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Viertes Kapitel Verbrechen und Kriminalität

Wie die Analyse der Verbrechenskontrolle zeigt, sind Verbrechen als Einzelfall und Kriminalität als gesellschaftliche Erscheinung keine unveränderlichen Gegebenheiten. Sie werden vielmehr von Zeit und Raum oder konkreter von dem jeweiligen Inhalt des Strafgesetzes und der unterschiedlichen Intensität der Strafverfolgung zumindest mitbestimmt. Verbrechen erscheint geradezu als abhängige Variable der Verbrechenskontrolle. Entfällt die Strafbarkeit, gibt es auch keine Kriminalität; wohl aber besteht eine Reihe von sozialschädlichen Ereignissen und zwischenmenschlichen Konflikten. Diese muß die organisierte Gesellschaft bewältigen, sei es mit strafrechtlichen oder anderen Mitteln. Immerhin lassen sich die Erscheinungen der Kriminalität nur dann zureichend begreifen, wenn man den Wandel der Strafrechtsnormen sowie die ihm zugrundeliegenden Motive und Funktionen mitbedenkt. Um zu verstehen, was und wie bedeutsam Kriminalität ist, muß man zunächst wissen, was „kriminell“ heißt. Die Auffassung, wonach die Theorie der Kriminalisierung der Theorie des Verbrechens vorausgeht, verdeutlicht dies. Die Analyse des vielschichtigen Problemfeldes delinquenten Verhaltens muß daher mit den prozeßhaften Rahmenbedingungen der Kriminalisierung beginnen, die den Übergang von der Verbrechenskontrolle zum Verbrechen ausmachen. Nur dann erschließt sich die Gegenwartskriminalität in ihrer historischen Relativität und aktuellen Bedeutung. Deshalb stehen hier Funktionen und Konzepte der Kriminalisierung sowie ihre Umsetzung in Gesetzgebung und Strafverfolgung am Anfang; erst dann gibt es einen Sinn, die beobachtbaren Fakten zur Kriminalität auszubreiten und zu deuten.

§17 Funktionen der Kriminalisierung
Schrifttum: Bellebaum, Abweichendes Verhalten. Kriminalität und andere soziale Probleme. Paderborn 1984; van Dijk/van Kesteren, The Prevalence and Perceived Seriousness of Victimization by Crime; Some Results of the International Crime Victims Survey. EuJCrim 4 (1996), 48-70; Durkheim, Die Regeln soziologischer Methode (1895). Neuwied 1961; Frehsee u.a.: Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung. Opladen 1993; Hassemer, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz. NStZ 9 (1989), 553-559; Radbruch, Stand und Strafrecht. Eine rechtsgeschichtliche Skizze. SchwZStr 49 (1935), 17-30; Schellhoss, Funktionen der Kriminalität. In: KKW 1993°, 152-156; Voß, Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten. Ebelsbach 1989.

Seit ihren Anfängen kennt die menschliche Gesellschaft Handlungen, die wir „Verbrechen“ nennen. Derartige Verhaltensweisen stehen auch seitlanger Zeit im allgemeinen Erkenntnisinteresse. Anhaltspunkte dafür können wir ebenso dem Codex Hammurabi (ungefähr 1700 v.Chr.) wie dem Alten Testament und der antiken Tragödie entnehmen. Mit Gesellschaft und Kultur haben sich auch Inhalt und Zahl der als strafbar betrachteten Verhaltensweisen gewandelt. Daher ist der Verbrechensbegriff nach Zeit und Raum, Ort und Inhalt des Sozialsystems verschieden. Stets aber dient er der Gesellschaft als ein ebenso wichtiges wie folgenreiches Mittel zur Verhaltenskontrolle (vgl. unten § 18, 3). Der Verbrechensbegriff faßt die als besonders sozialschädlich beurteilten Handlungen zusammen und kennzeichnet sie. Die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung hängt offenbar davon ab, daß die als unverzichtbar erachteten Normen immer wieder öffentlich demonstriert, daß die Grenzen, die dem Individuum gezogen sind, um Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen, verdeutlicht werden. Wie die Funktion der Normverdeutlichung folgt auch die Entlastungsfunktion daraus, daß soziale Erwartungen oder Normen für die Gesellschaft konstitutiv sind, da nur sie eine allgemeine und damit über Gruppen oder andere gesellschaftliche Teilsysteme hinaus kalkulierbare, verläßliche Ordnung zu garantieren vermögen (Schellhoss 1993, 154). Selbst eine symbolische Funktion des Strafrechts birgt so gesehen noch Chancen der Normgeltung; entgegen der Kritik (vgl. u.a. Hassemer 1989, 556) indiziert sie nicht notwendig eine Krise, auch nicht des modernen Gefährdungsstrafrechts. Mit Hilfe des im Verbrechensbegriff zusammengefaßten Normenbestandes lassen sich die kriminalisierten Verhaltensweisen abgrenzen, beschreiben und der Absicht nach zurückdrängen. So gesehen trägt der Verbrechensbegriff zur sozialen Integration und zur Wahrung der Verhaltenskonformität bei.

