§19 Konstituierung der Verbrechensrealität durch Strafanzeige und Strafverfolgung
- Determinanten von Strafverfolgung und Verbrechenskonstruktion Schrifttum: var Dijk u.a., Criminal Victimization in the Industrialized World: Key Findings ofthe 1989 and 1992 International Crime Survey. In: Understanding Crime. Experiences of Crime and Crime Control, ed. by del Frate u.a. Rome 1993; Dölling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Legalitätsprinzip. Wiesbaden 1987; ders., Effizienzsteigerung durch Beurteilung der Aufklärungswahrscheinlichkeit. In: Symposium: Der polizeiliche Erfolg, hrsg. vom BKA. Wiesbaden 1988, 113-137; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung. Freiburg 1995; Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion. Berlin 1978; Kury u.a.: Opfererfahrungen und Meinungen zur inneren Sicherheit in Deutschland. Wiesbaden 1992; Naucke, Der Tatverdacht. Zum Verhältnis von Strafprozeßrecht und neuerer Kriminologie. In: FS der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J.-W. Goethe-Universität Frankfurt/M. Wiesbaden 1981, 293-310; Schwarzenegger, Opfermerkmale, Kriminalitätsbelastung und Anzeigeverhalten im Kanton Zürich: Resultate der Zürcher Opferbefragung. SchwZStr 8 (1991), 63-91; u.a.: Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973-1974. Eine Opferbefragung. Wiesbaden 1975; Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität. Freiburg 1981; Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens. Wiesbaden 1976; dies. u.a., Inhalte und Ergebnisse polizeilicher Ermittlungen. Bayer. LKA. München 1982; Stephan, Die Stuttgarter Opferbefragung. Wiesbaden 1976; US Dept. Justice, Reporting Crimes to the Police. Washington/D.C. 1985; dass., Criminal Victimization in the United States 1984. Washington/D.C. 1986; dass., The Re-designed National Crime Survey: Selected New Data. Special Report. Washington/D.C. 1989: dass., Criminal Victimization in the United States 1989. Washington/D.C. 1990.Schwind
Theorien der Kriminalisierung und deren partielle Übertragung in gesetzgeberische Konzepte setzen sich gebrochen in Kriminalisierungsprozessen der Praxis fort, werden verstärkt, umgeleitet und abgeschwächt. Sie gewinnen eigene Strukturen. Dafür erscheinen die folgenden fünf Determinanten bedeutsam:
® Artund Umfang der Strafanzeigen als input, ®e Kapazität der Strafverfolgungsbehörden und die Verfahrensökonomie, ® Entscheidungsverhalten von Verbrechensopfer, Polizei und Staatsanwaltschaft, ® handlungsleitende Prinzipien wie Legalität oder Opportunität, Gleichheit, Fairness, Verhältnismäßigkeit und ® erwartbare Konsequenzen für Tat (-geographie), Täter (Schicht), Opfer und Gesellschaft.
Sie prägen die Strategien, insbesondere der Tataufklärung, und die Ergebnisse der Verbrechensverfolgung. Dabei geht es hier im Unterschied zu anderen Lehrtexten nicht um die Ausbreitung der Befunde von Polizei- und Justizforschung per se oder gar um die Beschreibung des Gesamtsystems der Strafjustiz, sondern um den „Ablauf der Strafverfolgung“ (Kürzinger 1996, 111-157) insoweit, als er für unser Wissen über das Verbrechen relevant erscheint.
2. Strategische Bedeutung von Opferreaktion und privater Strafanzeige
des Opfers gestalten daher entscheidend das allgemeine Bild von dem Verbrecher und der Kriminalität. Die soziale Konstruktion der Verbrechenswirklichkeit wird von hier aus zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend bestimmt. Das Opfer übernimmt situativ und zeitlich begrenzt Funktionen eines informellen Agenten der strafrechtlichen Sozialkontrolle. Die Umfrageforschung verdeutlicht den Zusammenhang von Opferlage und Anzeigeerstattung. Dessen Tragweite reicht bis zur Kriminalstatistik (Schwind u.a. 1975, 1989; Stephan 1976, Schwarzenegger 1991,78 ff.; Kury u.a. 1992) und Inanspruchnahme von Versicherungen.
Nach dem Freiburger Forschungsprojekt über Polizei und Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik wurden z.B. 1970 in 4588 repräsentativ ausgewählten Strafsachen je nach Deliktstypus 91 bis 98% der Strafverfahren durch private Anzeigeerstattung in Gang gesetzt (vgl. Steffen 1976, 125), und zwar in beachtlichem Umfang von Verbrechensopfern der Unterschicht. Ferner sind Opfer und Anzeigeerstatter in 73 bis 86% der Fälle identisch. Entsprechende Befunde sind international aus ähnlichen Untersuchungen bekannt. Die Bedeutung derartiger Ergebnisse wird auch nicht dadurch nennenswert gemindert, daß der Prozentsatz opferinitiierter Strafsachen sich ermäßigt, wenn man auf „Tatverdächtige“ statt auf „Anzeigesachen“ oder „Ermittlungsverfahren“ abstellt. Dennoch hat man die Beziehungen zwischen der Strafanzeige und der Kriminalitätsstruktur lange Zeit kaum erkannt. Im wesentlichen beschränkte man sich darauf, die strafprozessuale Möglichkeit der Strafanzeige (§ 153 StPO) problemlos vorauszusetzen oder zur Kenntnis zu nehmen (zur Nichtanzeige geplanter Straftaten §§ 138 f. StGB). Damit blieb jedoch die strategische Bedeutung der privaten Strafanzeige außer Betracht. Erst der soziale Reaktionsansatz hat hier für die gebotene Schubkraft gesorgt und die neuere Forschung angeregt. Zu den relevanten und folgenreichen Beziehungen gehören:
1. Die erfragte Anzeigebereitschaft ist alters- und schichtspezifisch sowie deliktstypisch verschieden. Obwohl jüngere Personen häufiger in Opfersituationen geraten, sind sie weniger anzeigefreudig als ältere. Angehörige unterer Sozialschichten sind gegebenenfalls eher geneigt, Personendelikte und soziale Konflikte der Polizei mitzuteilen; höhere Sozialschichten wenden sich häufiger wegen erlittener Eigentumsverletzungen an die Polizei (vgl. Kürzinger 1978, 232 f., var Dijk u.a. 1993, 32 £.,; US Dept. Justice 1990, 6). 2. Die tatsächliche Anzeigebereitschaft und -praxis weicht von dem erfragten Anzeigeverhalten ab. Nach dem internationalen Forschungsstand werden durchschnittlich die Hälfte, in Deutschland und der Schweiz etwas weniger (Schwarzenegger 1991, 82), aller erfragten strafrechtlich bedeutsamen Opfersituationen der Polizei mitgeteilt (van Dijk 1993, 32 £.; vgl. Schaub. 6). Obwohl die sozialen Zugangsschancen die Anzeigefreudigkeit mitstrukturieren, zeigen sich im tatsächlichen Anzeigeverhalten weitere Unterschiede. Die Anzeigefrequenz reicht bei Eigentumsdelikten, je nach Schadenshöhe, von
12 bis 88% aller Diebstähle (US Dept. Justice 1986, 92). Erhebliche Eigentumsdelikte werden überdies häufiger erfolgreich zur Anzeige gebracht als Personendelikte mit Bagatellcharakter. Demgemäß überwiegen im allgemeinen Opfer höherer Sozialschichten als Anzeigeerstatter, obwohl Personen unterer Sozialschichten kaum weniger häufig in Opfersituationen geraten, wenn auch bei anderen Delikten. Ferner verleugnen viele Anzeigeerstatter die Tatsache der Anzeigeerstattung, wenn sie‘danach gefragt werden (Kürzinger 1978, 232). Hinsichtlich des Geschlechts der Anzeigeerstatter ergeben sich allerdings keine nennenswerten Unterschiede. Männer und Frauen zeigen insgesamt annähernd gleich häufig an (US Dept. Justice 1986, 86), obschon bei der Anzeige von Gewaltdelikten (Raub und Körperverletzung) Frauen vorherrschen.
3. Aber nicht nur die Motive für die Unterlassung der Anzeige sind wichtig, sondern auch die Beweggründe dafür, welche Erwägungen die staatliche Strafverfolgung auslösen. Hieran zeigt sich, wie das Verbrechensopfer in seiner Rolle als Anzeigeerstatter „die erste Auswahlentscheidung in dem Prozeß selektiver Strafverfolgung“ trifft. Die Gründe für die Anzeige von Straftaten sind äußerst vielschichtig. Die Anzeigemotive sind meist persönlicher Art. Gleichwohl herrschen Vorbeugungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr, Wiedergutmachungsinteresse und allgemeines Reaktionsbedürfnis vor (US Dept. Justice 1986, 92 £.). Bei Personendelikten bezweckt die Strafanzeige mitunter die „Disziplinierung der eigenen Schichtangehörigen“ (Kürzinger 1978, 97). Dies gilt freilich nur bei opferbezogenen und -kontrollierten Delikten. Bei versuchten Tötungsdelikten befindet der Grad der Täter-Opfer-Beziehung über die Anzeigebereitschaft des Opfers. Jeenger die Beziehung ist, desto zögernder wird das Opfer zur Polizei gehen. Daher kann ein erhebliches Dunkelfeld im sozialen Nahbereich der Tatbeteiligten vermutet werden. Schon seit langer Zeit wird die Relevanz des Schadens angenommen oder empirisch nachgewiesen (Schwind u.a. 1975, 211 ff.; Stephan 1976, 244; ferner Kürzinger 1978, 198 ff.). Demgemäß streuen die Strafanzeigen, je nach Art und Schwere des Delikts, zwischen 10 und 90% bei den aus der Sicht des Opfers als Verbrechen verstandenen Sachverhalten. In vielen Fällen wird der staatliche Sanktionsmechanismus „von den Bürgern weniger zur Ahndung einer Straftat, sondern eher als Mittel persönlicher Rache ausgenutzt“ und „werden die Angezeigten also nach zufälligen und sachfremden Motiven ausgewählt“. Dennoch läßt sich die Anzeigeerstattung motivologisch nicht zureichend erfassen. Vielmehr treffen die psycho- und sozialstrukturellen Aspekte zusammen und überlagern sich. Danach ist weder die Persönlichkeitsstruktur des Anzeigeerstatters (so aber Stephan 1976) noch die Situation der Anzeigeerstattung allein, sondern das gesamte komplexe Beziehungsfeld erheblich. Insgesamt sprechen die vorliegenden Anhaltspunkte mehr für die Relevanz der sozialstrukturellen Aspekte als für jene, die persönlichkeitsbezogen sind.
4. Zu den häufigsten Gründen der Nichtanzeige eines erlittenen Delikts zählen nach der internationalen Forschung die vermutete Erfolglosigkeit der Anzeige (in etwa 20% der Fälle), die Betrachtung als Privatangelegenheit oder die Deckung des Täters (knapp 10% der Fälle), wegen zu großen Zeitaufwandes oder übermäßiger Schwierigkeiten mit der Polizei (ungefähr 9% der Fälle) und vor allem wegen des zu geringen Schadens (etwa 30% der Fälle). Dabei ist die Streuung in den Motiven zur Nichtanzeige beachtlich (vgl. US Dept. Justice 1986, 94 f., 98), obwohl die Geringfügigkeit der Schädigung und die Bedeutungslosigkeit des Delikts als Grund der Nichtanzeige vorherrschen (Kilchling 1995, 229). Prüft man die individuelle Anzeigequote, so ergibt sich, daß etwa 44% der Opfer nie anzeigten, 39% hingegen stets. Überdies sinkt die Anzeigebereitschaft bei den Mehrfachviktimisierten.
