb der Erfahrungswissenschaften zunehmend Einwänden ausgesetzt (vgl. Schneider 1987, 359 ff., 1996, 397 ff., Lamnek 1993, 282 f.; Schöch 1994, 33 ff., Eisenberg 1995, 65 ff., Kürzinger 1996, 70 ff., 108 ff.; Schwind 1996, 127, Göppinger 1997, 106 ff.). Dabei zielen die ‚ Hauptbedenken gegen

  • die fehlende empirische Sicherung, ‚
  • die beträchtliche Realitätsferne und
  • die mangelnde Praxisrelevanz.

Daher verwundert es nicht, daß offenbar keine Theorie besteht, welche von der Mehrheit der Kriminologen als die ‚beste‘ anerkannt wird. Einigkeit scheint nur insoweit zu herrschen, als man der Auffassung ist, daß die kriminologische Theorientwicklung stagniert (Meier 1985, 14).

3. Grenzen und Möglichkeiten der Theorieintegration
Schrifttum: Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; Opp, The Economics of Crime and the Sociology of Deviant Behaviour. A Theoretical Confrontation of Basic Propositions. Kyklos 42 (1989), 405-430; Schöch, Schulenstreitfall. In: Jur. Studienkurs 1994*, 33-49; Vold/Bernard, Theoretical Criminology. New York u.a. 1986.

Während kriminologische Theorien wie Anomie oder Kulturkonflikt ihre politischen Implikationen vorwiegend im sozialpolitischen Feld der primären Prävention finden, erblicken Sündenbocktheorie, Konfliktkriminologie und Abolitionismus ihr Ziel in Alternativen zum oder gar im Verzicht auf das Strafrecht. Straftheorien wiederum wie Schuldvergeltung und Generalprävention setzen hauptsächlich im engeren Bereich sekundärer und tertiärer Prävention an, ohne über Ad-hoc-Konzepte zur Täterpersönlichkeit hinaus weiter nach einer Theorie des Verbrechens zu fragen. Von hier aus gesehen liegt die Genese des Verbrechens klar und eindeutig in den verwerflichen Motiven der Täterpersönlichkeit und deren fehlerhafter Entscheidung, die sich in der Tat manifestiert. Eine Begegnung oder gar systematische Integration von Verbrechensund Verbrechenskontrolltheorien der relevanten Wissenschaften scheint danach kaum möglich zu sein (siehe etwa Bock 1995, 101). Jede Annäherung würde entweder zur Aufgabe des Strafrechts oder zum Verlust kriminologischen Erkenntnispotentials führen (vgl. aber Schöch 1994, 33 ff.).

Soweit zu sehen, gibt es von diesem Sachverhalt der Trennung, ja Unvereinbarkeit nur zwei Ausnahmen im Bereich der Kriminalprävention, nämlich Generalprävention und Individualprävention. Hier allein, so scheint es, lassen sich Straf- und Verbrechenstheorien einander anpassen, freilich mit unterschiedlichen Konsequenzen.

Gerade die Mängel kriminologischer Theorie und Fehlschläge darauf gestützter Interventionen sind es, die im nordamerikanischen Bereich den strafrechtlichen Abschreckungsgedanken neu belebt haben (vgl. van den Haag 1985, 117 ff.;, Opp 1989, 405 ff.).

Die ökonomische Abschreckungshypothese scheint auf der hedonistischen Vermutung zu beruhen, wonach die Menschen ihr Verhalten durch die Kalkulation nach Lust und Schmerz bestimmen. Danach sind alle Menschen Geschäftsleute. Auch der potentielle Kriminelle beurteilt seine Möglichkeiten innerhalb der Grenzen der ihm verfügbaren Informationen und wählt jene Handlung, die seinen Nutzen am stärksten vergrößert. Die Grundaussage der Allgemeinabschreckung wird denn auch ökonomisch formuliert wie z.B. „den Preis für das Verbrechen bezahlen‘ oder wie im Falle des Drogenhandels durch Gewinnabschöpfung zu verhindern, daß „sich Verbrechen bezahlt macht‘. Dies mag der Grund dafür sein, daß heutzutage hauptsächlich Ökonomen eine Strömung unterstützen, die zeigen soll, daß die hohe Verbrechensrate einer Politik entstammt, die Verbrechen zu „billig“ macht.

Da aber die Abschreckungstheorie mehr psychologisch als ökonomisch, politisch oder soziologisch gelagert ist, beruht die bedenkliche Schwäche kriminalökonomischer Konzeptualisierung darin, den zentralen Gesichtspunkt zu ignorieren, daß Abschreckung aus der Zuschauerperspektive wahrgenommen wird. Wenn und soweit nämlich Abschreckung existiert, besteht sie in einem psychischen Zustand, der Perzeption. Zwar wird die Anknüpfung an die utilitaristische Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts verständlich, aber auch die damit verbundene theoretische Armut der zugrundeliegenden Verbrechensauffassung einsichtig. Der Mangel eines solchen Konzeptes äußert sich besonders in der Erklärung von Konflikt- und Affektverbrechen sowie in dem Unvermögen, von hier aus Handlungsanleitungen zur Bewältigung der Rückfallkriminalität sozialer Randgruppen zu entwickeln.