Gleichwohl läßt sich nicht verkennen, daß der überlieferte Begriff des Verbrechens, obwohl dem Anspruch nach für jedermann bestimmt, tatsächlich und dem Schwerpunkt nach seinen Adressatenkreis bei den unteren Sozialschichten findet. Daher wird in dem herkömmlichen Verbrechensbegriff nicht selten ein Mittel gesehen, das sich vor allem an die Unterschichten wendet und diese sozial zu
disziplinieren sucht (vgl. Radbruch 1935, 24, 30; zur Aktualität des Konzepts der „Sozialdisziplinierung“ Frehsee u.a. 1993). Schon Anatole France bringt dies in einem berühmten Spottvers zum Ausdruck: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet dem Reichen wie dem Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.“ Hier ist denn auch eine der Wurzeln schichteigentümlicher Relevanz konventioneller Kriminalität, aber auch der Bewegung im Verbrechensbegriff zu suchen. Obwohl der Grund- oder Kernbestand sich im Laufe der Geschichte nur sehr langsam und substantiell geringfügig verändert, sind in den letzten einhundert Jahren erhebliche Wandlungen in Inhalt und Umfang des kriminalisierten Verhaltensbereichs zu beobachten. Man schätzt, daß sich die Zahl der mit Kriminalsanktionen bewehrten Rechtsnormen vermehrfacht hat. Zu denken ist vor allem an die Betäubungsmittel-, Verkehrs-, Wirtschafts- und Umweltschutzdelikte (vgl. unten § 37 sowie LB §§ 72 ff.).

Wegen derartiger Wandlungen, insbesondere angesichts der zeitlichen und räumlichen Relativität, ist der Verbrechensbegriff nahezu seit den Anfängen der Kriminologie umstritten. Was „heute und hier Verbrechen ist, ist es vielleicht morgen und dort nicht mehr und umgekehrt“ (Mezger 1951, 4). Neuerdings sind besonders Einwände gegen die Disziplinierungsfunktionen und die sozialen Konsequenzen für Individualfreiheit und sogenannte soziale Kosten hinzugetreten. Wenn die Bedenken zutreffen, so wird gefolgert, dann ermangelt der Verbrechensbegriff nicht nur klarer Konturen, sondern schon der Notwendigkeit.

Doch ist solchen Argumenten entgegenzuhalten, daß nach unserer Erfahrung keine Gesellschaft, und schon keine derart differenzierte wie jene der Gegenwart, in der Lage ist, auf den Verbrechensbegriff zu verzichten. Überdies läßt sich bei allem kulturellen Relativismus eine beachtliche interkulturelle Evidenz in der Wertorientierung (Bellebaum 1984, 16 f.) nicht übersehen. Denn trotz der Unterschiede von Ländern, Verbrechen und Kontrollstilen belegen interkulturelle Vergleichsuntersuchungen auf der Einstellungsebene eine bemerkenswerte Konsistenz in der Einschätzung, ja einen Zug der Universalität in den Vorstellungen der Völker vom Verbrechen und in der Einstellung ihnen gegenüber, besonders bei schwereren und zeitüberdauernden Deliktsformen wie Mord und Diebstahl (siehe Schaub. 5). Eine entsprechende Stimmigkeit drückt sich international auch in den Perzeptionen von Viktimisierungen sowie in den Gründen zur Anzeige- bzw. Nichtanzeige von Viktimisierungen aus (vgl. dazu die international vergleichende Studie von var Dijk u.a. 1996, 58 ff., 61, 66 mit Belegen für die international weitgehende Übereinstimmung im Verständnis des Verbrechensbegriffes als „fairly universal across countries“). Die modernen demokratischen Staaten zeigen sich generell toleranter gegenüber minderschweren Delikten und sind weniger geneigt, Strafsanktionen zu bevorzugen, verglichen mit mehr traditionalistischen, mehr autoritären oder mehr religiös geprägten Ländern. Soweit es gelingt, die Kriminalisierung von Verhaltensweisen zurückzudrängen, übernehmen nicht selten außer(straf-)rechtliche Regelungsmechanismen als funktionale Äquivalente, die überdies noch weniger zu kontrollieren sind, die bisherige Rolle des Verbrechensbegriffes.

Die zentrale Aufgabe besteht darin, die Frage zu beantworten, welches Maß der Strafbarkeit nach Inhalt und Form unbedingt notwendig ist, um die anerkannten elementaren Rechtswerte einer Gesellschaft zu sichern und die gesetzlichen Ziele zu erreichen. Anders gewendet bleibt zu fragen, welcher Straffälligenanteil in der Bevölkerung ein funktionales Optimum darstellt, ob es hier eine kritische Grenze gibt, ab der Kriminalisierung vollends dysfunktional wird. Ferner ist noch unklar, wie die für eine Gesellschaft funktionale Verbrechensrate entsteht und durch welche Prozesse sie gesteuert wird (Schellhoss 1993, 155). Die Klärung ist wiederholt und von unterschiedlichen Positionen aus versucht worden. Während in der Strafrechtsdogmatik neben dem sozialethischen Verbrechensbegriff vor allem die Herausbildung und Fortentwicklung des Rechtsgutes dazu dienen, das strafwürdige Verhalten beschreibend zu erfassen und zu begrenzen, hat die kriminalpolitische Diskussion seit den sechziger Jahren zunehmend den Begriff der Sozialschädlichkeit als Begründungsformel aufgegriffen, um Kriminalisierungsvorgänge einzuleiten, zurückzudrängen oder abzubrechen. Hingegen hat man sich in der Kriminologie hauptsächlich um einen kriminologisch- materiellen Verbrechensbegriff bemüht.

§ 18 Theorie der Kriminalisierung
Was und warum etwas als „kriminell“ gilt, läßt sich verschiedenen Grundauffassungen entnehmen, aber auch dem geschichtlichen Wandel und den Kriminalisierungsprozessen. Substantiell nahezu unveränderte Kernbereiche strafbaren Unrechts stehen historischen Zufälligkeiten der Strafbarerklärung gegenüber. So gesehen scheinen die scholastischen Begriffe vom malum per se und malum mere prohibitum noch immer ihre Aussagekraft zu erweisen. Die Prozesse der Kriminalisierung, die über die Problematik der Normgenese weit hinausgreifen, verdeutlichen die Veränderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen und ihrer Gründe. Dabei ist die Frage nach Notwendigkeit, Inhalt und Umfang der Strafbarkeit wiederholt aufgegriffen und behandelt worden. Doch die bisherigen Antworten können offenbar nur teilweise und zeitweilig befriedigen. Daher hat man nach Alternativkonzepten gesucht. Der Begriff des „abweichenden Verhaltens“ hat dabei die größte Resonanz gefunden. Deshalb muß er auch hier erörtert werden. Zwar sind die verschiedenen Begriffe — gleichgültig, ob Verbrechensdefinitionen, Devianz, Dissozialität oder soziale Konflikte — keine Theorien; aber stets enthalten sie bestimmte theoretische Annahmen über menschliches Verhalten, das man als sozial auffällig und kontrollbedürftig betrachtet.