5. Die privaten Anzeigeerstatter veranlassen bei Massendelikten den Großteil aller Strafverfahren. Lediglich 2-9% der Verfahren werden durch eigene polizeiliche Wahrnehmung und Initiative ausgelöst. Nach dem Freiburger Forschungsprojekt über Polizei und Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland wurden z.B. 1970 in 4588 repräsentativ ausgewählten Strafsachen, je nach Deliktstypus, 91-98% der Strafverfahren durch private Anzeigeerstattung in Gang gesetzt (vgl. Steffen 1976, 125 £.), und zwar in beachtlichem Umfang von Verbrechensopfern der Unterschicht. Ferner sind Opfer und Anzeigeerstatter in 73-86% der Fälle identisch. Entsprechende Befunde über die Anzeigeerstattung sind international aus ähnlichen Untersuchungen bekannt (vgl. US Dept. Justice 1985, 4). Eine Ausnahme besteht nur für vorsätzliche Tötungsdelikte (Sessar 1981) und die Deliktsbereiche, in denen die Polizei nicht reaktiv, sondern proaktiv tätig wird, insbesondere bei der Verkehrsdelinquenz, der Wirtschafts- und Umweltkriminalität sowie den Staatsschutz- und Rauschgiftdelikten (vgl. Kürzinger 1996, 129 ff.). Bei den kleinen und mittleren Wirtschaftsstrafsachen liegt die Situation der Anzeigeerstattung geradezu umgekehrt wie bei den klassischen Massendelikten. Hier nämlich werden nur wenige Prozente von Privatpersonen angezeigt. Sinngemäßig das gleiche dürfte für die Verkehrsdelinquenz zutreffen.
3. Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Tataufklärung
Nicht weniger bedeutsam als das Verhalten des Opfers sind Reaktion und Tätigkeit der Polizei. Je nach Deliktsgruppe wird die Polizei unterschiedlich aktiv (vgl. dazu US Dept. Justice 1989, 5 zum „police response“). Gleichwohl besteht ein beachtlicher Anteil von Strafsachen, deren Aufklärung von der „proaktiven“ anstelle der „reaktiven“ Tätigkeit der Polizei abhängig bleibt. Man spricht hier auch von sogenannten Überwachungs- und Kontrolldelikten, um zu verdeutlichen, daß Aufklärung und Verbrechensverfolgung entscheidend auf den Kenntnissen, Fähigkeiten, Techniken und dem Einsatz der Polizei beruhen. Mögen die Anstrengungen zur Verbrechensaufklärung unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob proaktives oder reaktives Verhalten der Polizei geboten ist (dazu eingehend Kürzinger 1996, 130 ff.), stets ist die volle Tataufklärung noch von der Polizei zu leisten.
Verknüpft man die Befunde aus der Opfer- und Anzeigenforschung mit den Bedürfnissen nach „innerer Sicherheit“, so stützen sie die neueren Bestrebungen, die Polizei wieder stärker in die Gemeinde zurückzubinden. Das angloamerikanische Konzept des „community policing“ stellt dabei eine Wendung vom reaktiven zum ereignisorientierten proaktiven Problemlösungsansatz des Polizeiverhaltens dar. Es wird zum Teil begrifflich übernommen, zum Teil als gemeindebezogene oder gemeindenahe Polizeiarbeit thematisiert. Während in den USA und im weiteren angloamerikanischen Bereich der Gewaltaspekt sowohl im polizeilichen Alltag als auch bei der konkreten Strafverfolgung eine bedeutende Rolle spielt, sind hierzulande die Gewalt gegen die Polizei, insbesondere aber die Gewalt durch die Polizei noch kein besonderes Forschungsfeld.
Die von den Strafverfolgungsbehörden zu verarbeitenden deliktsrelevanten Informationen (System-input) werden überwiegend durch private Strafanzeigen wegen Eigentums- und Vermögensdelikten bestimmt. Die Menge der Strafanzeigen ist in Mittel- und Westeuropa mit gegenwärtig 5000 bis 12 000 pro 100 000 Einwohner recht hoch und bildet dennoch bloß einen Teil der Gesamtkriminalität. Denn nur selten werden mehr als die Hälfte aller von den Bürgern als Delikt verstandenen Sachverhalte auch angezeigt (zum Dunkelfeld siehe unten § 20, 3). Soweit aber Delikte entdeckt und angezeigt werden, werden sie nicht stets aufgeklärt und gelangen darüber hinaus nur selten zur förmlichen Sanktionierung.
Aufgeklärt ist eine rechtswidrige Straftat dann, wenn nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis ein mindestens namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger festgestellt worden ist (PKS 1995, 7). Dabei ist tatverdächtig jeder, bei dem aufgrund des polizeilichen Ermittlungsergebnisses zumindest begründete Anhaltspunkte vorliegen, eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen zu haben (sog. Anfangsverdacht). In der Schweiz gelten „alle von der Polizei den zuständigen Untersuchungsbeamten förmlich überwiesenen Beschuldigten‘“ als tatverdächtig. Die Aufklärungsquote hingegen bezeichnet das prozessuale Verhältnis von aufgeklärten zu bekanntgewordenen Fällen im jeweiligen Berichtszeitraum.
So betrug im Jahr 1995 bei 6 668 717 erfaßten Straftaten die Gesamtaufklärungsquote 46%, während sie im Jahr 1953 bei 1 491 120 registrierten Fällen noch 73,6% ausgemacht hatte (PKS 1995, 23). Ähnliche Entwicklungen haben die Aufklärungsraten in anderen westeuropäischen Ländern genommen (siehe Tab. 1). Unabhängig von länder- und regionalspezifischen Besonderheiten der Verbrechensaufklärung weisen die einzelnen Deliktsgruppen erhebliche Aufklärungsunterschiede auf. Gelten z.B. Mord und Totschlag sowie Rauschgiftdelikte zu fast 90% als aufgeklärt, so jedoch Sachbeschädigung nur in einem Viertel der Fälle und Diebstahl unter erschwerenden Umständen gar zu weniger als 13% (PKS 1995, 23 f.). Bei Kontrolldelikten wie Rauschgift-, Umwelt-, Verkehrs- und Wirtschaftsstraftaten sind die Aufklärungsquoten im allgemeinen hoch, weil die offizielle Kenntnisnahme derartiger Tatsituationen als Delikt weithin zugleich mit der Tataufklärung zusammentrifft. Vor allem drei deliktsspezifische Merkmale erweisen sich für den polizeilichen Aufklärungserfolg als relevant:
e die Sichtbarkeit eines Deliktes,.d.h. Wahrnehmung durch den Geschädigten, einen Zeugen oder die Polizei, die sich auf das Anzeigeverhalten des Opfers auswirkt und auf die Informationen zum Tathergang und möglichen Täter, e die Aufklärungswahrscheinlichkeit eines Delikts, d.h. die Möglichkeit, einen zum Zeitpunkt der Anzeige noch unbekannten Tatverdächtigen zu ermitteln. Je höher der Anteil an Unbekanntsachen eines Delikts ist, desto geringer ist die Chance, daß zur Aufklärung des Falles Ermittlungen aufgenommen werden, ® derunterschiedliche Grad an Beweisschwierigkeiten eines Delikts, d.h. der Möglichkeit, einen strafrechtlich überzeugenden Beweis für die Erfüllung des Tatbestandes zu führen. Derartige Schwierigkeiten treten vor allem bei den Wirtschaftsdelikten auf und führen dann nicht selten zur Einstellung des Verfahrens (vgl. Steffen 1976, 292 f.).
Diese Ergebnisse werden von einer neueren Untersuchung bestätigt und präzisiert (Dölling 1987). Danach ist für die Aufklärung einer Straftat die Wahrnehmung durch das Opfer oder einen unbeteiligten Zeugen und dessen Aussageverhalten von maßgeblicher Bedeutung. In diesem Fall kann der Tatverdächtige häufig bereits „im ersten Angriff‘ festgenommen werden. Mehr als 80% der aufgeklärten Raubfälle, Vergewaltigungen und Betrugstaten sowie die Hälfte aller geklärten Einbrüche wurden innerhalb eines Tages nach ihrem Bekanntwerden aufgedeckt. Danach liegt der Schwerpunkt der Aufklärung am Beginn der Ermittlungsverfahren. Hingegen sind Tataufklärungen nach längerer polizeilicher Ermittlungstätigkeit jedenfalls bei den erwähnten Deliktsformen seltener. Spurensicherung und -auswertung sind hier von untergeordneter Bedeutung. Wenn eine Tat nach längerer Zeit aufgeklärt wird, geschieht dies — vor allem bei Einbruchsdiebstahl — häufig im Zusammenhang mit anderen Straftaten. Gemessen an den deliktsspezifischen Ermittlungsbedingungen haben die sozialen Merkmale der Tatverdächtigen nur eine relativ geringe Bedeutung für das Kontrollhandeln der Polizei.
Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die einzelnen Polizeidienststellen ermitteln bei gleichartigen Delikten unterschiedlich. Hohe Ermittlungsintensität führt nicht stets auch zu höherem Aufklärungserfolg. Ob die Ermittlungen von der Schutzpolizei oder der Kriminalpolizei geführt werden, ist ohne Einfluß auf Ermittlungsintensität und Aufklärungserfolg. Die Aufklärungsquoten in einem Polizeibezirk hängen von der Deliktsstruktur und den polizeilichen Ermittlungsschwerpunkten ab. Sie eignen sich wenig zu einem Leistungsvergleich verschiedener Polizeidienststellen untereinander. Bei vielen Delikten besteht auch kein Zusammenhang zwischen der Aufklärungsquote der Polizei und der Verurteilungsquote der Strafjustiz. Der polizeiliche Begriff der Aufklärung täuscht insoweit einen Ermittlungserfolg vor, der von der Justiz oft nicht aufrechterhalten wird (dazu Steffen 1976, 313 ff.). Gleichwohl ist die Tataufklärung keinesfalls bedeutungslos (Dölling 1988, 113-137). Die Rückwirkungen auf die Begehung und Entwicklung des Verbrechenslassen sich jedenfalls dann nicht verkennen, wenn sich „Verbrechen bezahlt macht“.
