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§ 21 Kriminalität

  1. Begriff und Analyse der Kriminalität
    Kriminalität (abgeleitet von lat. crimen = Verbrechen) meint Verbrechen als soziale Erscheinung. Sie ist die Summe der strafrechtlich mißbilligten Handlungen. Es handelt sich also um die mit einem besonderen Unwerturteil belegten Rechtsbrüche (vgl. oben § 18, 4). Sie werden gewöhnlich nach Raum und Zeit sowienach Umfang, Struktur und Bewegung beschrieben.

Dabei bezeichnen Raum und Zeit die nationalen, regionalen oder lokalen Verteilungen von Rechtsbrüchen innerhalb eines bestimmten Zeitraums, gegebenenfalls im Zeitreihenvergleich. Der Umfang bezieht sich auf die Summe aller Rechtsbrüche, die bekanntgeworden sind, während Struktur die Differenzierung nach dem Schweregrad oder nach Deliktstypen und Deliktsgruppen zum Inhalt hat. Bewegung der Kriminalität umfaßt die Entwicklung der Gesamtkriminalität oder Teilmengen von ihr innerhalb bestimmter Zeiträume.
Die Daten der Kriminalität setzt man ferner mit den von der Rechtspflege verhängten Kriminalsanktionen in Beziehung und bereitet sie nach bestimmten Merkmalen der Rechtsbrecher auf. Dazu gehören vor allem Alter und Geschlecht, Vorstrafenbelastung, Familienstruktur, Schulbesuch und sozioökonomischer Status. Neuerdings schenkt die Kriminalstatistik auch der gemeinschaftlichen Begehungsweise, der Opfersituation, dem Schadensumfang und der Nationalität besondere Aufmerksamkeit.

2. Umfang, Struktur und Bewegung der registrierten Kriminalität
In der Gegenwart werden Umfang, Struktur und Entwicklung des Verbrechens als ernste Belastung, ja Bedrohung, jedenfalls als Herausforderung betrachtet. Dies kann freilich auch an der gesteigerten Empfindlichkeit liegen, Delikte selbst im Bagatellbereich nicht mehr reaktionslos hinzunehmen. Folgt man den Umfragen in der Bevölkerung, so gelten Verbrechensprobleme, Unsicherheit und Verbrechensfurcht als äußerst bedeutsam, insbesondere verglichen mit anderen Sorgen, die den Menschen heute plagen und seine Lebensqualität beeinträchtigen. Deshalb wird man nach dem Wirklichkeitsgehalt dieser Sorgen und damit wiederum nach Ausmaß, Schweregrad und Bewegung der Kriminalität fragen. Polizei- und Rechtspflegestatistik sowie Opferbefragungen liefern eine Reihe von Anhaltspunkten (Indikatoren), die begründete Rückschlüsse auf das Ausmaß, die Art und Veränderung tatsächlicher Kriminalität zulassen. Freilich wird auch bei solchem Vorgehen die soziale Wahrnehmung von Kriminalität thematisiert, jedoch als Problem der Diskrepanz zwischen offiziell registrierter Kriminalität und der Perzeption von Kriminalität aufgrund von Befragungen der Bevölkerung. Immerhin kann nicht zweifelhaft sein, daß durch Kriminalstatistik offiziell vermittelte Verbrechenswirklichkeit und erfragte Viktimisierung unterschiedliche Realitäten zeichnen, die sich aus methodischen Gründen nur schwer zur Deckung bringen lassen. Unter diesem Vorbehalt lassen sich die folgenden Feststellungen treffen.

2.1 Deutschland
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Die Kriminalitätsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. BewHi 31 (1984), 37-52; Boers, Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. MschrKrim 79 (1996), 314-337; von der Heide/Lautsch, Entwicklung der Straftaten und der Aufklärungsquote in der DDR von 1985 bis 1989. NJ 1991, 11-15; Kaiser, Entwicklung der Kriminalität in Deutschland seit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus. ZStW 106 (1994), 469-501; Kerner, Die Kriminalität macht keine Sprünge. Die Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität in Westdeutschland seit 1980. Neue Kriminalpolitik 8 (1996), 44-47; Kury/Richter/Würger, Opfererfahrungen und Meinungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland. Wiesbaden 1992.