  1. Verbrechen oder abweichendes Verhalten?
    Schrifttum: Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; Bellebaum, Abweichendes Verhalten. Kriminalität und andere soziale Probleme. Paderborn 1984; Opp, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur. Darmstadt u.a. 1974; Scheffler, Diskriminierung von sozialen Randgruppen durch das kriminalsoziologische Konzept abweichenden Verhaltens? In: Diskriminierung. Antidiskriminierung. Berlin u.a. 1996, 103-123; Simon (Hrsg.), Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter. us Commune SH 45. Frankfurt/M. 1990; Wiswede, Soziologie abweichenden Verhaltens. Stuttgart u.a. 1979.

Im Bereich sozialer Auffälligkeit findet man den allgemeinsten Begriff im sogenannten abweichenden Verhalten. Diese Definition zeichnet sich neben der Weite anscheinend durch Wertneutralität aus (kritisch jedoch Scheffler 1996, 106, 117, 123). Deshalb ist sie zu einem Grundbegriff der Kriminalsoziologie geworden (vgl. Opp 1974, 38 ff.; Wiswede 1979; Bellebaum 1984). Allerdings bezeichnen Kriminalsoziologen, wenn sie von abweichendem Verhalten sprechen, sehr verschiedenartige Erscheinungen. Als Abweichung werden nicht nur schwere Kriminalität verstanden, sondern auch Prostitution, Alkoholismus, Drogengebrauch, Selbstmord, ferner Ehezerrüttung, Krankheit, insbesondere Geisteskrankheit, Blindheit, Sektierertum (zur religiösen Abweichung Simon 1990), Obdachlosigkeit und Armut (speziell zur Randgruppenproblematik siehe unten § 39, 1). Jedoch war Kriminalität bestimmend für die Entwicklung der Soziologie des abweichenden Verhaltens. Denn sie gilt als eine der Devianzformen, die zugleich als soziales Problem in Erscheinung treten, als der Prototyp der meisten theoretischen Konzeptionen und empirischen Untersuchungen (Wiswede 1979, 43). Praktisch beziehen sich soziologische Ausführungen zum abweichenden Verhalten überwiegend auf den Bereich der Kriminalität. Bei der Frage nach Unrecht und Verbrechen weist der Abweichungsbegriff freilich auf das positive Recht zurück.

2. Strafrechtlicher Verbrechensbegriff
Liegt di@ Schwäche des Abweichungsbegriffes in seiner Ungenauigkeit, hingegen jene des überpositiven Maßstabs in seiner Unsicherheit und der subjektiven Befangenheit des Werturteils, sieht man sich alsbald auf das geltende Strafrecht verwiesen. Trotz der Erweiterung des Blickfeldes „bleibt es dabei: Alle Kriminologie empfängt ihren Gegenstand bei der Gestaltung des Verbrechensbegriffs aus den Händen der Strafrechtswissenschaft“ (Mezger 1951, 4). Indessen, so muß man einschränken, kann dies nur für den Verbrechensbegriff gelten, nicht jedoch für den Gesamtgegenstand und Forschungsbereich der Kriminologie. Darüber besteht kaum noch Streit. Wenn aber die Kriminologie über die Kriminalität Aussagen machen will, insbesondere über Umfang, Struktur und Bewegung, so darf und muß sie an den strafrechtlichen Verbrechensbegriff anknüpfen. Dieser meint also die vom Strafgesetz beschriebenen Handlungen (§ 12 StGB) nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Nur die juristische Formaldefinition des Verbrechens vermag Sicherheit über Umfang und Inhalt des jeweils geltenden Kriminalrechts zu vermitteln. Auch hier erweist der Satz „nullum crimen sine lege‘“ seine Aussagekraft.

Würde man die Legaldefinition des Verbrechens durch eine andere, subjektiv gefärbte ersetzen wollen, dann löste man nur die eine Relativität durch eine andere ab, ganz abgesehen von den rechtsstaatlichen Mängeln. Dies verdeutlichen besonders manche Dunkelfeldforschungen mit ihrem nahezu willkürlichen Delinquenzbegriff (kritisch Scheffler 1996, 116). Dabei ist nicht einmal sicher, wie weit Konsens und Anhängerschaft zu Alternativbegriffen überhaupt reichen.

3. Materieller oder kriminologischer Verbrechensbegriff
Schrifttum: Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Frankfurt/ M. 1972, Frisch, An den Grenzen des Strafrechts. In: FS für Stree und Wessels. Heidelberg 1993, 69-106; Zipf, Kriminalpolitik. Heidelberg u.a. 19807.

Die Frage, was und warum im einzelnen als Straftat gelten soll oder welche Rechtsnormen auch strafrechtlich sanktioniert werden müssen, ist wiederholt von unterschiedlichen Positionen aus zu klären versucht worden. Während man sich in der Kriminologie hauptsächlich um einen kriminologisch-materiellen Verbrechensbegriff bemüht – nicht zuletzt, um zugleich das Gegenstandsproblem der kriminologischen Wissenschaft zu lösen -, hat in der Strafrechtsdogmatik neben einem sozialethischen Verbrechensbegriff vor allem die Herausbildung und Fortentwicklung des Rechtsgutes dazu gedient, das strafwürdige Verhalten beschreibend zu erfassen und zu begrenzen. Beide Ansätze verbindet, daß sie naturrechtliche Argumentationsmuster verwenden. Kennzeichnend ist die bis zur Scholastik zurückreichende Unterscheidung in malum bzw. delictum per se und delictum mere prohibitum.

