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Drittes Kapitel Verbrechenskontrolle (Strafrechtliche Sozialkontrolle)

§ 10 Strukturen externer Verhaltenskontrolle
1. Problem

Schrifttum: Arzt, Der Ruf nach Recht und Ordnung. Tübingen 1976; Funk: Die Fragmentierung öffentlicher Sicherheit. Das Verhältnis von staatlicher und privater Sozialkontrolle in der politikwissenschaftlichen Diskussion. In: Privatisierung staatlicher Kontrolle, hrsg.v. Sack u.a. Baden-Baden 1995, 38-55; Pitschas: Innere Sicherheit und internationale Verbrechensbekämpfung als Verantwortung des demokratischen Rechtsstaates. JZ 1993, 857-866.

Will das Gemeinwesen seine Ziele erreichen, den Menschen zu erhalten und zu entfalten, so muß es auch für die Sicherheit des Bürgers sorgen. Modern gesprochen handelt es sich um das Ringen zwischen „Recht und Ordnung“ (Arzt 1976) einerseits und dem „emanzipatorischen Interesse“ andererseits, um die Erhaltung des Status quo hier und den sozialen Wandel da. Dieser Zielkonflikt beherrscht die Sozial- und Rechtspolitik ebenso wie die neuere Kriminologie. Doch Freiheit kann sich nur dann entfalten, wenn die elementaren Sicherheitsbedürfnisse befriedigt werden. Dabei bildet „Sicherheit“ den Rechtsgüter- und Integritätsschutz des einzelnen vor Beeinträchtigungen durch andere Bürger. „Über staatliche Formen der Sozialkontrolle reden zu wollen, ohne auf den Begriff der Inneren Sicherheit zurückzugreifen, erscheint heute kaum mehr vorstellbar“ (Funk 1995, 42). Demgemäß hat auch die Verfassungsrechtsprechung die „Innere Sicherheit“ als ein fundamentales Schutzgut anerkannt. Danach steht die Sicherheit mit anderen Verfassungswerten im gleichen Rang, schon weil die Institution „Staat“ von ihnen ihre eigentliche und letzte Hauptrechtfertigung herleitet. Das Verfassungsprinzip Sicherheit impliziert im Verein mit dem Gewaltmonopol des Staates und dem Recht des Bürgers auf Sicherheit eine entsprechende Schutzpflicht des Verfassungsstaates. Gleichwohl sind Legitimität und Reichweite „innerer Sicherheit‘ umstritten. Klärungsbedürftig ist aber nicht die Frage nach der Notwendigkeit von Verhaltenskontrolle überhaupt. Vielmehr beschränkt sich die belangvolle wissenschaftliche Erörterung auf die Frage danach, wie das Problem der Verhaltenskontrolle gelöst werden soll und der externe Kontrollbedarf bestimmt werden kann, ohne die Menschen- und Freiheitsrechte übermäßig zu beeinträchtigen.

Mögen in dieser vielschichtigen wie hochempfindlichen Gesellschaft viele nur einmal oder gelegentlich straffällig werden; wir haben gute Gründe für die Annahme, daß dies noch immer so ist. Aber viele andere, die persönlich erst wenig gefestigt oder von Familie, Schule und Gesellschaft nur in geringem Maße gestützt werden, können sich den vielfältigen, verwirrenden und zum Teil widersprüchlichen Verhaltenserwartungen nicht angemessen stellen. Sie sind darauf nicht ausreichend vorbereitet. Deshalb haben wir es bei der Kriminalität in so beträchtlichem Umfang mit Angehörigen sozialer Randgruppen (dazu unten §§ 37 f.) zu tun. Ein solches Gefährdungs- und Abweichungspotential bislang nicht oder nur wenig beeinflussen zu können und weitgehend sich selbst überlassen zu müssen, auch das gehört offenbar zu den Bedingungen unserer Gesellschaft. Dieser Sachverhalt wird mit Recht als Ärgernis empfunden. Damit liefert er den Stachel, der das kriminologische Denken, aber auch Theorie und Praxis der Verbrechenskontrolle in Bewegung hält.

2. Normative Steuerungsmittel der Sozialkontrolle
Schrifttum: Beristain, Etica en la Criminologia Europea?: Actualidad Penal 24/10 (1996), 415-418; Bock, Recht ohne Maß. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft. Berlin 1988; Davis/Starz, Social Control of Deviance. A Critical Perspective. New York u.a. 1990; Hassemer, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz. NStZ 9 (1989), 553-559; ders., Aufgaben des Strafrechts in privater Hand? In: Privatisierung staatlicher Kontrolle, hrsg.v. Sack u.a. Baden-Baden 1995, 206-218; Janowitz, Wissenschaftshistorischer Überblick zur Entwicklung des Grundbegriffs „soziale Kontrolle“. KZfSS 25 (1973), 499- 514; Jescheck, Islamisches und westliches Strafrecht—- Gemeinsames und Gegensätze. In: FS für Oehler. Köln u.a. 1985, 543-557; Kaiser, Religion, Verbrechen und Verbrechenskontrolle. In: FS für Middendorff. Bielefeld 1986, 141-158; ders., Sekten, Okkultismus. Zur kriminologischen Vielstrahligkeit und Relevanz. In: Sekten, Okkultismus — Kritische Aspekte, hrsg.v. Bauhofer u.a. Chur 1996, 11-34; Karstedt, Normbindung und Sanktionsdrohung. Frankfurt 1993; Li, Die Grundstzuktur der chinesischen Gesellschaft. Vom traditionellen Klanensystem zur modernen Danwei-Organisation. Opladen 1991; Luhmann, Rechtssoziologie. Opladen 1987°; Mannheim, Vergleichende Kriminologie. Stuttgart 1974; Miyazawa, Informelle Sozialkontrolle in Japan unter besonderer Berücksichtigung ihrer praktischen Vorgehensweisen und Handlungsstrategien im Bereich informeller Verbrechenskontrolle. In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 1159-1174; Röhl, Rechtssoziologie. Köln u.a. 1987; Rehbinder, Rechtssoziologie. Berlin u.a. 1993; Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie. Darmstadt 1987; Sack, Strafrechtliche Kontrolle und Sozialdisziplinierung. In: Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, hrsg.v. Frehsee u.a. Opladen 1993, 16-45; Scheerer: Kleine Verteidigung der sozialen Kontrolle. Krim) 27 (1995), 121-133; Schmidhäuser, Einführung in das Strafrecht. Reinbek u.a. 1984.

Sozialkontrolle bezeichnet unabhängig von historisch gefundenen oder von erdachten Problemlösungen diejenigen Mittel, mit denen die Gesellschaft Herrschaft über die sie bildenden Menschen ausübt und Verhaltenskonformität erreicht. Sie betrifft besonders die Antworten auf abweichendes Verhalten und ist zentraler Bestandteil aller Prozesse sozialer Integration (zur Begriffsgeschichte Janowitz 1973, 499). Mit ihrer Hilfe überwinden Gesamtgesellschaften, Teilgruppen und Mitglieder Gegensätzlichkeiten, Spannungen und Konflikte. Sie setzt also das Bestehen sozialer Normen oder Regelmäßigkeiten und damit deren prinzipielle Befolgung durch die Mitglieder der Gesellschaft voraus. Sie liegt immer dann vor, wenn ein bestimmtes Verhalten sanktioniert, d.h. belohnt oder bestraft wird. Belohnungen oder positive Sanktionen sind etwa die Vergabe von Orden und Ehrenzeichen, Belobigungen als „Kavalier“ bzw. „Ritter der Straße“, Gewährung eines Kraftfahrzeugbonus (Prämie für unfallfreies Verkehrsverhalten) oder von finanziellen Subventionen und Beförderungen (vgl. dazu Schmidhäuser 1984, 99). Schon das Vorenthalten von positiven Sanktionen (Anreize, Belohnungen, Auszeichnungen) kann als Strafe empfunden werden. Dies trifft etwa dann zu, wenn die Verteilung von Belohnungen in bestimmten Situationen üblich ist (vgl. Röhl 1987, 205).

„Zur sozialen Kontrolle gibt es auf absehbare Zeit keine Alternative“ (Hassemer 1995, 208). Sie muß freilich nicht stets förmlich durch Polizei oder Justiz ausgeübt werden. Sie kann, wie noch zu zeigen ist (unten 3.), auch informell erfolgen. Sie wird in diesem Fall häufig wirksamer sein (vgl. Miyazawa 1985, 1159 ff.; Li 1991, 38 ff.), obschon nicht für alle Verhaltensbereiche genügend (z.B. Straßenverkehr, Umwelt und Wirtschaft) und auch rechtsstaatlich nicht immer bedenkenfrei. Ist externe Kontrolle zu starr und sichert sie nur den Bestand des Sozialsystems, so wird es zu Protestverhalten, Rebellionen und gewaltsamen Eruptionen in der Gesellschaft kommen. Fehlt es hingegen an Sozialkontrolle, so ist die Gesellschaft nicht minder in ihrem Bestand gefährdet. Kriminalitätszuwachs, Verbrechensfurcht und Selbstjustiz bis hin zur politischen Radikalisierung zeigen die Entwicklung an.

Kritische Perspektiven zur Sozialkontrolle bemängeln die Geschichtslosigkeit und den inflationären Gebrauch des Konzepts sowie damit zusammenhängend seine zunehmende begriffliche Leere. Sie widmen sich in kritischer Absicht vor allem den Funktionen der Herrschaft, der Sozialdisziplinierung und den staatlichen Aktivitäten (vgl. Sack 1993, 16 ff.), insbesondere der Kriminalisierung und Erziehung (Sozialisation). Sie sehen eine zunehmend dezentrale, vielfältige und fragmentarische Struktur von „Disziplinierung“ an die Stelle staatlicher und strafrechtlicher Kontrolle treten. Sozialdisziplinierung geht begrifflich weit über „soziale Kontrolle“ hinaus. Sie bezeichnet die Totalisierung jener Disziplinierungstechniken, mit deren Hilfe abweichendes Verhalten schon an der Wurzel ausgerottet werden soll. Sie steht deshalb manchen Formen der Sozialisation recht nahe, insbesondere der Sozialisation in einer Gesellschaft, die durch autoritäre Herrschaftsstrukturen gekennzeichnet ist. Danach erfüllt der politische Prozeß eine zentrale Aufgabe für Abweichung und Sozialkontrolle. Konstituiert sich Kriminalität in modernen Gesellschaften „über den Staat“, dessen Einrichtungen, Funktionsträger und Tätigkeiten, so muß die strafrechtliche Sozialkontrolle eine herausragende Bedeutung gewinnen.

Das Recht und mit ihm das Strafrecht stellen dasjenige System normativer Steuerung dar, das arn stärksten formalisiert und rational durchgebildet ist sowie das einen hohen Grad von Arbeitsteilung und Zweckorientierung aufweist. Daß dem Strafrechtssystem die Formalisierung sozialer Kontrolle gelingt, macht seine eigentliche Rechtfertigung aus (Hassemer 1995, 210). Es verfügt überdies über einen relativ leicht zu bestimmenden Überwachungs- und Durchführungsstab, der einen hohen Grad an beruflicher Geschlossenheit aufweist. Die Wirksamkeit des Rechts läßt sich durch Verhaltens- und Sanktionsgeltung messen (dazu Röhl 1987, 244 unter Bezugnahme auf Geiger). Während Verhaltensgeltung die Fälle meint, in denen eine Rechtsnorm befolgt wird, bezieht sich die Sanktionsgeltung auf jene Fälle, in denen die Normverletzung sanktioniert wird. Diese Arten der Normgeltung erleichtern die Abschätzung der Wirksamkeit von Gesetzen, etwa im Bereich des öffentlichen Stra- Benverkehrs (siehe LB § 78).

Neben dem Recht, insbesondere dem Strafrecht, steuern jedoch weitere Normensysteme das menschliche Verhalten, obwohl diese über keine Mittel verfügen, um normatives Verhalten zu erzwingen. Ausgehend von der rein faktischen Gewohnheit, der man ohne verpflichtendes Gefühl folgt, kann man Brauchtum und Sitte abheben als geordnetes und bewertetes Verhalten, dessen Gesolltheit trotz weitgehend beliebiger Inhalte aus Anlaß von Verstößen bewußt werden kann, ferner die Moral als normativ formulierte Erwartungen, bei denen auch das Gefühl innerer Verpflichtung mit normiert ist. Diesen Normensystemen steht das Recht gegenüber, daß durch die Existenz besonderer Rollen, Konflikte verbindlich zu entscheiden, und durch die Bereitschaft, bei Verstößen Sanktionen zu verhängen, definiert wird (vgl. Luhmann 1987, 27 m.N.). Demgemäß darf die herausgehobene Stellung des strafrechtlichen Teilsystems nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch den anderen kulturellen Subsystemen der Religion-.und Moral sowie der Sitten und Gebräuche, die dem Rechtsbereich vorgelagert sind, erhebliche Bedeutung zukommt, um Verhaltenskonformität zu erreichen oder zu wahren. Der gelegentliche Verweis des Rechts auf die „guten Sitten“ zeigt dies. Gleichzeitig äußern sich schon hier die begrenzten Funktionen von Strafe und Strafrecht. Im Hinblick auf die gelegentlich nur beschränkte Steuerungskraft spricht man auch vom „symbolischen Strafrecht“ (Aassemer 1989, 556), deutet dies aber kritisch als „Krisenphänomen des folgenorientierten Strafrechts“. Eine solch ebenso verallgemeinernde wie dramatisierende Schlußfolgerung erscheint jedoch unbegründet, obschon sich auf die Verhaltensgeltung des Strafrechts nicht verzichten läßt. Allerdings fallen Androhungs- und Generalprävention der Strafrechtsnormen sowie strafrechtliche Appelle ins Leere, wenn die Verhaltensnormen, deren Befolgung das Strafgesetz voraussetzt, nicht vermittelt und erlernt werden. Mit dem Ausspruch „quid leges sine moribus“ (Horaz) hat man die Annahme verbunden, daß, wenn die Sitten wirksam seien, Gesetze unnötig wären, wenn aber die Sitten wirkungslos blieben, dann auch die Gesetze nutzlos wären (dazu Rehbinder 1993, 157 und Beristain 1996, 416). Gemeint ist damit die Abhängigkeit der Gestaltungskraft des Rechts von der Funktionstüchtigkeit der sozialen Netzwerke informeller Sozialkontrolle. Diese sollte trotz ihrem unbestreitbar prägenden Einfluß jedoch ebensowenig überschätzt werden wie die Mittel formeller Sozialkontrolle.

Für Denken, Fühlen und Handeln des Menschen ist offenbar seine soziokulturelle Einbettung von prägender Bedeutung. Sie wirkt sich nicht nur auf normkonformes, sondern auch auf kriminell abweichendes Verhalten aus. Die Möglichkeit einer vom Wertewandel sowie einer subkulturell oder vom Kulturkonflikt geformten Delinquenz läßt dies ebenso vermuten wie die übergreifende Annahme „unserer kriminogenen Gesellschaft“ (Mannheim 1974, 503 ff.). Die nähere Betrachtung setzt allerdings voraus, sich vergewissert zu haben, was man denn mit „Kultur‘‘ meint und welche begrifflichen Zusammenhänge mit Gesellschaft, Religion und Werten vorliegen.

