§ 15 Einstellungen der Bevölkerung zu Verbrechenskontrolle und Kriminalität
Schrifttum: Arnold, Kriminelle Viktimisierung in komparativer Perspektive. Unveröff. MS. Freiburg 1996; Boers/Kerner/Kurz, Rückgang der Kriminalitätsfurcht. Neue Kriminalpolitik 7 (1995), 9-10; var Dijk u.a., Experiences of Crime across the World. Key Findings of the 1989 International Crime Survey. Deventer/ Niederlande u.a. 1990; Dölling, Kriminalitätseinschätzung und Sicherheitsgefühl der Bevölkerung als Einflußfaktoren auf kriminalpolitische und kriminalstrategische Planung. In: Planung und Verbrechensbekämpfung. Seminarschlußbericht der PFA. Münster 1985, 81-111; ders., Rechtsgefühl und Perzeption des Strafrechts bei delinguenten und nichtdelinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden. In: Das sogenannte Rechtsgefühl. Jb für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. X, hrsg. v. Lampe. Opladen 1985, 240-256; Dörmann, Wie sicher fühlen sich die Deutschen? Wiesbaden 1996; Hassemer, Ziviler Ungehorsam — Ein Rechtfertigungsgrund? In: FS für Wassermann, Neuwied u.a. 1985, 325-349; Kerner, Kriminalitätseinschätzung und innere Sicherheit. Wiesbaden 1980; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung. Jur. Diss. Freiburg 1995; Köcher, Das unsichere Gefühl der Sicherheit. FAZ Nr. 271 v. 20.11.1996; Kury, Opfererfahrungen und Meinungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland. BKAForschungsreihe Bd. 25. Wiesbaden 1992; Noelle-Neumann u.a., Die verletzte Nation. Stuttgart 1987; v. Oppeln-Bronikowski, Zum Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung. Göttingen 1970; Pfeiffer, Opferperspektiven — Wiedergutmachung und Strafe aus der Sicht der Bevölkerung. In: FS für Schüler-Springorum. Köln u.a. 1993, 53-80; Röhl, Rechtssoziologie. Köln u.a. 1987; Schöch: Empirische Grundlagen der Generalprävention. In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 1081-1105; ders., Die Entdeckung der Verbrechensfurcht und die Erkundung der Vorstellungen und Erwartungen der Geschädigten als Forschungsgegenstand. In: Das Jugendkriminalrecht als Erfüllungsgehilfe gesellschaftlicher Erwartungen? hrsg.v. Bundesministerium der Justiz. Bonn 1995, 68-82; Schwarzenegger, Die Einstellungen der Bevölkerung zur Kriminalität und Verbrechenskontrolle. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung im Kanton Zürich. Jur. Diss. Zürich 1992; Sessar u.a., Wiedergutmachung als Konfliktregelungsparadigma? KrimJ 18 (1986), 86-104; Smaus, Das Strafrecht und die Kriminalität in der Alltagssprache der deutschen Bevölkerung. Opladen 1985; Staudacher, Die Einstellung der Bevölkerung zu Kriminalität und Strafverfolgung. Aachen 1996.
Rechtsbewußtsein und Einstellung der Bevölkerung zu Schuld, Strafe und Verbrechen haben Bedeutung für die Rechtstreue der Bürger, die Mithilfe bei der Fahndung, das Anzeigeverhalten und die Mitarbeit bei der Wiedereingliederung von verurteilten Rechtsbrechern. Sie geben ebenso Aufschluß über die „Psychologie der strafenden Gesellschaft“ wie über die Billigung strafrechtlicher Sozialkontrolle. Es geht dabei um die Ansichten und Überzeugungen einer Gruppe über soziale Normen, für die sich mehr und mehr der Ausdruck „Akzeptanz“ eingebürgert hat (Röhl 1987, 177). Im Hinblick auf Normgeltung und Legitimation können weder Theorie, Praxis und Erneuerung des Strafrechts noch Repression und Prävention auf die Kenntnisnahme der gesellschaftlichen Meinung verzichten.
Im Gegensatz zum mehr emotionalen bis irrationalen Rechtsgefühl gilt Rechtsbewußtsein eher kognitiv und rational. Seine Bedeutungsinhalte umfassen zunächst die Rechtskenntnis, ferner die Vorstellungen über richtiges oder ideales Recht und schließlich die ethische Einstellung zur Rechtsordnung oder die generelle Achtung vor ihr. Zum Rechtsbewußtsein gehört also über das bloße Rechtswissen hinaus auch die innere Bejahung oder das Rechtsethos.