Vor allem Garofalo, bei dem sich Naturrechtsdenken und sozialdarwinistische Einflüsse mischten, versuchte, den zeitlosen „Grundbestand der Verbrechen“ aufzuspüren. Als Orientierungsmaßstab legte er die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgefühle zugrunde. Danach entwickelte er 1885 in seinem Werk „Criminologia“ die Lehre vom natürlichen Verbrechen, dem „delitto naturale“. Gegen diese Lehre wurden alsbald methodische Einwände erhoben. Ähnliche Bedenken treffen auch für die Unterscheidung der strafbaren Handlungen „wider natürliches Recht‘ und Vergehen „wider positives Recht‘ zu. Aber auch eine solche Wiederaufnahme der alten naturrechtlichen Doktrin kam über den Stand der Lehre Garofalos nicht hinaus. Sie vermochte infolgedessen auch die Bedenken der Willkür und der Subjektivität nicht auszuräumen.

Dennoch dauern die Bestrebungen um einen materiellen Verbrechensbegriff bis zur Gegenwart fort. Zum Teil hat man die naturrechtliche Tradition fortzusetzen gesucht, nicht zuletzt aufgrund der „Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ und anderer kollektiver Großkonflikte, zum Teil hat man anthropologische und rechtssoziologische Argumente miteinbezogen. Wohl nur auf die Unerschütterlichkeit solcher Annahmen läßt sich die Hoffnung der Menschheit gründen, der Legislative die Befugnis zum willkürlichen Gebrauch der Strafgewalt mit Aussicht auf Erfolg absprechen und damit verhindern zu können, daß der jeweilige Inhaber der gesetzgebenden Gewalt jedwedes Verhalten, das er aus irgendeinem Grund unterdrückt zu sehen wünscht, mit Strafe bedroht. Überdies hat die neuere Entwicklungsrichtung zur Polarisierung und Politisierung auch kriminologischer Überlegungen zu einem materiellen Verbrechensbegriff angeregt. So treffen wir mitunter auf den Versuch, kriminelle Aggressionshandlungen als gerechtfertigte Demonstrationsgewalt zu legitimieren (dazu unten § 41, 1). Ferner liefern politisch motivierte Straftaten ebenso wie Wirtschaftsdelikte für die heutige Diskussion Zeugnis. Gerade hieran wird erkennbar, wie sehr der materielle Verbrechensbegriff eine rechtspolitische Funktion erfüllt.

Weisen moderne Strömungen auf Vielfalt und Bedeutung schichtspezifischer und partikularer Gruppennormen sowie auf den Einfluß der Macht hin, so greift die kriminalpolitische Diskussion im übrigen seit den sechziger Jahren hauptsächlich auf den Begriff der Sozialschädlichkeit als Begründungsformel zurück, um Kriminalisierungsvorgänge einzuleiten, zurückzudrängen oder abzubrechen. Allerdings liegt auch hier in der Schwierigkeit, das Sozialschädliche eines Verhaltens zu erkennen und zu Entscheiden, ob es deswegen strafbedürftig ist, das eigentliche Problem. Die seit der Entkriminalisierung einiger Sexualdelikte gängig gewordene Formel von der Sozialschädlichkeit und ihrem Anspruch, alles eliminieren zu können, was sich als „bloß moralischer Verstoß“ darstellt, ist völlig unbestimmt und in unterschiedlicher Richtung interpretierbar. Sie wird vollends zur Tautologie, wenn man annimmt, daß eine Handlung immer und nur dann sozialschädlich sei, wenn sie ein Rechtsgut verletzt. Hält man aber den Begriff „sozialschädlich“ dennoch für geeignet, strafwürdiges Unrecht von nichtstrafwürdigem zu trennen, so sieht man sich alsbald auf die Heranziehung anderer Maßstäbe verwiesen (zur Kritik Zipf 1980, 110; Frisch 1993, 76).

So ist denn die Wissenschaft von einem überzeugenden Konzept inhaltlicher Verbrechensbestimmung noch immer weit entfernt. Dementsprechend ist das Problem, welche Verhaltensweisen ein legitimer Gegenstand der Strafgesetzgebung sein dürfen, bis heute wissenschaftlich ungeklärt. Entsprechende Einwände treffen die innerhalb der Strafrechtsdogmatik einst verbreitete Lehre vom Verbrechen als sozialethisch besonders verwerflichem Unrecht. Selbst bei Reduzierung der weitgreifenden Formel vom unerläßlichen „sozialethischen Minimum“ erweist sich die Vorstellung, bei dem Maßstab der Sozialethik handle es sich um einen gesicherten oder nur praktikablen Begriffsinhalt, als unzutreffend. Auch hier liegt die Schwäche des überpositiven Maßstabs in seiner Unsicherheit, in der subjektiven Befangenheit des Werturteils. Deshalb wird man sich alsbald anderen Bestrebungen zuwenden. Hervorzuheben ist dabei vor allem der Versuch, vom Rechtsgut her den Verbrechensbegriff festzulegen.

Freilich kann nicht überraschen, daß wir schon beim Definitionsversuch und der Rechtsgutsdiskussion auf ein Feld heftiger Kontroversen treffen. So ruft wegen der unterschiedlichen kriminalpolitischen Implikationen ein Teil der Praxis noch immer nach einer festen Definition des Wirtschaftsdelikts mit der Folge, daß um die schärfere Begriffsfassung der Wirtschaftskriminalität unverändert gerungen wird. Entsprechendes gilt für Umwelt-, Verkehrs- und Drogenkriminalität — sämtlich Problemfelder moderner Entkriminalisierungsdiskussionen.