Während des letzten Jahrzehnts wurden im Altbundesgebiet jährlich zwei bis sechs Millionen Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) polizeistatistisch erfaßt. Im Jahr 1995 waren dies im wiedervereinigten Deutschland gar 6,6 Millionen Fälle, die zur polizeilichen Anzeige und damit zur amtlicheh Registrierung geführt haben. Bezieht man diese Anzeigenmengen auf die Bevölkerung, so gelangt man zu einer Häufigkeitsziffer von etwa 8000 auf 100 000 Einwohner (1995: 8179). Dabei sind verzerrende Mehrfachzählungen vermieden. Sie werden seit 1984 bundesweit berücksichtigt. Allerdings sind bei dieser Berechnung die Verkehrsstraftaten, die nach der Strafrechtspflegestatistik mehr als ein Drittel aller Verurteilungen ausmachen (z.B. 1994: 34,5%), noch nicht erfaßt. Berücksichtigt man auch sie, so hat man in Anlehnung an die justizstatistischen Vergleichszahlen von einer jährlichen Verbrechensmenge von rd. neun Millionen amtlich bekanntgewordener Rechtsbrüche im gesamten Bundesgebiet auszugehen.

Würde man gar die Befunde der Opferbefragungen miteinbeziehen, wonach allein in der Mitte der achtziger Jahre rd. 30% der Bevölkerung viktimisiert und nur die Hälfte aller bewußt erlebten deliktischen Opfersituationen den Polizeibehörden als Anzeigen berichtet worden sind (vgl. Kury u.a. 1992, 391 ff.), so gelangte man zu einer Verbrechensmenge, die noch erheblich höher zu veranschlagen wäre, ohne schon damit den tatsächlichen Verbrechensumfang zu erreichen. Gegenüber einer derart verbreiteten Kriminalität in unserer Gesellschaft könnte es geradezu tröstlich erscheinen, daß im Altbundesgebiet jährlich „nur“ etwa 750 000 bis 800 000 Personen verurteilt werden, wenn sich hierin nicht auch der hohe Anteil sogenannter informeller Sanktionierungen (mit jährlich etwa 600 000 Fällen), ferner die geringe Aufklärungsrate der Polizei (1995 insg. 46%) und die beträchtlichen Beweisschwierigkeiten äußern wür-den. Immerhin wird deutlich, warum man sich seit einiger Zeit angewöhnt hat, von der „Ubiquität“ und „Normalität“ des Verbrechens zu sprechen.