Die Legitimitätstheorien legen die Annahme nahe, es könnte gegenüber dem Recht insgesamt eine einheitliche. Einstellung geben. Jedoch ist empirisch eine solche allgemeine Einstellung gegenüber dem Recht nicht leicht auszumachen. Am ehesten ist sie mit Einstellungen und Haltungen in einen gedanklichen Zusammenhang zu bringen, den man neuerdings als sogenannte positive Generalprävention begreift. Gemeint ist also das Norm- und Rechtsvertrauen, das Vertrauen in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung und die Rechtstreue der Bürger (siehe oben § 13, 4). Zwar läßt sich ein allgemeines Rechtsbewußtsein mit greifbarem Inhalt schwerlich erkennen. Selbst bei Juristen ist es, wenn man neueren Erscheinungen des zivilen Ungehorsams bis zur sogenannten Richter-Blockade folgt, nicht mehr einheitlich und ungebrochen lebendig (siehe dazu Hassemer 1985, 325 ff.). Gleichwohl wird eindeutig als Recht anscheinend immer und überall nur das Strafrecht identifiziert. Daher sind Kenntnisse und Einstellungen der Bevölkerung zum Strafgesetz, zu Schuld, Strafe und Strafvollzug wiederholt untersucht worden, hauptsächlich mit Hilfe von Meinungsumfragen.
Die Ergebnisse der Einstellungsmessungen über verbale Äußerungen sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, da die Einstellungen theoretische Konstrukte darstellen, die affektiv-bewertende und verhaltensbezogene Aspekte beinhalten sowie mitunter einem schnellen Wechsel unterliegen. Kennzeichnend äußert sich dies bei der Forderung nach der Todesstrafe.
Die Beurteilung von Sinn und Zweck der Strafe unterlag im letzten Vierteljahrhundert einem ständigen Wandel (vgl. v. Oppeln-Bronikowski 1970, Dölling 1985; Schöch 1985; Smaus 1985; Sessar u.a. 1986; Schwarzenegger 1992). Sprachen sich in der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren 42-51% der Befragten für Sühne und Vergeltung als Strafzwecke aus, während lediglich 23-38% die Besserung und Wiedereingliederung befürworteten, sahen in den siebziger Jahren bereits 55-60% die Resozialisierung als vorherrschenden Strafzweck an. Anfang der achtziger Jahre betrug dieser Anteil — zum Teil international — über 80%. Demgemäß fanden die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung und die gemeinnützige Arbeit — auch international betrachtet — zunehmend Rückhalt und Unterstützung in der Bevölkerung. Erst unter dem Eindruck spektakulärer Verbrechen in der zweiten Jahreshälfte 1996 tendiert die Bevölkerung eher zu einer Strafverschärfung (Köcher 1996).
Jedoch zielen die Strafwünsche der Bevölkerung hauptsächlich auf Wiederherstellung des Zustandes vor dem Rechtsbruch (Smaus 1985, 97), was durch Motive des Anzeigeverhaltens und das Engagement der Tatopfer im Rahmen des Strafverfahrens dokumentiert wird. Vorrangig werden Schadensausgleichszahlungen durch Versicherungen oder Täter erwartet, so daß das Interesse am Strafverfahren weitgehend bestimmt wird vom Wunsch nach Ausgleich der persönlich erlittenen Einbußen. Die Schadenswiedergutmachung als alternative Sanktionsform findet hierbei eine breite Akzeptanz. Überhaupt besteht eine generelle Bereitschaft, zugunsten von Wiedergutmachung auf weitere Sanktionen zu verzichten, die diese gefährden könnten (vgl. Kilchling 1995). Allerdings steigt mit wachsendem Unsicherheitsgefühl der Anteil punitiv eingestellter Personen (Köcher 1996), wohingegen der Anteil derjenigen, die in erster Linie für die Wiedergutmachung eintreten, sinkt.
Der Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte stimmt lediglich ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung zu, wobei bedeutsame Faktoren für die Einstellung der Öffentlichkeit die Schichtzugehörigkeit und Schulbildung des Befragten, aber auch die Schichtzugehörigkeit des Täters sind.
Die Einstellung gegenüber dem Strafvollzug war bis Herbst 1996 verständnisvoll, da bei vielen Befragten die Auffassung vorherrschte, daß der herkömmliche Vollzug in der Praxis nicht in dem Maße zur Resozialisierung beiträgt, wie man dies erwartet hat. Deshalb billigte mehr als die Hälfte das Modell eines behandlungsorientierten Vollzuges, um bei Straftätern eine Besserung zu bewirken. Wesentliche Faktoren für eine liberale Einstellung sind Kenntnisse der Befragten über Strafvollzug und Entlassungshilfe, höhere Allgemeinbildung und berufliche Qualifikation sowie geringeres Alter.