4. Ökonomie der Strafverfolgung
Schrifttum: Blankenburg/Sessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle. Berlin 1978; Dölling, Einstellung des Strafverfahrens gem. § 153 a Abs. 1 StPO und Rückfall. In: FS für Geerds. Lübeck 1995, 239-262; Feltes, Polizeiliches Alltagshandeln. Konsequenzen für eine „neue Polizei“ aus einer Analyse von Notrufen und Funkstreifen-Einsatzanlässen in der Bundesrepublik Deutschland. In: KrimFo 35 (1988), 125-156; Koetz/Feltes, Organisation der Staatsanwaltschaften. Köln 1996; Heinz, Strafzumessungspraxis im Spiegel der empirischen Strafzumessungsforschung. In: Individualprävention und Strafzumessung, hrsg. v. Jehle. Wiesbaden 1992, 85-149; Heinz/Hügel, Erzieherische Maßnahmen im deutschen Jugendstrafrecht. Bonn 1987°; Hirsch, Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Staatsanwaltschaft. ZStW 92 (1980), 218-254; Jung, Private Verbrechenskontrolle. KKW 1993, 409-415; Kausch, Der Staatsanwalt. Ein Richter vor dem Richter? Untersuchungen zu § 153 a StPO. Berlin 1980; Koetz/Feltes (Hrsg.), Die Organisation der Staatsanwaltschaft. Köln 1996; Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip. Eine strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Untersuchung. Berlin 1984; Meinberg, Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen. Eine empirische Untersuchung zur staatsanwaltschaftlichen Verfahrenserledigung nach § 153 a Abs. I StPO. Freiburg 1985; Sack u.a. (Hrsg.): Privatisierung staatlicher Sozialkontrolle: Befunde, Konzepte, Tendenzen. Baden-Baden 1995; Stegherr, Die Anwendung von § 31 a BtMG. Wiesbaden 1996; Weiß/Plate (Hrsg.), Privatisierung von polizeilichen Aufgaben. Wiesbaden 1996.
Im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen seit Anfang der achtziger Jahre schätzungsweise rd. 7 Mio. Anzeigen wegen Verbrechen und Vergehen jährlich die Strafrechtspflege. Nur etwa 700-800 000 Rechtsbrecher werden aber förmlich verurteilt. Dieser Vorgang beruht notwendig auf einer Auslese; diese Auswahl erfolgt im Rahmen des Strafverfahrens.
Die Staatsanwaltschaften erledigten nach der Staatsanwaltschaftsstatistik, die bislang nur für das Altbundesgebiet einschließlich Gesamtberlin vorliegt, im Jahr 1992 ungefähr 3,1 Mio. Verfahren (StaJB 1995, 369). Dazu kamen schätzungsweise 2,1 Mio. Anzeigen gegen unbekannte Täter. Rechnet man diese Zahlen entsprechend dem Verhältnis der strafmündigen Bevölkerung auf Gesamtdeutschland hoch, so ergeben sich 3,8 Mio. Verfahren gegen bekannte Täter und 2,6 Mio. Unbekanntsachen. Die Summe dieser Verfahren dürfte jedoch die insgesamt bekanntgewordene Verbrechensmenge noch längst nicht ausschöpfen.
Bezogen auf alle Verfahren einschließlich Unbekanntsachen wird die weit überwiegende Zahl wegen Fehlens eines hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt oder durch Sanktionsverzicht auf den Privatklageweg verwiesen; bezogen auf die Verfahren gegen bekannte Täter sind es immer noch 26,3%. In Verfahren, welche die Staatsanwaltschaft für anklagefähig hält, wird weitgehend von informellen, oder genauer, weniger förmlichen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch gemacht. Abgesehen von Strafbefehlsverfahren wurden 1991 ungefähr 35% aller in Strafverfahren gegen Erwachsene verhängten Sanktionen durch die Staatsanwaltschaft angeordnet (Heinz 1992, 136; etwas abweichend Koetz/Feltes 1996, 137).
Verglichen mit der Bedeutung des Staatsanwalts als Erledigungsinstanz ist diejenige als Ermittlungsinstanz gering: Der Staatsanwalt realisiert seinen gesetzlichen Ermittlungsauftrag nur selten (vgl. Koetz/Feltes 1996, 125 ff., 153). Er überläßt in der Regel die Ermittlungen der Polizei. Kennzeichnend ist weiter ein überregional annähernd gleichförmiges staatsanwaltschaftliches Handeln. Die aus der Statistik ersichtlichen regionalen Unterschiede verringern sich deutlich, wenn der regional unterschiedliche Geschäftsanfall berücksichtigt wird.
Der hohe Grad an Handlungskonformität der Anklagebehörden ist auffällig. Nur die eingeübten Handlungsmuster des Staatsanwalts können die aufgefundenen Varianten, etwa unterschiedliche Behandlung der Verfahren je nach Delikt, Deliktstypus, Täter und Opfer, erklären. Dazu gehören bei der Entscheidung über Einstellung oder Anklage z.B. die regelmäßige Übernahme des polizeilichen Ermittlungsergebnisses, die überragende Bedeutung des Geständnisses als Beweismittelund die Tatsache, daß die Vorstrafe wie auch die Höhe des verursachten Schadens unabhängig von tataufklärender Ermittlung die Erledigungspraxis des Staatsanwalts bestimmen. Außerdem hat sich eine weitgehende Dominanz pragmatischer und normativer Handlungsbedingungen gegenüber solchen mit sozialspezifischem Charakter gezeigt. Vom Alter abgesehen, rangieren Geschlecht, Schichtzugehörigkeit und Nationalität so gut wie immer hinter Variablen wie Geständnisbereitschaft, Täter-Opfer-Beziehung, Deliktshäufigkeit, Schaden und Opferstatus. Das Sozialprofil des Tatverdächtigen hat, wiederum vom Alter abgesehen, im gesamten Handlungs- und Entscheidungsprogramm erwartungswidrig eine strukturell untergeordnete Bedeutung.
Die Notwendigkeit zur Filterung und Auswahl ergibt sich also zunächst aus den unterschiedlichen tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Straftat, aber auch aus der begrenzten Kapazität von Polizei und Justiz. Denn vor allem auf diese Weise läßt sich das relative Gleichbleiben in den Zahlen der Tatverdächtigen und Verurteilten über die Jahrzehnte der Nachkriegszeit hinweg deuten (siehe Schaub. 7), und zwar weitgehend unabhängig von Struktur und Entwicklung der Bevölkerung, (gesetzlichen) Kriminalisierungsprozessen und dem Wachstum der Kriminaljustiz. Ferner entfallen etwa zwei Drittel der schutzpolizeilichen Tätigkeit gegenwärtig auf verkehrspolizeiliche Aufgaben. Wollte das Kontrollsystem, abgesehen davon, nahezu alle Rechtsbrecher unabhängig von der Schwere der Rechtsverletzung als „Kriminelle“ definieren, so wäre es in seiner Kapazität erheblich überfordert.
Die Zahl der Polizeibeamten ist seit 1962 relativ betrachtet zwar kontinuierlich angestiegen. Zählte man 1960 noch wenig mehr als 100 000 Polizeibeamte der Länder, so betrug die Ist-Stärke 1982 etwa 168 000 und 1992 ca. 220 000 Personen. Diese Entwicklung sagt aber praktisch noch wenig darüber aus, ob die tatsächliche Präsenz der Polizei ebenfalls verstärkt worden ist. Denn im Rahmen der gesamten Polizeiorganisation wurden in den siebziger Jahren vorrangig die Kriminalpolizei und sogenannte Sondereinheiten wie die mobilen bzw. Sondereinsatzkommandos, die Bereitschaftspolizei, aber auch bestimmte Ermittlungsgruppen zur Aufklärung der Drogenkriminalität, der Wirtschaftsverbrechen und der organisierten Kriminalität ausgebaut. Zwar ergibt sich bei der erwähnten Polizeistärke in Beziehung zur Bevölkerung eine theoretische Polizeidichte von einem Polizeibeamten auf 366 Bürger im Jahr 1982 und auf 365 Einwohner im Jahr 1992. Diese Relationen sind jedoch fiktiv. Denn unter Berücksichtigung der Anteile von Kriminalpolizei, Innendienst und Ausfallquoten besteht eine Streifendichte von einem Polizeibeamten auf 4600 Bürger. Beachtet man weiterhin, daß fast alle für den Funkstreifeneinsatz vorgesehenen Beamten abwechselnd Streifen- und Revierdienst leisten, so vermindert sich die schutzpolizeiliche Streifendichte pro Schicht von einem (streifefahrenden oder -gehenden) Schutzpolizisten auf etwa 10 000 Bürger (Feltes 1988, 147 f.). Im übrigen entfallen als Anlaß der Funkstreifeneinsätze in den Großstädten Berlin, Darmstadt, Heidelberg, Köln, Stuttgart und München nur etwa 16 bis 28% auf Fälle der klassischen Kriminalität, während die Erledigung von Verkehrssachen, von Streitigkeiten, Ruhestörungen und Hilfeleistungen den Großteil der Anlässe bestimmen (Feltes 1988, 143 £., 149). Ferner wird der überwiegende Teil des schutzpolizeilichen Dienstes innerhalb der Wachen und Reviere verrichtet, um Berichte und Protokolle anzufertigen, Anzeigen aufzunehmen sowie Tatverdächtige und Zeugen zu vernehmen. Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt überdies, daß die Zahl der Alarmierungen und damit auch jene der Einsätze kontinuierlich angestiegen ist, obschon der Zuwachs nicht ausschließlich durch die steigende Zahl polizeilich registrierter Straftaten bedingt war.
Die Kapazitätsnöte der Polizei spiegeln sich auch darin wider, daß viele Personalstellen der Polizei unbesetzt sind und die Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte als kaum finanzierbar gilt. Deshalb werden zunehmend polizeiliche Präventionsaufgaben verlagert und von freiwilligen Helfern oder privaten Sicherungsdiensten wahrgenommen. Aufgrund dieser Entwicklung stellt das Sicherheitsgewerbe, und d.h. der Einsatz von Sicherheitskräften und sogenannter privater Polizei, eine Wachstumsbranche dar, deren Umsatz schon gegenwärtig auf mehr als 4 Mrd. DM veranschlagt wird. Ferner sollen sich die Deutschen im Jahre 1994 den Schutz vor Einbruch, Diebstahl oder Überfällen mindestens 14 Mrd. DM haben kosten lassen. Die zahlenmäßige Stärke privater Sicherheitskräfte schätzt man bereits auf mehr als 200 000 Personen. Die Bandbreite des privaten Sicherheitsgewerbes reicht vom verantwortlichen Selbstschutz des einzelnen bis zum privaten Werkschutz und privater Polizei. Anstieg und Verbreitung von Massenkriminalität steigern Verbrechensfurcht und Sicherheitsbedürfnisse. Sie verstärken den Ruf nach erhöhter Präsenz der Polizei. Da ein solch legitimes Bedürfnis offenbar nicht zu erfüllen ist, wendet man sich vermehrt den Angeboten des privaten Sicherheitsgewerbes zu, die freilich bei volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung auch nicht billiger als die staatliche Polizei zu nutzen sind. Darüber hinaus werfen die Einrichtungen „privater“ Polizei grundrechtliche Probleme, insbesondere die Gefahr zunehmender Ungleichheit durch „Käuflichkeit von Sicherheit“ auf, ein auf die Dauer rechtsstaatlich kaum erträglicher Zustand (zum Ganzen Jung 1993, 409 ff.; Sack u.a. 1995, 38 ff., 206 ff., 234 ff., 334 ff., Weiß/Plate 1996, 9ff.).