Zwar ist die Zahl der Definitionsversuche dessen, was man unter „Kultur“ versteht, uferlos. Auch droht der Verschleiß des Wortes von der Justiz-, Polizei-, Sicherheits- bis zur Verkaufskultur den Begriff zu entwerten. Weithin anerkannt ist aber die Definition, wonach Kultur als das komplexe Ganze begriffen wird, welches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Brauchtum und andere Fähigkeiten umfaßt, die der Mensch als soziales Wesen erworben hat, oder kurz die Lebensweise oder den Lebensstil des Menschen. Damit stehen Glaubenssysteme, Normen und Werte geradezu im Brennpunkt. Denn eine der Hauptaufgaben der Kultur ist es, Normen und Werte zu liefern und an die folgenden Generationen zu vermitteln. Demgemäß verstand schon der Soziologe Durkheim unter Religion ein vereinigendes System von Normen und Werten, das seine Mitglieder zu einer Gemeinschaft verbindet. Auch wenn Werte nicht weniger kontrovers und ungenau definiert werden als die Kultur, so besteht doch weite Einigkeit darüber, daß mit unseren Wertungen hauptsächlich die Wertmaßstäbe gemeint sind, also unsere Vorstellungen darüber, wie die Wirklichkeit sein sollte. Neben Emile Durkheim, nach dem Religion als integrative Grundlage des Gemeinwesens galt, maßen auch Karl Marx und Max Weber der Religion und ihren gesellschaftlichen Konsequenzen erhebliche Bedeutung bei, sei es als „Opium des Volkes“ oder als Bestandteil gesellschaftlicher Herrschaft.

So sehr aber auch Kultur Orientierung und Identität vermittelt sowie die Gemeinsamkeit von Kultur ein Bewußtsein von Zusammengehörigkeit stiftet und ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit erzeugt, gibt es doch innerhalb einer und derselben Kultur tiefgreifende Unterschiede und Nuancen, die zur Entstehung von Teil- und Subkulturen, ja einer „multikulturellen Gesellschaft‘ Anlaß bieten. Demnach betrachtet man das Verbrechen als eine der vielen Arten, durch welche sich „die“ Kultur einer Epoche und eines Landes manifestiert. Auf der anderen Seite sind aber auch der Umgang mit dem Rechtsbrecher, mit Strafgesetz, Strafrechtspflege und Strafvollzug sowie die Bindung an Werte und religiöse Wahrheiten Ausdruck der Kultur. Die fundamentalistische Rückbesinnung in der islamischen Welt auf den Koran, die mitunter heftige Auseinandersetzung mit den Einflüssen westlicher Kultur und das Aufeinanderprallen islamischer und europäischer Rechtsauffassung veranschaulichen dies (vgl. Jescheck 1985, 543 ff.). Man denke etwa an die verstimmelnden Leibesstrafen im Sudan der achtziger Jahre aufgrund islamischen Strafrechts (Scharia). Die ethnozentrische Deutung des Fundamentalismus als „Aufstand gegen die Moderne“ schöpft hingegen die Problematik nicht aus, wenn es um Identitätsbedrohung geht. Die iranische Entwicklung und die internationale Wanderungsbewegung während der letzten Jahrzehnte haben auch für den europäischen Bereich den Islam als Determinante nahegerückt und unmittelbar erfahrbar gemacht. Probleme der Religionsausübung von Personen islamischen Glaubens im europäischen Strafvollzug (siehe dazu schweiz. BGE 113, Ia, 304) deuten z.B. Formen des Kulturkonflikts an (vgl. OLG Koblenz, NStZ 1986, 238 £. zur Berücksichtigung der Religion eines Strafgefangenen). Damit ist zugleich eine neue Dimension in das Blickfeld getreten, die über den traditionellen Vergleich des Legalverhaltens von J uden, Katholiken und Protestanten erheblich hinausreicht. Wo jedoch Kulturen aufeinanderstoßen sowie Glaubens- und Normensysteme miteinander ringen, begegnen wir Teil- und Subkulturen sowie Formen des Kulturkonflikts (dazu Näheres unten §§ 31, 3.2 und 38, 4).

§10 Strukturen externer Verhaltenskontrolle
Mentalität, Verhaltensweisen, aber auch „Kriminalitätreligiöser Sekten“ machen den Zusammenhang mit der Religion augenfällig. Der beachtliche Einfluß neuer Jugendreligionen hat überdies einen aktuellen Beitrag geliefert. Gleichwohl ist die empirische Befundlage uneinheitlich. Strikter Normkonformität nach innen entsprechen nicht selten Fanatismus, Aggressivität und auch Kriminalität nach außen. Verbrechen aufgrund von Intoleranz und pseudoreligiösen Wahnideen lassen sich durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart verfolgen. Daran wird deutlich, daß unreflektierte religiöse Bindungen als Ausdruck der Abhängigkeit von Gruppennormen, also von teil- oder subkulturellen Gefügen, das Potential zur Kriminalität auch verstärken können (dazu Kaiser 1996). Allerdings ist dabei fraglich, ob es sich noch um einen Einfluß von Religion handelt oder ob ein überlagernder Kulturkonflikt oder gar eine abweichende Sozialisation die religiöse Determinante schon völlig verdrängt hat, so daß in diesem Fall die Religion allenfalls einen äußerst groben Bezugspunkt liefern könnte.

Unabhängig davon, ob sich unsere Wertmaßstäbe verändern und wir uns gar in Richtung auf eine postmaterielle Wertorientierung hinbewegen, bleibt die Frage, wer die unser Sozialverhalten bestimmenden und im Wege der Sozialisation zu vermittelnden Wertinhalte verbindlich angibt, wenn die Religion an sozialer Steuerungskraft verliert. Den Subsystemen Sitte und Moral fehlen die vergleichbare normative Eindeutigkeit und die tragende Institution der Religionsgemeinschaften. Betrachten wir den Prozeß der Verrechtlichung (dazu Bock 1988 und Rottleuthner 1987,42 f.), dann ist offenbar vermehrt das Recht – im Grenzfall das höchste Gericht — aufgerufen, Wertentscheidungen zu verdeutlichen. Dies gilt besonders für den zentralen Begriff der Menschenwürde. Wenn es aber zutreffen sollte, daß dem Verrechtlichungsprozeß schon wieder eine Tendenz zur „Entregelung“ entgegentritt, wie von sogenannten Abolitionisten vielleicht mehr postuliert als konstatiert wird, wer verdeutlicht dann die Werte und erklärt sie als verbindlich? Offenbar die aushandelnden Bürger selbst oder auch die öffentliche Meinung und die Massenmedien. Damit freilich würden die Werte unserer Gesellschaft noch uneinheitlicher, zufälliger und wahrscheinlich auch willkürlicher. Feste Orientierungen für die heranwachsende Generation wären dann noch weniger glaubhaft zu machen, geschweige überzeugend zu vermitteln. Hier, im Erkennen und Aufzeigen derartiger Konsequenzen, scheint vor allem das ethische Problem der Kriminologie zu liegen. Die Aufgabe der Kriminalpolitik hingegen besteht darin, die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Angesichts des erwähnten Verbrechensanstiegs in vielen Teilen der Welt, des befürchteten Vertrauensverlustes und der beeinträchtigten Lebensqualität beginnt man, die Verbrechenskontrolle erneut zu intensivieren — eine verständliche Konsequenz.

3. Strategien zur Beherrschung sozial unerwünschten Verhaltens
Schrifttum: Cohen, Soziale Kontrolie und die Politik der Rekonstruktion. In: Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, hrsg.v. Frehsee u.a. Opladen 1993, 209-237; Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975). Frankfurt/M. 1977; Henry, Justice on the Margin: Can Alternative Justice be Different? The Howard Journal cf Criminal Justice 28 (1989), 255-271; Jung, Private Verbrechenskontrolle. KKW 1993, 409 ff.; Matthews (ed.), Informal Justice? Theory and Practice. Beverly Hills u.a. 1988; Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Tübingen 1980; Sack u.a. (Hrsg.), Privatisierung staatlicher Kontrolle: Befunde, Konzepte, Tendenzen. Baden-Baden 1995.

Wie geschichtliche Erfahrung und internationaler Vergleich zeigen, ist keiner Gesellschaft auffälliges oder sozialschädliches Verhalten ihrer Mitglieder gleichgültig. Die normative Konstruktion von Gesellschaft (Popitz 1980) verdeutlicht dies. Dennoch kann das Gemeinwesen gegen soziale Abweichungen höchst unterschiedlich vorgehen. Es kann versuchen, sie von vornherein zu verhindern oder sie nachträglich zu unterdrücken. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von der bloßen Mißbilligung durch den sozialen Tadel unerwünschten Verhaltens über die Kriminalisierung, Überwachung, Schlichtung, Wiedergutmachung bis hin zu den sich steigernden Formen sozialer Exkommunikation und Verbannung (Landesverweisung) sowie der Freiheits- und Todesstrafe. Strategien der Verhütung, Überwachung, Schlichtung und Sanktionierung des Verbrechens äußern sich in formlosen, weniger formgebundenen und förmlichen Reaktionen (siehe Cohen 1993, 224). Aber diese Wege besagen noch wenig über die Erfolgsaussicht und die inhaltliche Ausgestaltung des jeweiligen Vorgehens, sei es als Strategie oder als Sanktion, ja nicht einmal über die begriffliche Bestimmung des zum Eingreifen Anlaß bietenden Verhaltens. So fordert etwa der Abolitionismus „eine Neudefinition der bisher als Kriminalität bezeichneten Geschehnitse als Konflikte, Ärgernisse, Lebenskatastrophen und ihre alternative Bearbeitung“ (Nachweise unten § 14, 5). Daran wird erkennbar, daß neben der Reaktion auf sozial unerwünschtes Verhalten bereits dessen Definition substantiell Verbrechenskontrolle ausdrückt, ebenso wie die Verhütung, das Überwachen, die Schlichtung oder der Täter-Opfer- Ausgleich.

3.1 Verrechtlichung und Kriminalisierung
Demgemäß bilden schon Verrechtlichung und Kriminalisierung sozial unerwünschten Verhaltens einen wesentlichen Bestandteil der Verbrechenskontrolle. Der kriminalisierte Verhaltensbereich oder kurz der Verbrechensbegriff faßt die als besonders sozialschädlich begriffenen Handlungen zusammen. Er kennzeichnet die Norm und verdeutlicht sie durch Stigmatisierung der Normverletzung. Mit seiner Hilfe lassen sich die kriminalisierten Verhaltensweisen begrenzen, beschreiben und der Absicht nach zurückdrängen. Er trägt damit zur Wahrung von Verhaltenskonformität bei (Näheres unten § 17).

3.2 Sanktionierung und Überwachung
Nicht minder bedeutsam, ja wegen ihrer Eingriffsintensität noch folgenreicher und deshalb umstrittener, ist die Sanktionierung. Dazu zählen neben den Strafen und Maßnahmen mit mancherlei Abstufungen auch die Möglichkeiten zur Überwachung, sei es durch Kartellamt, Gewerbeaufsicht, Polizei einschließlich Bußgeldstelle, Schutzaufsicht, Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht. Innerhalb dieses Spektrums werden Mittel der Intensivüberwachung als ambulante Sanktionen und Alternativen zur Freiheitsstrafe weithin favorisiert, da sie zu geringeren Einbußen in den Rechtsgütern der Betroffenen führen als die freiheitsentziehenden Kriminalsanktionen (neuerdings z.B. Hausarrest mit elektronischer Intensivüberwachung; dazu unten § 45, 8). Dennoch sind diese „sanfteren“ Formen der Strafgewalt nicht zuletzt unter dem Einfluß Foucaults (1977) kaum weniger angefochten als die herkömmlichen Hauptstrafen selbst. Immerhin verdeutlicht die Kritik, daß an dem Kontrollpotential von Überwachungsstrategien, sei es im engeren Bereich des Strafrechts und im Rahmen rechtsstaatlicher Begrenzung oder sei es in Form kommunaler Kriminalprävention, kein Zweifel bestehen kann. Zwischen Überwachen und Strafen einerseits sowie Schlichtung und Wiedergutmachung andererseits ist das Absehen von Verfolgung gegen Auflagenerfüllung durch den Beschuldigten (§§ 153 a StPO, 45, 47 JGG) zu lokalisieren.

3.3 Schlichtung und Wiedergutmachung
Günstiger und derzeit attraktiver erscheinen im Lichte heutiger Kritik Schlichtung und Wiedergutmachung. Nicht selten wird das Schlichtungsverfahren mit dem Täter-Opfer-Ausgleich verbunden (dazu Nachweise unten § 49). Unabhängig von Anwendungsbereich, Durchführbarkeit und Leistungsfähigkeit derartiger Verfahren kann nicht zweifelhaft sein, daß auch auf solche Weise Verbrechenskontrolle ausgeübt wird, obschon, wie nicht verkannt werden soll, mit weniger zerstörerischen Haupt- und Nebenfolgen. Obwohl nach den empirischen Untersuchungen die Konfliktursachen nur selten angegangen, geschweige ausgeräumt werden, beeindruckt die relativ hohe Zufriedenheit der konfliktbeteiligten Opfer und Täter. Allerdings erscheinen die Anwendungsmöglichkeiten begrenzt. Hauptsächlich kommen Eigentums- und Gewaltdelikte geringerer Schwere in Betracht, seltener Sexualdelikte. Darüber hinaus entfallen abstrakte Gefährdungsdelikte und sogenannte opferlose Verbrechen in den Bereichen von Drogen, Straßenverkehr, Umwelt und Wirtschaft gänzlich. Immerhin ist hier an Formen symbolischer Wiedergutmachung zu denken, etwa aufgrund gemeinnütziger Leistungen.

Wohl hat die Theorie der konfliktnahen Erledigung und die ihr zugrundeliegende Ideologie des Informellen in der Gegenwart geradezu eine Flut von Schriften und Vorschlägen zu außerjustitiellen Konfliktregelungen hervorgebracht (vgl. Matthews 1988; Jung 1993, 409 ff.; Sack 1995, 9 ff., 334 ff.; ferner unten § 49). Sie reicht bis zu den Policy-Netzwerken und deren Verhandlungslogik. „Schlichten statt Richten“ lautet die Devise. Überprüfungen derartiger Verfahren haben jedoch gezeigt, daß sich die Schlichtung vom traditionellen Rechtsgang weniger scharf unterscheidet, als die Reformer annehmen (vgl. Henry 1989, 255 ff.). Ferner erscheint problematisch, die Opfer stets zur Teilnahme zu ermutigen. Auch werden meist nur solche Täter für ein Mediationsprojekt ausgewählt, die schon zu einer Mitwirkung bereit sind. In aller Regel werden nur jene in das Programm einbezogen, die eine niedrige oder keine Vorstrafenbelastung aufweisen. Vor allem wird der fortbestehende institutionelle Druck als bedeutsam hervorgehoben. Jenach Ausgestaltung des Programms droht Straftätern die Anklageerhebung oder die Eröffnung der Hauptverhandlung, oder aber es drohen Sanktionen für den Bruch von Bewährungsauflagen. Ferner droht der Richter den Angeklagten häufig in der Verhandlung mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe, falls der Mediatignsversuch scheitern sollte. Der strafjustitielle Druck wird als wesentliches Mittel für die Erfolgsquote betrachtet. Trotz der bedingt freiwilligen Teilnahme an der Mediation gibt es immer wieder Straftäter, die Arbeitsauflagen, Geldstrafen oder kurze Freiheitsstrafen der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Verletzten vorziehen.

Dies kann als Hinweis dafür gelten, daß auch die Schlichtung aus der Sicht von Rechtsbrechern ein Übel und somit eine negative Sanktion darstellt, was nicht zuletzt wegen der Wahrung der Verteidigungsrechte des Täters belangvoll ist. Danach leben selbst die „Alternativen zum Strafrecht“ in Durchsetzbarkeit und Bedeutung weitgehend davon, daß zumindest im Hintergrund strafrechtliche Mittel und staatliche Institutionen in Bereitschaft gehalten und im Notfall aktiviert werden können.