Angesichts der Fülle von Verhaltensweisen, die von Bürgern angezeigt sowie von Polizei und Rechtspflege als Straftaten beurteilt werden, gewinnen Fragen nach der Struktur der Kriminalität, nach der Schwere und der Entwicklung der Delikte vorrangiges Interesse (vgl. Schaub. 8). Dies bedeutet, vor allem nach der Deliktsstruktur (z.B. Verkehrs-, Eigentums- oder Gewaltdelikte), ferner nach Versuch und Vollendung von Straftaten, nach vorsätzlicher oder fahrlässiger sowie nach gemeinschaftlicher Begehungsweise, nach dem Mit-sich-Führen von Schußwaffen und der Schadensart (Personen- oder Sachschäden) sowie Schadenshöhe zu differenzieren. Dementsprechend stehen Deliktsformen der Massenkriminalität solchen der Hoch- oder Schwerkriminalität gegenüber. Dabei dürfte die Schwerkriminalität (insb. Mord, Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Raub, Erpressung, Menschen-, Waffenund Rauschgifthandel sowie Vergewaltigung und Geiselnahme) kaum über 15% aller polizeilich erfaßten Kriminalfälle hinausreichen. Hingegen kennzeichnen die Massendelikte (namentlich Diebstahl, Leistungserschleichung, Sachbeschädigung, einfache Körperverletzung sowie Drogen- und Verkehrsdelikte) mit Überschneidungen zur Bagatelldelinquenz die Alltagskriminalität. Deren Aufklärungsrate liegt erheblich unter dem Durchschnitt und bewegt sich nur selten über 30%. Bei der Strukturanalyse der Gegenwartskriminalität kann man die Straftaten zunächst danach unterscheiden, ob sie im oder außerhalb vom öffentlichen Straßenverkehr begangen werden. Wegen ihrer spezifischen Entstehungsgründe und Begehungsweise bildet die Verkehrskriminalität eine eigene Deliktsgruppe. Mehr als ein Drittel aller von deutschen Strafgerichten verurteilten Rechtsbrecher sind im öffentlichen Straßenverkehr straffällig geworden. Im Jahr 1994 waren dies mehr als 260 000 Personen. Strafrechtlich verfolgt werden vor allem die bedeutenden Vergehen gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs. Dazu gehören namentlich die sogenannten unfallträchtigen Verkehrsdelikte, einschließlich der Trunkenheit im Verkehr, die fahrlässigen Körperverletzungen und Tötungen im Straßenverkehr sowie die Verkehrsunfallflucht. Die Zahl der Verurteilungen läßt freilich das wirkliche Ausmaß der Verkehrsdelinquehz nur unvollkommen erkennen. Denn ein beachtlicher Teil der Verkehrsdelikte wird lediglich informell sanktioniert. Dies wird auch dadurch deutlich, daß die Statistik der Verkehrsunfälle jährlich etwa 2,3 Millionen Unfälle erfaßt. Die hohen Zahlen jährlicher Todesopfer und Verletzter sowie der beträchtliche Umfang des Sachschadens unterstreichen die Bedeutung.

Der Verkehrsdelinquenz steht der Block der sogenannten klassischen oder konventionellen Rechtsbrüche gegenüber. Diese gelten nicht selten als die eigentliche Kriminalität. Sie machen etwa zwei Drittel der heute registrierten Straftaten aus. Trotz der im Ganzen günstigen Wirtschaftsentwicklung seit den fünfziger Jahren sind die Zahlen der Eigentums- und Vermögensdelikte gewachsen und ist deren Betrag seither unvermindert hoch geblieben (1995 fast 5 Millionen Rechtsbrüche). Von ihnen steht nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (1995) der Diebstahl mit einem Anteil von fast zwei Dritteln an erster Stelle (also ohne Berücksichtigung der Verkehrsdelikte). Dabei fällt der Diebstahl unter erschwerenden Umständen mit etwa 35% auch quantitativ stärker ins Gewicht als der einfache Diebstahl. Darüber hinaus hatte der Kraftfahrzeugdiebstahl bis zur Einführung der elektronischen Wegfahrsperre einen bisher nicht bekannten Umfang erreicht. Sachbeschädigung (9,1%) und Betrug (9,3%) machen zusammen mit dem Diebstahl insgesamt fast 80% der erfaßten Kriminalität ohne Verkehrsstraftaten aus, eine für das Altbundesgebiet seit Jahren zu beobachtende gleichbleibende Verteilung. Man hat daher diese Erscheinungen als Wohlstandskriminalität im Gegensatz zu der aus Not erwachsenen Kriminalität bezeichnet. Ob der „soziale Umbruch“ in Ostmitteleuropa die weltweite Wirtschaftskrise der neunziger Jahre mit ihrer verbreiteten Arbeitslosigkeit, der Verknappung der öffentlichen Ressourcen und der sogenannten neuen Armut die Verbrechensbewegung meßbar beeinflußt hat und eine andere Beurteilung rechtfertigt, muß noch geprüft werden (vgl. dazu Boers 1996, 318 f£f., 323 ff; ferner unten § 24, 3.1). Dabei wird man auch berücksichtigen müssen, daß etwa ein Drittel der angezeigten Eigentums- und Vermögensdelikte nicht einmal einen Schaden von 100 DM erreicht.