Allerdings widerspräche die unbegrenzte Strafverfolgung der Integrationsfunktion des Verbrechensbegriffes. Denn dieser kann ebenso wie die Strafe nur dann seine Aufgabe erfüllen, wenn er auf das Verhalten einer Minderheit beschränkt bleibt. Die Mehrheit aber zu sanktionieren wäre sinnlos, sozial desintegrierend und dysfunktional. Deshalb müssen sich sowohl Verbrechensbegriff als auch Strafe auf nur bestimmte, als besonders sozialschädlich eingeschätzte Verhaltensweisen beziehen. Daraus folgt wiederum, daß die Auswahl entweder auf der Ebene des Gesetzgebers, etwa durch Entkriminalisierung, zu verwirklichen ist oder aber auf den Ebenen der Polizei und der Strafrechtspflege durch zweckmäßige und rational überzeugende Filterung. Die tatsächliche Handhabung der Selektion ist daher von herausragender Bedeutung. Rationales Vorgehen, insbesondere die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes, rückt dabei in den Blickpunkt.
Das Strafverfahren als Selektionsprozeß wird zunehmend nur dann legitimiert werden können, wenn es durchsichtig-rational begründet, entsprechend gestaltet und wenn ferner auch die negative Chancengleichheit oder besser die Gleichheit im Unrecht gewährleistet wird. Doch in Wirklichkeit sind die Handlungsmuster der Sanktionspraxis seit langer Zeit ungleich. Dies läßt sich neuerdings selbst dort feststellen, wo, wie bei der Bußgeldpraxis, verhältnismäßig enge Bindungen durch den sogenannten Bußgeldkatalog vorliegen. Unterschiede lassen ferner der Vergleich der Zumessungspraxis bezüglich der Jugenddelinquenz in Hamburg und Baden-Württemberg sowie die Einstellungspraxis nach §§ 153 f. StPO und 31 a BtMG erkennen (vgl. Heinz 1992, Stegherr 1996 m.N.). Tendenzielle Ungleichheiten werden selbst innerhalb der Sanktionspraxis bei vorsätzlichen Tötungsdelikten sichtbar, je nachdem, ob der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft die Anklage in der Hauptverhandlung selbst vertritt und ein Wahlverteidiger mitwirkt oder nicht. Bereits die Handhabung des Verdachts und der Definitionsmacht der Polizei weist gravierende Unterschiede auf.
Vor allem Verfolgung und Bewältigung der sogenannten Bagatelldelikte werfen schwierige Fragen für Selektion und Gleichbehandlung, generalpräventive Effizienz sowie Kapazität und Kosten des Kontrollsystems (Hirsch 1980) auf.
Reformbedürftig erscheint im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland besonders das Privatklageverfahren. Es ist zu schwerfällig, zeitaufwendig und kostenintensiv, um eine befriedigende Bewältigung von „höchstpersönlichen Bagatelldelikten“ zu gewährleisten. Eine Reaktivierung erscheint weder sinnvoll noch aussichtsreich. Hingegen bildet die Einstellung wegen Auflagenerfüllung gem. § 153 aStPO, von der inzwischen in reichem Umfange Gebrauch gemacht wird, entgegen der überwiegenden Kritik in der Strafrechtsdogmatik eine ausbaufähige Lösung, wenn es gelingt, Durchsichtigkeit, Einheitlichkeit und Gleichbehandlung in der Praxis zu erreichen. Die Anwendung hat materiell-rechtliche Institute wie das Absehen von Strafe und die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59 f. StGB) nahezu bedeutungslos gemacht und dazu beigetragen, die kurze Freiheitsstrafe zurückzudrängen. Sie hat bisher kaum Mißstände erkennen lassen, die dem befürchteten „Freikaufverfahren“, „Reichenprivileg“ oder „Millionärsparagraphen“ entsprächen und gar über das frühere Maß hinausgingen. Doch wird man vermuten dürfen, daß die Mängel in der Handhabung des § 153 StPO sich hier verstärkt äußern (zum Ganzen Meinberg 1985 und Dölling 1995). Zur Gewährleistung der institutionellen Durchsichtigkeit und Kontrolle ist an die Einführung eines Begründungszwanges für sämtliche Bagatellisierungsentscheidungen zu denken. Aufdiese Weise könnte der Rechtsanwender für die Verfahrensbeteiligten Rechenschaft über die Gebotenheit der Bagatellisierung ablegen (vgl. Kunz 1984, 323). Außerdem sollte das Klageerzwingungsverfahren auf Opportunitätsentscheidungen ausgedehnt werden.
5. Handlungsleitende Strukturen und Prinzipien
Schrifttum: Bottke, Grundlagen des polizeilichen Legalitätsprinzips. JuS 1990, 81-86; ders., Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat. Berlin 1991; Jung, Legalität oder Opportunität im Strafverfahren? In: Recht und Gesetz im Dialog II, hrsg. v. Prütting. Köln u.a. 1986, 55-72; Gössel, Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren. In: FS für Dünnebier. Berlin u.a. 1982, 121-148; Meyer, Strafverfolgungspflicht und Handlungsspielraum der Staatsanwaltschaft im europäischen Vergleich. In: Ist das Legalitätsprinzip noch zeitgemäß? Tagungsbericht, hrsg. v. Ministerium der Justiz. Stuttgart 1990, 57-97; Schroeder, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip heute. In: FS für Peters. Tübingen 1974, 411-427; Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen. München 1990; Stegherr, Die Anwendung von § 31 aBtMG. Ausgewählte Ergebnisse. Wiesbaden 1996; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen. Baden-Baden 1977.
Opfer und Anzeigeerstatter veranlassen überwiegend das Strafverfahren. Sie übernehmen dadurch situativ und zeitlich begrenzt die Funktionen eines informellen Agenten der Verbrechenskontrolle. Daher bedürfen die von ihnen behaupteten Tatsachen der Überprüfung sowie die privaten Verfolgungsinteressen der rechtsstaatlichen Kanalisierung und Humanisierung. Diese Aufgabe ist für alle Betroffenen und das Gemeinwesen so bedeutsam, daß sie nur in einem geregelten und das heißt formalisierten Verfahren z.B. nach der Strafprozeßordnung legitimiert werden kann. Außerdem müssen diese Funktionen von bestimmten Berufsgruppen, den Trägern der Verbrechenskontrolle wie Polizei, Strafrechtspflege, Strafvollzug und Bewährungshilfe, wahrgenommen werden. Alle Prüfung aber schließt Abstufung, Auswahl und damit auch Bewertung ein. Dies ist in der Verbrechenskontrolle prinzipiell nicht anders als etwa im Schul- und Ausbildungswesen. Die Tatsache der Selektion läßt sich also nicht umgehen. Die Fragen und Möglichkeiten liegen vielmehr in der Rationalität der Begründung, in der Rechtfertigung und Durchsichtigkeit. Andernfalls bliebe lediglich die Möglichkeit der Willkür oder der Zufallsauswahl, etwa im Sinne der sogenannten Dezimierung vergangener Jahrhunderte. Die Anordnung von Kriminalsanktionen zählt zu den einschneidendsten staatlichen Machtäußerungen. Sie muß deshalb für den Bürger im höchstmöglichen Grade berechenbar sein (Jung 1986, 62). Da Macht ohne Kontrolle mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats kaum vereinbar ist, bedarf es entsprechender Sicherungen, gesetzlicher Bindungen und Handlungsanweisungen.
Um die Auswahlprozesse durchschaubar und rational einsichtig zu machen, hat sich im Laufe der Strafrechtsgeschichte eine Reihe von rechtspolitischen Grundsätzen herausgebildet (siehe § 11, 3 u. Zehntes Kapitel). Diese haben die Aufgabe von Handlungsanweisungen für die Träger der Verbrechenskontrolle. Zu den Prinzipien gehören auch die sogenannten Prozeßmaximen, insbesondere das Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 163 StPO). Danach haben hierzulande Staatsanwaltschaft und Polizei grundsätzlich alle strafbaren Handlungen zu verfolgen. Außerdem wird aus dem Grundsatz der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege abgeleitet, daß der Strafanspruch durchgesetzt wird (BVerfGE 46, 214, 22 f., Gössel 1982, 121, 129; kritisch Jung 1986, 60). Freilich gibt es andere Länder wie Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, wo das Opportunitätsprinzip herrscht. Dort ist es also grundsätzlich in das Ermessen der Behörden gestellt, ob und wann sie verfolgen wollen. Die tatsächliche Ausübung dieses Ermessens ist daher besonders wichtig. Dennoch ergeben sich überall gravierende Probleme, gleichgültig ob unter der Herrschaft des Legalitäts- oder Opportunitätsprinzips. Schwierige Fragen wirft schon die sogenannte Dunkelfeldkriminalität auf (siehe unten § 20, 3), die sich also der offiziellen Kenntnisnahme und Verfolgung entzieht. Entsprechendes gilt für die Eingriffe durch Amnestien, von denen in manchen Staaten reicher Gebrauch gemacht wird, und ferner für sogenannte Prozeßabsprachen (,„plea bargaining“; dazu kritisch Schünemann 1990). Aber auch dann, wenn man diese Problematik zunächst außer Betracht läßt, ergeben sich Fragen, die unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit im Unrecht bezüglich der erwähnten Tätermerkmale sowie für die kriminologische Aussagekraft der Kriminalstatistik von erheblicher Tragweite sind. Denn die traditionelle Kriminologie ging gemäß dem Gesetz der konstanten Verhältnisse weithin von der Strukturgleichheit zwischen registrierter und unbekannt gebliebener Kriminalität aus. Doch schon die unterschiedliche Sichtbarkeit von Rechtsbrüchen und Rechtsbrechern (vgl. unten §§ 19, 6; 37, 3) läßt systematische Verzerrungen vermuten. Aufgrund dieser Erwägungen ist die Erforschung solcher Selektions- und Sanktionsprozesse ein wichtiges neues Feld kriminologischer Wissenschaft geworden.
6. Selektion und Kriminalitätsgeographie
Schrifttum: Albrecht, G., Kriminalitätsgeographie, Städtebau und Kriminalität. KKW 1993°, 226-236; Albrecht, H.-J., Gemeinde und Kriminalität. In: Gesellschaftliche Umwälzung, hrsg.v. Kury. Freiburg 1992, 33-54; Ammer, Kriminalität in Landau. Analyse und (Re-) Konstruktion des Kriminalitätsbildes einer Kleinstadt mit hoher Kriminalitätsbelastung. Holzkirchen 1990; Boggs, Formal and Informal Crime Control: An Exploratory Study of Urban, Suburban, and Rural Orientation. Sociological Quarterly 12 (1971), 319-327; v. Hentig, Das Verbrechen, Bd. 1: Der kriminelle Mensch im Kräftespiel von Zeit und Raum. Berlin u.a. 1961; Inciardi, Visibility, Societal Reaction, and Criminal Behavior. Criminology 10 (1972), 217-234; Kaiser, Gefährliche Stadt? In: Stadt der Zukunft, hrsg. v. Zeller. Zürich 1990, 245-256; Kräupl/Ludwig, Wandel kommunaler Lebenslagen, Kriminalität und Sanktionserwartungen. Freiburg 1993.