3.4 Verbrechensverhütung
Auch Maßnahmen der Kriminalprävention enthalten fraglos Kontrollpotential (dazu eingehend unten § 13), obschon von außen nicht stets erkennbar. Doch um Verbrechen vorbeugen zu können, muß man über Kenntnisse verfügen und ferner Umstände, Örtlichkeiten und auch Personen mit hohem Gefährdungspotential ermitteln. Man denke etwa an aggressive Sexualtäter, deren Rückfälligkeit im letzten Jahr europaweit für Unruhe und Verschärfung strafrechtlicher Sozialkontrolle gesorgt hat. Damit rückt man teilweise in die Nähe der Überwachung. Das Modell der Prä-, Inter- und Postvention veranschaulicht mögliche Reichweite und Intensität. Die polizeiliche Gefahrenabwehr und der Jugendschutz, insbesondere als Jugendmedienschutz, verdeutlichen den übergreifenden Zusammenhang.

§ 11 Begriff, System, Träger und Mittel der Verbrechenskontrolle
1. Begriff und Abgrenzung

Schrifttum: Garland, Punishment and Modern Society. A Study in Social Theory. Oxford 1990; Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle. Beständigkeit im Wandel? BewHi 31 (1984), 13-37; Kaiser, Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle. Frankfurt/M. 1972.
Die Versuche und Ansätze zur Bewältigung der inneren Sicherheit kann man in Anlehnung an die angloamerikanische Terminologie („crime control“) unter der Bezeichnung der Verbrechenskontrolle zusammenfassen.

Dieser Begriff meint alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, Strategien und Sanktionen, welche die Verhaltenskonformität im strafrechtlich geschützten Normbereich bezwecken. Damit steht er im Schnittpunkt zwischen allgemeiner Sozialkontrolle, Kriminalpolitik und den polizeilichen Bestrebungen zur Verbrechensbekämpfung (siehe unten §§ 12, 3; 50). Bedeutsam für die Untersuchung und Aussagekraft ist, daß er den Blick für die Gesamtheit der sozialen Anstrengungen zur Kontrolle des Verbrechens schärft sowie die kontrollierenden Instanzen selbst und damit auch den Staat einbindet. Er beschränkt sich also nicht nur singulär und punktuell auf einen isolierten Teilaspekt, etwa die Kriminalsanktionen. Der Fruchtbarkeit des Konzepts steht keineswegs entgegen, daß die zweckorientierte Verbrechenskontrolle die Einrichtungen von Strafe und Strafjustiz in ihrer sozialkulturellen Bedeutung nicht ausschöpft (dazu Garland 1990, 19 £.).

Von der allgemeinen Sozialkontrolle unterscheidet sich die strafrechtliche Sozial- oder Verbrechenskontrolle dadurch, daß sie sich nach Bezeichnung, Zielsetzung und Einsatz der Mittel auf die Vorbeugung oder Unterdrückung von Verbrechen beschränkt und auch generell keine Belohnungen austeilen kann. Was aber Verbrechen sind, ist in erster Linie dem Strafgesetzbuch und dem sogenannten Nebenstrafrecht, die durch Wissenschaft und Praxis vermittelt werden, zu entnehmen (siehe unten § 18). Da ferner die Verhinderung von Bagatelldelikten der Verbrechenskontrolle dient, wird man auch die Durchsetzung des Ordnungswidrigkeitenrechts (OWiG) zu den Aufgaben der Verbrechenskontrolle rechnen dürfen. Man denke nur an die quantitativ erhebliche Zahl der Verkehrsordnungswidrigkeiten (dazu LB §§ 77 f.) oder an die qualitativ beachtliche Summe von Ordnungswidrigkeiten gegen Kartell- oder Umweltrecht (siehe LB §§ 72 ff.).

Von der Kriminalpolitik (siehe Zehntes Kapitel) wiederum weicht die Verbrechenskontrolle in der Weise ab, daß sie nicht nur die entsprechenden staatlichen Anstrengungen erfaßt, sondern auch vorgelagerte gesellschaftliche Einrichtungen wie jene der kommunalen Kriminalprävention und privaten Sicherheitsdienste, die sogenannte Betriebsjustiz oder außerjustitielle Schlichtungsverfahren einschließt und ferner funktionale Äquivalente oder Alternativen zum Strafrecht (sog. negative oder alternative Kriminalpolitik) mit einbezieht (siehe § 10, 3). Selbst Konflikttheorie und Abolitionismus enthalten Konzepte, die kritisch zum Strafrecht oder außerhalb dessen versprechen, die Verbrechensbewegung nicht ausufern zu lassen und zumindest „unter Kontrolle“ zu halten.

2. System und Träger
Schrifttum: Arzt, Notwehr, Selbsthilfe, Bürgerwehr. Zum Vorrang der Verteidigung der Rechtsordnung. In: FS für Schaffstein. Göttingen 1975, 77-88; Bennett, Evaluating Neighbourhood Watch. Bonn 1989; Council of Europe, Interactions within the Criminal Justice System. Strasbourg 1988; Feltes (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg. Holzkirchen 1995; Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975). Frankfurt/M. 1977; Kaiser/Metzger-Pregizer, Betriebsjustiz. Untersuchungen über die Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben. Berlin 1976; Kunz, Die organisierte Nothilfe. Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme von Notrechten durch gewerbliche Sicherheitsunternehmen und „Bürgerwehren“. ZStW 95 (1983), 973-992; Lowman u.a. (eds.), Transcarceration: Essays in the Sociology of Social Control. Aldershot u.a. 1987; Rössner, Was kann das Strafrecht im Rahmen der Sozialkontrolle und der Kriminalprävention leisten? In: Kriminalprävention und Strafjustiz, hrsg.v. Jehle. Wiesbaden 1996, 203-225; Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention. In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 1081-1106; v. Trotha, Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwischen Selbsthilfe und Gewaltmonopol. Tübingen 1986.

Die Vielschichtigkeit der pluralistischen Gesellschaft sowie die Mannigfaltigkeit der an Sozialisation und Sozialkontrolle beteiligten Berufsgruppen wecken das Bedürfnis nach Durchsichtigkeit und Überblick der Kontrollprozesse. Diese lassen sich zusammenfassend als Beziehungsgeflecht, Netzwerk, wenn nicht gar als System begreifen. Leitend ist hierbei die Vermutung, daß juristisches Vorgehen allein nicht in der Lage ist, die gesetzlich beabsichtigten Ziele durchzusetzen. Beobachtung und empirische Analyse erscheinen daher geboten, um sich zu vergewissern. Sie sind, auch wenn sie nicht entzaubern und enthüllen, um so wichtiger, als in den Kontrollprozessen Macht ausgeübt wird sowie verschiedene Personen, Träger, Ziele, Strategien und Normanwendung abweichende Problemlösungen und Handlungsmuster wahrscheinlich machen.

Industriebetriebe, Selbstbedienungsläden, aber auch Schul- und Sozialbehörden veranlassen z.B. dann eine Strafverfolgung, wenn sie das jeweilige Subsystem bedroht oder das ökonomische Interesse gravierend gefährdet sehen. Gerade die von Anhängern des Labeling approach vertretenen Annahmen der Normalität des Verbrechens, der Delinquenzzuschreibung sowie die Auswahl und Erforschung der Wirkungsweise von Kriminalsanktionen machen die Untersuchung des gesamten Netzwerkes gesellschaftlicher Kontrolle notwendig. Immerhin schaffen die organisatorische Trennung der einzelnen Teilsysteme aufgrund von „checks and balances‘ der Gewaltenteilung und die Interaktion zwischen den Trägern nicht nur Reibungen und Konflikte, sondern gewährleisten zugleich die Menschenrechte (Council of Europe 1988, 105).

Der Begriff der Sozialkontrolle weist also über den Bereich des Kriminalrechts weit hinaus. Folglich kann man danach unterscheiden, ob Sozialkontrolle innerhalb des kriminalrechtlich gesteuerten Teilsystems oder außerhalb davon ausgeübt wird. Auf diese Weise lassen sich die theoretische ebenso wie die praktische Bedeutung des Kriminalrechts und auch der funktionalen Alternativen abschätzen.

Innerhalb des kriminalrechtlichen Teilsystems treffen wir auf jenen Bereich der Sozialkontrolle, der vielleicht jedermann am leichtesten einsichtig und damit eingängig ist (dazu Rössner 1996, 203 ff.). Aufgrund seiner rechtlichen Verfestigung und langen Institutionalisierung mögen seine Bestandteile als die Instanzen der Sozialkontrolle schlechthin gelten. Hier tritt der Staat dem Bürger überwachend oder gar eingreifend und sanktionierend gegenüber. Es handelt sich in erster Linie um Polizei, Bußgeldstelle, Staatsanwaltschaft, Strafgericht, Strafvollzug sowie Gerichts- und Bewährungshilfe. Historisch und systematisch sind ihnen auch das psychiatrische Krankenhaus nach § 63 StGB, die Entziehungsanstalt, der Jugendschutz sowie die Beratungsstellen gem. § 219 b StGB zugeordnet. Gerade die letztgenannten Einrichtungen und beruflichen Rollen bringen neue Handlungsmuster und Erledigungsstrategien in das kriminalrechtliche System mit ein. Sie sollen dadurch die kriminalrechtlichen Entscheidungsprozesse verwissenschaftlichen, d.h. rationaler und wirksamer gestalten sowie darüber hinaus erfahrungswissenschaftlich legitimieren. Sie sehen sich insofern aber gleichzeitig mit dem Odium des Strafrechts, des Repressiven und der Partizipation an der Herrschaft belastet. Denn sie lassen sich auf das strafrechtliche System ein. Sie tragen möglicherweise zu der Medikalisierung von Kriminalsanktionen bei, obschon es sich bei ihnen partiell um „sanftere‘“ Formen der Sozialkontrolle handeln dürfte (vgl. aber die Kritik Foucaults 1977, und der ihm folgenden Abolitionisten; dazu unten § 14, 5). Die Problematik äußert sich vor allem in den Einwänden, die einem „expandierenden Strafrechtssystem“ unter dem Blickfeld von Individualfreiheit und Rechtsstaatlichkeit begegnen, und ferner in der Sorge, daß Integration und Verhaltenskonformität zu Lasten des Rechtsbrechers zu teuer erkauft sein könnten. Dies sind allerdings grundsätzliche Fragen, die alle Kontrollsysteme sowie sämtliche negativen Sanktionen betreffen, und ferner alle die Personen, denen solche Sanktionen im Falle der Straffälligkeit auferlegt werden. Immerhin werden sie als so bedrängend empfunden, daß sie die Suche nach Alternativen nicht zur Ruhe kommen lassen.

Außerhalb des kriminalrechtlichen Teilsystems begegnen wir Trägern der Verhaltenskontrolle, die an tatsächlicher Bedeutung den ersterwähnten kaum nachstehen. Vor allem ist hier an Familie und Schule zu denken. Sie spielen in Gesellschaften wie in Japan bekanntlich eine derart herausragende Rolle, daß sie das dortige Netzwerk sozialer Kontrolle weithin konstituieren. Dem steht nicht entgegen, daß das zeitgenössische Schrifttum sie vornehmlich der internen Verhaltenskontrolle zuordnet und in ihnen die Funktion als Sozialisationsmittler hervorhebt (vgl. etwa Schwind 1996, 155 ff.). Denn die von diesen Sozialisatoren verteilten Sanktionen und wahrgenommenen Selektionsaufgaben einschließlich der damit verknüpften Plazierungskonsequenzen verweisen unmißverständlich auf die Ausübung von Sozialkontrolle. Deshalb ist begreiflich, daß die Sanktionen am stärksten innerhalb der Primärgruppe, und hier wiederum in der Familie und zwischen den Ehepartnern, wirken (Schöch 1985, 1097). Die Auseinandersetzungen schwächen sich in Richtung auf die Peripherie des sozialen Umfeldes im weiteren Verkehrskreis des sozial Auffälligen zunehmend ab. Neben Familie und Schule ist außerdem an das weitere Netzwerk informeller Sozialkontrolle zu denken, insbesondere an spontane Ad-hoc-Einrichtungen kommunaler Kriminalprävention (z.B. „Neighbourhood Watch‘).

Die Weite, Differenzierung und Staffelung des Kontrollsystems verdeutlichen dessen Aufwand, aber auch die Grenzen erfolgreicher Einflußnahme. Denn die auf Konformität zielenden Prozesse bringen es im konkreten Einzelfall nicht stets fertig, die Normbefolgung unmittelbar durch Einbindung des Abweichers zu sichern. Dies gilt namentlich für (informelle) Formen der Sozialkontrolle gegenüber sexuellem Mißbrauch und Gewalt in der Familie. Zugleich werfen die Vorgänge des Fallenlassens und Sanktionierens, der fortschreitenden Isolierung und Ausgrenzung, die um der Normverdeutlichung und Normdurchsetzung willen einsetzen, neben Fragen nach der Funktionalität und Effizienz auch jene nach der Humanität, Rechtfertigung und Erforderlichkeit auf.

Jene Fallsituationen, in denen Kontrollprozesse zwar Gruppe und Norm stützen, hinsichtlich des betroffenen Abweichers aber desintegrierend und vielleicht zerstörerisch wirken, können nur durch Verhältnismä- Bigkeit der Intervention, Bewußtmachung der sozialen Mitverantwortung und Humanisierung der Problemlösungen — etwa durch zeitliche Begrenzung, Hilfe oder therapeutischen Einsatz, durch Schlichtung und Wiedergutmachung – bewältigt werden. Lediglich dort, wo der reichhaltige Katalog von verbalen, nichtverbalen und informellen Sanktionen nicht entfaltet wird oder wirkungslos bleibt, werden Schritte zu förmlicher Reaktion unternommen. Andere Personen und Stellen werden nunmehr in den Vorgang der Sozialkontrolle einbezogen. Auch das Verbrechensopfer ist als Anzeigeerstatter, Zeuge und Geschädigter in diesem Zusammenhang zu sehen. Aufgrund der Anzeige des Delikts bei den Strafverfolgungsbehörden übernimmt es die Rolle eines informellen Agenten sozialer Kontrolle. Stellung des Strafantrages, Klageerzwingungsverfahren und Privatklage sind die Restbestände einstmals fast unumschränkter Verfolgungsbefugnisse des Opfers. Festnahmerecht und Selbsthilfebefugnis lassen diese Stellung noch rudimentär erkennen.

Träger der Verbrechenskontrolle sind neben Öffentlichkeit und Gesetzgeber vornehmlich die Polizei, die Strafrechtspflege, die Bewährungshilfe und der stationäre Strafvollzug. Sie mögen sich mehr präventiver oder mehrrepressiver Strategien bedienen. Von dem ansich gesellschaftlich verfügbaren Sanktionspotential können sie freilich bloß die negativ wirkenden Sanktionen anwenden, generell keine Belohnungen austeilen oder positive Plazierungschancen vermitteln. Eine Ausnahme besteht nur im Rahmen der Strafvollstreckung (z.B. durch bedingte Entlassung) und außerdem für die eigenen Stabsmitglieder, also für das Personal von Trägern der Verbrechenskontrolle.