Danach ist die Leistungsfähigkeit all dieser Versuche zur materiellen Verbrechensbestimmung offensichtlich sehr beschränkt. Eigentlich vermitteln uns derartige Ansätze relative Sicherheit nur dort, wo wir ohnehin kaum Zweifel hegen, nämlich beim Kernbestand des Verbrechens (vgl. dazu auch BVerfGE 22, 81; 45, 289), also im engeren Bereich des seit langer Zeit Überkommenen. Umgekehrt lassen uns die Ansätze dort im Stich, wo wir ihrer Hilfe am dringendsten bedürften, namentlich bei der Ent- und Neukriminalisierung sowie in den Randbereichen des Nebenstrafrechts, wo es um Ab- oder Aufwertung geht.

Angesichts der fortbestehenden Zweifel bleibt nurnoch übrig, zumindest strenge Anforderungen an die Begründungspflicht des Gesetzgebers in der Strafgesetzpolitik zu stellen (dazu BVerfGE 83, 130 ff., 140 ff.) und ein kritisches Problembewußtsein zu wecken oder wachzuhalten. Denn wie die Erfahrung zeigt, vermag selbst das Freiheitspostulat (in dubio pro libertate) aus sich heraus keine eindeutigen Grenzen dessen zu vermitteln, was kriminell ist oder sein sollte. Im übrigen läßt sich die Freiheit aufandere Weise einschränken, etwa durch extensive Auslegung von Tatbestandsmerkmalen durch die Rechtsprechung, ohne daß der Verbrechensbegriff auffällig beeinflußt werden müßte. Obschon es gelegentlich so scheinen könnte, als lieferten die Ansätze zu einer materiellen Verbrechensbestimmung nur „Steine statt Brot“, so bringen sie doch vorgegebene oder sachlogische Strukturen in der Kriminalpolitik nachdrücklich zur Geltung. Darin liegt ihre Bedeutung, aber auch ihre Grenze. Gleichwohl hat die Entwicklung rechtspolitischer Grundsätze wie Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot), Gleichheit, Toleranzgebot, Tatbestandsbestimmtheit (Rechtsstaatlichkeit) und Praktikabilität als kriminalpolitische Konstanten das kritische Potential gestärkt, um Inhalt, Umfang und Begründung der Kriminalisierung begrenzt zu überprüfen (Zipf 1980, 101 ff.).

4. Wandlungen des Verbrechensbegriffs
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Voraussetzungen und Konsequenzen einer Entkriminalisierung im Drogenbereich. In: Entkriminalisierung im Drogenbereich, hrsg. v. de Boor u.a., Köln 1991, 1-37; Albrecht, P-A./Hassemer/Voß, Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung. Baden-Baden 1992; Arzt, Probleme der Kriminalisierung und Entkriminalisierung sozialschädlichen Verhaltens. In: BKA-Vortragsreihe 26 (1981), 77-84; Bock, Recht ohne Maß. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft. Berlin 1988; Brusten u.a. (Hrsg.), Entkriminalisierung. Opladen 1985; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge. Studien zur Vorverlegung des Strafrechtsschutzes in den Gefährdungsbereich. Heidelberg 1991; Kadish, The Crisis of Overcriminalization. The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 374 (1967), 157-170; Kaiser, Entkriminalisierende Möglichkeiten des jugendstrafrechtlichen Sanktionenrechts und ihre Ausschöpfung in der Praxis. NStZ 1982, 102-107; ders., Kriminalisierung und Entkriminalisierung in Strafrecht und Kriminalpolitik. In: FS für Klug. Köln u.a. 1983, 579-596, Kaufmann, Rechtsgefühl, Verrechtlichung und Wandel des Rechts. Jb für Rechtssoziologie 10 (1985), 185-199; Kerner, Normbruch und Auslese der Bestraften. Ansätze zu einem Modell der differentiellen Entkriminalisierung. In: KrimGegfr 12 (1976), 137-155; Müller-Dietz, Aspekte und Konzepte der Strafrechtsbegrenzung. In: FS für R. Schmitt. Tübingen 1992, 95-116; Naucke, Über.deklaratorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. GA 1984, 199-217; Röhl, Rechtssoziologie. Köln u.a. 1987; Roos, Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M. u.a. 1981; Schöch, Entkriminalisierung, Entpönalisierung, Reduktionismus. In: FS für Schüler-Springorum. Köln u.a. 1993, 245-256; Volk, Kriminalpolitik und Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. In: BKAVortragsreihe 26 (1981), 57-64.

Zwar gilt der Satz „nullum crimen sine lege“, also kein Verbrechen ohne gesetzliche Grundlage (v. Feuerbach 1801), seit langer Zeit als anerkanntes Prinzip rechtsstaatlicher Kriminalpolitik. Darauf gründet sich die v. Lisztsche Annahme vom Strafgesetz als der Magna Charta des Staatsbürgers (1893). Ob und inwieweit aber Strafrechtsnormen auch wirklich ernstgenommen und in der Praxis durchgesetzt werden, ja warum sie überhaupt notwendig sind, geschaffen und wieder gegenstandslos werden, darüber sagt jener Grundsatz nichts. Doch gerade danach ist zu fragen. Die Problematik betrifft also die Wandlungen des von Gesetzgeber und Strafrechtspflege als strafbar erachteten Verhaltens sowie deren Gründe und Rückwirkungen auf die Geltung von Rechtsnormen. Von derartigen Prozessen und ihren Ergebnissen werden nicht zuletzt Zahl und Zusammensetzung der Rechtsbrecher sowie damit Umfang und Struktur der Kriminalität beeinflußt. Aber auch das Schicksal vieler Menschen wird dadurch mitbestimmt. In neuerer Zeit bilden vornehmlich Selbstverletzung, Selbsttötung und Sterbehilfe, Umweltund Verkehrsdelikte, Drogenmißbrauch, Schwangerschaftsabbruch, Familien- und Sexualdelikte einerseits sowie Staatsschutz- und Demonstrationsdelikte andererseits den Gegenstand rechtspolitischer Auseinandersetzung um die Reichweite der Kriminalisierung (siehe eingehend LB § 36, 4.1).