Demgegenüber fällt die Gewaltkriminalität, gemessen an der Gesamtzahl der registrierten Straftaten, mit 2 bis 6% kaum ins Gewicht. Dies gilt auch für die Sexualdelikte, auf die weniger als 1% aller polizeilich angezeigten Straftaten ohne Verkehrsdelikte entfallen. Zu den weiteren qualitativ bedeutsamen Deliktsgruppen zählen mit einem Anteil von 1 bis 2% die Wirtschaftsstraftaten, mit 2 bis 3% die Rauschgiftdelikte und mit jeweils weniger als 1% Staatsschutz- und Umweltkriminalität. Inhalt, Schadensrichtung und Intensität dieser verschiedenen Deliktstypen haben unterschiedliches Gewicht, auch in ihrer Verteilung auf das gesamte Bundesgebiet. Teilweise lassen sich die Gefährdungen und Schäden noch kaum abschätzen, weil sie vor allem langfristig unsere Lebensgrundlagen und Lebensqualität wie im Falle der Umweltdelikte beeinträchtigen können. Die Gefahren, die wiederum von der Rauschgiftkriminalität ausgehen, sind nur schwer mit den Milliardenschäden durch Wirtschaftsstraftaten zu vergleichen. Gleichwohl sind die Schädigungen bei beiden Deliktsgruppen so gravierend, daß sie die volle Aufmerksamkeit der Gesellschaft und des Kontrollsystems in Anspruch nehmen.

In der Nachkriegszeit ist die Kriminalität stark angestiegen. Die bundesdeutsche Anzeigenstatistik weist auf eine Verdoppelung der Kriminalität allein in den letzten beiden Jahrzehnten hin.

Dieser Befund wird auch nicht dadurch entkräftet, sondern nur gemildert, daß ein wachsender Teil der angezeigten Kriminalfälle, namentlich jene der Massenkriminalität, Delikte mit Bagatellcharakter zum Inhalt hat. Hinweise dafür lassen sich etwa der polizeilichen Schadensstatistik entnehmen, wonach im Jahre 1995 über ein Viertel der einfachen Diebstahlsdelikte im Schadensbereich „unter 25 DM“ anzusiedeln war und annähernd die Hälfte nicht zu einem größeren Schaden als 100 DM führte. Die Tatsache der Anzeige von Kleinkriminalität belegt, daß die betroffenen Geschädigten selbst bei Bagatellfällen nicht stets gewillt sind, die erlittenen Vermögenseinbußen reaktionslos hinzunehmen. Vermutlich hat auch der ausgeweitete Sachversicherungsschutz die Anzeigehäufigkeit verstärkt, da ohne polizeiliche Anzeige das Opfer nicht entschädigt wird. Zwar ist die schwere Kriminalität nur für einen Teil des Zuwachses verantwortlich. Immerhin nahm, beurteilt nach der Schadenshöhe, bei schwerem Diebstahl und Raub die Deliktsintensität zu. Andererseits wird angenommen, daß die Schadenssumme bei den Fahrraddiebstählen jene der Raubüberfälle auf Banken übersteigt.

Im übrigen zeigt die deliktsspezifische Längsschnittanalyse unterschiedliche Entwicklungen an (vgl. Kerner 1996, 44; Tab. 2), obschon mit Ausnahme der Vergewaltigung und anderer Sexualdelikte alle wichtigen Deliktsgruppen sowohl absolut als auch relativ gravierende Zunahmen erkennen lassen. Allerdings ist die Zahl der Mord- und Totschlagsfälle seit 1973 beinahe konstant geblieben, während Raub und räuberische Erpressung bis 1995 beträchtlich angewachsen sind. Die Fälle der Geiselnahme (1995: 128 Fälle mit 169 Tatverdächtigen) haben sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdreifacht.