Ferner üben Vereinigungen wie die sogenannten Anonymen Alkoholiker oder Verbände wie der Bund gegen den Alkohol im Straßenverkehr und der Technische Überwachungsverein, obschon privatrechtlich organisiert, Sozialkontrolle aus. Denn auch sie versuchen, durch verschiedene Techniken der Beeinflussung umfassend oder teilweise ein normkonformes Verhalten der Adressaten zu erreichen. Losgelöst vom Kriminalrecht wollen ferner Freiwillige Filmselbstkontrolle und Filmbewertungsstelle (Kommissionen und Experten) zur Sicherung von Verhaltensnormen beitragen. Durch ihre Bewertungen, und d.h. durch die Verteilung negativer wie positiver Sanktionen (altersspezifische Zulassungsbeschränkungen und Prädikatserteilungen), befinden sie auch weitgehend über moralische Normen und deren Verletzung (insb. sexual- und gewaltbezogene Verhaltensnormen). Es verwundert nicht, daß die Entscheidungspraxis der Freiwilligen Filmselbstkontrolle die Öffentlichkeit gelegentlich bewegt. Aber auch die öffentliche Meinung selbst zählt zu den Bestandteilen sozialer Kontrolle (eingehend unten § 15). Diese Funktion wird erkennbar, wenn die Öffentlichkeit als Fahndungshilfe, etwa im Rahmen der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“, mobilisiert wird und mitwirkt. Sie spielt aber auch wegen ihrer Einstellung gegenüber Unfällen im Straßenverkehr, Umweltschäden sowie bei Wiedereingliederung ehemals Straffälliger eine wichtige Rolle.

Obschon deutlich außerhalb des kriminalrechtlichen Teilsystems stehend, nimmt auch die sogenannte Betriebsjustiz Kontrollaufgaben in Industriebetrieben wahr (dazu Kaiser/Metzger-Pregizer 1976). Wir finden eine mitunter überraschende Ähnlichkeit zwischen Kontrollstil, Handlungsmustern, identifiziertem Täterkreis und Deliktstruktur bei Betriebsjustiz und ordentlicher Strafrechtspflege. Die betriebliche Bewältigung von Kriminalität ist auch deshalb von Interesse, weil in vergleichbaren Fällen der Täter in der Regel nur mit gering eingreifenden Sanktionen belegt wird, ohne daß man ihn aus dem Arbeitsprozeß, aus dem Betrieb und aus der Familie herausnimmt. Dies ist sicherlich mit einer der Gründe, der einst dazu Anlaß geboten hat, in manchen Staaten der sozialistischen Gesellschaft die sogenannte Gesellschaftsjustiz in Form von staatlich organisierten betrieblichen Konfliktkommissionen einzurichten.

Informell in anderem Sinne wirken auch Selbstschutzorganisationen, die im Wege der Selbsthilfe, Selbstverteidigung oder Bürgerwehr die Rechtsgüter der Betroffenen schützen wollen (dazu Arzt 1975, 77 ff.; Kunz 1983, 973 ff.; v. Trotha 1986, 79 ff.). Im angloamerikanischen Bereich zählen dazu u.a. die sogenannten Neighbourhood-watch-Programme. Ihr Potential freilich, Verbrechen wirklich zu vermindern, wird nach den Evaluationen äußerst zurückhaltend eingeschätzt (siehe Bennett 1989; weitere Nachweise unten § 13, 3; zu den privaten Sicherungsdiensten siehe § 19, 4). Derartige Kontrollstrategien gelten im allgemeinen als rechtsstaatlich unbedenklich, sofern sie die Selbsthilfebefugnis nicht überschreiten und soweit man in ihnen nicht Zeichen für das „Abdanken“ des Staates zu erblicken hat. Da allerdings den Selbsthilfeinitiativen häufig ein Versagen der staatlichen Strafverfolgung vorausgeht, mehren sich die Stimmen, die den Staat an seine Pflicht erinnern, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Sie berufen sich neuerdings wieder auf die Sozialvertragstheorie. Von den Programmen der Nachbarschaftskontrolle sind aber die Projekte der kommunalen Kriminalprävention zu unterscheiden, die eine Verknüpfung gemeindenaher Polizeistrategie mit der Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte darstellen.

Demgegenüber müssen jene Fälle als bedenklich eingeschätzt werden, die als Selbst- und Prangerjustiz zu charakterisieren sind. Deren Sanktionen sind durch unzulässige Eigenmacht und Exzessivität, also durch ihr Übermaß, gekennzeichnet. Anprangerung in Selbstbedienungsläden und an Laternenpfählen, Verprügelungen und Maßnahmen, die bis zur Lynchjustiz reichen, liefern in der Gegenwart dafür anschauliche Beispiele. Daran werden nicht nur das weite Netz der Sozialkontrolle deutlich, sondern auch die wechselseitige Abhängigkeit von kriminalrechtlicher und informeller Sozialkontrolle sowie die Grenzen für alternative Strategien.

3. Strategien, Verfahren und Sanktionen
Schrifttum: Albrecht, P.-A. (Hrsg.), Informalisierung des Rechts. Empirische Untersuchungen zur Handhabung und zu den Grenzen der Opportunität im Jugendstrafrecht. Berlin 1990; Austin/Krisberg, Wider, Stronger and Different Nets: The Dialectics of Criminal Justice Reform. JResCrim 18 (1981), 165-196; Blau, Diversion und Strafrecht. Jura 1987, 25-34; Dölling, Diversion. HWKrim 5 (1991), 275-287; Dölling/Feltes (eds.), Community Policing — Comparative Aspects of Community Oriented Police Work. Holzkirchen 1993; Heinz, Diversion im Jugendstrafverfahren. ZRP 23 (1990), 7-11; Herrmann, Diversion und Schlichtung in der Bundesrepublik Deutschland. ZStW 96 (1984), 455-484; Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe? Probleme und Gefahren einer neuen Strategie strafrechtlicher Sozialkontrolle. Heidelberg 1983; Kury u.a. (Hrsg.), Diversion. Alternative zu klassischen Sanktionsformen. Bochum 1981; McMahon, „Net-widening“. Vagaries in the Use of a Concept. BritJCrim 30 (1990), 121-149; Naucke: Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff. Stuttgart 1985; ders.: Schwerpunktverlagerungen im Strafrecht. KritV 76 (1993), 135-162; Sack: Recht und soziale Kontrolle. In: KKW 1993°, 416-421; Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität. ZStW 95 (1983), 32-68.

Reicht das Gesamtsystem der Verbrechenskontrolle auch weit über das kriminalrechtliche Teilsystem hinaus, so bleibt doch sein Schwerpunkt — wie ausgeführt — weltweit bei den Mitteln und Vorgehensweisen des Strafrechts. In Wohngebieten mit hoher Verbrechensrate zielt denn auch das Bestreben nicht primär auf Selbstschutz und kommunale Kriminalprävention, sondern ruft man vornehmlich nach Sicherheit durch polizeiliche Präsenz. Dem steht nicht entgegen, daß das Strafrecht im Laufe seiner Entwicklung erhebliche Wandlungen erfahren hat. Seit den Anfängen der bewußten Kriminalpolitik sind die ausschließlich vergeltend oder nur abschreckend wirkenden Strategien und Mittel zugunsten vorbeugend gedachter Konzepte zunehmend angezweifelt und zurückgedrängt worden. Ausdruck dieser Tendenzen sind die Epoche des Zweckstrafrechts (siehe unten § 12, 1), die internationale Bewegung der Sozialverteidigung und das sich zum Kriminalrecht erweiternde Strafrecht. Nehmen Gesetzgeber und Polizei mehr die generalpräventiven Ziele der Verbrechenskontrolle wahr, so verfolgen Strafrechtspflege sowie Bewährungshilfe und Strafvollzug überwiegend individualpräventive Zwecke.

Aber auch die neueren Strategien können nicht vollends befriedigen. Sie werden deshalb angefochten. Von der „Disziplinargesellschaft“ bis zur „Verpolizeilichung“ des Strafrechts reichen die Einwände, als ob wir uns noch immer im ancien regime befänden. Entsprechend gilt der Straftäter als Geschöpf, das „weder Biographie noch Werte hat“, sei es daß er wie ein rationaler homo oeconomicus nur Entscheidungen trifft oder als bloßes Disziplinarobjekt gehorcht. Zwar erblicken derartige Positionen „absoluter Strafrechtskritik“ im Rechtsstaatsprinzip ihr einigendes Band (Naucke 1993, 162; Sack 1993, 419 ff.). Doch sind sie kaum fähig noch willens, die Verbrechensprobleme der Zukunft zu bewältigen. Allerdings wird auch von ihnen richtig gesehen, daß der Anwendungsbereich des Strafrechts derart gewachsen ist, daß die Um- und Durchsetzung Schwierigkeiten bereiten. Man spricht ebenso von „Überkriminalisierung“ wie vom „Vollzugsdefizit“. Deshalb wird der subsidiäre oder Ultima-ratio-Charakter des Strafrechts stärker als bisher betont, und d.h. ernster genommen.

Dem kommt neben dem Bestreben nach Entkriminalisierung das angloamerikanische Konzept der Diversion entgegen. Obschon als militärstrategischer Begriff im deutschsprachigen Bereich seit mehr als einhundert Jahren bekannt (Nachweis bei Heinz 1990, 8), hat es kriminalstrategisch erst in den siebziger Jahren weltweite Beachtung erlangt. Es ist in die Tendenzen zur Entregelung und Dezentralisierung der Sozialkontrolle eingebettet. Nach dem Wortsinn meint es Ablenkung, Umleitung oder Wegführung und dient als Sammelbezeichnung für eine Anzahl neuerer, zum Teil recht verschiedener kriminalpolitischer Strategien und Tendenzen. Überwiegend zielt Diversion auf das Absehen von weiterer Strafverfolgung, nachdem eine strafrechtliche Normverletzung amtlich festgestellt worden ist. Sie will, Einsichten des Labeling approach und der Sündenbocktheorie aufnehmend, Kriminalität hauptsächlich außerhalb der Justiz und ihrer Instanzen bewältigen, um möglichst viele Rechtsbrecher vor den Konsequenzen der Kriminaljustiz zu bewahren und sie zu anderweitiger Behandlung „umzuleiten“ (dazu eingehend Kury u.a. 1981, 9 ff.;, Kerner 1983, 1 ff.;, Herrmann 1984, 455 ff., Blau 1987, 25 ff.; Albrecht 1990, 2 ff.; Heinz 1990, 7 ff.; Dölling 1991, 275 ff., Göppinger 1997, 630 ff.).

Verschiedene Gründe haben zu der Beachtung beigetragen, welche die Diversion inzwischen weltweit gefunden hat. Als rezeptionsfreundlich mag dabei mitgewirkt haben, daß der Diversionsgedanke nicht ausschließlich einer Theorie verpflichtet ist, obschon ein wesentlicher Impuls zu seiner Verbreitung vom Labeling- Ansatz ausging. So hat man betont, daß vor allem bei weniger gefährlichen Tätern, z.B. im Falle der Bagatelldelinquenz, die Strafverfolgung oftmals mehr Schaden stiftet als Nutzen bringt. Eine strafgerichtliche Intervention würde eher zu einer Verfestigung des abweichenden Verhaltens führen, als den Betroffenen vor weiteren Straftaten abzuschrecken oder ihm bei der Lösung der meist hinter der Straftat stehenden Probleme zu helfen (Kury u.a. 1981, 173). Während eine strenge Labeling-Theorie folgerichtig zu der Forderung nach radikaler Nichtintervention führen muß, lassen andere ebenfalls für ein „Weniger-Tun“ (,‚do less‘) stützende Gründe hier die Forderung nach abgeschwächten und vor allem sinnvollen Interventionen entstehen (vgl. Heinz 1990, 7 ff.). Zwar sprechen einerseits kriminalitätsfördernde Zeiterscheinungen wie strukturell bedingte Arbeitslosigkeit oder Funktionsverlust von Trägern informeller Sozialkontrolle für einen zurückhaltenden Einsatz des Strafrechts. Andererseits verlangen die Interessen der Verbrechensopfer gesellschaftlich gebilligte Reaktionen auf Kriminalität. Insgesamt scheint die Diversion daher gleichermaßen vom Labeling-Ansatz wie auch von Richtungen beeinflußt zu sein, die „Helfen statt Strafen“ seit langem favorisieren. Daneben und sicherlich von kaum geringerer Bedeutung dient die Diversion von Anfang an als Versuch zur Bekämpfung der ökonomischen Krise der Strafrechtspflege. Ein nahezu universell zu verzeichnender Anstieg von Bagatell- und Jugendkriminalität sowie Zuwachs polizeilicher Aktivitäten haben zu einer erheblichen Überlastung der Kapazität von Strafverfolgungsorganen geführt. Dies wiederum läßt die Suche nach Alternativen förmlicher Verfahren zum Zwecke der Entlastung auch unter Kostenaspekten als lohnend erscheinen (Kury u.a. 1981, 177 £.).

Für die Bundesrepublik, die Schweiz und Österreich sind aber das Aufgreifen und die Übernahme der Diversionsstrategien nur begrenzt möglich und sinnvoll.

Einerseits ist die Anordnung von Maßnahmen ohne Schuldfeststellung kaum mit der Unschuldsvermutung (Art. 6 II EMRK) vereinbar; auch wirft die Unterschiedlichkeit der regional orientierten Programme Bedenken hinsichtlich der Gleichbehandlung und des Bestimmtheitsgebotes (Art. 3 und 103 II GG) auf (Walter 1983, 49; Albrecht 1990). Vor allem aber — und dies wirkt sich am stärksten aus — steht das Legalitätsprinzip der Strafprozeßordnung einer Diversion im angloamerikanischen Sinne entgegen. Soweit jedoch eine Rezeption durch das deutsche Recht zulässig wäre, ist sie entbehrlich, da sie keinen zusätzlichen Gewinn an Erkenntnis oder Praktikabilität verspricht. Denn die gegenwärtig breite Anwendung der Bestimmungen des Opportunitätsprinzips, die in der Bundesrepublik rund zwei Fünftel aller anklagefähigen Strafsachen (einschließlich des Jugendstrafrechts) ausmacht, hat den zu alternativer Handhabung tauglichen Rahmen bereits beachtlich weit ausgeschöpft (vgl. Albrecht 1990; Heinz 1990, 7 ff.). Überdies hat die Diversionsstrategie in den letzten Jahren auch im westlichen Ausland wachsende Kritik erfahren. Diese beruht entweder auf der fehlenden Möglichkeit zur empirischen Überprüfung der implementierten Diversionsprogramme oder auf dem Nachweis des Mißerfolgs einiger Projekte. Besonders schwer wiegt der Vorwurf, daß die Diversion zum Teil nicht nur keine Alternative zur Freiheitsstrafe geboten, sondern überdies zu einer erheblichen Vorverlagerung und Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle geführt hat (sog. „Net-widening“-Effekt; dazu Austin/Krisberg 1981, 165 ff.; Kerner 1983, 7, 38 ff.; Walter 1983, 39; kritisch McMahon 1990, 121 ff., jeweils m.w.N.). Schließlich wird bezweifelt, ob Diversion tatsächlich die Stigmatisierung verringert. Denn dadurch, daß sich die meisten Programme lediglich mit Fällen leichterer Kriminalität befassen, droht gerade durch diese Programme eine besondere „Abstempelung‘“ der nicht divertierten Personen.

Insgesamt betrachtet stellt sich die Diversionsstrategie — die als Teil der sogenannten vier D (diversion, decriminalization, deinstitutionalization, due process) zu Recht erheblichen Einfluß auf die gegenwärtige kriminalpolitische Diskussion gefunden hat – als ein gangbarer Weg zur Bewältigung minderschwerer Kriminalfälle dar. Sie erscheint als kriminalpolitischer Denkanstoß und als Korrektiv unerwünschter Folgen normaler Kriminaljustiz begrenzt sinnvoll. Freilich kann, will und soll sie die formelle Sozialkontrolle durch das Strafrecht keinesfalls ersetzen.