Generell kann man die Tendenzen in der Bewegung des Verbrechensbegriffs danach unterscheiden, ob der Bereich der Strafbarkeit erweitert oder eingeschränkt wird. Je nach Entwicklungsrichtung spricht man von Neu- oder Entkriminalisierung. Problematischer Ausgangspunkt ist die häufige Klage, daß der Bereich des für strafbar erklärten Verhaltens übermäßig zugenommen habe. Man spricht deshalb von Überkriminalisierung.

4.1 Überkriminalisierung
Auch wenn eine überzeugende Theorie der Kriminalisierung noch aussteht, so wird man in Inhalt und Umfang des Verbrechensbegriffs nicht nur Ausdrucksformen unterschiedlicher Machtverteilung in der Gesellschaft erblicken können. Die Schwächung der dem Recht vorgelagerten sozialen Normensysteme, das Versagen herkömmlich-informeller Sozialkontrolle in Familie und Gemeinde, aber auch neue sozialkulturelle Bedürfnisse haben die Verrechtlichung (vgl. Kaufmann 1985, 185 £.; Bock 1988, 11 ff., 20 ff.) und deren Absicherung mit den Mitteln des Strafrechts notwendig gemacht. Das Straßenverkehrsrecht und dessen strafrechtliche Bewehrung sind dafür kennzeichnend. Sinngemäß das gleiche gilt für die moderne Wirtschaft und die Stützung wirtschaftspolitischer Ziele durch das Wirtschaftsstrafrecht. Vor allem deshalb steigt die Zahl der strafrechtlich bewehrten Normen fortlaufend, auch wenn der Kernbestand des Verbrechens zeitüberdauernd verhältnismäßig gleichbleibt. Eine der gravierendsten Ursachen dieser Erscheinung liegt in dem schon angedeuteten Sachverhalt, daß in einer Welt wachsender Verstädterung, Mobilität und Anonymität das Recht als eines der wichtigsten Mittel erscheint, um in der Unübersichtlichkeit und mangelnden Durchschaubarkeit sozialer Verhältnisse als Steuerungsinstrument zu wirken (zum Anschwellen des Rechtsstoffes, auch „hyperlexis“ oder „legal pollution‘“ genannt, sowie zur Verrechtlichung der Gesellschaft Röhl 1987, 550 ff.). Das Gefährdungsstrafrecht gilt geradezu als „Merkmal der Risikogesellschaft“ (Müller-Dietz 1992, 104). Das Recht verspricht überdies einen hohen Grad an Rationalität, Gleichheit und Verläßlichkeit (Rechtssicherheit).

So gesehen entbehren die herrschaftskritisch motivierten Bedenken gegenüber der Ausweitung staatlicher Kontrolle mittels Strafrechtsnormen überwiegend der Realität, insbesondere soweit es sich in Anlehnung an Foucault um die Beschwörung Orwellscher Visionen totaler Überwachung handelt. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß die in den letzten Jahrzehnten vielerorts geführte Klage der Überkriminalisierung bestenfalls vorübergehend, keinesfalls aber langfristig die gesetzliche Einschränkung des strafbaren Verhaltens bewirkt hat.

Überdies wird seit mehr als einhundertfünfzig Jahren auf den notwendig fragmentarischen Charakter des Strafrechts hingewiesen. Denn das Strafrecht stößt bei massenhafter Begehung von Delikten an die eigene Funktionsgrenze. Gleichwohl sehen wir uns in der Gegenwart einer Erscheinung gegenüber, die man als Überkriminalisierung bezeichnen kann (Kadish 1967). Dieses Phänomen widerspricht der Behauptung, wonach die Geschichte des Strafrechts die seiner Abschaffung sei. Doch in dem Übermaß an Strafe leidet das Strafrecht Not.

4.2 Entkriminalisierung
Da die gesellschaftlich immanente Tendenz zur Überkriminalisierung den Kriminalitätsanstieg mit einschließt, werden die Träger der Verbrechenskontrolle fortlaufend überfordert. Der Gesetzgeber versucht, wenn auch mit angemessener Verspätung, durch Entkriminalisierung der Lage Herr zu werden. Denn seit langem zählt zu dem gesicherten Bestand der Strafrechtswissenschaft und den festen Erfahrungen der Rechtspolitik, daß im Übermaß des Strafens das Strafschwert stumpf wird. Zunehmend hat man sich angewöhnt, vom notwendig „fragmentarischen Charakter“ des Strafgesetzes zu sprechen, obschon dieses Postulat von Binding vor mehr als einhundert Jahren noch ganz anders gemeint war. So besteht über die notwendige Beschränkung des Strafrechts prinzipiell Einigkeit. Auch fehlt es nicht an strafrechtlichen Analysen und rechtspolitischen Vorstellungen, in welcher Weise die strafrechtlichen Tatbestände, und d.h. der Umfang strafbaren Verhaltens, einzuschränken seien. Dies um so mehr, als Migration, Straßenverkehr, Umwelt und Wirtschaft sowie die Intensivierung der internationalen Kommunikation mit der wellenartigen Verbreitung von Rauschmitteln für neue Verbrechensprobleme gesorgt und die Praxis an die Grenzen ihrer Kontrollmöglichkeiten erinnert haben. Im Hinblick auf die begrenzte Kapazität der Verfolgungsbehörden hat man schon in den fünfziger Jahren nach neuen Lösungsmöglichkeiten gesucht. Begriff und Forderung der Entkriminalisierung waren alsbald geboren, in der Bundesrepublik Deutschland zunächst auf den Bereich der Verkehrsdelinquenz bezogen. Weitere Anwendungsfälle lieferten Sexual-, Demonstrations- und Drogendelinquenz sowie Schwangerschaftsabbruch und ganz allgemein die Jugendkriminalität (eingehend Roos 1981; ferner Schöch 1993, jeweils m.N.). Außerdem wurde die Verfolgung der Kleinkriminalität vom Antrag der Verletzten abhängig gemacht.