2.2. Österreich
Schrifttum: Pilgram, Kriminalität und Strafverfolgung im Zeitvergleich. In: Der andere Sicherheitsbericht von Hanak u.a. Wien 1991, 11-43; Gerichtliche Kriminalstatistik 1995.

Struktur und Bewegung der Kriminalität in Österreich fügen sich im wesentlichen in das über Deutschland und Westeuropa bekannte Bild. Im Jahr 1995 wurden insgesamt 486 433 strafbare Handlungen einschließlich Verkehrsstraftaten bekannt; ohne Verkehrsdelikte zählte man ungefähr 444 000 Straftaten. Bezogen auf die Bevölkerung ergab sich eine Häufigkeitszahl von 6058 bzw. 5529 Delikten pro 100 000 Einwohner. Ermittelt wurden 1995 insgesamt 195 670 Tatverdächtige. Strafgerichtlich wurden 1995 insgesamt 69 779 Personen verurteilt.

Wie die Strukturanalyse der Kriminalität zeigt, machen die Delikte gegen Eigentum und Vermögen mit rd. 67% den größten Anteil aus, gefolgt von den Delikten gegen Leib und Leben mit 17% und gegen die Sittlichkeit mit knapp 1%. Die übrigen Straftaten belaufen sich auf 15%. Vergleichsweise fällt auf, daß der Anteil der Delikte gegen die Person größer ist als in Deutschland und der Schweiz. Dies beruht darauf, daß fast 99% dieser Deliktsgruppe auf Körperverletzungsdelikte entfallen, die zur Hälfte in Zusammenhang mit dem öffentlichen Straßenverkehr begangen worden sind. Im Rahmen der Eigentums- und Vermögenskriminalität herrschen die leichteren Begehungsformen vor.

Ähnlich wie in Deutschland und in den Ländern Westeuropas verzeichnet man auch in Österreich einen starken Anstieg der registrierten Kriminalität während der letzten drei Jahrzehnte; allein in den letzten 15 Jahren ist die Kriminalität um 40% angestiegen. Allerdings spiegelt sich dieser Zuwachs in der Verurteiltenstatistik nur schwach wider. Während nach der Polizeistatistik die Zahlen der Vermögensdelikte und vor allem des Raubs erheblich zugenommen haben, hat sich die Zahl der vorsätzlichen Tötungen in den letzten dreißig Jahren kaum verändert. Wirtschafts- und Umweltdelikte werden zwar in Österreich erörtert, schlagen sich jedoch in der Kriminalstatistik nur teilweise nieder. Offenbar hat sich das Umweltstrafrecht trotz steigender Verurteilungszahlen nicht als griffiges Instrumentarium erwiesen. Insgesamt ist der Anstieg der Kriminalität seit Mitte der siebziger Jahre vor allem auf den Zuwachs der Diebstahls-, Raub- und Sachbeschädigungsdelikte zurückzuführen. Demgegenüber bleiben die Zahlen der Delikte gegen Leib und Leben im Anstieg erheblich zurück. Im Ganzen gesehen dürfte die Kriminalitätsbelastung in Österreich zwischen jener Deutschlands und der Schweiz liegen.

2.3 Schweiz
Schrifttum: Adler, Switzerland. In: Nations not Obsessed with Crime. Littleton/ Coh 1983; Balvig, Weiß wie Schnee. Die verborgene Wirklichkeit der Kriminalität in der Schweiz. Bielefeld 1990; Frey, Kriminalität im Zeichen des Wohlstandes. Eine Untersuchung der schweizerischen Kriminalität von 1951-1964. Zürich 1968; Killias, Les Suisses face’au crime. Leurs exp£riences et attitudes ä la lumiere des enquetes’suisses de victimisation. Grüsch 1980; Niggli u.a., Paradise lost? On Crime Developement in Switzerland. Studies on Crime & Crime Prevention 6 (1997), 73-99; Schwarzenegger, Opfermerkmale, Kriminalitätsbelastung und Anzeigeverhalten im Kanton Zürich: Resultate der Zürcher Opferbefragung. SchwZStr 108 (1991), 63-91.