Als (negative) Sanktionen der Verbrechenskontrolle kommen vor allem

  • Strafen, Nebenstrafen, Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie strafähnliche Maßnahmen (Bußgeldauflage, Wiedergutmachungsauflage, Intensivüberwachung u.a.) in Betracht, ferner
  • sanRtionsrechtliche Nebenfolgen (Verfall und Einziehung, einschließlich Gewinnabschöpfung, Urteilsbekanntmachung) sowie Einträge im Bundeszentral- und im Verkehrszentralregister und schließlich ° strafprozessuale Zwangsmittel wie Überwachung des Fernmeldeverkehrs, Beschlagnahme, Durchsuchung, vorläufige Festnahme und die Untersuchungshaft,

und zwar unabhängig von den gesetzlichen Zweckbestimmungen. Aufgrund dieser Vielfalt und Fülle von Reaktionen wird gelegentlich geschlossen, daß es geradezu ubiquitär sei, „von staatlicher Seite sanktioniert zu werden“. Auch wenn man dem selbst unter Berücksichtigung der Bußen wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten (dazu LB § 78) nicht zu folgen vermag, besteht ein Bedürfnis nach Vergewisserung und Durchsichtigkeit. Um richterliche, aber auch staatsanwaltliche und polizeiliche Willkür zu vermeiden, um „Wildwuchs‘“ ebenso wie „kreative Rechtsschöpfung“ bei der Sanktionsfindung in Grenzen zu halten, schreiben die Rechtsordnungen allgemein die Zahl, Art und Inhalte der Kriminalsanktionen gesetzlich vor (sog. Numerus clausus der Strafmittel). Gleichwohl ist das moderne Sanktionenrecht durch vielfache Modifikationen in Vollstreckung und Vollzug gekennzeichnet (z.B. Ratenzahlungen, bedingte Entlassungen und Vollzugsiockerungen), so daß man gelegentlich geradezu von Erosionserscheinungen spricht. Gleichwohl gelten die freiheitsentziehenden Eingriffe, sei es als Freiheitsstrafe oder als Untersuchungshaft, als besonders problematisch.

Sanktionen, insbesondere Kriminalsanktionen (poena, Pein), aber werden als Ärgernis empfunden. Nicht zufällig spricht man vom „Strafübel“ und „Strafleiden‘“ (malum passionis). Sie sind auch dann schmerzhaft, wenn sie den wohlverstandenen „Interessen“ des Abweichers dienen und resozialisierend wirken sollen. Dieser Sachverhalt wird mitunter als so unbefriedigend und bedrängend empfunden, daß er die Frage nach den Alternativen zum Strafrecht, ja nach dessen Abschaffung aufkommen läßt (siehe unten § 14, 5) und die Verminderung des Strafleidens als Aufgabe der Kriminologie zuweist.

Weil sich die einzelnen, jeweils für sich betrachtet, legitimen Ziele, Strategien, Mittel und Interessen nicht widerspruchsfrei in ein System der Verbrechenskontrolle vereinigen lassen, ja die einzelnen Träger wie Polizei, Justiz und Bewährungshilfe mitunter vorrangig jeweils eigenen Organisationszielen folgen, bedarf es der Koordinierung, eines formalisierten Verfahrens und genauer Handlungsanweisungen.
Da eine integrierende Theorie der Verbrechenskontrolle (siehe § 12) fehlt, übernehmen rechtspolitische Grundsätze und Handlungsmuster diese Aufgabe (dazu unten Zehntes Kapitel). Sie werden im Wege strafrechtlicher Ausbildung vermittelt sowie durch Rechtspflege und wissenschaftliche Kritik ständig überprüft. Zu ihnen zählen besonders die Grundsätze der Humanität, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit (Effizienz). Diese Wertprinzipien gelten als „Konstanten kriminalpolitischer Theorie“. Sie sollen sowohl die präventiven als auch die repressiven Strategien und den mit ihnen verbundenen Einsatz der zulässigen Mittel strukturieren. Von ihnen werden also polizeiliche Praktiken und Mittel der inneren Sicherheit genauso bestimmt wie die Anordnung der Untersuchungshaft und die Verhängung von Strafen und Maßnahmen. Wenn es eine offene oder verdeckte Expansion des Strafrechts gibt, so kann ihr wirksam nur durch Radikalisierung des Erforderlichkeitsgrundsatzes begegnet werden.

4. Implementation und Evaluation der Kontrollprozesse
Schrifttum: Behringer, Mörder, Diebe, Einbrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Verbrechen, Strafe und soziale Kontrolle, hrsg.v. van Dülmen. Frankfurt/M. 1990, 85-132; Bohnert/Klitsch, Gesellschaftliche Selbstregulierung und staatliche Steuerung. In: Implementation politischer Programme: empirische Forschungsberichte, hrsg.v. Mayntz. Königstein/ Ts. 1980, 205-215; Hassemer, Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts. ZRP 1992, 378-383; Heinz, Kriminalpolitische Modellprojekte. Planung, Funktion, Wirkungschancen. In: Die 13. Bundestagung, hrsg.v. DBH. Bonn 1990, 241-276; Kaiser, Verkehrsdelinguenz und Generalprävention. Tübingen 1970; Lenk, Programmforschung und Regierungspraxis — Rahmenbedingungen, Ertrag und Zukunftsperspektiven. In: Regieren und Politikberatung, hrsg.v. Murswieck. Opladen 1994, 31-44; Lösel u.a., Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Stuttgart 1987; Lösel, Evaluationsforschung in Deutschland, Probleme und Perspektiven. In: FS für Skovronek. Göttingen 1992; Mayntz, Die Implementation politischer Programme. In: Implementation politischer Programme, hrsg.v. Mayntz. Opladen 1980; dies., Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen. In: Policy-Analyse, hrsg.v. Heritier. Opladen 1993, 39-56; Palmer, A Profile of Correctional Effectiveness and New Directions for Research. Albany/N.Y. 1994; Rehbinder, Rechtssoziologie. Berlin 1993? ; Seelmann, Risikostrafrecht. KritV 75 (1992), 452-471, Walmsley, Implementing international prison standards. In: HomeOffResBull 29 (1990), 47-51; Wettmann-Jungblut, „Stelen inn rechter hungersnodt“. Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600-1850. In: Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle, hrsg.v. Dülmen. Frankfurt/M. 1990, 133-177.

Strategien, Verfahren und Sanktionen beruhen zwar durchweg auf Rechtsvorschriften, gehören aber innerhalb der Verbrechenskontrolle organisatorisch verschiedenen Subsystemen an, etwa der Polizei, Justiz, Bewährungshilfe oder dem Strafvollzug. Auch müssen Kriminalsanktionen ausgewählt, festgesetzt, verhängt und vollstreckt werden. Diese Aufgaben sind verschiedenen Organen anvertraut. Wohl besteht zur Durchführung regelmäßig ein gesetzliches Entscheidungsprogramm mit entsprechenden Anwendungsregeln. Doch decken sich erfahrungsgemäß Recht und Wirklichkeit nicht. Vielmehr rütteln die Anwendungsunterschiede ebenso an dem Postulat der gleichmäßigen Handhabung wie an der Effektivität des Gesetzesvollzugs. Sie werfen deshalb Probleme auf. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sich das Strafrecht als folgenorientiert begreift. Bei alledem handelt es sich um einen Sonderfall der Verwertung und Umsetzung von Entscheidungswissen (dazu generell und grundsätzlich LB § 83). Das Interesse richtet sich speziell auf Sanktionen, Strategien, ja nicht selten auf Konzepte der Politik wie z.B. der Drogenpolitik. Ob daher die Koordinierung dieser vielfältigen Funktionen durch Ausbildung, Grundsätze und Handlungsanweisungen gelingt, Programme der Zielsetzung entsprechend vollzogen und Gesetze auch richtig angewandt, ob schließlich die erstrebten Wirkungen erzielt und unerwünschte Nebeneffekte vermieden werden, das bedarf sorgfältiger Untersuchung und anerkannter Prüfverfahren. Solche Aufgaben suchen Implementations- und Evaluationsforschung zu leisten.

Während die Implementation die Anwendung und Durchführung von Gesetzen als einen Anwendungsfall politischer Programme thematisiert (Mayntz 1993, 39 ff., Rehbinder 1993, 238; Lenk 1994, 32) meint die Evaluation weitergreifend die rationale Bewertung von Ausführung, Angemessenheit, Leistungsfähigkeit, Ablauf, Ergebnis und Nutzen von Interventionsprogrammen (Lösel u.a. 1987, 7 f.). Widrnet sich im kriminologischen Bereich die Implementationsforschung besonders der Analyse von Handlungsmustern und Vollzugsdefiziten, namentlich auf den Gebieten des Steuer-, Verkehrs-, Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts, so die Evaluationsforschung vornehmlich der Untersuchung von sozialtherapeutischen Experimenten und kriminalpolitischen Modellen, insbesondere von Diversion und Täter-Opfer-Ausgleich (dazu Heinz 1990, 24 ff.). Obwohl Versuche der Erfolgsabschätzung von Interventionsprogrammen auch in Deutschland bis in die frühen sechziger Jahre zurückreichen (vgl. Kaiser 1970, 369 ff., 389 ff. m.N.), hat erst das methodische Instrumentarium der Implementations- und Evaluationsforschung einschließlich der Meta-Analyse das Wissen erheblich angereichert und präzisiert.

Je nach Fragestellung kann man verschiedene Arten von Evaluationen unterscheiden. So möchte man z.B. wissen, welcher Bedarf für ein Programm besteht und wie es zu gestalten ist (Planungsevaluierung), inwieweit das Programm nach Plan verläuft (Prozeßevaluierung), ob es die gesteckten Ziele oder andere erreicht (Ergebnisevaluierung) und im Verhältnis zum Aufwand effektiv ist (Nutzungsevaluierung). Häufig bezieht man sich auf die Unterscheidung zwischen formativer und summativer Evaluation. Während die erstgenannte die Planung einschließlich der Zielauswahl betrifft sowie die Entwicklung und Optimierung einer Intervention, bezieht sich die letztgenannte auf Wirkung und Effektivität bereits feststehender Programme. Trotz unterschiedlicher Begriffe und Akzentsetzungen einzelner Studien geht es bei jeder Evaluation zumindest auch darum zu ermitteln, ob das Programm selbst Wirkungen zeigt und nicht irgendwelche anderen Einflüsse (dazu Lösel u.a. 1987, 8 m.N.). Wirkungsevaluationen erfolgen zumeist im Rahmen einer Methodologie des Experiments und Quasi-Experiments sowie der objektivierten Datenerhebung und statistischen Auswertung. Dieser Ansatz hat wesentlich zum Fortschritt der Evaluationsforschung beigetragen.

Dennoch bemängelt man in Wissenschaft und Praxis, daß viele Evaluationen zwar einzelne Variablen erfaßten, dem jeweiligen Gesamtprogramm und Praxisfeld aber kaum gerecht würden. Auch seien die Ergebnisse verschiedener Evaluationen oft widersprüchlich. Überdies hätten sich Hoffnungen auf empirisch fundierte Entscheidungshilfen nicht genügend erfüllt. Ausgerechnet die Evaluationsforscher sehen darin einen Ausdruck grundsätzlicher Mängel des „quantitativen“ Vorgehens. Die Diskussion um die vorherrschende Methodologie der Evaluationsforschung und die dabei ins Feld geführten Argumente entsprechen im wesentlichen der herkömmlichen Kontroverse um die wissenschaftstheoretischen oder forschungslogischen Grundauffassungen (siehe dazu LB §§ 5 f.). Bei alledem darf man freilich nicht übersehen, daß im Gegensatz zu den mehr idealtypischen wissenschaftstheoretischen Konzepten sich die forschungspraktische Ebene als wesentlich vielfältiger darstellt (Zösel u.a. 1987, 9; zu den Problemen der Erfassung und Messung von Komplexität bes. Palmer 1994, 161 ff.). Trotz verbreiteter Vorurteile scheint zwischen der quantitativ und qualitativ orientierten Evaluationsforschung kein unüberbrückbarer Dissens zu bestehen. Vielmehr gewichtet man die bei jeder Methode unvermeidlichen Defizite unterschiedlich. Qualitative Methoden gelten vor allem im Rahmen formativer und prozeßorientierter Evaluationen als angemessen. Demgegenüber hält man das quantitativ-experimentelle Vorgehen bei fortschreitender Präzisierung des Programms, seiner Fragestellung, den Kontextmerkmalen und Variablen für angezeigt. Typischer Einsatzbereich ist die summative Evaluation von bereits gut herausgearbeiteten, stabilen Programmen, die unter Kontextbedingungen durchgeführt werden, welche eine‚kausale Wirkungsbeurteilung sinnvoll erscheinen lassen. Darüber hinaus werden in der neuen Evaluationsforschung zwei Tendenzen deutlich: einerseits eine verstärkte Orientierung an präzisen Designs im Rahmen des quantitativen Ansatzes, andererseits wiederum eine größere Offenheit gegenüber verschiedenen Evaluationsformen.

Mit der Zunahme empirischer Untersuchungen ist die zusammenfassende Bewertung des Forschungsstandes daher zu einem wichtigen Aufgabenfeld der Evaluation geworden. Oft liegen zu einem Thema zahlreiche Einzelbefunde vor, die theoretisch und methodisch unterschiedlich fundiert sowie in den Ergebnissen uneinheitlich sind. Bei kontroversen Fragen beziehen sich die Autoren nicht selten auf eine Auswahl jener Studien, welche die eigene Meinung stützen. In der Öffentlichkeit entsteht daraus ein Eindruck der Widersprüchlichkeit und geringen Verbindlichkeit von Expertenaussagen, der das Ansehen der Wissenschaft beeinträchtigt.

Um über Planungs- und Entscheidungsprozesse verwertbare Informationen über den Ergebnisstand in einem Bereich zu erhalten, müssen die vorliegenden Einzelbefunde möglichst stichhaltig integriert werden. Dazu dienen Verfahren der Meta-Evaluation. In der Regel werden Re-Analysen von empirischen Primärstudien, d.h. in Form von Sekundäranalysen, vorgenommen. Die traditionelle und häufigste Form ist der Literaturbericht ohne neue Datenauswertung. Die Auswahl der einschlägig betrachteten Studien und der in ihnen enthaltenen Informationen, die Gewichtung bestimmter Stärken oder Schwächen, die Bewertung der Einzelergebnisse und die summarischen Urteile erfolgen dabei nach Kriterien der Erfahrung und wissenschaftlichen Ausrichtung des betreffenden Experten. Ähnlich wie bei der klinischen Urteilsbildung in der Psychodiagnostik bleibt hier das Vorgehen teilweise implizit. Es sind aber auch Meta-Evaluationen auf höherer Ebene möglich, z.B. auf der Grundlage mehrerer Sekundäranalysen. Zu den wichtigeren Verfahren gehören empirische Re-Analysen der Rohdaten von einzelnen oder mehreren Primärstudien. Diese Formen der Meta-Evaluation werden durch die zunehmende Einrichtung von Datenarchiven erleichtert. Sie dienen vor allem der Zuverlässigkeit und Ökonomie in der Forschung. Bestimmte Ergebnisse können mit ähnlichen oder neuen Auswertungsverfahren überprüft werden (zur gegenwärtigen Lage der Evaluationsforschung Lösel 1992).

Mag sich die Implementation auch als ein spezieller Anwendungsfall der Evaluation darstellen, so hat sie sich doch für den Gesetzes- und Verwaltungsvollzug durchgesetzt und eingebürgert. In der Nachfolge der amerikanischen Policy-Forschung beschäftigt sich die sogenannte Implementationsforschung seit Mitte der siebziger Jahre im deutschsprachigen Raum mit der administrativen Durchführung von politischen Handlungsprogrammen. Sie untersucht dabei vor allem die typischen Vollzugsmuster und Vollzugsdefizite (vgl. Mayntz 1980, 236 ff.; Rehbinder 1993, 238 ff.).

