§ 14 Herrschaftskritische Ansätze
Suchen Präventionskonzepte sowie Analysen der Pönologie, der Behandlungs- und Sanktionsforschung das strafrechtliche Sanktionensystem wirksamer, durchsichtiger und rationaler zu gestalten, ohne Humanität und Rechtsstaatlichkeit zu beeinträchtigen, so wenden sich andere Forschungsansätze entschieden dagegen. Diese bezweifeln Möglichkeit und Wünschbarkeit, ja Zulässigkeit und Legitimität der „Verwissenschaftlichung“ strafrechtlicher Sozialkontrolle. Ist es anfangs der Zweifel an der möglichen Erneuerungsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit des Kriminalrechts, so drängen unter der Verdächtigung staatlicher Macht zunehmend herrschaftskritische Ansätze vor. Substantiell stehen konsensorientierte Auffassungen solchen des Konfliktmodells, das eine allgemeine Wertüberzeugung bestreitet, gegenüber. Demgemäß umfassen Theorien zur Verbrechenskontrolle heute ebenso strafrechtslegitimierende Positionen wie solche der Herrschaftskritik. Geht es zunächst um die Aufdeckung ‚„verborgener“ Mechanismen zwischen Strafe, sellschaft und kriminellem Abweicher, so rücken allmählich strukturelle Unterschiede und Spannungen sowie Interessen- und Klassengegensätze in den Mittelpunkt. Die folgenden Konzepte, die von der Sündenbocktheorie und dem Labeling approach über die Konflikttheorie und den Neomarxismus bis zur abolitionistischen Perspektive reichen, verdeutlichen das Spektrum herrschaftskritischer Theoriebildung.Ge-
- Theorie von der Ausstoßung des Sündenbocks
Schrifttum: Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft. München u.a. 1957; Frey-Rohn, Das Böse in psychologischer Sicht. In: Das Böse. Studien aus dem C.G. Jung-Institut Zürich. Bd. XIH. Zürich u.a. 1961, 161-210; Girard, Aussto- Bung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt/M. 1992; Herren, Freud und die Kriminologie. Stuttgart 1973; Jäger, Psychologie des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft. In: Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, hrsg. v. Reiwald (Zürich 1948), neu hrsg. mit Beiträgen von Jäger u.a. Frankfurt/M. 1973, 20-42; Kitzinger, Die Stellung der Gesellschaft zum Verbrechen und zur Strafe. Tübingen 1925; Mechler, Der Verbrecher als Sündenbock der Gesellschaft. ZRP 4 (1971), 1-3; Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963; Naegeli, Die Gesellschaft und ihre Kriminellen — Ausstoßung des Sündenbocks. In: Verbrechen — Schuld oder Schicksal, hrsg. v. Bitter. Stuttgart 1969, 40-72.
Gehen die kriminologischen Erklärungsansätze überwiegend von der Tat- und Tätersituation aus, indem sie dem sogenannten Kausalparadigma folgen, so stellt die Theorie von der Ausstoßung des Sündenbocks vorwiegend auf die sozialen Reaktionen und die Psychologie der strafenden Gesellschaft ab (dazu Kitzinger 1925; Bauer 1957, Jäger 1973). Danach ist es die Gesellschaft, die sich ihre Verbrecher selbst schafft. Denn sie braucht sie zur Abreaktion ihrer Affekte (so insbesondere Mitscherlich 1963, 104 f., 144 f.; Naegeli 1969, 40 ff.; Mechler 1971).
Der Begriff des Sündenbocks findet sich schon im Alten Testament. Im Dritten Buch Mose, Kap. 16 Vers 3 ff. belädt Aaron einen Ziegenbock mit aller Schuld der Israeliten und schickt ihn „in die Wüste“. Es handelt sich hier also um den Sündenbock im wörtlichen Sinn, auf den die Sünden der anderen übertragen werden (dazu Naegeli 1969, 50). Die Erscheinung von Sündenböcken läßt sich einleuchtend auf das psychologische Phänomen der Schattenprojektion zurückführen. Projektion bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, innere Unlustgefühle und eigene Schwächen auf andere Menschen und selbst auf Gegenstände zu verschieben, die dann gleichsam als Blitzableiter dienen. Weil der einzelne nicht in der Lage ist, den eigenen Schatten zu akzeptieren, spaltet er ihn außen wird das Böse auch ein Außen, also als etwas Fremdes erlebt. Die Projektion dient dem einzelnen als Hilfsmittel, um sich von seinen Schuldgefühlen, die durch das Vorhandensein des Schattens hervorgerufen werden, zu entlasten (Herren 1973, 79). Dieser andere, auf den das eigene Böse projiziert, an dem es verurteilt und gebrandmarkt wird, ist der Sündenbock. Er ist gleichsam unser Stellvertreter, da er unseren eigenen Schatten auslebt. Indem wir ihn verfolgen und bestrafen, tun wir es also mittelbar uns selbst an. Das biblische Wort vom Splitter im Auge des anderen und vom Balken im eigenen Auge, den man nicht sieht, spiegelt den Mechanismus der Schattenprojektion deutlich wider (vgl. Matthäus Kap. 7 Verse 3-5; Frey-Rohn 1961, 182). Daher übt auch das, was man trotz der bewußten Ablehnung projiziert, unbewußterweise eine gewisse Faszination aus. Der Sündenbock wird gleichzeitig verflucht und verehrt. Auch wird mit Hilfe der Fremderniedrigung eine Selbstidealisierung vorgenommen.
Auf das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Verbrechern angewandt, bedeutet die Schattenprojektion, daß jeder einzelne seine eigenen kriminellen Tendenzen auf den Verbrecher projiziert. Er kann sie dadurch dem Delinquenten ankreiden und sie an ihm bestrafen. Der Verbrecher wird so zu unserem Stellvertreter. Darüber hinaus soll die Strafe das indirekte Strafbedürfnis der Gesellschaft befriedigen. Der Delinguent wird zum Sündenbock, der für die anderen büßen muß. Die Gesellschaft braucht somit den Verbrecher, um ihre eigenen kriminellen Tendenzen ausleben und ihre eigene Schuld auf den Sündenbock abladen zu können. Daher ist sie auch so wenig an einer echten Wiedereingliederung der Rechtsbrecher interessiert. So finden sich in Mythologie und Geschichte bekannte Beispiele für Sündenböcke, in denen sich das Erleben der Völker als Urerfahrung niedergeschlagen hat. Man denke nur an Hiob und an Ödipus, ferner an Hexenwahn und Judenverfolgung, zudem an Klassen- und Siegerjustiz sowie an Verliererkultur.
Richtig ist an derartigen Beobachtungen und Annahmen, daß die Einstellung der Gesellschaft für die Art der Verbrechenskontrolle und den Umgang mit dem Rechtsbrecher bedeutsam ist. Auch soll nicht verkannt werden, daß zugespitzt die Gesellschaft den Abweicher braucht und daß immer wieder der Appell an die Mitverantwortung der Gesellschaft notwendig ist. Trotz der Eingängigkeit und unbestreitbaren Faszination des Sündenbockmodells, nach dem die Last der Gesellschaft auf irgendeines ihrer Mitglieder geladen und dieses Mitglied als Sündenbock „in die Wüste geschickt“ wird, bleiben aber wichtige Fragen offen.
Vor allem bleibt erklärungsbedürftig, warum die Selektions- und Kontrollprozesse gegenüber Rechtsbrechern gerade so ablaufen, wie sie geschehen. Nach der Bibel war es das Los, das darüber entschied, nach der Kriminologie Lombrosos das körperliche Stigma des geborenen Verbrechers (dazu Herren 1973, 120 ff.), nach strafrechtlichem Verständnis ist es das tatbestandsmäßige sozialschädliche Verhalten. Dieses aber kann im Gegensatz zur Überlieferung, nach der das Verbrechen weitgehend als Schicksal erlebt und begriffen wurde, heute rational durchdacht, definiert und bewältigt werden.