Tatort und Tatgebiet sind kriminologisch von erheblicher Bedeutung. So werden in Großstädten bei bestimmten Deliktstypen teilweise zehnmal so viele Straftaten registriert wie auf dem Lande. Ferner werden in freiheitlichen Gesellschaften vermutlich mehr Delikte begangen als in totalitären Sozialsystemen, auch wenn in beiden Gesellschaftsformen ein Stadt-Land-Gefälle besteht. Doch läßt sich den Schwierigkeiten der Kriminalitätsgeographie nur bedingt dadurch’ entrinnen, daß man sich nicht mehr auf die Rechtspflegestatistik, sondern auf die polizeiliche Anzeigenstatistik stützt. Denn auch die Erstattung von Anzeigen unterliegt vielfältigen Verzerrungen, wie die Opferbefragungen gezeigt haben (dazu unten § 36, 4).
Damit wird deutlich, daß regional unterschiedliche Belastungen der Delinquenz überwiegend nicht auf Besonderheiten in der Persönlichkeitsstruktur zurückgeführt werden können. Vielmehr haben wir in.den Großstädten besondere Kommunikationsformen mit den Kennzeichen einer höheren Anonymität anzunehmen. Dabei formen die Muster der strafrechtlichen Sozialkontrolle die Kriminalitätsgeographie entscheidend mit. „Stadtluft macht frei“ gilt auch in dem Verhältnis zwischen Kriminalität und Verbrechenskontrolle. Selbst innerhalb der Gemeinden und kommunalen Bezirke finden wir Verschiedenheiten in der polizeilichen Überwachung, etwa nach dem Grad der Privatheit oder Öffentlichkeit von Beziehungen (Boggs 1971) oder nach der sozialen Sichtbarkeit (dazu Inciardi 1972). Derartige Kontrollmechanismen bestimmen schließlich die räumlichen Tatbereiche bei der Verkehrsdelinquenz, hier unterschieden nach Innerortsund Außerortsgebieten sowie nach der Verkehrsdichte.
Daher können „systemneutrale Faktoren“ nicht verkannt werden. Allerdings mögen sich die angelsächsischen Erfahrungen aufgrund der bei uns eingeengten polizeilichen Definitionsmacht auf die hiesigen Verhältnisse nur sehr bedingt übertragen lassen. Dies wird bei der Rezeption polizeisoziologischer Fragestellungen häufig übersehen. Dennoch bleibt richtig, daß ausweislich der Analysen die einzelnen Gemeinden und Stadtbezirke mit polizeilichen Kontrollen unterschiedlich ausgestattet sind. Dies gilt ferner für die Kontaktbereichsbeamten des kommunalen Sozialdienstes und überdies für die privaten Nachbarschaftskontrollen („neighbourhood watch“; dazu Näheres LB § 37, Rn. 41 ff.). Soweit es sich um Unterschichtbezirke handelt, zieht die generell beobachtbare Delinquenzrate eine schärfere polizeiliche Kontrolle nach sich und diese wiederum eine höhere polizeiliche Anzeigefrequenz. Auch wenn damit die Annahme schichtspezifischer Schwerpunkte der Kriminalität nicht zu entkräften ist, wie vor allem Ergebnisse von Opferbefragungen nahelegen, so bestehen doch Hinweise dafür, daß die einzelnen Gruppen und Schichten der Bevölkerung der sozialen Kontrolle unterschiedlich nahe sind. „Ganze Bevölkerungsgruppen genießen auf dem Gebiet der Anzeige ein Sonderregime“ (v. Hentig 1961, 83). Manche von ihnen sind gegenüber der organisierten Verbrechenskontrolle fast vollständig „immun“.
7. Verzerrungen durch Selektivität strafrechtlicher Verfolgung?
Schrifttum: Albrecht, G./Howe, Soziale Schicht und Delinquenz. Verwischte Spuren oder falsche Fährte? KZfSS 44 (1992), 697-730; Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986, 122 ff.; Kerner, Anstaltsinsassen. In: Strafvollzug. Ein Lehrbuch, hrsg. v. Kaiser u.a., Heidelberg 1992*, 371-381; Kürzinger, Deliktsfragebogen und schichtenspezifisches Kriminalitätsvorverständnis. RdJB 21 (1973), 147-152; Sack, Selektion und Kriminalität. KJ 4 (1971), 384- 400; Thornberry/Farnworth, Social Correlates of Criminal Involvement: Further Evidence on the Relationship between Social Status and Criminal Behavior. ASR 47 (1982), 505-518; Villmow/Stephan, Jugendkriminalität in einer Gemeinde: Freiburg 1983.
Wissenschaft und Öffentlichkeit sehen sich teilweise in der Annahme bestärkt, daß Polizei und Justiz dazu neigen, eher Personen der sozialen Unterschichten als andere zu verfolgen und zu bestrafen (siehe auch LB Schaub. 30). So wird für die USA angenommen, daß nach den offiziellen Statistiken der größte Teil der straffälligen Bevölkerung der sozialen Unterschicht entstammt, insbesondere soweit es um sogenannte Straßenkriminalität geht. Mindestens zwei Drittel der Anstaltsinsassen gehören dort der Unterschicht an. Ähnliche schichtspezifische Rekrutierungsmuster liegen dem hiesigen Strafvollzug zugrunde (vgl. Kerner 1992, 380). Darüber hinausgehend glaubt man, daß dann, wenn ein Angehöriger der Unterschicht und einer der höheren Schicht in gleicher Weise eines Delikts schuldig seien, die Person der Unterschicht mit größerer Wahrscheinlichkeit verdächtigt, verurteilt und gegen sie eine Freiheitsstrafe vollzogen werde. So meint Sack (1971, 397), daß die gleichen Gruppen und sozialen Schichten, die hinsichtlicdhe r Bildung und des Zugangs zu dem Belohnungssystem der Gesellschaft unterprivilegiert, bezüglich des Zugangs.zu dem Bestrafungssystem der Gesellschaft überprivilegiert sind. Die Hypothese besagt also, daß eine Person der Unterschicht, verglichen mit einem Angehörigen derhöheren Sozialschichten,
® mit größerer Wahrscheinlichkeit bei einem Rechtsbruch beobachtet und ® cher festgenommen wird, wenn sie unter verdächtigen Umständen entdeckt worden ist, ferner, daß sie ® eher in Untersuchungshaft genommen, ® cher gegen sie ein Strafbefehl beantragt oder das Hauptverfahren eröffnet sowie daß sie ® eher schuldig gesprochen und ® eher hart bestraft wird.
Untersuchen wir daher, ob die Ergebnisse empirischer Analysen die Annahme schichtspezifischer Selektivität stützen.
Nach der Freiburger Dunkelfelduntersuchung (Villmow/Stephan 1983, 127) z.B. schwankt das erfragte Delinquenzverhalten in den einzelnen Schichten der männlichen Befragten (N = 854) zwischen 34,9 und 40,1%. Im Durchschnitt gab jeder Dritte an, innerhalb von zwölf Monaten strafbare Handlungen begangen zu haben.
Obschon sich die befragten 14- bis 26jährigen schichtspezifisch nach dem Alter nicht signifikant unterscheiden, scheint die Kriminalitätsbelastung tendenziell in den einzelnen Schichten vom Alter abhängig zu sein. Während nämlich bei den Jugendlichen die Täteranteile nur um etwa 4% streuen, schwanken sie bei den Heranwachsenden um mehr als 20%. Bei den Jungerwachsenen wiederum betragen die schichtspezifischen Differenzen bis zu 14%.
Auch hinsichtlich der erfragten Viktimisierung ergab sich eine Abhängigkeit vom Alter. So nimmt mit Ausnahme der oberen Schichten bei allen Sozialschichten die Opferrate mit zunehmendem Alter ab. Zwar sind Angehörige der Unterschichten tendenziell weniger als jene der Oberschichten mit Opfersituationen belastet. Aber Mehrfach- und Vielfachopfer sind auf alle Schichten relativ gleichmäßig verteilt.
Danach scheint keine Schicht in der Kriminalität besonders stark oder gering belastet zu sein. Vielmehr nehmen in den drei Altersgruppen jeweils Unterschichten die zu erwartenden Rangplätze ein. Differenziert man das erfragte Delinquenzverhalten aber nach der Art der Kriminalität, so zeigt sich eine tendenziell stärkere Belastung der unteren Schichten mit Gewaltdelikten einerseits und der Mittel- und Oberschicht mit Unterschlagung und Rauschgiftkriminalität andererseits (jedoch ohne statistische Signifikanz). Wegen eines möglicherweise schichtenspezifischen Deliktsverständnisses (Kürzinger 1973, 149 ff.) ist allerdings nicht auszuschließen, daß Befragte höherer Sozialschichten im Zeitpunkt der Befragung an leichtere Fälle dachten, die häufiger vorkommen und deshalb auch eher berichtet werden. Vergleicht man mit diesen Befunden wiederum die amtliche Registrierung aufgrund einer Dokumentenanalyse, so ergibt sich, daß auch danach die Schichtzugehörigkeit keine Unterschiede in der Delinquenz erkennen läßt.
Mit anderen Worten streuen Klein- und Gelegenheitskriminalität relativ gleichmäßig über alle Schichten, insbesondere bis zu einem Alter der Befragten von etwa 16 Jahren. Mit zunehmendem Alter, wachsender Intensivierung und Schwere des kriminellen Verhaltens verliert sich die gleichmäßige Belastung jedoch zugunsten einer Schwerpunktbildung bei den unteren Schichtangehörigen, und zwar sowohl nach Täterbefragung, erfragtem Anzeigeverhalten (siehe unten §§ 20, 3 und 36, 4) wie offizieller Registrierung (ähnlich Amelang 1986, 126 f£.). Hierzu stimmige Befunde weist der Vergleich polizeilicher Erfassung von Deutschen und Ausländern nach der Freiburger Kohortenstudie aus, wonach Deutsche beiderlei Geschlechts nach dem Höhepunkt der Registrierung im 16. Lebensjahr allmählich abnehmen, hingegen Ausländer noch partiell eine Zunahme aufweisen, insbesondere die Mehrfachregistrierten mit dem Höhepunkt um das 22. bis 23. Lebensjahr. Entsprechend unterscheiden sich die Strukturbilder der Kriminalität. Erst bei erfragter hoher Delinquenzbelastung (bzw. verweigerter Befragung), Schichtzugehörigkeit und offizieller Registrierung treffen wir auf einen signifikanten Zusammenhang.