Man hat hier „die ebenso banale wie unbestreitbare Tatsache‘ entdeckt, „daß politische Programme die Ergebnisse administrativen Handelns nur sehr unvollständig bestimmen, d.h. ihre Wirkung wesentlich von der Art ihrer Durchführung abhängt“ (Mayntz 1980, 236). Obschon die Implementationsforschung erhebliche Schwierigkeiten zur Bildung einer Implementationstheorie aufweist, hat sie begründet dargetan, daß die Handlungsspielräume der Verwaltung bei der Implementation politischer Programme von der Intensität der Steuerung durch die vorgesetzte Behörde, vom Programmierungsgrad der Aufgabenstellung sowie von der Verfügung über ihre Ressourcen abhängt (Bohnert/Klitsch 1980, 205 ff.). Die Steuerungsintensität mittels genereller Weisungen oder Einzelweisungen durch die vorgesetzte Behörde ist oft geringer, als dies der hierarchische Behördenaufbau erwarten läßt. Dafür scheinen u.a. Selektion und Unvollständigkeit des Informationsflusses von unten nach oben bedeutsam zu sein. Dabei kann die Selektion auch auf der Aufnahmebereitschaft und den Informationswünschen der Steuerungsinstanz beruhen. Nach dem Umfang der Handlungsspielräume ist jener Aufgabenbereich zwar unterschiedlich, insgesamt aber beträchtlich.

Außerdem wird eine Vielzahl weiterer Faktoren, die den Implementationsprozeß bestimmen, hervorgehoben (vgl. Mayntz 1980, 242 ff.). So gelten die Merkmale des Normprogramms für eine erfolgreiche Implementation als entscheidend (vgl. Rehbinder 1993, 240 m.N.). Der Implementationserfolg hängt aber auch von den Durchführungsinstanzen ab. Implementationsmängel treten insbesondere bei Kapazitätsüberlastung, bei mangelnder Befähigung und entgegenstehender Motivation des Personals, bei Koordinationsproblemen sowie bei kompromißbereiten Reaktionen der Behörden auf Widerstände der Adressaten auf. Ferner hängen die Implementationschancen von den Merkmalen des gesellschaftlichen Bereichs ab. Die Implementation ist um so leichter, je kleiner und homogener die Adressatengruppe, je schwächer die vom Programm verlangte Verhaltensänderung und je geringer die damit verbundenen Kosten für den Adressaten sind. Das Zusammenspiel der genannten Faktoren bestimmt dann in jedem Einzelfall den Erfolg oder Nichterfolg der Implementation, und d.h. den Grad des jeweiligen Vollzugsdefizits. Empirisch untersuchte Einzelfälle sowie fachmännische Gesamtschätzungen von Vollzugsdefiziten haben einen beachtlichen Umfang ergeben, der dazu geführt hat, diesen Sachverhalt als „weichen Gesetzesvollzug‘ zu deuten (Rehbinder 1993, 243 m.N.). Dies gilt ferner für die Umsetzung des völkerrechtlichen „soft law“ und für internationale Strafvollzugsnormen (dazu Walmsley 1990, 47 ff.).

Als Anwendungsfälle gelten besonders das Umwelt- und Betäubungsmittelstrafrecht sowie das Gefährdungsstrafrecht ganz allgemein. Die hier beim „Risikostrafrecht“ sichtbaren oder vermuteten Vollzugsdefizite werden geradezu als Krisenzeichen der Modernität des Strafrechts gedeutet (vornehmlich von Hassemer 1992, 378 ff., insb. 382). Eine solch dramatisierende Schlußfolgerung erscheint jedoch unbegründet. Denn wie die neuere sozialhistorische Forschung belegt, mangelte es bereits in den vergangenen Jahrhunderten an der Implementation der traditionellen Strafrechtsnormen, sei es aus Kostengründen oder sei es wegen des fehlenden polizeilichen Apparates (vgl. Behringer 1990, 116; Wettmann/ Jungblut 1990, 168 ff.). Ferner wird seit mehr als 150 Jahren auf die Mängel in der Gleichmäßigkeit in der Strafzumessung und auf regionale Entscheidungsmuster hingewiesen. Im übrigen zählt es zu den Einsichten der sogenannten Freirechtsschule, die offenkundigen Diskrepanzen zwischen Recht und Rechtswirklichkeit verdeutlicht zu haben. Selbst wenn man der kritischen Empfehlung folgend die sogenannte Modernität des Strafrechts teilweise zurücknähme oder genauer einem besonderen „Interventionsrecht“ zuordnete, änderte sich an den Vollzugsdefiziten wahrscheinlich wenig, und zwar sowohl im Bereich des Gefährdungsstrafrechts als auch in jenem des sogenannten Kernstrafrechts (zutreffende Kritik bei Seelmann 1992, 467, 471; dazu ferner unten § 19). Die als Maßstab apostrophierten „Kennzeichen eines klassischen Strafrechts“ waren und sind, wie Hassemer selbst einräumt, „ein Ideal, eine Zielvorstellung“, die sich überdies um den kontrafaktischen Befund der „Vollzugsdefizite“ nicht einmal zu sorgen braucht. Dabei steht auf einem anderen Blatt, ob das als besser geeignet empfohlene „Interventionsrecht“ über Ressourcen und Implementationstechniken verfügte, die der Strafrechtspflege überlegen wären. Begründete Anhaltspunkte für eine solche Annahme sind aber nicht erkennbar.

Beide Wege, Implementations- und Evaluationsforschung, bieten Möglichkeiten zur Erfolgskontrolle für den Prozeß des Programmvollzuges oder die Wirkungen von Interventionsprogrammen. Evaluation und Implementation fördern den Druck für zweckrationale Argumentation, insbesondere in politischen Entscheidungsprozessen, und auf deren notwendige Transparenz. Überdies ruft der sich international hektisch vergrößernde Problemdruck als Folge sozialer und technischer Wandlungsprozesse nach einer immer rascheren Rückmeldung über staatliche und gesellschaftliche Eingriffe. Deshalb findet die Evaluation als Prüfungs-, Führungs- und Steuerungsinstrument von Justizverwaltung, Kontrollstrategien und Kriminalpolitik zunehmend Widerhall (siehe auch LB 88 90 ff.).

5. Zusammenfassung und Folgerungen
Schrifttum: Lowman u.a. (eds.), Transcarceration: Essays in the Sociology of Social Control. Aldershot u.a. 1987; Morris/Ionry, Between Prison and Probation. Intermediate Punishments in a Rational Sentencing System. New York u.a. 1990.
Nach alledem wird deutlich, daß

  • die Verbrechenskontrolle neben den staatlichen auch die gesellschaftlichen Anstrengungen zur Erzielung von Verhaltenskonformität umfaßt, die Strafjustiz nur ein Träger sozialer Kontrolle ist, das Strafrecht nur ein Mittel unter den sozialen Normensystemen darstellt,
  • der Rechtsbruch nur einen Teil allen abweichenden Verhaltens ausmacht und schließlich
  • die staatliche Strafe nur eine von mehreren Sanktionsmöglichkeiten bildet.

Auf allen Ebenen der Sozialkontrolle — gleichgültig, ob es sich um das System, um die Träger, die Strategien oder die Mittel und Sanktionen handelt — herrscht eine breite Austauschbarkeit (dazu als durchgängiges Strukturprinzip Morris/Tonry 1990, 37 ff.) und beträchtliche Flexibilität. Austauschbarkeit finden wir also nicht nur innerhalb der individualpräventiven Behandlung, sondern auch im generalpräventiven Bereich und überdies im Gesamtsystem der Sozialkontrolle. Offenbar gibt es mehrere bestmögliche Problemlösungen (Optima), aber auch jeweils unerwünschte Nebenwirkungen. Ob die liberale Politik der Dezentralisierung, Privatisierung und Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen die staatliche Kontrolle erwartungswidrig ausgedehnt und verdichtet hat, wie gelegentlich vermutet wird, erscheint jedoch fraglich.

Die Analyse der Zusammenhänge verdeutlicht die funktionalen Äquivalente zum Strafrecht und darüberhinausgreifende Möglichkeiten der Verlagerung innerhalb des gesamten Kontrollnetzes. So wird die Einschränkung der Kriminalstrafe durch den Zuwachs von Bußen und anderen weniger eingreifenden Sanktionsmitteln begleitet, ohne daß sich genau bestimmen ließe, ob der Gesamtbetrag des Sanktionsgewichts und der Punitivität abgenommen hat, geschweige die Weite und Dichte des Kontrollnetzes. Ausweich-, Verlagerungs- und Eskalationseffekte finden sich nicht erst im Bereich technischer Prävention (siehe unten § 13, 3), sondern schon hier (zur „transcarceration“, also der Verlagerung von einem Subsystem der Institutionalisierung zu einem anderen, Lowman u.a. 1987, 4 ff.). Besteht in der Verbrechensentwicklung keine Konstanz, so auch nicht in der Verbrechenskontrolle.

Die neuere Kritik an der heutigen Situation von Verbrechen und Verbrechenskontrolle wendet sich nachdrücklich gegen das Versagen des Staates in diesem Politikfeld, obschon mit unterschiedlichen Begründungen und Konsequenzen. Meint der staatskritische Abolitionismus (dazu eingehend unten § 14, 5) — der zeitgenössischen Strömung des sogenannten Informalismus folgend (siehe oben § 10, 3.3) —, jenseits des Strafrechts in der informellen Konfliktregelung die überlegene Problemlösung zu finden, so entnimmt eine etwas diffuse Nebenströmung der vermeintlichen Unfähigkeit des Staates, Sicherheit zu gewährleisten, die wiedererstarkte Befugnis, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Zugleich liegt in diesen unterschiedlichen Positionen das Dilemma der alternativen Konfliktregelung ohne staatliche Rückendeckung. Denn unterstellt, daß das Postulat „spontaner Selbstregulierung“ der Freiheitskonflikte grundsätzlich einlösbar wäre, könnte man den staatlichen Zwang jedenfalls dann nicht entbehren, wenn Täter oder Opfer nicht zur Schlichtung bereit wären und das Opfer überdies im Wege exzessiver Selbsthilfe sein Recht verfolgte. Sogar eine Selbstjustizlösung wärenoch mit der informalistischen Ideologie konsistent, und doch würde sie als Wiederkehr des „Faustrechts“ das Konzept der Schlichtung ernstlich gefährden. Die vage Berufung auf die „konkrete Utopie“ des „abolitionistischen Paradigmas“ erscheint demgegenüber nichtssagend und hilflos. Selbst gutgemeinte Bestrebungen zur Veränderung der Gesellschaft in eine „geordnete Anarchie“ sind keineswegs davor gefeit, in Gewalt und Totalitarismus umzuschlagen. Auch‘ derartige Gefahren muß die heutige Kriminalpolitik sehen und beachten. Funktionale Alternativen zur Kriminaljustiz sind zu erkunden und zu erörtern, freilich dann nicht mehr, wenn in ihnen der Terror wohnt.

Um die unterschiedlichen Gesichtspunkte, Befunde und Einsichten ordnen sowie klare Handlungsanweisungen gewinnen zu können, bedürfen die vorwiegend deskriptiven Überlegungen der theoretischen Vertiefung.

§ 12 Theorien der Verbrechenskontrolle
1. Geschichte der Theorieentwicklung

Schrifttum: Ancel, La defense sociale nouvelle. Paris 1954, 1981? (deutsch: Die neue Sozialverteidigung. Stuttgart 1970); Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion. Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaft. Berlin 1987; Grotius, De iure belli ac pacis, liber II, caput XX. Paris 1625; van den Haag, The Neoclassical Theory of Crime Control. In: Theoretical Methods in Criminology, ed. by Meier. Beverly Hills 1985, 177-196; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. A.T. Berlin 1996°; Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). In: Immanuel Kant, Werke in 6 Bänden, hrsg. v. Weischedel, Bd. IV. Berlin 1956, 303 £.; v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Berlin 1905; Löfmarck, Neo-Klassizismus in der nordischen Strafrechtslehre und -praxis: Bedeutung und Auswirkungen. In: Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik. Beiträge zu einem deutsch-skandinavischen Strafrechtskolloquium, hrsg. v. Eser u.a. Baden-Baden 1987, 15-34; Naucke, Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff. Stuttgart 1985; Roxin, Die Wiedergutmachung im System der Strafzwecke. In: Wiedergutmachung und Strafrecht, hrsg. v. Schöch. München 1987, 37-55; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen 1951°; Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen. ZStW 94 (1982), 279-298.

Soweit unsere Erfahrung reicht, lassen alle gesellschaftlichen Reaktionssysteme eine jeweils spezifische Orientierung der Verbrechenskontrolle erkennen. Diese enthält stets Handlungsanweisungen darüber, wie man mit dem Normbrecher umgehen soll und ob dafür vorwiegend oder gar ausschließlich der Erfolgsunwert der Tat oder mehr deren Handlungsunwert Bedeutung gewinnt. Sie läßt sich allgemein einem bestimmten Kontrollstil zuordnen.

In der Epoche des germanischen Rechtsdenkens herrscht die privatrechtliche Auffassung des Strafrechts vor. Alle Initiative muß vom Verletzten ausgehen. Das Gemeinwesen hält sich völlig zurück. Art und Gewicht der Missetat werden vor allem durch ihren äußeren Erfolg bestimmt. Die bis zur Selbstzerstörung reichende Durchsetzung des Erfolgsstrafrechts durch den Kreis der racheübenden Betroffenen bestimmt die Verbrechenskontrolle (vgl. Schmidt 1951, 21 ff.;, Jescheck/ Weigend 1996, 91 ff.).

Mit der Rezeption des römisch-italienischen Rechts und der Schaffung der Halsgerichtsordnungen in der Renaissance wird das klassische Strafrecht allmählich vorbereitet. Das Leitwort der Peinlichen Gerichtsordnung (1532) verdeutlicht bereits die beiden Strafziele, welche die gesamte neuzeitliche Diskussion bestimmen sollen: „Aus Lieb’ der Gerechtigkeit und um gemeines Nutz willen.‘ Doch erst die Entstehung einer rationalen Kriminalpolitik in der Aufklärungszeit führt die Frage der Verbrechenskontrolle weiter. Diese zielt jetzt nicht nur auf Sinn und Zweck, sondern vor allem auf Rechtfertigung und Grenzen staatlichen Kriminalrechts. Von hier aus erscheint Verbrechenskontrolle gewährleistet, wenn staatliche Strafgewalt von dem Grundsatz der begrenzenden Verhältnismäßigkeit geleitet wird, an Gesetz und Recht gebunden ist und nach Maßgabe eindeutigen Gesetzes dem Rechtsbrecher (nur!) das widerfährt, „was seine Taten wert sind“ (Kant 1797). Die Verbrechenskontrolle des klassischen Strafrechts wird also maßgeblich durch rational nachvollziehbare Gesetzlichkeit und absolute Straftheorie bestimmt. Danach findet die Strafe zwar ihre Rechtfertigung und ihren Sinn in sich selbst durch Zufügung des mit der Schuldvergeltung verknüpften Strafübels („malum passionis quod infligitur propter malum actionis“; Grotius 1625). Sie ist sich selbst genügsam und damit frei von jeder Zweckerwägung (,„poena absoluta ab effectu“). Gleichwohl liegt dieser Position die unausgesprochene Auffassung zugrunde, durch Schuldvergeltung und Übelszufügung nach Maßgabe des Gesetzes die öffentliche Sicherheit gewährleisten zu können (vgl. Frommel 1987, 11, 42). Die Realität des Verbrechens und der Verbrechenskontrolle, und d.h. vor allem die Strafverwirklichung, ist hiernach kaum von Interesse. Sie gelangt — gedanklich scharf getrennt — erst aufgrund anderer aufklärerischer Perspektiven in den Blick, namentlich in den Ansätzen zur Erneuerung des Gefängniswesens. Dabei läßt sich nicht verkennen, daß auch die Anfänge der utilitaristischen Strafrechtskonzeption in der Aufklärung wurzeln. Das aus dem Schutzrecht abgeleitete „Präventionsrecht“ ist die Grundlage des staatlichen ius puniendi (Schmidt 1951, 215).