Die Einstellung der Bevölkerung äußert sich nicht nur zu Aspekten der Verbrechenskontrolle, sondern auch zum Verbrechen selbst. Veränderungen des Strafwürdigen und die Dynamik des Verbrechensbegriffs sind Ausdruck des Wertewandels in der Gesellschaft, sie gewinnen als Strategi© der Verbrechenskontrolle Gestalt. Nach einer international vergleichend angelegten Wertestudie aus den achtziger Jahren läßt sich nicht erkennen, daß die bundesdeutsche Bevölkerung ein geringeres Interesse an „Recht und Ordnung“ habe oder permissiver eingestellt sei als die Bevölkerung in anderen westeuropäischen Staaten oder in den USA (anders die Deutung von Noelle-Neumann u.a. 1987, 297).
Sieht man von der allgemein unterschätzten Verkehrsdelinquenz ab, so wird die Struktur der Kriminalität, insbesondere die Vorrangstellung des Diebstahls, richtig gesehen, jedoch werden das Ausmaß vorsätzlicher Tötungsdelikte und die Zunahme der Gewaltkriminalität allgemein überschätzt.
Im Rahmen einer bundesweiten Untersuchung gingen 71% der Befragten von einem Anstieg der Kriminalität in der Bundesrepublik aus, 18% meinten, sie sei gleichgeblieben, und nur 5% vermuteten einen Rückgang. Mit Ausnahme älterer Menschen waren jedoch nur wenige Befragte über diese Zunahme beunruhigt (Kerner 1980, 89; Schöch 1985, 1094).
Im ganzen nahm die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland den Kriminalitätsanstieg in den 80er Jahren nur abgeschwächt wahr, so daß auch nur in geringem Umfang Strafschärfung als Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung gefordert wurde (Dölling 1985, 103; Schöch 1985, 1094, 1102; siehe auch Arnold 1996). Denn bereits die Vorstellung, für sein Verhalten bestraft zu werden, wird als so gravierend empfunden, daß hiervon abschreckende und normbekräftigende Wirkungen ausgehen. Doch bleiben Gewalt- und Verkehrsdelinquenz noch immer erheblichen Fehleinschätzungen unterworfen. Wesentlich dafür ist sicherlich die verzerrende massenmediale Vermittlung des Kriminalitätsgeschehens; nur sie vermag die verbreitete Verbrechensangst und Überschätzung der Gewaltkriminalität zu erklären (siehe dazu LB § 33,3). Aber aber auch unabhängig davon sind in den 90er Jahren die Unsicherheitsund Bedrohtheitsgefühle in Ost- und Westdeutschland gewachsen (vgl. Dörmann 1996, 36 m.N.; Köcher 1996; a.A. Boers u.a. 1995; kritisch Schöch 1995, 68 ff.).
Befragungen des letzten Jahrzehnts läßt sich ferner entnehmen, daß die Bevölkerung dem veränderten Unwerturteil des Gesetzgebers folgt und die Neubewertung, z.B. im Bereich der Umwelt- und Wirtschaftsstraftaten, mitträgt. Die Bereitschaft der Bevölkerung, eine rationale und liberale Kriminalpolitik zu stützen, bleibt allerdings ambivalent, labil und nicht zuletzt von der jeweils perzipierten Verbrechensentwicklung abhängig. Denn seit Mitte der 90er Jahre hat sich die Einstellung der Bevölkerung geändert und nehmen „die Befürworter einer härteren Gangart“ rasch zu (Köcher 1996).
§ 16 Zusammenfassung
Schrifttum: Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136-149; Cohen, Against Criminology. New Brunswick u.a. 1988; Garland, The Limits of the Sovereign State. Strategies of Crime Control in Contemporary Society. BritJCrim 36 (1996), 445-471; Hassemer, Perspektiven einer neuen Kriminalpolitik. StV 15 (1995), 483-490; Jung: Sanktionensysteme und Menschenrechte. Bern u.a. 1992; ders., Zur Privatisierung des Strafrechts. In: Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, hrsg.v. Jung u.a. Baden- Baden 1996, 69-78, Sack, Das Elend der Kriminologie und Überlegungen zu seiner Überwindung. In: Strafe, Strafrecht, Kriminologie, hrsg.v. Robert. Frankfurt/ M. 1990, 15-55; ders. u.a. (Hrsg.), Privatisierung strafrechtlicher Kontrolle: Befunde, Tendenzen. Baden-Baden 1995; Thomas/Bishop, The Effect of Formal and Informal Sanctions on Delinquency: A longitudinal comparison of labeling and deterrence theories. JCrim 75 (1984), 1222-1245.