Die Sündenbocktheorie kann daher nur einleuchtend machen, daß einzelne Personen oder Gruppen zu sogenannten schwarzen Schafen oder zu Sündenböcken abgestempelt werden und daß dieser Vorgang eine entlastende und die Gesellschaft festigende Funktion erfüllt. Diesem Befund liegt bereits die biblische Erfahrung zugrunde, daß Ärgernis kommen muß, doch wehe durch wen. Die Annahme kann aber nicht begründen, warum als Sündenbock etwa Herr X, und nicht Frau Y, ausersehen wird, warum tausend Sündenböcke ins Gefängnis geschickt werden und nicht bloß einhundert genügen oder warum die Auferlegung von Geldstrafen als Mißbilligung nicht ausreicht. Um dies erklären zu können, ist das Modell der Projektion zu einfach gedacht. Dies gilt auch für das theoretische Unvermögen, die beträchtlichen Unterschiede in der Stigmatisierung offiziell bekannter jugendlicher Rechtsbrecher zu erklären. Man denke etwa neuerdings an die unterschiedliche Zurückweisung extremistischer Gewalttäter, die ihrerseits andere Randständige oder Angehörige von Minderheiten als Sündenböcke für ihre anomische Situation und ihren Identifikationsverlust verantwortlich zu machen suchen. Hier ist schwierig zu entscheiden, wer letztlich als Sündenbock gilt. Im übrigen enthalten die der Diversionsstrategie folgenden zahlenmäßig beachtlichen Einstellungen bei schuldigen Rechtsbrechern, ferner die Verfahrensweise des vereinfachten Jugendverfahrens sowie die Erteilung von Weisungen, Auflagen und Freizeitarresten gerade zur Vermeidung unerwünschter Nebeneffekte kein oder ein nur sehr geringes Stigmatisierungspotential. Die zusätzlichen Möglichkeiten zur Tilgung des Schuldspruchs oder Beseitigung des Strafmakels tragen außerdem zur Entstigmatisierung bei. Darauf beruht nicht zuletzt die Zurückhaltung Herrens gegenüber der Sündenbockprojektion als Kriminalitätserklärung.
Trotz vorübergehender Aktualität, allerdings beschränkt auf den deutschsprachigen Raum Anfang der siebziger und erneut zu Beginn der neunziger Jahre, vermochte die Sündenbocktheorie nie eine herausragende Bedeutung in der Kriminologie zu gewinnen. Der Grund, warum sie heute kaum noch Anhänger findet, hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, daß die Tiefenpsychologie, der das Konzept der Schattenprojektion entstammt, allgemein an Einfluß verloren hat. Deren Erkenntnisse erweisen sich beim Versuch der praktischen Anwendung oft als wirklichkeitsfremd. Zudem sind sie nur schwer nachweisbar. Auch nimmt die Sündenbocktheorie wohl zu stark auf spektakuläre Kriminalfälle wie Gewalt- und Sexualverbrechen, neuerdings auch auf die ethnozentrische Gewalt, Bezug und kann auf die weniger aufsehenerregende Alltagskriminalität nicht überzeugend angewandt werden.
Hingegen liegt das Verdienst der Sündenbocktheorie ebenso wie jenes anderer Theorien in den praktischen Implikatiönen, nämlich in der appellativen Betonung der Mitverantwortung der Gesellschaft und der Humanisierung kriminalrechtlicher Reaktionen. Eine derartige blickschärfende Bedeutung teilt die Sündenbocktheorie allerdings mit dem sogenannten Labeling oder Social reaction approach. Der Vorzug gerade dieses Ansatzes besteht darin, das gesamte kriminalrechtliche System kritischer untersuchen und überprüfen zu können, ohne als Wissenschaftler die Distanz zu dem Untersuchungsgegenstand einzubüßen (dazu unten § 14, 2). Eine solche Analyse wird jedoch von den Vertretern der Sündenbocktheorie nicht beabsichtigt. Denn sie werfen sämtliche gesellschaftlichen Reaktionen gegen fast alle Abweicher oder bestimmte Gruppen (freilich ohne den Wirtschaftskriminellen!) pauschal „in einen Topf“. Die gelegentlich hilflose Erklärung zu der unterschiedlichen Einstellung der strafenden Gesellschaft gegenüber Gewaltund Sexualkriminalität einerseits sowie Verkehrs- und Wirtschaftsdelinquenz oder Links- und Rechtsextremismus andererseits macht das Dilemma der Sündenbocktheorie deutlich. Sind überdies strafrechtlich relevante Konflikte normal und ubiquitär, so ist nach anderer Erklärung zu suchen. In Betracht kommt dafür in erster Linie der Labeling approach.
2. Labeling approach (Sozialer Reaktionsansatz)
Schrifttum: Becker, Outsiders. London 1963 (deutsch Frankfurt/M. 1973); Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136-149; Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (1963). Frankfurt/M. 1967; Gray, The Labeling Perspective: Critique and Synthesis. Ann Arbor 1976; Hatke, A Critique and Test of Labeling Theory. A Sociopsychological Account of Deviance. Ann Arbor 1977; v. Hentig, Die Strafe. 2 Bde. Berlin u.a. 1954 und 1955; Pfohl, Ethnomethodology and Criminology: The Social Production of Crime and the Criminal. In: The Mad, the Bad and the Different, ed. by Barak-Glantz u.a. Lexington/Mass. 1981, 25-37; Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe. Tübingen 1968; Riklin, Stigmatisierungsproblematik und Tätigkeit der Medien im Rahmen der Strafverfolgung und der Prozeßberichterstattung. In: Stigmatisierung durch Strafverfahren und Strafvollzug, hrsg. v. Haesler. Diessenhofen/ CH 1981, 129-159; Rüther, Abweichendes Verhalten und Labeling Approach. Köln u.a. 1975; Sack, Neue Perspektiven der Kriminologie. In: Kriminalsoziologie, hrsg. v. Sack u.a. Frankfurt/M. 1968″, 431-475; Schüler-Springorum, Prügel und Pranger. In: FS für Henkel. Berlin 1974, 141- 150; Tittle, Labeling and Crime: An Empirical Evaluation. In: The Labeling of Deviance: Evaluating a Perspektive, ed. by Gove. New York 1975, 157-180.
Den Blick für die allgemeine „Konstruktion“ der Verbrechenswirklichkeit geschärft zu haben, ist vor allem der Ethnomethodologie und dem teilweise auf sie zurückgehenden Labeling-Ansatz zu danken (Sack 1968, 431 ff.; Pfohl 1981, 30 ff.). Während die Anhänger der Labeling-Perspektive ethnomethodologischer Richtung sich vornehmlich der Praxis gesellschaftlicher Kontrollinstanzen zuwenden, befassen sich die am Symbolischen Interaktionismus orientierten Theoretiker vorwiegend mit den Prozessen der Verfestigung kriminellen Verhaltens aufgrund sozialer Reaktionen, Etikettierung und deren stigmatisierender Folgen für die Betroffenen. Von mehr der Konflikttheorie verbundenen Vertretern des Labeling-Ansatzes werden überdies gesellschaftliche Macht- und Schichtstrukturen einbezogen.