Zwar galt die Schweiz noch in den achtziger Jahren als eines der zehn Länder der Welt mit der niedrigsten Kriminalitätsbelastung. Gleichwohl zeigt die Verknüpfung der verschiedenen polizei- und justizstatistischen Instrumente sowie der neueren Opferbefragungen, daß das Ausmaß der Delinquenz auch in der Schweiz nicht unbeachtlich ist. Schon die eidgenössische Polizeistatistik läßt für 1995 rd. 305 000 StGB-Straftaten erkennen, obgleich im Jahr 1994 nur etwa 22 000 deliktstypisch entsprechende Verurteilungen im Zentralregister erfaßt wurden. Da Straßenverkehrs- sowie Betäubungsmitteldelikte getrennt registriert werden, muß man derartige Straftaten, die justizstatistisch zusammen rd. 60% ausmachen, der Anzeigenstatistik noch hinzurechnen. Danach erscheint es nicht zuhhoch gegriffen, wenn man die jährlich registrierte Deliktsmenge auf etwa 600 000 veranschlagt.

Somit nähert sich die schweizerische Kriminalitätsbelastung jener Österreichs. Die Häufigkeitszahl auf 100 000 Einwohner beträgt nach der schw. PKS 1995 etwa 4345 Delikte, wobei freilich Betäubungsmittelund Straßenverkehrsdelikte fehlen.

Allerdings geht der Anteil eidgenössisch registerpflichtiger Verurteilungen kaum über ein Zehntel der geschätzten Deliktsmenge hinaus. Immerhin waren Mitte 1995 etwa 472 000 Personen im Zentralregister erfaßt, bezogen auf die gesamtschweizerische männliche Bevölkerung etwa 12%.

Neben den Verkehrsdelikten, die über ihren Anteil in Deutschland hinaus rund die Hälfte der registrierten Kriminalität ausmachen, stellen die Eigentums- und Vermögensdelikte mit knapp 19% die zahlenmäßig zweitwichtigste Deliktsgruppe. Dabei herrschen wiederum der einfache Diebstahl und der Betrug vor. Verbrechen und Vergehen gegen Leib und Leben, insbesondere fahrlässig begangen, betragen nur etwa 3%. Die strafbaren Handlungen gegen die Sittlichkeit haben sich in den letzten Jahren auf ungefähr 1% im Jahr 1994 erheblich vermindert. Bei den Straßenverkehrsdelikten herrscht, ähnlich wie in anderen Ländern, mitrd. 50% das Delikt des Fahrens in angetrunkenem Zustand vor. Die Betäubungsmitteldelikte machen etwa 12% aus (Strafurteilsstatistik der Schweiz 1994).