Die Theorie der Verbrechenskontrolle will über Ziele und Mittel orientieren sowie die handlungsleitenden Strategien wissenschaftlich begründen. Deren Dimensionen reichen vom Einsatz strafrechtlicher Mittel bis zur privaten Verbrechenskontrolle und informellen Konfliktregelung. Herkömmlich wird Verbrechenskontrolle gedanklich durch die Theorie der Strafe vermittelt. Dabei steht — was nicht immer bewußt geblieben ist — hinter der jeweiligen Grundposition eine bestimmte Staatsauffassung. Die Staatstheorie ist für die Analyse der Verbrechenskontrolle geradezu zentral, weil der Staat die Verantwortung ebenso für die Sicherheit wie für die Kontrolleinrichtungen trägt. Dies erneut verdeutlicht zu haben, ist das Verdienst sowohl neoklassischer wie herrschaftskritischer Theorien. Es scheint, daß in der Gegenwart diese Beziehung stärker mitbedacht wird, ja mitunter die Theorie der Verbrechenskontrolle überlagert (vgl. Garland 1996, 448 ff., 459 ff. aus britischer Sicht). So mag aus herrschaftskritischer Perspektive die kriminologische Grundorientierung, welcher die Legitimation des demokratischen Rechtsstaats nicht als problematisch gilt, als „etatistisch‘“ erscheinen, hingegen sich aus deren Sicht die Gegenposition als anarchistisch-utopisch oder nur schlicht als wirklichkeitsfremd darstellen. Nimmt man dem Staat das Strafrecht weg, so zerstört man den Staat selbst (Jung 1996, 73).
Der kriminologische „Objektbezug zum Staat‘ (Sack 1990, 33 f.) ist richtigund wichtig, aber nicht neu und überdies zu eng. Staatstheorie, Staatsfunktionen (Isymbolische] Strafgesetzgebung, Polizei- und Justizverwaltung, Rechtsprechung; sachlich insbesondere Funktionstüchtigkeit, Gleichbehandlung, Drogenpolitik und Folter) und internationale Beziehungen (u.a. Verträge mit Einschränkung von Souveränität und Kompetenz) zählen bei unterschiedlicher Gewichtung seit langem zu Problemfeldern kriminologischen Denkens. Jedoch kann eine auf den Staat beschränkte Theorie der Verbrechenskontrolle nach Breite und Vielfalt der Realität nicht genügen. Die Fülle und Probleme außerstaatlicher Anstrengungen informeller Verbrechenskontrolle blieben sonst außer Betracht. Kritikanfällige Tendenzen zur Privatisierung staatlicher Kontrolle verdeutlichen dies (vgl. Sack u.a. 1995, 337; Jung 1996, 71 ff.). Der allein auf den Staat gerichtete Objektbezug der Kriminologie verengt das Blickfeld. Er greift daher zu kurz. Selbst die Verwertung des Ertrages von allgemeiner Staatslehre und Politikwissenschaft hilft hier mangels Konkretisierung nur seiten weiter.
Schon von hier aus wird einsichtig, daß und warum eine integrierende Theorie der Verbrechenskontrolle, die über einen bloß additiven Zusammenhang verschiedener Strafziele hinausreicht, Kaum in Sicht ist, fehlt es doch ebenso an einer integrativen Theorie des Verbrechens. Nach dem verfügbaren Theorieangebot ergeben sich drei Optionen:
® neoklassische Theorie, ® Präventionstheorie und ® theoretische Perspektiven kritischer Kriminologie (Labeling approach, Konfliktkriminologie oder materialistisch-interaktionistische Gesellschaftstheorie).
Die neoklassische Theorie der Verbrechenskontrolle bietet empirisch orientierter Rationalität wenig Raum zur Entfaltung. Der Gedanke der Folgenorientierung ist ihr fremd und verschlossen. Entsprechendes gilt für die konzeptuelle Einbeziehung funktionaler Äquivalente und unbeabsichtigter Nebenwirkungen der Strafe.