Der Labeling-Ansatz stellt entscheidend die strafrechtliche Reaktion auf die Tat in den Mittelpunkt der Untersuchung. Da er Kriminalität als ubiquitär und gleichmäßig verteilt unterstellt, kann es nach ihm nur noch auf die Selektion und förmliche Etikettierung des Rechtsbrechers durch die sozialen Kontrollinstanzen ankommen. Diese schreiben Kriminalität wie ein „negatives Gut“ zu. Die Mächtigen suchen im eigenen Interesse den Status quo zu wahren. Sie etikettieren die sozial Ohnmächtigen und Randseiter. Aufgrund solcher Zuschreibungsprozesse gilt die offiziell bekanntgewordene Kriminalität als Ausdruck unterschiedlicher Machtverteilung in der Gesellschaft.
Den Labeling approach kann man nach folgenden fünf Aspekten begreifen:
- Er verneint einen Konsens in der Wertorientierung der Gesellschaft und geht von der Ubiquität oder Normalität des Verbrechens aus.
- Diebekannt werdende Verbrechenswirklichkeit wird durch Konstruktion des Verbrechens und Selektion der Verbrecher, und zwar durch
- die Entscheidung der gesellschaftlich Mächtigen bestimmt. Diese politisch begriffenen Prozesse sind
- durch stigmatisierende Zuschreibung gekennzeichnet. Um derartige Prozesse aufzubrechen und zu entschärfen, ergeben sich als kriminalpolitische Postulate:
- Entregelung, Entkriminalisierung, Dezentralisierung, Diversion und Alternativen zur Freiheitsstrafe (dazu §§ 11, 3; 18, 4.2) bis zur „radikalen Nichtintervention“ (Do less!).
Der Ansatz ermöglicht es, das gesamte System strafrechtlicher Sozialkontrolle, einschließlich der Psychologie strafender Gesellschaft und der Prozesse rechtspolitischer Willensbildung, zum Gegenstand empirischer Beschreibung, Untersuchung und Kritik zu machen, ohne sich mit jenem System „zu verheiraten“. Der Labeling approach bietet einen neuen Satz von Begriffen, analysiert ein breites Spektrum von Tatsachen und regt das Studium eines herkömmlich wenig beachteten Gegenstandes an. Er ist wegen seiner Blickschärfung für Strafverfahren, Rechtsanwendung sowie für die sozialen Konsequenzen von Selektion und Reaktion vor allem als Forschungsprinzip bedeutsam.
Seine Schwäche besteht darin, daß er zur Entstehung, Existenz und Erklärung von sozial unerwünschtem Verhalten, das nicht offiziell als Verbrechen bekannt und gekennzeichnet wird, eigentlich nichts sagen kann und es im übrigen auch nicht ändern will. Denn freilich besteht der Rechtsbruch als individueller, sozialer und sozialschädlicher Sachverhalt auch ohne förmliche Kenntnis- und Stellungnahme durch die staatlich organisierte Gesellschaft. Es kann nicht unklar sein, daß zu den Bedingungen, die den Definitionsprozeß zuerst auslösen, ein auffälliges Ereignis gehört. Doch diese Primärabweichung, damit die Entstehung des Rechtsbruchs und die etwaige Viktimisierung sieht der Labeling-Ansatz nicht als untersuchungs-, geschweige als erklärungsbedürftig an.
Ebensowenig interessiert er sich für die Qualität des Rechtsbruchs. Er beschäftigt sich also mit den sozialen Wirkungen auf eine Handlung, nachdem sie erfolgt ist. Dabei neigt er dazu, die Bedeutung der sogenannten Sekundär-Abweichung als Etikettierung und degradierende Statuszuweisung zu überschätzen. Kennzeichnend fehlt es an empirischen Belegen für seine Annahme (vgl. Tittle 1975, 157 ff.). Er leistet auch keine Klärung zur Frage, welche Art und Intensität von sozialen Reaktionen für eine folgenreiche Etikettierung erforderlich sind. Seinen Anhängern gilt pauschal alles als „Kriminalisierung‘, unabhängig von Art und Schwere der Sanktion. Jedem, der an Fragen der Resozialisierung, der Verhinderung von Rückfall oder ähnlichen Behandlungsgesichtspunkten interessiert ist, fällt auf, daß der Labeling-Ansatz hier so gut wie keine Hilfe bietet. Bei objektivem Vorgehen hält er den Instanzen förmlicher Sozialkontrolle einen Spiegel vor, kaum mehr. Auch ein solches Bestreben ist fraglos bedeutsam, selbst wenn man über seinen Anspruch streiten mag; jedoch als kriminologische Monokultur betrieben, führte es zu einer wissenschaftlichen Verkürzung und Verarmung. Überdies erscheint ebenso bemerkenswert wie folgerichtig, daß viele Anhänger des Labeling approach den Instanzen und Agenten strafrechtlicher Sozialkontrolle als Machtträgern zurückhaltend bis kritisch gegenüberstehen. Hingegen wenden sie Anzeigeerstattern und Opfern als den offenbar „Ohnmächtigen“ kaum Interesse zu. Tatsächlich ist die Täter-Opfer-Beziehung „oft inkongruent zu den jeweiligen Herrschaftsbeziehungen“ (Blasius 1988, 139). Jene Einstellung, die bis zur Parteinahme reichen kann, macht Verzerrungen in der Analyse wahrscheinlich, so billigenswert die Motive auch immer sein mögen.
Innerhalb der Sozialkontrolle ist vor allem das Teilsystem des Strafrechts für die Betroffenen mit schmerzlichen Sanktionen verbunden. Daher fragt man immer wieder nach überlegenen Strategien der Problemlösung. Wie nicht verkannt werden darf, können auch sozialtherapeutische oder sozialpädagogische Motive der Hilfe, Erziehung und Bildung ihre Kehrseite haben. Denn auch Sozialhilfe ist, sofern sie verwaltet wird, notwendig Herrschaft. Ja sie kann mitunter, wie selbst aus Fällen freiwilliger Erziehungsberatung und aus der Schulerziehung bekannt geworden ist, stigmatisieren. Sie mag ferner Formen der „Gängelei“ und „Iyrannei‘ annehmen. Es gibt, wenn man so will, nicht nur eine „repressive Kriminalpsychiatrie“, sondern auch eine ebensolche „Sozialpädagogik“ oder „Psychagogik“, soweit sie anwendungsbezogen sind. Jede praktische Einlassung auf das (straf-)rechtliche Bezugssystem zwingt die Erfahrungswissenschaft zu Kompromissen, macht sie „repressiv“, ja verdächtigt sie der Korruption und der Teilhabe an der Herrschaft. Als deren sichtbarer Ausdruck gilt vornehmlich die Kompetenz zur Stigmatisierung.
Die Kennzeichnung des Abweichers ist, wenn auch in unterschiedlicher Bedeutung, schon seit biblischer Zeit bekannt (Kainszeichen — 1. Buch Mose, Kap. 4, Vers 15). Erfolgsstrafrecht und altklassisches Strafrecht knüpften sie als Brandmarkung vornehmlich an die Straftat. Hingegen wurde sie von der Kriminalanthropologie vor allem auf die Täterpersönlichkeit bezogen. Ähnliche Erwägungen mögen in der Gegenwart bei der erwähnten Suche nach dem sogenannten Mörder- Chromosom wieder eine Rolle spielen. XYY-Chromosomen-Mißbildungen sollen die Aggressivität der Persönlichkeit anzeigen, dienen also als Erkenntnismittel. Die Stigmatisierung nimmt daher unter den Mitteln der Sozialkontrolle von jeher einen besonderen Rang ein. Zunächst meint Stigmatisierung nichts anderes als die Unterscheidung, als die positive oder negative Hervorhebung bestimmter Personen. Diesen werden kennzeichnende Eigenschaften zugeschrieben. Derartige Zuschreibungen können auf der einen Seite mehr auf die Attribute des „Heiligen“ tendieren oder auf der anderen Seite in Richtung des „Sünders“. Das Problem der Verhaltenskontrolle würde wahrscheinlich erleichtert werden, wenn man den sozialgefährlichen Personenkreis an bestimmten Kennzeichen, etwa körperlichen Stigmata oder Verhaltensmerkmalen, klar erkennen könnte. Wie jedoch die Geschichte zeigt, finden wir hier verhängnisvolle Irrtümer bis hin zu Wahnvorstellungen (z.B. Hexenverfolgung). Bei negativer Stigmatisierung treten also für den Betroffenen und seine Angehörigen mitunter zerstörerische Haupt- und Nebenwirkungen hinzu.