Unter dem neueren Einfluß der positivistischen Kriminologie knüpft fast ein Jahrhundert später das Marburger Programm v. Liszts mit dem „Zweckgedanken im Strafrecht“ (1882) an die aufklärerische Lage spezialpräventiver Ansätze wieder an und damit die ihm folgende Epoche des Zweckstrafrechts. Durch spezialpräventive Abschreckung, Besserung oder Sicherung soll das Verbrechen in Schranken gehalten werden, freilich aufgrund und im Rahmen des Strafrechts als der „Magna Charta des Verbrechens“ (v. Ziszt 1905, 80).

Die spezialpräventive Komponente des Zweckstrafrechts hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, vornehmlich im frankophonen Bereich, ihren Höhepunkt in der Lehre von der Sozialverteidigung (,„defense sociale nouvelle‘“‘) gefunden (dazu Ancel 1954, 1970). Diese Bewegung hält an der Verantwortlichkeit des Rechtsbrechers fest, strebt jedoch die Wiedereingliederung des Verurteilten nach Maßgabe empirischen Wissens und im humanitären Geiste an. Aufgrund solchen Vorgehens verspricht sie sich eine ausreichende Verbrechenskonttrolle.

Angesichts der im Vordringen begriffenen pragmatischen Ansätze, die auf der Grundlage zweckrationaler Gestaltung des Strafrechts eine stärkere Einbeziehung des Verbrechensopfers anstreben, sowie im Hinblick auf die Krise des Behandlungsgedankens und des Bedeutungsgewinns neoklassischer Tendenzen hat das Konzept der Sozialverteidigung an prägender Kraft für die Gestaltung der Verbrechenskontrolle verloren. Neoklassische Theorien der Verbrechenskontrolle lassen sich zwar nicht auf ein einheitliches Konzept zurückführen. Sie knüpfen jedoch überwiegend an andere Ideen des aufklärerischen Gedankengutes an, sei es an die Schuldvergeltung (vgl. var den Haag 1985, 177 ff.; Naucke 1985) oder an die allgemeine Abschreckung (dazu kritisch für den skandinavischen Bereich Löfmarck 1987, 15 ff.).

Führt man sich die historischen und zeitgenössischen Theorieentwicklungen zur Verbrechenskontrolle vor Augen, so finden sich Konstanz, Wandel und Wiederkehr von Ideen dicht beieinander. Während sich die Gedanken der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit trotz temporärer Verletzungen und ständiger Gefährdung in der Rechtsüberzeugung als unaufgebbare Wahrheiten festigen können und als unveräußerlich erscheinen, herrscht in Vorgehen und inhaltlicher Ausgestaltung der Verbrechenskontrolle unverändert Streit. Neoklassisches Sichbegnügen mit der Schuldvergeltung und Verwerfung von Präventionszielen — was im Objektbezug auf den Staat in der Perspektive kritischer Kriminologie seine Entsprechung findet — steht der rechtsstaatlich gebundenen Konzeption eines Zweckstrafrechts gegenüber. Beide wiederum haben Mühe, die herkömmlich vernachlässigten Opferinteressen angemessen zu beachten, geschweige konzeptuell einzubinden. Sie sehen sich überdies konfrontiert mit abolitionistischen Tendenzen kritischer Kriminologen. Der Streit bliebe eine rein theoretisch-ideologische Auseinandersetzung zwischen einigen Disziplinen oder akademischen Zirkeln, wenn die bedrängende Lage der Verbrechensentwicklung und des stationären Strafvollzugs nicht zur Initiative herausforderten und den Theorien mehr praktische Brauchbarkeit abverlangten. Deshalb lassen sich auch „die beiden Grundgedanken“ Vergeltung und Vorbeugung (Jescheck/Weigend 1996, 66) oder „die beiden Bewegungen“ (Naucke 1985, 23) — rechtsstaatliches Strafrecht und Präventionsstrafrecht — sinnvoll nicht getrennt fortentwickeln, um puristisch jeweils in ein Strafgesetzbuch oder ein „Interventionsgesetzbuch“ zu münden. Vielmehr müssen sich die unterschiedlichen Strafziele einem übergreifenden Konzept der Verbrechenskontrolle fügen unter Gewährleistung der Menschenrechte. Daran sollten sie gemessen werden.

2. Straftheorie, Pönologie und Menschenrechte
Schrifttum: Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Ein Beitrag zur strafrechtsdogmatischen Grundlagendiskussion. Frankfurt/M. 1974; Hassemer, Strafziele im sozialwissenschaftlich orientierten Strafrecht. In: Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften, hrsg. v. Hassemer u.a. Heidelberg 1983, 39-66; Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, Bern u.a. 1992; Müller-Dietz, Gibt es Fortschritt im Strafrecht? In: FS für Triffterer 1996, 677-693; Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe. Darmstadt 1980; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe. Göttingen 1971°, Schüler-Springorum, Sind die Menschenrechte noch zu retten? In: FS für Miyazawa. Baden-Baden 1995, 391-403.

Der Verbrechenskontrolle durch Sanktionierung kann man sich theoretisch unterschiedlich nähern; man kann individual- oder sozialwissenschaftlich vorgehen. Der individual- oder humanwissenschaftliche Zugang wird traditionell durch die Philosophie oder Theorie der Strafe vermittelt. Seine Wege und zugleich politischen Implikationen bestehen in Moralisierung, Kriminalisierung, Pathologisierung oder Psychologisierung abweichenden Sozialverhaltens. Doch stimmen alle diese Mittel und Wege generell darin überein, die individuelle Person als potentiellen oder aktuellen Rechtsbrecher zum Adressaten zu nehmen, sie im Falle des Rechtsbruchs verantwortlich zu machen und gegen sie sanktionierend vorzugehen. Die immer wieder aufgegriffene Thematik von Sinn und Zweck der Strafe — zu der sich jede Zeit erneut zu äußern sucht und auf diese Weise bereits ganze Bibliotheken füllt – macht dies augenfällig (vgl. dazu insb. Schmidhäuser 1971, Calliess 1974, Neumann/Schroth 1980, 3 ff., 88 ff., Hassemer 1983, 39 ff.).

Die Fortschritte in der pönologischen Forschung und der kriminologischen Wirkungsanalyse überhaupt haben uns mit reichen und vielfältigen Erkenntnissen versehen. In den zentralen Fragen freilich haben sie uns nicht sicherer werden lassen. Bereits seit Mitte der sechziger Jahre wird auf die begrenzten Sanktions- und Behandlungserfolge sowie unter dem Blickfeld der Effektivität auf den nachdenklich-melancholisch stimmenden Befund der weiten Austauschbarkeit von Kriminalsanktionen hingewiesen. Dieser Sachverhalt erlaubt allerdings, unterschiedliche Folgerungen zu ziehen. Die mitunter erwogene Verwerfung des Resozialisierungsgedankens zugunsten gerechter Tatvergeltung (‚just or minimum desert‘‘) erscheint keineswegs als alleinige denknotwendige Folgerung, ganz abgesehen von der unauflösbaren Schwierigkeit, nicht rational bestimmen zu können, was gerechte oder minimale Vergeltung sei.

Ferner ist zu bedenken, daß es Strafe als einheitliche Erscheinung, losgelöst von Zeit und Raum, von Institution und sozialer Wirklichkeit, nicht gibt. Vielmehr ist sie in ein konkretes Umfeld, in soziale Beziehungen, bestimmte Situationen und Strafsysteme eingebunden. Daher eröffnet die Pönologie, die sich der Strafwirklichkeit zuwendet, neben der herkömmlichen Theorie der Strafe zwar einen weiteren Zugang zur Theorie der Verbrechenskontrolle. Es handelt sich hierbei um den empirisch einlösbaren Ansatz zu den Strafzwecken, insbesondere zu den meßbaren Wirkungen, die sich mit Individual- und Generalprävention sowie ganz konkret mit den Erfolgen einzelner Kriminalsanktionen verknüpfen (eingehend unten § 45). Wegen der weitgehenden Orientierung am Kausalmodell und der verengten Reduktion des Kriminalitätsgeschehens verbinden sich mit diesem Ansatz aber nicht nur geringe Aussagekraft, sondern auch wachsende Einwände. Die Kritik — von konkurrierenden sozialwissenschaftlichen Ansätzen genährt – wendet sich sowohl gegen die theoretische Unangemessenheit als auch praktische Wirkungslosigkeit des individualpräventiven Zugangs zur Verbrechenskontrolle (siehe unten § 13, 5 m.N.).

Versucht man nach alledem eine vorläufige Bilanz, so kann man sich dem Befund nicht verschließen, daß wirnoch immer um die Streitfragen der Jahrhundertwende ringen, ja daß wir uns in der Gedankenwelt der Aufklärung bewegen. Selbst die Frage der kurzen Freiheitsstrafe ist heute — international gesehen — unverändert umstritten. Derartige Einsichten mögen resignierend erscheinen, bedeuten sie doch, daß Vergeltung, Abschreckung und Unschädlichmachung unverändert die Strafwirklichkeit mitbestimmen. Der Grund hierfür liegt hauptsächlich darin, daß die Grundprobleme des Verbrechens und seiner Kontrolle zeitüberdauernd und die überzeugenden Problemlösungen beschränkt sind. Deshalb kann es straftheoretisch und rechtspolitisch kein Zurück in die Zeit klassischen Strafrechts geben und daher auch keine „Manifestation des Rechts“ ohne „Prävention des Unrechts“. Damit läßt sich auch ein Verzicht auf die Folgenabschätzung nicht einleuchtend begründen, d.h. die Nichtberücksichtigung der Strafwirkungen für Täter, Opfer und Gesellschaft sowie deren Beobachtung und Kontrolle. Aber anders als die Positivisten der Jahrhundertwende sind wir in Wissen und Ansprüchen, in Diagnose, Prognose und Rezepturen vorsichtiger und bescheidener geworden. Auch können wir auf die Freiwilligkeit der Betroffenen bei Behandlungs- und Sozialisationsangeboten im Rahmen der Strafe nicht verzichten. Die v. Lisztsche Sentenz „nicht der Begriff, sondern der Mensch“ ist ergänzungsbedürftig durch die Festigung der Rechtsstellung des verurteilten Menschen, durch die Beachtung der Menschenwürde und durch die Erweiterung des strafrechtlichen Horizonts auf die Verbrechensopfer. Allerdings werden heute stärker als vor einhundert Jahren die ambulanten Kriminalsanktionen als „Ersatzmittel für kurze Freiheitsstrafen“ hervorgehoben. Aber auch die „Alternativen zur Freiheitsstrafe“ machen ebensowenig wie die Freiheitsstrafe selbst die Berücksichtigung der Menschenrechte gegenstandslos (vgl. Jung 1992, 69 ff., 84 ff.). Entsprechendes gilt für die Privatisierung des Strafrechts. Die Menschenrechte sind gelegentlich überall gefährdet, wo sich Staat und Gesellschaft sanktionierender Maßnahmen gegenüber dem kriminellen Abweicher bedienen. Damit bleibt nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und Verbrechenskontrolle als unauflösbar erhalten (dazu Schüler-Springorum 1995, 394 ff.). Es läßt die Verwirklichung der Strafe schwieriger und kompromißhafter werden und erfüllt sie ständig mit der Tendenz, die Menschenrechte im Namen der Strafzwecke einzuschränken, wenn nicht gar zu bedrohen. Die Menschenrechte nehmen zunehmend den Rang eines Kristallisationskerns im strafrechtlichen Diskurs ein (Müller-Dietz 1996, 688, 693), auch wenn es insoweit an.einer ausgearbeiteten Theorie fehlt, die konkrete normative und rechtspolitische Folgerungen erlaubte.

Weil nach den rechtlichen Programmvorgaben die heutige Verbrechenskontrolle unter der Herrschaft fundamentaler Prinzipien der Rechtspolitik steht, kann sich die erfahrungswissenschaftliche Analyse nicht mehr in der Effizienzbetrachtung erschöpfen. Die Untersuchung der strafrechtlichen Sozialkontrolle hat also einerseits am normativen Programm, an den Strafzwecken und sonstigen rechtlichen Vorgaben anzuknüpfen, andererseits jedoch in eine empirische Funktionsanalyse einzumünden, die auch die latenten und unbeabsichtigten Konsequenzen von Prävention und Intervention mit einbezieht. Damit wird eine empirisch gestützte Kritik am herkömmlichen Strafvollzug ebenso möglich wie an einem Behandlungsstrafrecht oder an einer Privatisierung strafrechtlicher Konflikte.

3. Zusammenfassung und Folgerungen
Schrifttum: Kunz, Kriminologie. Eine Grundlegung. Berlin u.a. 1994; Schüler- Springorum, Kriminalpolitik für Menschen. Frankfurt/M. 1991.

Die historischen und gegenwärtig vorfindbaren Problemlösungen lassen durchgängig kaum ein einheitliches Prinzip erkennen mit Ausnahme der Besonderheiten, daß

  • überall soziale Kontrolle durch positive und negative Sanktionen, d.h. durch „Belohnung und Strafe‘, gewährleistet wird und ferner ® sich fast alle Sozialsysteme auch auf das Strafrecht stützen.

Keine der heutigen Strategien externer Verhaltenskontrolle reicht allein schon aus, ist unproblematisch und unangefochten; und dennoch kann kein modernes Konzept der Verbrechenskontrolle auf eine der rechtspolitisch vertretbaren Möglichkeiten verzichten. Diese alle sind legitim, notwendig und beachtenswert, freilich in unterschiedlichem Grade. Nur Extrempositionen der Neoklassik einerseits und des Abolitionismus andererseits bestreiten dies; sie können jedoch wegen ihrer theoretischen Enge und wegen des zu befürchtenden Effizienzverlustes des Konttrollsystems nicht überzeugen. Überdies begegnet man der widersprüchlichen Neigung, die Effizienz strafrechtlicher Maßnahmen gering einzuschätzen, jedoch deren Stigmatisierungspotential hoch zu veranschlagen. Aber auch ein pönologisches Kausalmodell (A — B) erscheint unangemessen, da zu eng und schmalbrüstig gedacht, um der Vielschichtigkeitmenschlichen Verhaltens zu entsprechen. Ein brauchbares Konzept kann daher nur in einer integrierenden Theorie der Verbrechenskontrolle bestehen, die unter Wahrung rechtsstaatlicher Belange neben Theorieelementen der Kriminalisierung auch repressive und präventive Gesichtspunkte mit aufnimmt sowie darüber hinaus sowohl der Schlichtung als auch dem Täter-Opfer-Ausgleich genügend Raum gibt (siehe oben § 10, 3.3 und unten § 49). Dabei müßte sie allerdings mehr sein als eine bloß additive und diffuse Vereinigungstheorie, die zwar mehreren Strafzwecken vertraut, sich aber generell in der Strafzumessung schon mit einer Sanktion als erforderlicher Intervention begnügt.