Wie in der Sozialisationsforschung kann auch hier die Schichtvariable in einer Stichprobe regelmäßig nur einen sehr kleinen Teil der Varianz erklären. Daher ist die Bedeutung der Schichtzugehörigkeit zurückhaltender einzuschätzen. Schon gar nichtrechtfertigen die Befunde die bislang behauptete Prominenz der Schichtanalyse in Strafverfolgung und Selektionsforschung. Wohl gibt es eine Selektion. Jedoch sind ihre Kriterien vielschichtiger, als daß sie sich allein auf die Schichtvariable zurückführen läßt
Im übrigen jedoch muß man annehmen, daß auch unter Berücksichtigung selektionsspezifischer Verzerrungen ein Restunterschied nach Art und Belastung der Delinquenz zwischen Angehörigen der Unterklasse und den höheren Schichten bleibt. Allerdings trifft das Ausmaß der Überrepräsentation unterer Sozialschichten in der Strafrechtspflege nicht unter allen Bedingungen zu; es gibthiervon auch Ausnahmen, etwa für die Bereiche der Wirtschafts- und Verkehrskriminalität. Die Deliktsart hängt offenbar in signifikanter Weise mit dem sozio-ökonomischen Status, den Möglichkeiten und Fertigkeiten des Rechtsbrechers zusammen. Demgemäß verkennen die Vertreter einer schichtspezifischen Selektivität strafrechtlicher Verfolgung nicht nur die Unterschiede nach dem Deliktstypus, sondern sie übersehen auch, daß die schichteigentümliche Struktur der abgeurteilten Rechtsbrecher durch die strafgesetzlichen Vorentscheidungen (z.B. Kriminalisierung der Eigentumsverletzung) sowie durch die Handlungsmuster von Verbrechensopfer, Anzeigeerstatter und Polizei schon weitgehend vorgegeben ist.
8. Definition und Wahrnehmung des Verbrechens in ihrer Bedeutung für die Konstituierung der Verbrechensrealität
Schrifttum: Heinz, Kriminalstatistiken — Indikatoren der Kriminalität und ihrer Entwicklung? In: BKA-Vortragsreihe 23 (1977), 93-110; Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion. Berlin 1978; Rößner, Bagatelldiebstahl und Verbrechenskontrolle. Frankfurt/M. 1976.
Die Relevanz von Selektionen und Auswahlprozessen liegt vor allem in den kriminologischen, aber auch rechts- und sozialpolitischen Konsequenzen. Diese bestehen in den Selektionskriterien und in dem Problem der Gleichheit, ferner in der Aussagekraft der Kriminalstatistik, in der Funktion des Strafverfahrens, einschließlich der Tätigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft für die kriminologische Untersuchung. Sie sind schließlich wichtig wegen der mit ihnen angedeuteten Dynamisierung der kriminologischen Betrachtungsweise, verglichen mit der Statik kriminologischer Frühforschung.
Die Wahrnehmung der Selektionsaufgaben wird von verschiedenen Gesichtspunkten bestimmt. Neben Opferbelangen, Resozialisierungsnotwendigkeiten beim Täter und generalpräventiven Interessen schlagen auch verfahrensökonomische Gesichtspunkte, insbesondere solche der begrenzten Kapazität, durch. Diese vielschichtigen Kriterien bestimmen die differentielle Wahrscheinlichkeit kriminalrechtlicher Sanktionierung. Kennt die Strafrechtspflege sowohl regional und national als auch international unterschiedliche Handlungsmuster, so versucht sie doch überall, unter den Rechtsbrechern auszulesen. Dabei lassen sich Regelhaftigkeiten erkennen. Je leichter und harmloser das festgestellte Delikt erscheint, desto mehr gehen zusätzliche Merkmale in den Selektionsprozeß ein und desto größer ist die Selektionsmacht (vgl. Kürzinger 1978, 158 ff. zu den deliktstypischen Unterschieden von Gewalt- und Eigentumsstraftaten). Je schwerer und eindeutiger hingegen die Straftat zu beurteilen ist, desto mehr treten außerdeliktische Faktoren, die in Persönlichkeit und Bezugsbereichen des Rechtsbrechers begründet liegen, zurück. (Eine wichtige Ausnahme bilden lediglich die quantitativ geringen Fälle des § 20 StGB.) Nur auf diese Weise läßt sich wohl der Sachverhalt deuten, daß trotz auseinandergehender Kontrollstile im innerdeutschen wie im europäischen Vergleich die relativen Anteile der Strafgefangenen verhältnismäßig dicht beieinander liegen. Da vor allem im breiten Mittelfeld der Rechtsbrecher diagnostische Zuschreibungsprozeduren und darauf gestützte Prognosen über die kriminalrechtliche Handhabung entscheiden, wächst das Bedürfnis nach Kontrolle derartiger Entscheidung und nach Festigung der rechtsstaatlichen Garantien. Freilich reichen die differentiellen Handlungsmuster der Kontrollinstanzen nicht so weit und prägen nicht so stark, daß sie das Gefälle in der Kriminalitätsbelastung von Männern zu Frauen, von jungen zu alten Menschen sowie von stark urbanisierten Bereichen zum Land völlig umgestalten würden. Vielmehr deuten die gleichförmigen Strukturen, unabhängig von Zeit und Raum, an, daß es offenbar systemneutrale und selektionsindifferente Faktoren in der Kriminalität gibt. Diesen müssen auch Polizei und Strafrechtspflege Rechnung tragen, wenn sie im Gesamtsystem der Verbrechenskontrolle nicht dysfunktional wirken wollen.
Bei einer auf die Täterpersönlichkeit beschränkten Darstellung des Erfahrungswissens (vgl. §§ 25 ff.) muß die Frage noch weitgehend offen bleiben, inwieweit zwischen sogenannten Tätermerkmalen und Selektionskriterien eine Übereinstimmung besteht. Analysen solchen Materials, welches rein verhaltensorientiert und nicht persönlichkeitsbezogen gewonnen wurde, lassen erkennen, daß jene die Rechtsbrecher so kennzeichnenden Merkmale nicht nur reine Selektionskriterien bilden. Auch der Befund, daß Indikatoren für familiäre Sozialisationsdefekte mit nahezu tendenzieller Regelmäßigkeit zeitüberdauernd und geographisch fast überall gefunden werden, spricht für die diagnostische Relevanz. Freilich ist auch bei diesen Beobachtungen nicht auszuschließen, daß es sich bei manchen Unterschieden im späteren Jugend- und im Erwachsenenalter nicht mehr um primäre, sondern um sekundäre Merkmale handelt, also um Kriterien, die sich erst von dem möglicherweise langdauernden Sanktionierungs- und Betreuungsprozeß ableiten. Auch können die Übereinstimmungen ein Indiz dafür sein, daß die anscheinend unterschiedlichen sozialen Kontrollmechanismen und die Hintergrund-Überzeugungen in den verschiedenen Staaten und Gesellschaften im wesentlichen gleichartig sind. Sie erweisen sich offenbar bei der Stabilisierung jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse als günstig. Sie sind der Konformität, der Herrschaft schlechthin „funktional“. Danach können die Verhaltensauffälligkeiten substantiell unabhängig von den spezifischen Selektionsmustern der strafrechtlichen Sozialkontrolle gedacht werden. Der Ausleseprozeß macht dann die zugrunde liegenden defizitären Strukturen nur noch offenkundig. Er wirkt nicht konstitutiv, sondern nur deklaratorisch
Geht man von diesen Überlegungen aus, so ergeben sich für Verbrechen und Kriminalität die nachstehenden Folgerungen:
®e „Kriminalität“ beschränkt sich nach Begriff, Erscheinung und sozialpolitischer Problematik weitgehend auf die amtlich bekannt gewordenen Rechtsbrüche; ®e „Kriminalität“ ist im wesentlichen nichts anderes als eine abhängige Größe (Variable), ein Struktur und Intensität der strafrechtlichen Sozialkontrolle jeweils widerspiegelnder Sachverhalt. ° Negative Folgen für die soziale Plazierung treffen vor allem, aber nicht ausschließlich die abgeurteilten Rechtsbrecher.
Müssen diese Konsequenzen auch in der folgenden Darstellung noch näher ausgeführt und begründet werden, so ist schon jetzt zu erkennen, welche kriminologische sowie sozial- und rechtspolitische Bedeutung dem Selektionsprozeß zukommt. Hieraus erklärt sich nicht zuletzt „die hohe Priorität“, die seit den 70er Jahren der Entstehung von Kriminalstatistiken eingeräumt wird. Der Ort der Filterung befindet sich hauptsächlich im strafrechtlichen Vor- und Hauptverfahren. Deshalb kommt ihm eine die Kriminalität in Umfang, Bewegung und Struktur gestaltende Funktion zu.
§ 20 Erkenntnismittel und methodische Zugänge zur Kriminalität
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Geschichte und Kriminologie: Was kann der historische Zugang für Untersuchungen kriminologischer Fragestellungen leisten? In: Literatur, Kriminalität und Rechtskultur im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg.v. Böker. Dresden 1996, 36-53; Blasius, Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert. Göttingen 1978; van Dülmen (Hrsg.), Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt/M. 1990; Evans (ed.), The German Underworld. Deviants and Outcasts in German History. London u.a. 1988; Gatrell u.a., Crime and the Law: The Social History of Crime in Western Europe since 1500. London 1980; Middendorff, Historische Kriminologie. In: Die Psychologie 1981, 165-181; Müller-Dietz, Von der historischen Kriminologie zur Sozialgeschichte der Kriminalität und Kriminalitätskontrolle. In: FS für Miyazawa 1995, 63-74; Radbruch/Gwinner, Geschichte des Verbrechens. Stuttgart 1951; Reif (Hrsg.), Räuber, Volk und ‘Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt/ M. 1984; Rengier, Kriminologisches Lernen durch tägliche Zeitungslektüre. JuS 1983, 402-407.
1. Historische Kriminologie
Besonders bei neuartigen oder seltenen Delikten, aber auch aus didaktischen Gründen greifen Forschung und Lehre auf die Schilderung von Einzelfällen zurück. Zu denken ist vor allem an Studien über die vorsätzliche Tötung, über Geiselnahme und Flugzeugentführung sowie über das politische Verbrechen. Über „berühmte Kriminalprozesse“ liegen in der Gegenwart mehrere instruktive Fallsammlungen vor. Derartige Rückgriffe sind als illustrative Methode und wegen der Einengung der Sichtweise auf die sogenannten „causes ce@lebres et interessantes“ nicht unbedenklich. Wollte man jedoch nur jenen Bereich der Kriminalität für wissenschaftlich legitim ansehen, der eine quantitative Analyse zuläßt, so würde man eine wichtige Dimension vergangener und zeitgenössischer Kriminalität verfehlen. Die Kriminologie ginge dann interesse- und kenntnislos an berühmten Fällen wie einstmals Kaspar Hauser ebenso vorbei wie an Amoklauf, Attentat, Flugzeugentführung, Geiselnahme, Subventionserschleichung, Sexualmord und an den Erscheinungen des organisierten Verbrechens (siehe unten § 22, 4). Dies scheint die gelegentlich geäußerte Kritik an der sogenannten anekdotischen Kriminologie zu übersehen.