Damit trägt die Blickwendung von der Tat zum Täter, einstmals als Fortschritt gepriesen, Anzeichen eines Pyrrhussieges. Denn die lange Zeit vorherrschende Täterforschung führte zu dem, was man einen kriminologischen Persönlichkeitskult nennen könnte. Diese Entwicklung brachte auch wissenschaftlich den Übergang von der „bösen Tat“ auf den „bösen Menschen“. Man hat die mitunter verhängnisvollen Folgen solchen Wandels im Bild der Öffentlichkeit auch seit einigen Jahrzehnten erkannt, insbesondere das allmähliche Abstempeln (,labeling“). Eine derartige Veränderung kriminologischer Perspektiven wurde unvermeidlich, als man die Stigmatisierung der Tat nicht mehr genügen ließ und die Stigmata in der Persönlichkeit des Rechtsbrechers zu suchen begann. Mit dem Zurücktreten der Tat nur als Symptom einer vielleicht tief verwurzelten und umfassenden Fehlanpassung verselbständigten sich die vermeintlichen Kennzeichen der negativ auffälligen Persönlichkeit. Sie gewannen gelegentlich eine folgenreiche Eigendynamik. Diese wirkte wiederum auf das Bild vom Rechtsbrecher, den Ausleseprozeß von Anzeigeerstatter, Polizei und Rechtspflege zurück. Vermöge dessen wurden vor allem diejenigen Straftäter zu einer besonderen Behandlung ausgelesen, bei denen die allgemein bekannten Merkmale der sozial Auffälligen, wie z.B. persönliche Labilität, gestörte Familie, schulisches und berufliches Scheitern, gehäuft vorlagen. Derartige Merkmalshäufungen gingen als Syndrome sozial gefährlicher Personen in die Erfahrung ein. Von hier aus bestimmten sie wiederum das Bild der Wissenschaft. Die Fragwürdigkeit des an ihrer Stelle sichtbar werdenden Informationsflusses blieb lange Zeit außer Betracht.
Die Kennzeichnung der als Rechtsbrecher ermittelten Personen wird daher in den letzten Jahrzehnten zunehmend erörtert (vgl. Goffman 1967). Dabei handelt es sich freilich um mehr als einen Anwendungsfall der Erforschung sozialer Vorurteile und Stereotype oder um einen Ausdruck sozialer Ausgliederungs- und Isolierungsprozesse. Denn der Stigmatisierungsprozeß wird als sozialer Mechanismus rationalisiert (vgl. z.B. die abgestufte Regelung des BZRG) und der Verbrechenskontrolle bewußt dienstbar gemacht. Man denke nur an die neuere Diffamierung von Kinderpornographie, Sextourismus oder Gewalt in der Familie und extremistische Ausschreitungen. Außerdem ist an Fälle der Neukriminalisierung bei Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftsdelikten zu denken. In all diesen Fällen wird die Stigmatisierung als Präventionsmittel gezielt eingesetzt, obschon nicht immer erfolgreich. Aber auch Notwendigkeit und Schwierigkeit der Resozialisierung zeigen dies, einschließlich der begrenzten Korrekturfähigkeit von strafrechtlicher Stigmatisierung (dazu Riklin 1981, 129 ff.).
Deshalb hat man sich von einer statisch gefaßten und unabänderlich angesehenen Stigmatisierung zunehmend entfernt. Regelungen des Jugendstrafrechts (§§ 6, 30, 97 JGG) und des BZRG mit der Begrenzung und Tilgung des Strafmakels sowie dem Verwertungsverbot liefern dafür Zeugnis. Auch die Nichtöffentlichkeit der Verhandlung vor dem Jugendgericht (§ 48 Abs. 1 JGG) dient diesem Ziel. Sinngemäß das gleiche gilt für die Regelung des § 40 StVollzG, wonach aus dem Abschlußzeugnis über eine ausbildende oder weiterbildende Maßnahme die Gefangenschaft eines Teilnehmers nicht erkennbar sein darf, und ferner für die bedingte Entlassung „Lebenslänglicher“. Der Einsatz stigmatisierender Etikettierungen und Prozesse wird lediglich als „ultima ratio“ betrachtet und durch den Sozialstaatsgrundsatz begrenzt, zuweilen freilich bloß bezüglich einer Seite (etwa bei klassischer Delinquenz, jedoch mit Ausnahme der Wirtschaftsstraftäter und umgekehrt). Nur Sachverhalte, die vom Verbrechensbegriff genau umschrieben und pönalisiert werden, sollen und dürfen stigmatisieren. Aber auch hier zeigen die Prozesse der Über-, Ent- und Neukriminalisierung den ständigen Wandel, selbst wenn sich gewisse Grundmuster in Anlehnung an den Dekalog als zeitüberdauernd erweisen (siehe unten § 18, 4). Aufgrund des Übermaßes an Kennzeichnung und wegen der Zweckwidrigkeit können wir heute z.B. die Brandmarkung und die Prangerjustiz nicht mehr hinnehmen (zu den Frühformen und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen der Stigmatisierung v. Hentig 1954, 423 ff.; Schüler-Springorum 1974, 141 ff.).
Bestrebungen der Strafrechtsreform versuchen überdies, übermäßige Stigmatisierungseffekte zu beheben. Jedoch stoßen Gesetzgeber und praktische Verbrechenskontrolle ständig an ihre eigenen Grenzen. Diese ergeben sich schon aus dem immer beschränkten Potential der für die Verbrechenskontrolle zuständigen Einrichtungen. Da nach dem strafverfahrensrechtlichen Legalitätsprinzip Staatsanwalt und Polizei verpflichtet sind, wegen aller gerichtlich strafbareunnd verfolgbaren Handlungen einzuschreiten (§§ 152, 160, 163 StPO), ergibt sich die Notwendigkeit zur Beschränkung und Filterung oder Auswahl (siehe unten § 19, 4). Wollte das Kontrollsystem alle in Betracht kommenden Personen als Kriminelle definieren, so wäre es in seiner Kapazität überfordert. Es würde sich „zu Tode sanktionieren“ (vgl. Popitz 1968, 9). Auch widerspräche ein solches Vorgehen der Integrationsfunktion des Verbrechensbegriffes. Denn dieser kann ebenso wie die Strafe nur dann seine Aufgabe erfüllen, wenn er auf das Verhalten einer Minderheit beschränkt bleibt. Die Mehrheit zu sanktionieren, wäre sinnlos, ja wirkte gesellschaftlich dysfunktional. Deshalb müssen sich sowohl Verbrechensbegriff als auch Strafsanktion auf nur bestimmte Verhaltensweisen beziehen, die man als besonders sozialschädlich einschätzt. Offenbar darf nicht zu viel und nicht zu wenig gestraft werden. Das „budget des crimes“ ist so zu halten, daß die Normen für die Gruppenleistungen belangvoll bleiben.