Auch in der Schweiz ist die registrierte Kriminalität in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen, obschon weniger ausgeprägt als in Österreich und in Deutschland. Immerhin haben die Probleme der Wirtschaftskriminalität und neuerdings sogar des organisierten Verbrechens die Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Praxis auf sich gezogen. Auch läßt sich nicht übersehen, daß hoch urbanisierte Bereiche wie etwa Stadt und Kanton Zürich eine Kriminalitätsbelastung aufweisen, die jener von Stuttgart und Baden-Württemberg kaum nachsteht. Ferner haben Kraftfahrzeugdiebstahl und Einbruchsdiebstahl eine relative Häufigkeit erreicht, die der relativen Belastung der USA mit vergleichbaren Straftaten fast entspricht. Bei alledem verwundert nicht, daß die „Internationalisierung“ der Kriminalität wächst. Viele Jahre lang war der Anteil der ermittelten tatverdächtigen Ausländer geringer als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Kontinuierlich stieg jedoch der Anteil ausländischer Tatverdächtiger an und betrug 1995 nach der PKS insgesamt 47,3%. Dabei sind ähnlich wie in der Bundesrepublik die prozentualen Anteile der ausländischen Arbeitnehmer im Verhältnis zu denen der Durchreisenden und Asylsuchenden eher gesunken. Vor allem in den Bereichen der Betäubungsmittel- und Gewaltkriminalität ist der Ausländeranteil überdurchschnittlich hoch. Im Drogenhandel und bei der Geldwäsche liegt der Ausländeranteil bei den Verurteilten sogar bei mehr als 70% für die Gesamtschweiz. Nach der Kriminalstatistik des Kantons Zürich waren der Straßenverkauf von Drogen und der gesamte Handel mit Betäubungsmitteln Anfang der neunziger Jahre fast ausschließlich in der Hand von Ausländern.

3. Bewegung der Kriminalität im internationalen Vergleich
Schrifttum: Colimann, Internationale Kriminalstatistik. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand. Stuttgart 1973; var Dijk u.a., Experiences of Crime across the World. Key Findings of the 1989 International Crime Survey. Deventer u.a. 1990; van Dijk, Criminal Victimisation in the Industrialized World. Key Findings ofthe 1989 and 1992 International Crime Surveys. Den Haag 1992; Dörmann, Interpol-Kriminalstatistik: Kein wahrer Spiegel der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung. Kriminalistik 38 (1984), 414-420; Gurr, Crime Trends in Modern Democracies since 1945. Ann 16 (1977), 41-85; Heidensohn/Farrell (eds.), Crime in Europe. London 1991; Kalish, International Crime Rates. Rockville/ Md. 1988; Kube/Koch, Die Kriminalitätslandschaft in Ost.und West im Zeichen des politischen Umbruchs in Osteuropa. WGO Monatshefte für osteuropäisches Recht 32 (1990), 133-142; Kühne/Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Japan. Versuch einer soziokulturell-kriminologischen Analyse: Wiesbaden 1991?;, Landau, Trends in Violence and Aggression: A Cross-cultural Analysis. Ann 22 (1984), 119-150.

Die vergleichende Untersuchung der Verbrechensentwicklung ist ebenso notwendig wie problematisch. Sie ist geboten, weil nur sie zureichende Anhaltspunkte darüber vermittelt, ob der jeweilige Zustand von Kriminalität und Verbrechenskontrolle befriedigend, normal, bedenklich oder bedrohlich erscheint. Die komparative Analyse ist aber zugleich auch problematisch, da die Vergleichbarkeit der Kriminalitätsstrukturen international aufgrund verschiedener Strafrechts- und Verfolgungssysteme sowie unterschiedlicher Meßkriterien erheblich beeinträchtigt ist (vgl. Collmann 1973, 63 f.). Als wichtigstes Instrument dient neben den Opferbefragungen trotz erheblicher Mängel die Interpol-Statistik (dazu kritisch Dörmann 1984, 414 ff.).

Trotz methodischer Vorbehalte bleibt das Bedürfnis nach vergleichender Untersuchung bestehen, zumal fast alle Industriestaaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einen erheblichen Kriminalitätsanstieg verzeichnen (siehe den Überblick bei Landau 1984, 141, 144). In Europa ist der amtlich bekanntgewordene Umfang der Kriminalität in den achtziger Jahren höher als in den fünfziger Jahren. Eine Ausnahme scheint nur Japan zu bilden (Kühne/Miyazawa 1991, 102 ff.). Der Zuwachs der allgemeinen Kriminalität ist zu einer durchgängigen Erscheinung in den westlichen Gesellschaften geworden. Dies drückt sich sowohl in Erfahrungen der Bürger aus, die Opfer werden und Delikte anzeigen, als auch in den Anstrengungen zur Verbrechenskontrolle. Die Unterschiede zwischen den westlichen Gesellschaften sind hauptsächlich solche im Detail: Während der Anstieg in Kontinentaleuropa und Skandinavien überwiegend erst in den sechziger Jahren begonnen hat, setzte der Zuwachs in den englischsprachigen Ländern bereits in den fünfziger Jahren ein. Zur Erklärung des Kriminalitätsanstiegs wird allgemein auf den sozialen Wandel verwiesen (dazu eingehend § 24, 3.3), der auch den Wertewandel und die Veränderungen der Kontrollsysteme einschließt.