Aber der Gesetzgeber vermag nur schleppend und wenig flexibel der Entwicklung zu folgen. Deshalb sieht sich die Praxis häufig alleingelassen. Sie bewältigt die Lage, indem sie ebenfalls entkriminalisierende Möglichkeiten gebraucht, namentlich im Jugendstrafrecht (dazu Kaiser 1982, 102 ff.). Schon die konkretisierende Handhabung des Rückfälligkeits- und Mißerfolgsbegriffs im Falle der (nicht) zu widerrufenden Strafaussetzung zur Bewährung bei neuer Straffälligkeit des Bewährungsprobanden zeigt dies. Nicht minder bedeutsam erscheinen Absehen von Verfolgung und Einstellung des Verfahrens (faktische Entkriminalisierung). Allerdings begegnen der Verlagerung auf prozessuale Erledigungsmöglichkeiten (§§ 153 a StPO, 31 a, 37 BtMG) wegen des nicht stets durchsichtigen und überprüfbaren Ermessens der Verfolgungsbehörden in der Wissenschaft rechtsstaatliche Bedenken. Doch haben sich jene Verfahren in der Praxis wegen ihrer ökonomischen Vorzüge durchgesetzt (siehe unten § 19, 4). Die Frage nach der Entkriminalisierung ist daher unverändert aktuell. Kontroversen um die entkriminalisierende Behandlung des Bagatelldiebstahls, die Strafwürdigkeit von Selbstverletzung, Selbsttötung und des Gebrauchs „weicher“ Drogen sowie um das Vorgehen gegen Hausbesetzer und Demonstrationsgewalt belegen dies.

4.3 Neukriminalisierung
Während das Gedankengut der Menschenrechte und die Sorge um die Funktionstüchtigkeit des Strafrechts (Kapazität und Strafökonomie) die Entkriminalisierung motivieren, liegen die Gründe zur Neukriminalisierung hauptsächlich in dem Versagen herkömmlich informeller Kontrollstrukturen und dem daraus folgenden Bestreben nach Verrechtlichung sowie gezielt politischer Steuerung, namentlich im Drogen-, Straßenverkehrs-, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht sowie im Minderheitenschutz. Es ist nicht ersichtlich, wie die moderne Gesellschaft mit Industrialisierung, Urbanisierung, wirtschaftlicher Verflechtung und dichtem Straßenverkehr sowie mit ihrer grundsätzlichen Angewiesenheit auf „Systemvertrauen‘“ zumindest temporär ohne die Normen und Mittel des Strafrechts auskommen könnte. Selbst wenn man in diesen Feldern auf die Funktion der Normverdeutlichung und schmerzlichen Sanktionen des Kriminalrechts verzichten könnte, so doch ohne Gefährdung des Ganzen offenbar nur dann, wenn fühlbar disziplinierende Sanktionen anderer Subsysteme der Sozialkontrolle als funktionale Äquivalente zur Verfügung stehen (kritisch gegenüber dem Gefährdungsstrafrecht, obgleich wenig überzeugend Herzog 1991, 38 ff., 48, 50 ff.).

Das Grundproblem jeder Neukriminalisierung besteht darin, daß anfangs die Strafverfolgungsbehörden gegen eine häufige Ignorierung des Verbots ankämpfen müssen (z.B. bei der Verkehrstrunkenheit oder im Verwaltüngsrecht bei der Pflicht, in Kraftfahrzeugen während der Fahrt einen Sicherheitsgurt anzulegen). Deshalb geht es zunächst einmal um die Entwicklung einer gemeinsamen Wertüberzeugung, wonach das neukriminalisierte Verhalten mit einem hohen Unwerturteil belegt wird.

Dies allerdings zu verdeutlichen, fällt besonders schwer, wenn es an einem konkreten Opfer fehlt (Arzt 1981, 82). Wohl hat man neue Rechtsgüterkonzepte geschaffen, neue Kontrollmechanismen, welche der Anzeigebereitschaft des Individualopfers nach Intensität und Wirksamkeit nahekämen, jedoch noch nicht entwickelt (Volk 1981,59). Die Klage des „Vollzugsdefizits‘“ ist dafür typisch und will nicht verstummen. Die häufige Rechtsgutferne äußert sich gesetzestechnisch in der Verwendung abstrakter Gefährdungstatbestände. Hier bleiben die Rechtsgüter nicht nur äußerst vage, sondern riskieren durch Verzicht auf das Individualopfer auch mangelnde Kontrolle und Durchsetzung der entsprechenden Strafrechtsnormen. Hier setzt denn auch die neuere Kritik am Gefährdungsstrafrecht an.