3. Konfliktkriminologischer Ansatz
Schrifttum: Akers, Criminological Theories. Introduction and Evaluation. Los Angeles 1994; Chambliss u.a. (eds.), Whose Law, What Order? A Conflict Approach to Criminology. New York u.a. 1976; Hopkins, On the Sociology of Criminal Law. Social Problems 22 (1974), 608-619; Auff, Conflict Theory in Criminology. In: Radical Criminology, ed. by Inciardi. Beverly Hills u.a. 1980, 61-77; Keller, A Sociological Analysis of the Conflict and Critical Criminologies. Phil. Diss. An Arbor 1976; Krüger (Hısg.), Kriminologie. Eine feministische Perspektive. Pfaffenweiler 1992; Michalowski, Conflict, Radical, and Critical Approaches to Criminology. In: The Mad, the Bad and the Different, ed. by Barak-Glantz u.a. Lexington/Mass. 1981, 39-52; Quinney, Class, State, and Crime. New York 1980”; Reiman, „The Rich get Richer and the Poor get Prison“: Ideology, Class, and Criminal Justice. New York 1979; Smaus, Feministische Erkenntnistheorie und Kriminologie von Frauen. In: Geschlechterverhältnis und Kriminologie, hrsg.v. Althoff u.a. 5. Krim-J-Beiheft 1995, 9-27; Stallberg/Stallberg, Kriminalisierung und Konflikt — zur Analyse ihres Zusammenhanges. MschrKrim 60 (1977) 16-32; Williams u.a., Criminological Theory. Englewood Cliffs/N.J. 1988.
Nach herkömmlicher Ansicht beruht das Kriminalrecht auf normativer Übereinstimmung. Dabei führen Soziologen die sogenannte Konsenstheorie auf Durkheims Auffassung vom kollektiven Bewußtsein zurück. Hingegen vertritt die Konflikttheorie, insbesondere ihre marxistische Version, genau die entgegengesetzte Auffassung. Ausgangspunkt ist denn auch die Hypothese, daß es in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Konsens über grundlegende Werte und Ziele gibt; Normen seien vielmehr Ausdruck der Herrschaft einer Klasse über eine andere (Ouinney 1980, 39). Dabei sei es nicht der Mensch, der geändert werden müsse, sondern das System. Kein Wunder, daß Fragen nach Normgenese, Schlagworte wie Abschaffung des Strafrechts und Ablehnung des Resozialisierungskonzepts einen hervorragenden Platz einnehmen. Folgende Annahmen liegen dem konfliktkriminologischen Ansatz zugrunde (siehe Williams u.a. 1988, 103).
e Konflikt ist Bestandteil des sozialen Lebens. Die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sind stets knapp und ihre Verfügbarkeit begrenzt. © Das Bestreben, die Verfügungsbefugnis über diese Mittel zu erlangen, schafft Konflikte und die Kontrolle über die Mittel Macht. ®e Diese Macht wiederum wird eingesetzt, um die Herrschaftsgrundlage zu sichern, zu erweitern, und zwar auf Kosten anderer, weniger mächtiger Gruppen. ®e Zu den Herrschaftsmitteln zählt auch das Recht. Rechtsnormen drücken die Werte und Interessen der herrschenden Gruppe aus; zugleich engen sie den Verhaltensspielraum der weniger mächtigen Gruppen ein. ® Anwendung und Durchsetzung des Rechts lenken die Aufmerksamkeit vor allem auf die weniger mächtigen Gruppen, deren Mitglieder daher übermäßig kriminalisiert werden.
Zwar hat die Kriminologie seit mindestens sechs Jahrzehnten konflikttheoretische Erklärungen in ihren Wissensbestand aufgenommen. Dennoch bietet die Verknüpfung des Konzepts des sozialen Konflikts mit der interaktionistischen Problemsicht einen neuen Ansatz. Dabei bildet die Konfliktkriminologie eine Spielart der kritischen oder radikalen Kriminologie, auch soweit sie feministische oder neomarxistische Theoriebruchstücke aufnimmt. Seit den sechziger Jahren sind die Auseinandersetzungen über Inhalt, Anwendung und Legitimität von Rechtsnormen gewachsen sowie die Grenzen zwischen sozialer und politischer Abweichung mitunter problematisch geworden. Daher ist eine verstärkte Konfliktorientierung kriminologischer Analysen aktuell (vgl. Stallberg u.a. 1977, 16 ff., Huff 1980, 61 ff.). Eine Vielzahl von Veröffentlichungen aus dem anglo-amerikanischen Bereich belegt dies (Chambliss u.a. 1976; Reiman 1979; Quinney 1980; Michalowski 1981). Zu fragen bleibt freilich, wie sich Konflikt, Normsetzung und Kontrolle im einzelnen verknüpfen lassen und ob die Konflikttheorie hierfür einen aussagekräftigen Erklärungsrahmen liefert.
Zur Analyse fehlt es schon an einem weithin akzeptierten Konfliktmodell. Auch bleibt die Problemperspektive teilweise auf die Normenentstehung beschränkt. Ferner werden die Konflikte im vor- und außerrechtlichen Bereich durchweg außer Betracht gelassen.
Insbesondere jedoch befriedigt der Versuch, Konflikte als eine soziale Situation zu interpretieren, in der sich Individuen oder Gruppen als Gegner begreifen und ihre Ziele miteinander kollidierend erleben, konzeptuell nicht. Denn die konfliktbelasteten Kontakte zwischen Rechtsbrechern und Institutionen erfolgen überwiegend keinesfalls so, daß Akteure mit unterschiedlichen Situationsdefinitionen aufeinandertreffen und sie mitungleichen Chancen durchzusetzen versuchen. Gelegentliche Interpretationsversuche in diese Richtung, sei es im Rahmen der Jugenddelinquenz, des Terrorismus oder der Wirtschaftskriminalität, dienen eher der Entlastung als der Erklärung.
Gerade der außerordentliche Anteil geständnisfreudiger, durch Polizei und Justiz überführbarer Rechtsbrecher zeigt, daß es hier weniger um unterschiedliche Konstruktionsversuche von Realität geht als vielmehr um die Frage nach dem Ob und Wie kriminalpolitischer Konsequenzen. Vor allem kann dieser Sichtweise keine Strategie mit Erfolg entnommen werden, die an Kapazität zur Konfliktregelung und an Lebensqualität der gegenwärtigen Handhabung überlegen wäre. Es kann nicht darum gehen, gegenüber Opfern und Institutionen andere oder eigene Realitätsinterpretationen erfolgreich durchzusetzen, ohne damit den Basiskonflikt anzutasten. Vielmehr müssen Lösungsstrategien entwickelt werden, die an Potential, Eingriffsintensität, Partizipation, Befriedigung, Rechtsstaatlichkeit, also an Humanität und Lebensqualität, den bisherigen Konfliktregelungen überlegen sind. Nur an dieser Zielsetzung können sich demgemäß Sozialisation, die Vermittlung sozialer Kompetenzen sowie Sozialkontrolle ausrichten. Der konflikttheoretische Ansatz aber bleibt bei der Buchführung, Klassifizierung, Interpretation und zT. Verschärfung sozialer Konflikte stehen, ohne der Konfliktbewältigung selbst näherzukommen. Er vermittelt daher auch keine akzeptablen und weiterführenden Handlungsanweisungen; letztlich läßt er die Konfliktbeteiligten, insbesondere das Deliktsopfer, das ernicht einmal zur Kenntnis nimmt, allein. Selbst soweit die Konflikttheorie Formen der konfliktnahen Erledigung im Rahmen sogenannter informeller Justiz (dazu oben § 10, 3.3) angeregt und beeinflußt hat, sind die informellen Erledigungen marginal und weithin „im Schatten des Rechts‘ geblieben.
Am ehesten können sich Vorschläge als nützlich erweisen, die Konsenstheorie für Schwerkriminalität und die neutralisierende Konflikttheorie für Bagatelldelikte (Akers 1994, 25, 28, 30, Hopkins 1974, 613 f.), aber auch für einzelne Deliktstypen wie Schwangerschaftsabbruch, Nötigung (Demonstrationsgewalt) und Steuerhinterziehung, wo die Normüberzeugung gebrochen ist, nebeneinander anwenden.