Doch die Generalprävention erschöpft sich bekanntlich nicht in der Abschreckung, der sogenannten negativen Generalprävention, sondern umfaßt als positive Komponente auch die sogenannte Integrations-Generalprävention (Näheres unter “ 13, 4). Diese wird hierzulande gegenwärtig betont. Sie meint die dem Strafrecht und seiner Anwendung unterstellte verhaltenssteuernde Kraft, indem sie auf „Einübung von Normvertrauen“, „Normanerkennung“ und „Rechtstreue“ zielt. Damit nähert sie sich nach Vorstellung und Vokabular offenkundig einer Theorie sozialen Lernens, insbesondere der Sozialisationstheorie, als deren spezifischer, weil auf das Strafrecht und die Normalbürger bezogener, Anwendungsfall sie sich darstellt. Vor allem in diesem makro-theoretischen Zusammenhang läßt sie sich über Common-sense-Annahmen hinaus vertiefen. Zumindest leuchtet die Möglichkeit zu theoretischer Begegnung und Verknüpfung ein.

Stimmigkeiten ergeben sich ferner im Rahmen der Individualprävention zwischen Sozialisations- und Kontrolltheorie einerseits sowie Resozialisierungstrafe und bessernden Maßregeln andererseits. Diese theoretische Zusammenfassung erweist sich namentlich für jugendliche Delinquenten, Randseiter, Mehrfachtäter und Karriereverbrecher als relevant, also für Rechtsbrecher mit Ausnahme der Konflikttäter. Bei dieser Tätergruppe wiederum, deren Verhalten am ehesten entscheidungstheoretisch erklärbar wird, kann auf Schuldausgleich und Individualabschreckung wohl kaum verzichtet werden.

Wie die Analyse zeigt, geht es nicht allein um die Suche nach einer überzeugenden Theorie und deren Überprüfung. Vielmehr spiegeln die verschiedenen Konzepte zugleich Strategien wider, die auf die Durchsetzung von Humanität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit bezogen sind. Dies verbindet sie zwar mit den Aufgaben des Juristen, jedoch nicht hinsichtlich der beabsichtigten Konsequenzen, nämlich den einzelnen Rechtsbrecher in seiner Verantwortung zu entlasten. An den rechtspolitischen Zielen und Verfassungsprinzipien werden nicht erst die sozialen Reaktionen gemessen. Die Verletzung jener Postulate wird als Ausdruck ungleicher Macht- und Mittelverteilung schon als Erklärung des Verbrechens vermutet. Insoweit ist es gleichgültig, ob man mit der Anomietheorie die Schichtdeterminiertheit kriminellen Verhaltens, mit dem Labeling approach die Schichtbestimmtheit des Handelns der Kontrollinstanzen oder mit dem Abolitionismus die Herrschaftsbestimmtheit von Kriminalität annimmt. Denn stets zielen die praktisch-politischen Implikationen dieser Konzepte auf eine Gesellschaft, der Verbrechen letztlich „wesensfremd“ ist.

Will die eine Richtung jegliche Forschung a priori einer vorgefaßten Hypothese unterordnen, so macht sich auf der anderen Seite Theoriemüdigkeit und Resignation breit. Im Blickpunkt steht die Effizienzsteigerung der Verbrechenskontrolle, geprägt von Forderungen nach mehr Sicherheit durch Abschreckung, von Vorschlägen zur Vereinfachung des Strafverfahrens bis hin zur Vollstreckung der Todesstrafe, je nach Standort des Autors. Jedoch geht es zumindest nicht allein um die technische Perfektion der Verbrechenskontrolle, auch nicht ausschließlich um die Verminderung des „Leidens“ (siehe oben “ 2, 3), sondern um die optimale Durchsetzung der anerkannten rechtspolitischen Grundsätze. Hier kann aber auf Konsens nicht verzichtet werden. Dies istindessen, soweit zu erkennen, im Prinzip nicht der Fall. Denn sowohl praxisorientierte als auch herrschaftskritische Forschungsrichtungen wissen sich dieser Zielsetzung weitgehend verpflichtet. Beide Richtungen erscheinen aber auch notwendig, sei es um der praxisbegleitenden Forschung stets vor Augen zu führen, daß sie möglicherweise Gefahr läuft, auch eine schlechte Praxis zu legitimieren, sei es der herrschaftskritischen oder radikalen Strömung ständig bewußt zu machen, daß und wie sehr sie aufgrund ihrer Distanz realitäts- und praxisfern sowie unfähig bleibt, den Herausforderungen des Verbrechens und den Schutzbedürfnissen potentieller Opfer zu entsprechen.