Ein Überblick über die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung in den Entwicklungsländern und den wirtschaftlich hochentwickelten Nationen unter besonderer Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland und Japans (dazu LB § 38, 5, Tab. 5) ergibt, daß, insgesamt gesehen, Entwicklungsländer eine hohe Belastung an Gewaltdelikten, hingegen die hochentwickelten Nationen eine hohe Rate an Eigentums- und Vermögensdelikten aufweisen.

Gleichwohl zeigen die Unterschiede zwischen Japan und Deutschland, daß die Tatsachen der Industrialisierung und Urbanisierung allein noch keine bestimmte Verbrechensrate determinieren, daß vielmehr Möglichkeiten sozialer Kontrolle bestehen, welche die Kriminalitätsentwicklung wirksam begrenzen, vermindern oder schlicht vernachlässigen (vgl. etwa die geringen Betrugszahlen in Frankreich, Japan und den Niederlanden). Freilich muß man dabei berücksichtigen, daß neuere Daten der vergleichend angelegten Opferbefragung (siehe v. Dijk u.a. 1990) manche Strukturunterschiede in der Kriminalitätsbelastung der verschiedenen Länder stützen, andere jedoch erheblich relativieren. Nach der Befragungsforschung zumindest scheinen die Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung zwischen dem Bundesgebiet und Japan nicht so erheblich zu sein, wie sie nach der Darstellung offiziell registrierter Kriminalität zum Ausdruck gelangen.

Im Vergleich der europäischen Staaten befindet sich Deutschland insgesamt im oberen Feld der Kriminalitätsbelastung und des Verbrechenszuwachses, und zwar sowohl nach der Befragungsforschung wie nach der Kriminalstatistik (siehe jedoch die Kritik an der Interpol-Statistik von Dörmann 1984, 414 ff.). Eine weitgehende Deckungsgleichheit läßt sich in der starken Zunahme der jüngeren Altersgruppen bei der registrierten Kriminalität und in der Gruppendelinquenz von Jugendlichen beobachten (siehe unten §§ 29 ff.). Tendenzielle Übereinstimmungen bestehen auch in dem Anstieg der Ladendiebstähle und der Diebstähle von Kunstgegenständen, dem Zuwachs an Terrorismus und politisch- motivierter Gewaltkriminalität sowie in den als bedeutsam beurteilten Erscheinungen der Wirtschaftskriminalität und der hohen Verkehrsdelinquenz. Jedoch dürfte organisiertes Verbrechen in Europa mit Ausnahme Italiens und Rußlands im Gegensatz zu Nordamerika erst gering verbreitet sein und auch keine vergleichbare Bedeutung wie in Japan verdienen (dazu Kühne/Miyazawa 1991, 157 ff.). Im übrigen hat sich trotz erheblichen gesellschaftlichen Wandels der Anteil der Frauenkriminalität international nur leicht erhöht (dazu Näheres unten § 29, 3). Diese vielfältigen Erscheinungen bedürfen aber noch weiterer Untersuchung. Ihre Analyse erscheint jedoch nicht sinnvoll, ohne zuvor den Theorien des Verbrechens, der Kriminalität und der Kriminalitätsentwicklung nachgegangen zu sein.