Eine besondere Spielart oder Ausprägung des konfliktkriminologischen Ansatzes stellt die feministische Theorie dar. Wie diese auch immer konzipiert sein mag – liberal, radikal, marxistisch oder sozialistisch —, stets sucht sie mit kritischem Impetus den hauptsächlichen „blinden Fleck“ in der traditionell männlich geprägten kriminologischen Theorie als den strategischen Mangel zu identifizieren, um die grundsätzliche Bedeutung des Geschlechts und der Geschlechtsrollen in der Gesellschaft zu begreifen. Sie verfolgt damit eine Perspektive, die von der Theoriebildung in der kriminologischen Hauptströmung bestenfalls peripher erfaßt wird (vgl. Krüger 1992; Smaus 1995, jeweils m.N.).
Insgesamt betrachtet hat die feministische Kriminologie fraglos das kritische Potential gegenüber der herkömmlich etablierten Theoriebildung angereichert, insbesondere.zur Erklärung weiblicher Kriminalität. Doch im übrigen leidet die Perspektive an der verengten, auf die Geschlechtsunterschiede reduzierten Betrachtung der gesellschaftlichen Machtdifferenzen, ähnlich wıe dies für die neomarxistischen Ansätze zutrifft, indem diese die Kriminalitätsbedingungen auf den Kapitalismus beschränken. Zwar liefert die internationale Forschung zu den Geschlechtsunterschieden in den Entscheidungen der Kriminaljustiz gegenüber Rechtsbrechern einige Informationen, die mit der feministischen Theorie stimmig sind; jedoch hat das Geschlecht des Täters ganz überwiegend nur geringe oder keinerlei Wirkung auf Verfahren und Ergebnisse der Strafrechtspflege. Nach alledem wird man fragen, ob und inwieweit es gerechtfertigt ist, der feministischen Perspektive verglichen mit anderen kritischen Ansätzen eine derartige Prominenz einzuräumen, wie dies in zeitgenössischen Texten mitunter geschieht (vgl. dazu etwa Kunz 1994, 73-81).
4. Neomarxistische Ansätze
Schrifttum: Adamson, Toward a Marxian Penology: Captive Criminal Regulations as Economic Threats and Resources. Social Problems 31 (1984), 435-458; Bloch, Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt/M. 1977; Bohm, Radical Criminology: An Explication. Criminology 19 (1982), 565-589; Bonger, Criminalit€ et conditions &conomiques. Amsterdam 1905; Brodeur, La Criminologie marxiste: Controverses r¢es. Deviance et Societe 8 (1984), 43-70; Colvin/ Pauly, A Critique of Criminology: Toward an Integrated Structural-Marxist Theory of Delinquency Production. AJS 89 (1983), 513-551; Friedrichs, Radical Criminology in the United States: An Interpretative Understanding. In: Radical Criminology: The Coming Crises, ed. by Inciardi. Beverly Hills u.a. 1980, 35-60; Greenberg, Crime and Capitalism: Readings in Marxian Criminology. Palo Alto/Ca. 1981; Janssen u.a. (Hrsg.), Radikale Kriminologie. Themen und theoretische Positionen der amerikanischen Radical Criminology. Bielefeld 1988; Klockars, The Contemporary Crises of Marxist Criminology. In: Radical Criminology: The Coming Crises, ed. by Inciardi. Beverly Hills u.a. 1980, 92-123; O’Malley, Marxist Theory and Marxist Criminology. Crime and Social Justice 29 (1987), 70-87; Quinney, Class, State, and Crime: On the Theory and Practice of Criminal Justice. New York 1980°; Sparks, A Critique of Marxist Criminology. In: Crime and Justice 2 (1980), 159-210; Weiss, Radical Criminology: A Recent Development. In: IntHB 1983/1, 119-247, Young, Working Class Criminology. In: Critical Criminology, ed. by Taylor u.a. London u.a. 1975, 63-94.
Schon die grobe Zuordnung neomarxistischer Theorien zur Herrschaftskritik zeigt an, daß neomarxistische Ansätze in der westlichen Welt mit früheren Konzepten sozialistischer Kriminologie mit Ausnahme des Ausgangspunktes kaum gemeinsame Berührungspunkte aufweisen. Aber auch innerhalb der westlichen Kriminologie präsentiert sich die neomarxistische Theoriebildung keineswegs einheitlich und alternativ gegenüber anderen Theorien. In weiter Übereinstimmung mit den benachbarten herrschaftskritischen Ansätzen wird ein Wertkonsens in der Gesellschaft geleugnet und Kriminalität als eine Folge des Privilegiensystems der kapitalistischen Gesellschaft gedeutet. Im Unterschied zu Bonger (1905), der schon früh ein marxistisches Konzept der Verbrechensverursachung entworfen, jedoch im übrigen am Positivismus festgehalten hatte, lösen sich diemodernen Neomarxisten von der herkömmlichen sozialpathologischen Betrachtung und wenden sich bereits gegen die Kriminalisierung. Als „wirklich radikale Straftheorie“ gilt nicht die Unschädlichmachung des Verbrechers, sondern die „Unschädlichmachung der Gesellschaft“ (Bloch 1977, 296 f.).
Im übrigen stehen sich innerhalb des Neomarxismus zwei Positionen gegenüber: die Instrumentalisten und die Strukturalisten. Nach Auffassung der Instrumentalisten bedient sich die kapitalistische Klasse des Staates und des Rechtssystems als Instrumente, um ihre Ziele und Interessen durchzusetzen. Diese Auffassung wird wegen der Übervereinfachung gesellschaftlicher Strukturen, der zu sehr auf die wirtschaftliche Determinante reduzierten Theorie und der weithin fehlenden Berücksichtigung ideologischer und politischer Faktoren heute überwiegend zurückgewiesen. Die Strukturalisten betrachten das Recht nicht als einfaches Instrument in den Händen der Kapitalisten zum Schutze der Interessen. Vielmehr glauben sie, daß dem Recht wie auch dem Staat eine relative Autonomie zukomme, weil es nicht in unmittelbarer Weise den Willen der Besitzenden repräsentiere, sondern die sozialen Verhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft und damit die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Klassen reproduziere (Greenberg 1981, 192). Colvin und Pauly (1983, 513 ff.) nehmen überdies an, daß alle kriminelle Tätigkeit Ergebnis der kapitalistischen Produktionsbeziehungen und der Klassenstruktur der Gesellschaft sei.
Gegenüber der neomarxistischen Kriminologie wird eingewandt, daß sie auf der einen Seite den Kriminellen als Dissidenten der kapitalistischen Gesellschaft romantisiert, auf der anderen Seite das Deliktsopfer, das nicht selten derselben Klasse angehört wie der Täter, jedoch ignoriert (Brodeur 1984, 48, 56). Ferner kritisiert man, daß die neomarxistischen Kriminologen unpassende Vergleiche anstellen. Sie vergleichen etwa ein idealisiertes künftiges sozialistisches Gesellschaftssystem mit dem real existierenden kapitalistischen System der Gegenwart. Dies erscheint jedoch verfehlt. Vielmehr hätten sie das System der real existierenden kommunistischen Gesellschaft mit dem einer real existierenden kapitalistischen Gesellschaft vergleichen sollen, um die Lebensqualität, die Menschenrechte, aber auch die sozialen Unterschiede in den Gesellschaften objektiv beurteilen zu können.