Vor allem die Ansätze und Beiträge der historischen Kriminologie versprechen hier zusätzliche Einsichten (vgl. Albrecht 1996, 36 ff.). Diese Forschungsrichtung, einerseits Teilgebiet der Kriminologie, andererseits der Geschichte, will durch Auswertung und Vergleich verschiedener Kriminalfälle zur Steigerung der Erkenntnis über das Verbrechen und seine Kontrolle beitragen (vgl. Middendorff 1981, 165 £.). Neben der Auswertung von Einzelfällen anhand strafgerichtlicher Akten, Fallsammlungen und Biographien obliegt ihr die Aufgabe, die „Geschichte des Verbrechens“ (Radbruch/Gwinner 1951; Gatrell u.a. 1980) sowie Strukturen und Wandlungen der Verbrechenskontrolle anhand von Urkunden, Statistiken und Gesetzen zu erforschen. Zwar verzahnen sich Kriminalität und Alltag in Fallgeschichten. Doch ist es äußerst schwierig, über Biographien oder einzelne kriminelle Karrieren kollektive Lebenswirklichkeiten zu erschließen. Unter dem Einfluß neuerer sozialgeschichtlicher Betrachtungsweisen (dazu Müller-Dietz 1995, 63 ff.) nimmt man daher an, daß die alltägliche Kriminalität einen besseren Zugang bildet, weil sie den kriminellen Alltag einfängt, d.h. einen Alltag, für dessen Bewältigung delinquentes Verhalten oft das einzige Mittel ist (Blasius 1978, 9). Zu denken ist hier etwa an die kleinen Diebstähle, die Holzdiebstähle oder die Steuerdelikte des 19. Jahrhunderts. Der bereits früh entdeckte Zusammenhang von Nahrungsmittelpreisen und Diebstählen veranschaulicht die Umsetzung der Alltagsprobleme in Kriminalitätsraten (dazu Blasius 1978, 45, 47 f£.; Reif 1984, 43 ff. sowie unten § 24,, 3.2). Neuerdings sucht man besonders die Alltagskriminalität unter dem Konzept der Sozialdisziplinierung zu deuten (z.B. van Dülmen 1990, 8 £.). Dieser Gedanke ist jedoch weder neu noch zur Erklärung von Kriminalität oder von deren epochenspezifischem Wandel zureichend.
Weitere Informationen über Kriminalität liefern Dunkelfeldforschung, insbesondere Opferbefragungen, Inhaltsanalysen der Massenmedien, Aktenuntersuchungen sowie Lehrbücher, Monographien und Fallsammlungen.
2. Kriminalstatistik
Schrifttum: Biderman/Lynch, Understanding Crime Incidence Statistics. Why the UCR diverges from the NCS. New York u.a. 1991; Dörmann u.a., Kriminalitätsanalyse und -prognose. In: Wissenschaftliche Kriminalistik, hrsg. v. Kube u.a. Wiesbaden 1984, 37-76; Hauf, Kriminalitätserfassung und Kriminalitätsnachweis auf polizeilicher Ebene. Eine Problemanalyse. Bonn 1992; Heinz, Die deutsche Kriminalstatistik. Überblick über ihre Entwicklung und ihren gegenwärtigen Stand. In: Kriminalstatistik, hrsg. v. Heinz u.a. BKA-Bibliographien-Reihe Bd. 5. Wiesbaden 1990, 1-139 mit Anhang 140-169; Jehle (Hrsg.), Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege. Wiesbaden 1989; Kerner, Kriminalitätsentwicklung und Kriminalstatistik. In: Fälle zum Wahlfach „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug“, hrsg. v. Jung. München 19887, 150-168.
Wichtigstes Mittel zur Analyse der Kriminalität ist die Kriminalstatistik. Sie enthält die Mitteilung von Zahlen, die über Rechtsbrüche und Rechtsbrecher im Tätigkeitsfeld zuständiger Träger der Verbrechenskontrolle anhand schriftlicher Unterlagen (Urkunden) in regelmäßigen Zeitabständen zusammengestellt werden.
Als Erkenntnismittel dienen aber nicht nur die Tabellenwerke der Vollzugs- und Verurteiltenstatistik wie im 19. Jahrhundert. Schon die polizeiliche Anzeigenstatistik ist heranzuziehen (zum gegenwärtigen Stand Dörmann u.a. 1984, 37 ff.; Kerner 1988, 150 ff., grundlegend Heinz 1990, 1 ff. und Hauf 1992, 13 ff.). Wir beobachten demgemäß in der Benutzung kriminalstatistischer Tabellenwerke eine zeitlich wachsende Verschiebung „nach vorn“, also von der Vollzugs- zur Anzeigenstatistik. Diese Verlagerung entspricht der Blickschärfung für Tatnähe und Anzeigesituation, aber auch dem zunehmenden Bedeutungsverlust des stationären Vollzuges mit jetzt nur noch knapp 10% aller jährlichen Kriminalsanktionen (in Österreich und der Schweiz liegt der vergleichbare Satz etwas höher; siehe ferner unten § 45). Weitere Informationen liefern neben den Analysen derartiger Dokumente Dunkelfeldforschung, insbesondere Opferbefragungen, Inhaltsanalysen der Massenmedien, Aktenuntersuchungen sowie Lehrbücher, Monographien und Fallsammlungen.
Die Bedeutung kriminalstatistischer Materialien und deren Analyse leitet sich vor allem aus der erörterten Funktion der strafrechtlichen Sozialkontrolle für die Struktur der Kriminalität und der Auslese der Täter her. Außerdem sind die gegenwärtig nicht entkräftbaren Einwände gegen die Dunkelfeldforschung und deren stets schmale Informationsbasis zu beachten (dazu unten 3.). Deshalb bleiben wir auf die Kriminalstatistik angewiesen, wenn wir uns über Inhalt, Ausmaß und Bewegung der registrierten Rechtsbrüche unterrichten wollen (dazu eingehend Hauf 1992, 17 ff., mit Vorschlägen zur methodischen Fortentwicklung der PKS). Denn jede Beschränkung oder Festlegung auf nur ein einziges Erkenntnismittel birgt ernstliche Nachteile (Schneider 1987, 168 ff.). Deshalb ist nicht nur die technische Verbesserung, sondern auch die überzeugende Auslegung der Kriminalstatistik notwendig. Ferner müssen kriminalstatistische Daten stets mit Opferbefragungen verglichen und auf deren Hintergrund interpretiert werden.
2.1 Werkzeuge kriminalstatistischer Untersuchung
Zur kriminalstatistischen Analyse stehen entsprechend den Teilsystemen strafrechtlicher Sozialkontrolle allgemein mindestens drei Statistiken zur Verfügung:
1. Polizeistatistik (PKS), 2. Rechtspflegestatistik und 3. Strafvollzugsstatistik.
Sie erfassen das Gesamtsystem der Verbrechenskontrolle und seiner Aktivitäten an verschiedenen Meßpunkten. Sie geben also jeweils „Momentaufnahmen“ und damit Querschnittsdaten wieder. Sie lassen sich zur Längsschnittanalyse in sogenannten Zeitreihen verknüpfen und werden häufig durch Spezialstatistiken ergänzt.
In der Bundesrepublik Deutschland können wir uns der folgenden Hilfsmittel bedienen:
a) der Polizeilichen Kriminalstatistik. Sie wird seit 1953 jährlich vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden veröffentlicht, hat allerdings in den Jahren 1963 und 1971 bedeutsame Änderungen erfahren; b) der Statistik der Staatsanwaltschaft, seit 1981 vom Statistischen Bundesamt herausgegeben; c) der Rechtspflegestatistik. Sie wird seit 1950 vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden herausgegeben. Sie gliedert sich seit 1976 in „Rechtspflege“ und „Strafverfolgung“. (Für die Zeit von 1882 bis 1939 wurde sie vom Statistischen Reichsamt geführt); d) der Statistik der Bewährungshilfe; e) der Statistik des Strafvollzuges; f) der Statistik der Öffentlichen Jugendhilfe. Sie wird, ebenso. wie die zwei folgenden statistischen Hilfsmittel, vom Statistischen Bundesamt bearbeitet; g) der Statistik der Verkehrsunfälle; h) der Statistischen Mitteilungen des Kraftfahrtbundesamtes in Flensburg. Sie enthalten Informationen über die Eintragung in das Verkehrszentralregister, über die Bußgeldpraxis der Länder und über die Entziehung von Fahrerlaubnissen. In Österreich stehen als Erkenntnisquellen über die registrierte Kriminalität folgende Hilfsmittel zur Verfügung: a) Die Polizeiliche Kriminalstatistik, veröffentlicht und erarbeitet vom Bundesministerium des Innern, erstmals für die Jahre 1953/54; b) die Gerichtliche Kriminalstatistik, herausgegeben vom Österreichischen Statistischen Zentralamt seit 1910; c) die Statistik der Rechtspflege, bearbeitet vom Statistischen Zentralamt, und d) die Straßenverkehrsstatistik, herausgegeben vom Statistischen Zentralamt seit 1961 unter dem Titel „‚Straßenverkehrssicherheit‘“.
Während die Polizeistatistik über die bekanntgewordenen Straftaten sowie über deren Aufklärung Auskunft gibt, vermitteln die beiden Justizstatistiken Informationen über die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft und der Strafgerichte. Diese drei Hilfsmittel verknüpft und erläutert der jährlich von der Bundesregierung herausgegebene Bericht über die innere Sicherheit in Österreich, der sogenannte Sicherheitsbericht.
In der Schweiz unterscheidet man wegen unterschiedlicher Aussagekraft die statistischen Werkzeuge, die gesamtschweizerisch, und andere, die nur kantonal verfügbar sind. Für das Gebiet der Gesamtschweiz können wir auf folgende Hilfsmittel zurückgreifen (dazu auch Kunz 1994, 189 ff.):
a) Die Polizeiliche Kriminalstatistik, herausgegeben von der schweizerischen Bundesanwaltschaft und dem Zentralpolizeibüro in Bern, erstmals als „Minimale Kriminalstatistik“ erschienen für das Jahr 1982. Sie ist vor allem eine Anzeigenstatistik und enthält eine knappe Zusammenstellung der kantonal von der Polizei erhobenen Daten zu den wichtigsten konventionellen Straftaten, den Tatverdächtigen und Opfern, also ohne die Verkehrs- und Betäubungsmitteldelikte sowie die sonstigen Bereiche des Nebenstrafrechts.
b) Die Strafurteilsstatistik. Sie wird seit 1929 veröffentlicht und erscheint ab 1946 jährlich in der vom Bundesamt für Statistik in Bern herausgegebenen Serie „Statistische Quellenwerke der Schweiz‘ unter dem Titel „Die Strafurteile in der Schweiz“. Sie erfaßt sämtliche im Zentralregister eintragungsfähigen Strafurteile nach Merkmalen der Verurteilten, Sanktionen und Kantonen. Ausgeschlossen von der Registrierung sind z.B. Bußen bis 500 sFr. wegen Übertretungen und Maßnahmen gegen Kinder; Verurteilungen von Jugendlichen werden nur zu einem kleinen Bruchteil (etwa 5%) erfaßt.
c) Die Schweizerische Strafvollzugsstatistik, zusammengestellt von der Eidgenössischen Kommission für die schweizerische Strafvollzugsstatistik und herausgegeben vom Bundesamt für Statistik als Jahresbericht, erstmals für die Zeit seit 1982. Sie besteht aus drei Teilen: dem Anstaltenkatalog, der Insassen-Statistik und der Rückfälligkeits-Statistik.
d) Die Verkehrsunfallstatistik, herausgegeben vom schweizerischen Bundesamt für Statistik seit 1963 unter der Bezeichnung „Straßenverkehrsunfälle in der Schweiz“. Bezüglich der Alkoholunfälle im Straßenverkehr enthält die „Statistik der Fürsorgestellen und Heilstätten für Alkoholkranke“, ebenfalls vom Bundesamt für Statistik herausgegeben, zusätzliche Informationen.