Daher bleibt es bei der Alternative von Präventionstheorie einerseits und herrschaftskritischem Diskurs andererseits oder rechtspolitisch bei Vorbeugung, Intervention und Sozialverteidigung hier sowie „defensivem Formalismus“ und „negativer Kriminalpolitik“ dort. Auf diese Alternative konzentriert sich in der Gegenwart ein beachtlicher Teil der internationalen Theoriediskussion und rekrutiert Anhänger. Kritisch-kriminologische Perspektiven sperren sich der „Verwissenschaftlichung“ staatlicher Verbrechenskontrolle. Sie sind bestenfalls zur kritischen Begleitung oder zur Identifizierung des Mängelprofils bereit, verwerfen jedoch Beiträge zu einer konstruktiven Problemlösung. Denn sie sehen die „eigentliche Leistung des Strafrechtssystems“ im Beitrag zur „Ausgrenzung“ und „zur Reproduktion sozialer Klassen“.
Eine solche verengende Sichtweise wird schon den strafrechtlichen Anstrengungen in den Bereichen von Umwelt, Verkehr, Wirtschaft sowie Gewalt in der Familie und Minderheitenschutz nicht gerecht. Einzig das als kriminalpolitische Theorie ausbaufähige Präventionskonzept ermöglicht Verwissenschaftlichung und Zweckrationalität, die durch Beachtung der bekannten rechtspolitischen Grundsätze (Humanität, Freiheit, Gleichheit, Verhältnismäßigkeit) gesteuert und gebändigt werden. Derartiger Einsicht ist wohl zuzuschreiben, wenn die Prävention in den neuen Lehrbüchern (vgl. Kunz 1994, 65, 265 ff.; Bock 1995, 10 f.; Kürzinger 1996, 319 ff.; Göppinger 1997, 42 f.) besondere Beachtung, ja strategische Bedeutung findet, und sie für das Strafrecht geradezu als „neues Paradigma“ (so Hassemer 1995, 486) gilt. Konzeptuell ist auch die technische Prävention miteinzubeziehen. Gefahren lassen sich durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Beobachtung und Überprüfung begrenzen. Ferner bedürfen die Generalprävention lerntheoretischer Vertiefung, hingegen die Individualprävention der Reaktivierung ihrer Komponenten auch außerhalb der Resozialisierung. Aber selbst dann sind noch unterschiedliche Konzepte denkbar. Ihre Konsequenzen – empirisch verdeutlicht — erleichtern die Auswahl, ohne sie jedoch im Hinblick auf die Wertentscheidung bestimmen zu können.
Schließlich erscheint auch das Spannungsverhältnis zwischen den Menschenrechten und der Verbrechenskontrolle unauflösbar. Denn die Menschenrechte sind gelegentlich überall gefährdet, wo sich Staat und Gesellschaft, wo sich Menschen krimineller Handlungen ebenso wie sanktionierender Maßnahmen gegenüber anderen bedienen. Dies schließt zugleich ein, nicht nur auf den Täter zu blicken, sondern auch die Belange des Opfers und des rechtskonformen Bürgers zu beachten. Auch hier gilt es, Menschen- und Bürgerrechte zu wahren sowie „Schmerz“ zu lindern. Wie Umfang und Reichhaltigkeit des zeitgenössischen Schrifttums erkennen lassen, bildet diese Thematik den Großteil der aktuellen Diskussion.
Danach bleibt es bei der Blickschärfung für die gestaltende Kraft der Verbrechenskontrolle. Diese bezieht sich auf Umfang, Struktur und Bewegung der Kriminalitätebenso wie aufihre Auswirkungen bezüglich Schicksal und Recht von Straffälligen und Verbrechensopfern sowie auf das Bild, das wir von ihnen gewinnen. Selbst eine historische Lagebestimmung des Verbrechens, die seine Merkmale auf übergreifende Epochenstrukturen bezieht, kann nur über Verbrechenskontrolle geleistet werden. Insbesondere läßt sich der Wandel der Kriminalität nicht von Veränderungen im Bereich der Kriminalisierung trennen: „Das Maß strafrechtlicher Sozialkontrolle korrespondiert dem empirischen Erscheinungsbild der Kriminalität“ (Blasius 1988, 144, 147). Auch wenn sich einzelne Richtungen in Kriminologie, Straftheorie und Kriminalpolitik von der Verbrechenskontrolle und der Erfolgseinschätzung abkoppeln wollen, zumal das Strafrecht anscheinend keinen Einfluß auf die Verbrechensbewegung entfaltet, bleibt die Frage nach dem Zusammenhang wichtig und aktuell. Schon die Theorie der Kriminalität setzt demnach die Theorie der Verbrechenskontrolle voraus.
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