Soweit die Neomarxisten auf der sentimentalen Vorstellung vom Täter als einem Kämpfer gegen die ausbeuterische und repressive kapitalistische Gesellschaft aufbauten, entspreche ein solches glorifizierendes Akteurmodell nicht mehr der heutigen Wirklichkeit, zumal die meisten Diebstähle nicht etwa die Befriedigung existentieller Bedürfnisse oder die Schaffung einer gerechten Gesellschaft bezweckten, sondern Luxusgüter zum Inhalt hätten. Ferner wird geltend gemacht, daß sich die Neomarxisten zu sehr auf den Interessengegensatz zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern beschränkten und dabei die zahlreichen Interessengruppen in der pluralistischen Gesellschaft übersähen. Die Ignoranz gegenüber den Problemen der sozialistischen Staaten und die in fanatischer Weise dem Kapitalismus zugeschobene Schuld für alles Übel dieser Welt ließen die marxistische Idee einer verbrechensfreien Gesellschaft auf der Basis einer sozialistischen Gesellschaftslehre utopisch erscheinen (dazu Klockars 1980, 92 ff.).
Wenn sich aber die neomarxistischen Kriminologen — unabhängig davon, ob sie sich als Instrumentalisten oder Strukturalisten verstehen — darin einig sind, daß nur mit der Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems und der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung eine konfliktlose und deshalb verbrechensfreie Gesellschaft entstehen könne, so treffen sie sich in diesem Ziel nicht nur mit anderen herrschaftskritischen Ansätzen, sondern auch mit der ehemals sozialistischen Kriminologie. Jedoch im gravierenden Unterschied zu dieser stellt sich die Aufgabe der Verbrechenskontrolle für die neomarxistischen Ansätze der westlichen Kriminologie nicht, und zwar weder bezüglich der kapitalistischen Gesellschaft noch in der Utopie.
5. Abolitionismus
Schrifttum: Bianchi u.a. (eds.), Abolitionism Towards aNon Repressive Approach to Crime. Amsterdam 1986; Blad u.a. (eds.), The Criminal Justice System as a Social Problem: An Abolitionist Perspective. Liber amicorum Louk Hulsman. Rotterdam 1987; de Folter, On the Methodical Foundation of the Abolitionist Approach to the Criminal Justice System: A Comparison of the Ideas of Hulsman, Mathiesen and Foucault. Contemporary Crises 10 (1986), 39-62. Foucault, Surveiller et punir. Paris 1975 (deutsch: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1977); Hess/Steinert, Zur Einleitung: Kritische Kriminologie – zwölf Jahre danach. Krim), 1. Beiheft 1986, 2-8; Hulsman, Une perspective abolitioniste du systeme de justice p&nale et un schema d’approche des situations probl&matiques. In: Dangerosite et justice p&nale, €d. par Debuyst u.a. Genf 1981, 7-16; Kaiser, Abolitionismus — Alternative zum Strafrecht? In: FS für Lackner. Berlin u.a. 1987, 1027-1046; ders., Ist der Erziehungsgedanke wirklich veraltet? In: FS für Härringer. Pfaffenweiler 1995, 9-24; Mathiesen, The Politics of Abolition. Oslo 1974 (deutsch: Überwindet die Mauern! Neuwied 1979); ders., Die lautlose Disziplinierung. Bielefeld 1985; Papendorf u.a. (Hrsg.), Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet. Eine FS für Mathiesen. Bielefeld 1993; Quensei, Gefängnisse abschaffen — eine abolitionistische Perspektive? MschrKrim 73 (1990), 336-343; Scheerer, Die abolitionistische Perspektive. Krim) 16 (1984), 90-111; ders., Abolitionismus. HWKrim 5 (1991), 287-301; Schumann, Progressive Kriminalpolitik und die Expansion des Strafrechtssystems. In: FS für Pongratz. München 1986, 371-385; Smaus, Gesellschaftsmodelle in der abolitionistischen Bewegung. Krim) 18 (1986), 1 ff.; Vargha, Die Abschaffung der Strafknechtschaft. Studien zur Strafrechtsreform. 2 Teile. Graz 1896 und 1897.
Wie schon Sündenbocktheorie, Labeling approach und Konfliktkriminologie sowie die weit vorauseilenden Studien des Österreichers Vargha (1896, 1897) erkennen lassen, werden seit dem Positivismus der Jahrhundertwende die für die Strafe beanspruchte Notwendigkeit und die dem Strafrecht angesonnene Schutzaufgabe immer wieder angezweifelt. Die Bedenken gelten der Legitimität und Funktionstüchtigkeit der strafrechtlichen Sozialkontrolle. Sierühren gegenwärtig in der westlichen Welt erneut an die „Existenzfrage“ des Strafrechts. Nur in der sozialistischen Gesellschaft schien sich diese Frage kaum zu stellen, da hier der staatliche Strafanspruch noch ungebrochen verwirklicht wurde. Handelt es sich in den fünfziger und sechziger Jahren vorwiegend um Forderungen nach einem therapieorientierten Maßnahmenrecht anstelle des Strafrechts, so macht seit den siebziger Jahren zunehmend eine Richtung von sich reden, die international unter dem Namen „Abolitionismus“ bekanntgeworden ist. Diese Richtung postuliert eine „negative“ bzw. „alternative“ Kriminalpolitik oder anders gewendet eine „neue Theorie der Kriminalpolitik“ (Schumann 1986, 375).
Ob es sich hierbei lediglich um Strafrechtskritik, umfassende Theorie oder vielmehr politische Bewegung handelt, ist noch offen und im Fluß. In Europa steht der Abolitionismus seit Mitte der siebziger Jahre vor allem unter dem Einfluß von Foucault und Mathiesen. Treten die Neoklassiker für den starken Staat ein, so sind die Abolitionisten demgegenüber gerade antietatistisch eingestellt und bekämpfen strafrechtliche Behandlungsmaßnahmen hauptsächlich aus Sorge vor der Totalisierung sozialer Kontrolle (vgl. Foucault 1977, 324 ff., 392 ff.). Von hier aus stellen sie die Frage, ob es nicht auch ohne das Strafrecht gehe oder sogar besser gehen könnte (Scheerer 1984, 91). Allerdings versteht man sich als Kritiker des Falschen, ohne das Richtige letztverbindlich positiv benennen zu können.
Unter Hinweis auf geschichtliche Beispiele und konkrete Utopien kämpft man um die Wiederherstellung weitgehender Autonomie der Bürger, damit diese ihre Konflikte selbst regeln können. Dabei geht es um Entstaatlichung und Privatisierung der Konfliktlösung als kriminalpolitisches Ziel (zur Ideologie des Informalismus siehe oben § 10, 3.3). Mit dieser Kritik an der „Staatlichkeit des Strafrechts“, an „Sozialdisziplinierung“ und „Ausgrenzung“ läßt sich der Abolitionismus als Teil einer breiten staats- und systemkritischen Bewegung begreifen. „Nicht mehr also von der Forderung nach gerechter Anwendung des Strafrechts, sondern von der Forderung nach seiner Abschaffung sind heute sowohl Theoriebildung als auch empirische Forschung vieler kritischer Kriminologen in Deutschland (und Österreich) stimuliert“ (Hess/Steinert 1986, 8). Geht es anderen (Reform-)Bewegungen um ein besseres Strafrecht, so den Abolitionisten „um gar kein Strafrecht“ (Schumann 1986, 372).
Dezentrale, informelle Formen der Konfliktverarbeitung und Streitschlichtung sollen demgegenüber entwickelt werden. Teilweise dienen die Prinzipien des Zivilrechts, insbesondere der zivilrechtliche Vergleich, als Lösungsweg. Demgemäß sollen Schlichtung, Wiedergutmachung, Hilfe gegenüber Opfern und Verbrechensvorbeugung den Nachbarschaftsgruppen und anderen sozialen Netzwerken zur Erledigung überlassen werden.