Kantonal werden die vorerwähnten Werkzeuge ergänzt. In erster Linie sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen
a) die Kriminalstatistiken, z.B. die Kriminalstatistik des Kantons Zürich, bearbeitet von der Kantonspolizei Zürich, in neuer Fassung erstmals für das Jahr 1980 veröffentlicht, ferner
b) die Rechenschaftsberichte der Direktionen der Justiz sowie die Verwaltungsberichte der Polizeidirektionen und der Regierungsräte. Hier finden sich Informationen, die an Umfang und Aussagekraft über die Daten der gesamtschweizerischen Statistiken erheblich hinausgehen. Nach Bedarf lassen sich außerdem die Rechenschaftsberichte der Sozialdienste, der Vormundschaftsbehörden und ähnlicher Einrichtungen, die sich gelegentlich mit Kriminalität befassen, heranziehen.
Obschon Polizeiliche Kriminalstatistik und Rechtspflegestatistik die wichtigsten Materialien zur kriminalstatistischen Untersuchung liefern, so sind doch die anderen Informationsquellen zum Vergleich und zur Ergänzung mit heranzuziehen. Dies gilt besonders dann, wenn man Spezialfragen, z.B. über die Entwicklung und Handlungsmuster der Bußgeldpraxis, die Eintragung in das Verkehrszentralregister oder die Aktivitäten der öffentlichen Jugendhilfe untersuchen will. Erst die Benutzung und Verknüpfung der verschiedenen kriminal- und sozialstatistischen Instrumente befähigen uns, ein relativ verläßliches Bild der registrierten Kriminalität zu zeichnen. Jedes einzelne Werkzeug jedoch enthält ernstliche Schwächen, wenn es allein verwendet wird (Eisenberg 1995, 185 ff., Schwind 1996, 16 ff.).
2.2 Aussagekraft kriminalstatistischer Daten
Die kriminalstatistischen Informationen unterrichten uns über Stand, Bewegung, Trends und Struktur der polizeilich sowie justizförmig registrierten Kriminalität. Ferner enthalten sie Anhaltspunkte über die Rechtsbrecher sowie über Handlungsmuster und Daten über die Strategien der Strafzumessung. Auf diese Weise istes möglich, im Zusammenhang mit dem allgemeinen kriminologischen Wissen rechtspolitische Handlungsstile und Auffassungen begrenzt zu überprüfen.
Von den erwähnten statistischen Hilfsmitteln zählen — bei freilich unterschiedlichem Erfassungsmodus – die Polizeiliche Kriminalstatistik und die Rechtspflegestatistik jährlich die Anzeigen, die tatverdächtigen und abgeurteilten Personen nach Alter, Geschlecht und Vorbelastung, die Straftaten nach Tatzeit und Tatort, neuerdings auch Opfer und Verbrechensschäden, ferner Aufklärungsergebnisse und die verhängten Kriminalsanktionen. Bewährungshilfe- und Strafvollzugsstatistik vermitteln darüber hinaus knappe Überblicke über Umfang und Auslastung von Bewährungshilfe und Strafvollzug. Ferner differenzieren sie nach Art und Alter der Delinquenten. Die Bewährungshilfestatistik enthält außerdem Informationen über Erfolg und Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen.
Die registrierten Straftäter und Straftaten werden als Grund- und Verhältniszahlen dargestellt. Die Grundzahlen geben die tatsächliche Anzahl der registrierten Rechtsbrüche oder Rechtsbrecher in einem bestimmten Zeitraum (Jahr) wieder. Demgegenüber drücken die Verhältniszahlen Prozentsätze oder als Verurteiltenziffern Anteile aus, welche auf die jeweilige Bevölkerungs- oder Altersgruppe bezogen sind. Durch die Beziehung auf die Altersgruppe wird die ständige Veränderung der Bevölkerung berücksichtigt und eine zeitüberdauernd taugliche Vergleichsgrundlage geschaffen. Als „Verurteiltenziffern‘ bezeichnet man die Zahlen der Verurteilten, die jeweils auf 100 000 Personen der gleichen Altersgruppe entfallen, und als „Häufigkeits‘‘- oder „‚Kriminalitätsbelastungsziffern“ die angezeigten Straftaten auf 100 000 Einwohner.
2.3 Einwände gegen die Aussagekraft kriminalstatistischer Daten
Dennoch wiegen die immer wieder vorgebrachten Einwände gegen die Aussagekraft der Kriminalstatistik schwer genug (zu den Vorzügen und Schwächen Kerner 1988; Heinz 1990; zusammenfassend Göppinger 1997, 482 ff.). Selbst wenn die Bedenken auf der Wunschvorstellung beruhen sollten, den Graben zwischen Rechtstreuen und Straffälligen, zwischen „Heiligen“ und „Sündern“, zuzuschütten, so befreit dies nicht von der kritischen Überprüfung. Sie sind teilweise so eng mit der Frage nach dem ergiebigen Bezugsrahmen zur Analyse der Kriminalität verknüpft, daß sie auch hier eine knappe Erörterung verdienen. Die Bedenken lassen sich in „systemimmanente“ und „systemüberwindende“ Einwände gliedern.
Zur Gruppe der systemimmanenten Einwände gehört der Vorwurf, daß die bisherige Statistik keine kriminologisch relevanten Fragen enthält. Dies ist etwa im Bereich der Jugendhilfe- oder der Strafvollzugsstatistik der Fall, wo vorwiegend administrative Belange im Vordergrund stehen. Im übrigen „verschweige“ etwadieJugendhilfestatistik wichtige Informationen. Außerdem ist hier die Kritik zu erwähnen, daß die einzelnen statistischen Hilfsmittel nur äußerst mangelhaft aufeinander abgestimmt und synchronisiert sind. Daher lassen sich Verläufe quer durch die sozialen Kontrollinstanzen statistisch kaum zureichend verfolgen (dazu Jehle 1989 m.N.). Außerdem und vor allem wird geltend gemacht, daß die Erhebungstechnik unvollständig und unzuverlässig sei.
Aufgrund dieser Bedenken, wegen möglicher Verzerrungen durch Aufklärungsrate und Dunkelfeldkriminalität sowie wegen der Abhängigkeit der registrierten Kriminalität von den Wandlungen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und polizeilicher Strafverfolgung wird zum Teil die Brauchbarkeit der Kriminalstatistik überhaupt in Frage gestellt. Dem systemüberwindenden Einwand folgend schlägt man als Alternative die Nutzung der Dunkelfeldforschung vor. Dabei kommt der Kritik fraglos entgegen, daß man kriminalstatistische Daten nicht selten naiv und mißbräuchlich benutzt sowie überinterpretiert.
2.4 Verbrechenstypologisierung und Verbrechensindex
Schrifttum: Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; var Dijk/van Kesteren, The Prevalence and Perceived Seriousness of Victimization by crime; Some Results of the International Crime Victims Survey. EuJCrim 4 (1996), 48-70; Dölling, Rechtsgefühl und Perzeption des Strafrechts bei delinquenten und nichtdelinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden. In: Jb für Rechtssoziologie 10 (1985), 240-256; Müller, Schwereeinschätzungsuntersuchungen nach Sellin und Wolfgang — Fabrizierter Konsens? MschrKrim 74 (1991), 290-299; Plate/Schneider, Schwereeinschätzung von Gewalthandlungen. Wiesbaden 1989; Sellin/Wolfgang, The Measurement of Delinquency. New York 1964; Villmow, Schwereeinschätzung von Delikten. Berlin 1977; Wolfgang u.a., National Survey of Crime Severity. Washington/D.C. 1985.
Die Zahl an strafbewehrten Normen ist kaum zu überblicken. Deshalb besteht das Bedürfnis nach Übersicht und Ordnung. Herkömmlich werden Einteilungsgesichtspunkte der strafrechtlichen Systematik und der Rechtsgutslehre entnommen. Dabei faßt man die Verbrechenstypen zu Teil- und Hauptdeliktsgruppen zusammen. Demgemäß unterscheidet man Straftaten gegen den Staat und die öffentliche Ordnung, gemeingefährliche Straftaten, Straftaten gegen Leib und Leben oder gegen die Person, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Raub und Erpressung, Diebstahl und Unterschlagung, Vermögensdelikte, Umweltstraftaten sowie Drogen- und Verkehrsdelikte. Einer solchen Gliederung folgt etwa die Einteilung der Rechtspflegestatistik. Ferner kann man wie bei Verkehrsstraftaten (dazu LB:§§ 77 f.) nach Vorsatz- und Fahrlässigkeitstaten gliedern. Vorzüge und Mängel derartiger Typologisierungen in Anlehnung an das Strafrecht liegen dicht beieinander. Rechnet zu den Vorzügen die Zusammenfassung nach Rechtsgut oder Angriffsrichtung, so zu den Nachteilen der Aussagemangel zu den Gruppen der Gewaltstraftaten und der Wirtschaftsdelikte sowie zur Tatschwere. Daher hat man teilweise die Unterscheidung nach dem strafrechtlich vorgegebenen Deliktstypus verlassen, um umfassendere, grundsätzlichere Strukturen zu finden, die zugleich Auskunft über die schichtübergreifende Wertehierarchie in einer Gesellschaft und im interkulturellen Vergleich geben.
Vor allem ist man bestrebt, nach dem geschätzten Schweregrad des Verbrechens zu gewichten. Einen solchen Verbrechensindex gebraucht mitunter auch die Polizei. Besonders die amerikanische Kriminalpolizei erfaßt die Struktur und Bewegung des Verbrechens nur anhand von acht sogenannten Indexverbrechen. Dazu gehören Mord und Totschlag, schwere Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Einbruch, Kraftfahrzeugdiebstahl, einfacher Diebstahl und vorsätzliche Brandstiftung. Da sich aber Zahl und Schwere des Verbrechens nicht decken müssen, hat man einen wissenschaftlichen Index zu erarbeiten versucht (Sellin/Wolfgang 1964; Villmow 1977, Wolfgang 1985). Aufgabe und Ziel eines solchen Indexes bestehen darin, schnell, übersichtlich und verläßlich über die Verbrechensbewegung zu unterrichten. Die Leistung eines solchen Verbrechensindexes könnte also darin liegen, Konstanz und Veränderung in den Erscheinungsformen sozialer Auffälligkeit genauer zu erfassen, deren Symptome zu gewichten und sie aussagekräftig darzustellen, aber auch sozial- und kriminalpolitische Prioritäten zu setzen. Ein solches Instrument zur Messung der Schwere und der Veränderung der Kriminalität soll ferner die Voraussetzung für einen interkulturellen Vergleich schaffen. Wegen der abweichenden Bedeutung bestimmter Delikte in den verschiedenen Gesellschaften und wegen der abweichenden Grundeinstellung der einzelnen Sozialsysteme läßt der Verbrechensindex aber noch eine Reihe von Fragen unbeantwortet (dazu eingehend Amelang 1986, 93 ff.). Es bleibt offen, ob der Verbrechensindex systemneutral oder systemspezifisch anzeigt, ob er die Kriminalitätsbewegung oder den Einstellungswandel der strafenden Gesellschaft und damit jenen der Verbrechenskontrolle trifft (weitergehende Kritik bei Müller 1991, 291 ff.).
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