Im übrigen geht es darum, auch im Bereich des kriminalisierten Verhaltens die Chancengleichheit herzustellen. Das Strafgesetzbuch soll nicht nur auf unerwünschte Verhaltensweisen der sozialen Unterschicht zugeschnitten sein, sondern auch sozialschädliche Handlungen der Mittelund Oberschicht erfassen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang besonders an die sogenannte „Kriminalität der Mächtigen“, partiell auch als Staats- und Regierungskriminalität bezeichnet. Sie hat Wissenschaft und Praxis mitunter beschäftigt und gelegentlich zur Neukriminalisierung wie im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts oder im Falle der Geldwäsche zur Bekämpfung organisierten Verbrechens Anlaß geboten. Doch äußern sich Widersprüche und Strukturkonflikte, insbesondere die Überbürdung des strafrechtlichen Kontrollsystems mit immer neuen Aufgaben, ebenso in Neukriminalisierung wie in De-jure- und De-facto- Entkriminalisierung.

5. Zusammenfassung und Kritik
Schrifttum: Zipf, Kriminalpolitik. Heidelberg 1980°.
Die Frage nach Notwendigkeit, Inhalt und Umfang der Strafbarkeit ist wiederholt untersucht worden. Doch die Antworten können nur teilweise und zeitweilig befriedigen. Eine umfassende Theorie der Kriminalisierung besteht nicht; wohl aber existieren verschiedene Grundauffassungen zu dem, was als „kriminell“ gelten soll. Auch der soziologische Begriff des abweichenden Verhaltens bietet kein überlegenes Konzept. Vielmehr weist er im Konfliktfall bei der Frage nach Unrecht und Verbrechen auf das positive Recht zurück. Liegen die Schwächen der Legaldefinition des Verbrechens in der historischen Zufälligkeit und Gebundenheit von Zeit und Raum, so jene des materiellen Verbrechensbegriffs in der Subjektivität und Unsicherheit der Beurteilung. An aktuellen Streitfragen wie der Kriminalisierung von Drogengebrauch, Selbsttötung und Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und politischen Delikten wird dies anschaulich (dazu LB § 36, 4.1). Was kriminell ist, bleibt daher noch immer schwierig zu bestimmen. Zu sehr schlagen sich zeitgebundene Ideen, aktuelle Bedürfnisse (z.B. Kriminalisierung der sog. Geldwäsche oder der Mediengewalt) und Ad-hoc-Entscheidungen nieder, um das Auf und Ab der Kriminalisierung theoretisch einheitlich fassen zu können. Eine Theorie der Kriminalisierung zeichnet sich bestenfalls in Ansätzen oder Bruchstücken ab. Dies kann in einer sich weithin pluralistisch verstehenden Gesellschaft auch nicht anders sein. Trotz aller Anstrengungen um die rationale Begründung und Begrenzung des Verbrechensbegriffs bleibt so die Skepsis, die Zurückhaltung gegenüber den Möglichkeiten perfekter Regelung einschließt und zugleich dem Menschlichen Raum läßt. Immerhin hält sich trotz gegenläufiger Entwicklung die Auffassung, daß es einen Kernbereich strafbaren Unrechts gibt. Zeitüberdauernde Grundüberzeugungen und Erfahrungen sprechen dafür. Zu ihnen rechnet auch der rechtsstaatlich unverzichtbare Grundsatz, daß es kein Verbrechen ohne gesetzliche Grundlage geben darf. Freilich werden damit der Gesetzeswandel und auch die Veränderungen des Verbrechensbegriffs nicht ausgeschlossen. Neu- oder Entkriminalisierung deuten die Entwicklungsrichtungen an.

Die Veränderungen im Bereich der Strafbarkeit, während der Nachkriegszeit insbesondere ablesbar an Drogen-, Verkehrs-, Wirtschaftsund Umweltschutzdelinquenz, scheinen für die bereits von Hegel (1821) vertretene These von der Kulturabhängigkeit des Verbrechensbegriffs zu sprechen (dazu Zipf 1980, 92). So richtig diese Annahme trotz interkultureller Evidenz in der Wertorientierung (siehe oben § 17) auch ist, so weit und konkretisierungsbedürftig scheint sie aber zu bleiben. Sie vermag nicht zu erklären, warum und in welcher Richtung sich innerhalb einer Epoche der Verbrechensbegriff wandelt, ja verändern muß, und ferner, warum der Bereich des Strafbaren schon innerhalb eines Kulturkreises sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann. Immerhin könnte man jener Auffassung die Folgerung entnehmen, daß die singuläre Strafbardrklärung bestimmten Sozialverhaltens in einem Land, und zwar im Gegensatz zu dem Verbrechensbegriff benachbarter Länder, einem besonders harten Begründungszwang unterliegt, um den Fall „normativer Isolierung“ zu rechtfertigen. Zu denken ist etwa an das Beispiel der vom deutschen Gesetzgeber Anfang der sechziger Jahre erwogenen Kriminalisierung künstlicher Samenübertragung. Sinngemäß das gleiche gilt für die zeitweilige Absicht des Gesetzgebers, das Verherrlichen des Drogenmißbrauchs unter Strafe zu stellen. Neuere Forderungen nach Kriminalisierung beziehen sich auf die „sexuelle Belästigung“ am Arbeitsplatz oder das „öffentliche Rauchen“. Doch als Begründung der veränderten Beurteilung bleibt lediglich der lapidare Hinweis auf den Wandel der Wertanschauungen. Wie immer man dies ermittelt, begreift und interpretiert, in jedem Falle bleibt die soziokulturelle Abhängigkeit gewahrt. Daran wird wiederum die Dürftigkeit der Begründung ebenso wie der beachtliche Spielraum zur Kriminalisierung erkennbar. Dennoch ist das methodische Rüstzeug inzwischen so weit entwickelt, daß fehlende Initiative, gesetzestechnische Fehler, Widersprüche, Begründungsmängel, grobe Mißgriffe oder kaum verhüllter legislativer Dezisionismus, aber auch Argumentationsmuster von Interessengruppen wissenschaftlich denunzierbar werden.