Soweit derartige Alternativen erwogen oder gefordert werden, bewegen sich die Abolitionisten allerdings auf bereits ausgetretenen Pfaden der gängigen Diskussion internationaler Kriminalpolitik. Ein zusätzlich innovatives Element ist dabei nicht auszumachen. Sofern Schlichtungsund Wiedergutmachungsmodelle in Rede stehen, ist nicht zu übersehen, daß sich in diesem Rahmen die Abolitionisten vornehmlich auf die Bewältigung der Bagatellkriminalität beschränken. Wo es aber um die bedeutenden Dimensionen der Kriminalität geht, will man sich offenbar nicht festlegen und weicht aus. Die favorisierten Formen der Konfliktlösung zielen auf Minderung staatlicher Machtausübung und, wenn man so will, auch auf „weniger Schmerzzufügung“ gegenüber dem Täter. Daß damit auch die „sozialen Kosten“ des Strafrechtssystems insgesamt abnehmen, hat eine gewisse Plausibilität für sich. Dazu rechnet man offenbar auch die Abnahme von „systematisierter Herrschaftsausübung“ im Sinne von Sozialdisziplinierung und Entsolidarisierung. Die vermehrte Zumutung an „Schmerz“ gegenüber Opfern, und d.h. an Rechtsgütereinbußen und Lebensqualität dieser Gruppe, tritt dabei allerdings geflissentlich zurück.
Als häufigstes Argument wird eine geringere Stigmatisierung genannt. Dabei wird allerdings nicht selten übersehen, daß eine Stigmatisierung nicht schon durch eine wie auch immer geartete Umgestaltung von Strafverfolgung und strafrechtlichen Sanktionen ausgeschlossen wird. Denn jede Art von „Ausgrenzung“ und „Sonderbehandlung“, die aufgrund negativer Auslesekriterien erfolgt, mindert das gesellschaftliche Ansehen des Betroffenen. Repressive Maßnahmen, die an einen Rechtsverstoß anknüpfen und von der Gesellschaft nicht negativ bewertet werden, dürfte es kaum geben. Die Rückkehr zur Sozialkontrolle ohne Strafrecht oder zur Gesellschaftsjustiz, also zu einem Mehr an Privatautonomie, führt paradoxerweise zum Verlust an Privatheit. Zu Recht ist die Ablösung der lokalen Herrschaft geschichtlich als Befreiung erlebt worden. Auch war informelle Sozialkontrolle für das historische Subjekt oft mit größeren Beschwernissen verbunden als die normale Kriminaljustiz. Deshalb ist die These geringerer Stigmatisierung äußerst zweifelhaft.
Doch sprechen noch weitere Einwände gegen eine Verwirklichung abolitionistischer Vorschläge. Vergegenwärtigt man sich die Hauptzielrichtung des Abolitionismus, welche sich unter den Stichworten einer Wiedergewinnung von autonomen gesellschaftlichen Regelungen durch Minderung staatlicher Eingriffsbefugnisse zusammenfassen läßt, so stellt sich unwillkürlich die Frage nach einer dadurch heraufbeschworenen Rechtsunsicherheit und der Gefahr von Selbstjustiz. Gerade im Hinblick auf verfassungsrechtliche Vorgaben und Garantien erscheint die Vorstellung, daß Sanktionen von „autonomen“ Instanzen oder einzelnen Bürgern abhängig wären, äußerst befremdlich. Nichts verdeutlicht dies stärker als der neuere Bedeutungsgewinn privater Verbrechenskontrolle (dazu § 19, 4 u. Zehntes Kapitel), der über ein Unbehagen weit hinausreicht und den Abolitionisten erwartungswidrig ein Dilemma beschert hat. Obwohl konzeptuell stimmig und erwünscht, hat man sich so die Entwicklung offensichtlich nicht vorgestellt. Wo sich aber der Abolitionismus vom juristischen und rechtsstaatlichen Verfahren sowie vom Menschenrechtsansatz zugunsten einer Entregelung oder Entformalisierung entfernt, stellen sich die erwähnten Bedenken verstärkt ein. Deshalb sind die praktisch-kriminalpolitischen Implikationen der abolitionistischen Perspektive unannehmbar.
Diese Beurteilung schließt freilich nicht aus, daß sich einzelne Aspekte der im ganzen facettenreichen Bewegung aufgreifen und auch verwirklichen lassen. Dies scheint auch die Geschichte der einzelnen abolitionistischen Ansätze zu belegen. Vor allem sollten das moralische Pathos und die Antriebskraft für weitere Humanisierungsbestrebungen im Bereich der Strafrechtspflege nicht unterschätzt werden. Im übrigen läßt sich nicht verkennen, daß sich die abolitionistische Perspektive in starkem Wettstreit mit anderen Theorien der Verbrechenskontrolle und kriminalpolitischen Bewegungen befindet. Zu denken ist an die defense sociale nouvelle (dazu oben § 12, 1), an die Anstrengungen der Vereinten Nationen, an die Beschlüsse des Europarats sowie je nach Teilaspekt an Empfehlungen der Internationalen Strafrechtsvereinigung, von Amnesty international sowie von opferorientierten Zusammenschlüssen. An diesen konkurrierenden Bestrebungen und Beschlüssen müssen sich die kriminalpolitischen Forderungen der Abolitionisten messen lassen. Nach dem bisherigen Diskussionsstand kann jedoch nicht zweifelhaft sein, daß der Abolitionismus, gleich welcher Prägung, nach Güte, gedanklicher Durchdringung und Qualität der Begründung kriminalpolitischer Postulate kaum bestehen kann. Was noch bleibt, sind das Pathos der Radikalität und des moralischen Rigorismus sowie die Herrschaftskritik. Dabei schützt die Sensibilität für Herrschaft ironischerweise keinesfalls vor dem Versagen vor Ort. Denn „ein Kardinalfehler des Abolitionismus ist seine Ausblendung der Machtfrage“ (vgl. Ouensel 1990, 337).
Soweit der Abolitionismus unabhängig davon als selbständige Theorie der Verbrechenskontrolle begriffen werden kann, enthält er kein konsistentes Aussagesystem, das handlungsleitende Anweisungen zu einer zumindest erträglichen Verbrechensverfolgung vermittelte. Dies gilt in gleicher Weise für den Bereich der kleinen wie der großen Kriminalität. Zur Bewältigung der schweren Wirtschafts- und Umweltkriminalität äußert er sich nicht einmal, wohl wissend um das eigene Unvermögen. Überhaupt werden die möglichen Rückwirkungen von Interventionen auf die Kriminalitätsbewegung als äußerst gering eingeschätzt und wohl deshalb in der Erörterung vernachlässigt. Dem liegt offenbar die irrige Annahme zugrunde, daß das kriminalpolitische System, gleichgültig wie es organisiert und inhaltlich gestaltet ist, auf = Entwicklung des Verbrechens keinerlei Einfluß habe.
Zwar bleibt die grundsätzliche Kritik am Strafrecht. Aber gerade diese wird schon durch eine Gegenströmung im Rahmen der Alternativbewegung, ganz abgesehen von der neoklassischen Richtung, unterlaufen. Es ist daher noch nicht ausgemacht, ob die gegenwärtige Bewegung des Abolitionismus und „linken Postmaterialismus‘‘ mehr ist als der Ausdruck diffusen Unbehagens und der kritischen Distanz bis Ablehnung gegenüber staatlicher Herrschaft und damit auch dem Strafrecht. Schon jede weitere Entfaltung des Erziehungsgedankens erhöht aus abolitionistischer Sicht die Gefahr, daß das Strafrecht eine neue Legitimation durch den Anschein größerer Vernünftigkeit erhält (kritisch Kaiser 1995, 15).
No Comments