In diesem Lichte ist auch die Kritik an der staatlichen Strafe zu sehen. Zwar treffen die Einwände, insofern sie die Kosten der staatlichen Strafe als sehr, vielleicht zu hoch veranschlagen, die stigmatisierenden Wirkungen beanstanden und für eine „Do-less“-Strategie eintreten (dazu Schüler- Springorum 1991, 252, 269f.;, Kunz 1994, 59), einen richtigen Sachverhalt, zumal die Opfer meist leer ausgehen und überdies die Kapazität von Trägern der Verbrechenskontrolle nicht ausreicht. Dennoch lassen sich bei Fehlen staatlicher Kriminalsanktionen Gefährdung und Schutzlosigkeit für viele, besonders die Ärmeren der Bevölkerung, nicht verkennen, ebensowenig wie die rechtsstaatlich bedenkliche Ungleichheit von innerer Sicherheit und den zu befürchtenden Anstieg von Selbstjustizmaßnahmen. So betrachtet wird das System der Verbrechenskontrolle und mit ihr die staatliche Strafe durch nichts anderes gerechtfertigt als die Rechtsordnung schlechthin. Ansätze zu einer integrierenden Theorie der Verbrechenskontrolle lassen sich aber nur vom Präventionsgedanken her entwickeln. Neuerdings schreibt man ihm gar paradigmatischen Charakter für das moderne Strafrecht zu. Dem tragen Forschung und Schrifttum in der Gegenwart zunehmend Rechnung.

§ 13 Theorie der Kriminalprävention
1. Begriff und Bedeutung

Schrifttum: Albrecht, A.-J., Die Effizienz der Kriminalprävention aus wissenschaftlicher Sicht. In: Symposium: Der polizeiliche Erfolg, hrsg. vom BKA. Wiesbaden 1988, 159-173; Albrecht, P.-A., Perspektiven und Grenzen polizeilicher Kriminalprävention. Ebelsbach 1983; ders., Prävention als problematische Zielbestimmung im Kriminaljustizsystem. KritV 1 (1986); Bennett, Evaluating Neighbourhood Watch. London 1989; Feltes (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention in*Baden-Württemberg. Holzkirchen 1995, Hassemer, Prävention im Strafrecht. JuS 27 (1987), 257-266; Hess/Brückner, Vorbeugung des Verbrechens: In: HWKrim 4 (1979), 404-445; Jehle (Hrsg.), Kriminalprävention und Strafjustiz. Wiesbaden 1996; Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention. Tübingen 1970; Kube, Systematische Kriminalprävention. Wiesbaden 1987°; Kunz,

Vorbeugen statt Verfolgen. Polizeiliche Prävention von Kriminalität — ein Konzept mit Zukunft? Bern u.a. 1987; Kury (Hrsg.), Ist Straffälligkeit vermeidbar? Möglichkeiten der Kriminalprävention. Bochum 1982; Lab, Crime Prevention: Approaches, Practices and Evaluations. Cincinnati/Oh. 1988; Leitenberg, Primary Prevention of Delinquency. In: Prevention of Delinquent Behavior, ed. by Burchard u.a. Vol. 10 of Primary Prevention of Psychopathology. Beverly Hills u.a. 1987, 312-330; Schäfer, Wesen und Entwicklung des Vorbeugegedankens — Ein Beitrag zur Geschichte der Kriminalprophylaxe. In: Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, hrsg. v. BKA. Wiesbaden 1964, 27-46; Schwind u.a. (Hrsg.), Präventive Kriminalpolitik. Beiträge zur ressortübergreifenden Kriminalprävention aus Forschung, Praxis und Politik. Heidelberg 1980.

Wie wir aus der Geschichte der Straftheorie wissen („nemo prudens punit quia peccatum est sed ne peccetur“ — Seneca, De ira 1, 19), gilt die Kriminalitätsverhütung seit langer Zeit als ein vorrangiges Ziel von Sozial- und Kriminalpolitik. Aber erst im letzten Jahrzehnt haben sich die kriminologischen Analysen zur Verbrechensverhütung verstärkt (dazu vor allem Schwind u.a. 1980; Kury 1982; Hassemer 1987; Kube 1987), ohne jedoch in der Wissenschaft durchweg auf positive Resonanz zu stoßen (kritisch Albrecht 1986, 54 ff.). Offenbar wirkt hier noch der alte Gegensatz nach, der auf der Streitfrage beruht, ob die Aufgabe der Verbrechensvorbeugung auch in die Zuständigkeit des Strafrechts und der Strafrechtspflege fällt (dazu etwa Jehle 1996, 11 ff.) oder gänzlich der Polizei und speziellen Einrichtungen der Verbrechensprophylaxe zuzuweisen ist. Der Versuch Kubes (1987), das heutige Wissen zur Kriminalprävention zu systematisieren und für polizeiliche Aufgaben zu nutzen, läßt trotz konzeptueller Offenheit bereits die Konsequenzen erkennen. Obschon man mit Kürzinger (1996, 319) davon ausgehen darf, daß fast „alle Theorien der Kriminalitätserklärung auch unterstellen, eine Gesellschaft ohne Verbrechen sei eine utopische Vorstellung“, trifft doch nicht weniger zu, daß sie die Vermeidbarkeit von Kriminalität zumindest dann als realistische Hoffnung in Aussicht stellen, falls man es mit der Bekämpfung der behaupteten Ursachen nur ernst genug meine. Trotz begründeter Skepsis ist man von präventiver Ausweglosigkeit weit entfernt, wie sich an den Beispielen der Drogen- und der Folterprävention erkennen läßt.

Zwar dienen auch die herkömmlichen Strafzwecke — Allgemeinabschreckung, Besserung, Individualabschreckung und Sicherung — der Verbrechensverhütung, aber vornehmlich durch Repression. Vorbeugung beschränkt sich in diesem Rahmen auf die Prävention weiterer Rechtsbrüche, nachdem bereits eine Straftat begangen ist und indem auf sie reagiert wird. Man spricht bekanntlich von Individual- und

Generalprävention, für die hauptsächlich Strafrecht und Strafjustiz zuständig sind. Daran orientieren sich auch Versuche zur Neubegründung einer „präventiven Theorie der Strafe“, insbesondere im Rahmen der Strafzumessung (dazu unten § 13, 5. und LB § 83). Damit sind jedoch die Möglichkeiten der Kriminalitätsverhütung nur teilweise erfaßt und keinesfalls ausgeschöpft (vgl. Mergen 1995, 366 f., 420). Der gesamte primäre Präventionsbereich, der mit seinen Vorbeugungsstrategien aufgrund überzeugender Kultur-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Sozialpolitik Bedingungen und Ursachen des Verbrechens gezielt zu beeinflussen sucht, bleibt außerhalb einer solchen Betrachtung.

Deshalb versteht man heute unter der Vorbeugung des Verbrechens alle Maßnahmen, die bezwecken, das Ausmaß und die Schwere der Kriminalität zu vermindern, sei es durch Einschränkung der verbrechensfördernden Gelegenheiten, erforderlichenfalls durch Präsenz eines fähigen Beschützers („capable guardian“) oder durch Nachbarschaftskontrolle, oder sei es durch Einwirkung auf (potentielle) Rechtsbrecher und die Allgemeinheit. Die Verbrechensbegehung soll also erschwert werden durch Beeinflussung von Personen — damit diese rechtskonform handeln, aber auch sich und ihr Vermögen vor Viktimisierung schützen — oder durch direkte Veränderung der Umwelt. Noch deutlicher wird die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs, wenn wir nach den Politikfeldern der primären, sekundären und tertiären Prävention unterscheiden (vgl. Hess u.a. 1979, 404 ff.; Lab 1988; siehe auch Schaub. 1).

2. Strukturmodell
Nach diesem Strukturmodell meint primäre Prävention die Vorbeugungsstrategie aufgrund überzeugender Kultur-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Sozialpolitik durch gezielte Beeinflussung der Situation, und genauer der Verbrechensursachen. Auf diese Weise sollen die notwendigen Voraussetzungen und optimalen Bedingungen geschaffen werden, um eine gedeihliche Sozialisation entsprechend den Zielvorstellungen der Gesellschaft zu gewährleisten (zu den Sozialisationszielen siehe unten § 28, 1). Als relevante Gebiete der primären Prävention gelten z.B. Erziehung und Sozialisation, Wohnung und Arbeit sowie Freizeit und Erholung, und zwar vor der Verbrechensbegehung. Insoweit gehört auch die sogenannte Androhungsgeneralprävention in diesen Zusammenhang. Primäre Prävention soll danach den Individuen soziale Kompetenzen zur produktiven Konfliktbewältigung vermitteln. Sie meint also ein mehr proaktives als reaktives Vorgehen.

Ähnlich der primären Prävention will auch die sekundäre Prävention ihrem Schwerpunktnach Verbrechen schon vor seinem ersten Auftreten verhindern (Lab 1988, 95). Jedoch richtet sich ihr Interesse auf die Bestimmung und Beeinflussung von potentiell delinquenten Personen und kriminogenen Situationen. Früherkennung und Prognose krimineller Entwicklungen sowie die Prüfung von Diversionsmöglichkeiten stellen hier die Aufgaben. Sie werden durch Nachbarschaftskontrolle („community control“ und „neighbourhood watch“; siehe Bennett 1989 und Feltes 1995), polizeiliche Gefahrenabwehr und informelle Erledigungsstrategien wahrgenommen. Jugendschutz, Medienkontrolle, Stadtplanung und Baugestaltung verdeutlichen die Anwendung. Davon zu unterscheiden sind jedoch Maßnahmen, die Privatpersonen ergreifen, um sich durch Privatversicherungen vor den Risiken krimineller Viktimisierung zu schützen, falls keine besonderen technischen Vorkehrungen damit verbunden werden.

Tertiäre Prävention schließlich bezieht sich vor allem auf die strafrechtliche und polizeiliche Rückfallbekämpfung. Sie setzt in jedem Falle bereits die Begehung eines Verbrechens voraus, bezieht sich also auf die Verhinderung weiterer Straftaten. Sie reicht von der informellen Erledigung durch abgeschwächte Sanktionierung bis zum Täter-Opfer-Ausgleich oder gar zu der Sicherungsverwahrung. Mangels überlegener oder nicht erprobter Behandlungsstrategien erschöpft sie sich hier nicht selten in der Repression durch verschärfte Strafzumessung (vgl. zum Ganzen Göppinger 1997, 149 £.).

Wendet sich primäre Prävention prinzipiell an alle Bürger, so sekundäre Prävention an die potentiell oder gelegentlich Straffälligen und die tertiäre Prävention an die Rezidivisten oder Intensivtäter. Danach hat dieses Modell seinen Schwerpunkt erkennbar in den Präventionsbereichen, die der Strafrechtspflege vorgelagert sind. Demgegenüber werden Strafjustiz selbst einschließlich etwaiger Alternativen sowie begleitender und nachwirkender Dienste (Strafvollzug, Vollzugslockerungen, Bewährungshilfe) nur grob und pauschal mit einbezogen. Deshalb bildet ein Modell, das nach Prä-, Inter- und Postvention unterscheidet, die Strategien der Verbrechenskontrolle besser ab, zumal die justizförmigen Aktivitäten in den Gesamtzusammenhang sinnvoll eingebunden werden. Insofern bleibt das zuerst behandelte allgemeine Präventionsmodell der Ergänzung und Präzisierung bedürftig. Dies gilt freilich ebenso für ein auf das Strafrecht oder gar auf die positive Generalprävention verkürztes Vorbeugungskonzept der Verbrechenskontrolle.

Es istin diesem Zusammenhang international üblich und nach dem Ausgeführten auch einsichtig, die präventive Rolle der Polizei zu betonen (z.B. Schäfer 1964, 44; Mergen 1995, 420 f.; kritisch Albrecht 1983 und Kunz 1987, 53). Die Aufgabe der Gefahrenabwehr verdeutlicht dies seit der Aufklärungszeit. Die Polizei ist ständig erreichbar. Sie kann die ausgebildeten Einheiten aufnationaler, regionaler und lokaler Ebene bereitstellen. Schon ihre physische Präsenz durch Kontrollbereichs- und Streifenbeamte mindert die Verbrechensfurcht und wirkt u.U. auch vorbeugend. Selbst die symbolische Präsenz durch Bildattrappen von Polizeibeamten vermag präventive Funktionen zu entfalten. Eine Ausnahme scheint im Hinblick auf mögliche Eskalationseffekte nur für die Demonstrationsgewalt zu bestehen. Überdies soll polizeiliche Aufklärungs- und Beratungsarbeit die Begehung von Verbrechen verhindern. Über die Wirkungen dieser Tätigkeit ist allerdings wenig Verläßliches bekannt, obwohl die Anstrengungen nach finanziellem Einsatz, Arbeitskraft und Zeitbudget erheblich sind. Die bloße Kenntnisnahme von polizeilichen Empfehlungen zur Verbrechensverhütung durch die Bevölkerung reicht jedoch als Effizienzkriterium keinesfalls aus. Im übrigen bestehen Gefahren wegen etwaiger Steigerung der Verbrechensangst und ungünstiger Rückwirkungen durch die Verlagerung der Deliktizität (dazu Kube 1987, 19 £., Albrecht 1988, 167 ff.).

Mit den Kenntnissen zur allgemeinen Delinquenzprophylaxe sowie zu den Spezialfällen der Unfallvorbeugung, Verhütung von Alkoholismus und Drogenabhängigkeit oder Selbstmord verhütung ist es kaum besser bestellt. So variieren bei der Drogenprävention die Vorbeugungsmodelle im wesentlichen nur innerhalb der Reichweite und Intensität des strafrechtlichen Einsatzes (sog. legal approach), sei es bezüglich der Differenzierung nach Angebot und Nachfrage, nach „weichen“ und „harten“ Drogen, nach Konsum/Besitz und Handel oder nach der Intensität von Strafverfolgung und Sanktionierung (vgl. unten Tab: 9).

Das Problem besteht nicht zuletzt darin, daß wir wohl über brauchbare Modelle und vielversprechende systematische Ansätze verfügen, nicht aber über eine aussagekräftige Theorie umfassender Verbrechensverhütung. Wir treffen hier also prinzipiell auf die gleiche Schwierigkeit wie bereits bei der Verbrechenstheorie (siehe §§ 9, 3; 24). Gegenwärtige Bemühungen kreisen denn auch um die Entwicklung einer kriminalpolitischen Theorie, der „Theorie des Strafrechts“ oderum die Neubegründung der Straftheorien. Die Anstrengungen um eine einheitliche Präventionstheorie verdienen auch Zustimmung, wonach die fünf verschiedenen Komponenten von Individual- und Generalprävention aufgenommen und integriert werden sollen. Allerdings bleiben dabei die polizeilich-technischen und sonstigen außerstrafrechtlichen Präventionsleistungen durchweg ausgeklammert. Daher könnte sich das Strafrecht präventiv verengt und selbstgenügsam auf sich selbst zurückziehen. Außerdem wird zum Teil die integrative Generalprävention als aussichtsreich favorisiert und die Spezialprävention als untauglich verworfen. Hierbei wird jedoch verkannt, daß die positive Generalprävention ähnlichen sozialpsychologischen Mechanismen unterliegt wie die Spezialprävention. Sind strafrechtlich gestützte Lern-, Sozialisationsund Bindungsprozesse nicht auf der Mikroebene beim individuellen Straftäter durchzusetzen, so auch auf der Makroebene der Rechtsgemeinschaft nicht. Denn stets handelt es sich um Erlernen, Verinnerlichung und Einhalten von Normen. Defizite müßten sich auf beiden Ebenen äußern, es sei denn, daß die Zielgruppen verschieden motivierbar sind. Dann aber wäre wiederum ein unterschiedliches Vorgehen geboten.

Das der Verkehrsunfallprävention entstammende Konzept der sogenannten drei „E“ (Engineering, Education, Enforcement; dazu Kaiser 1970, 430 f. m.N.) veranschaulicht immerhin die gedankliche und strategische Weite. Daher müssen wir uns auch hier (einstweilen) mit der Verknüpfung derartiger Konzepte mittlerer Reichweite begnügen, nämlich mit der

  • Verbrechensverhütung durch Technik, Einsicht und Aufsicht.

Diesen drei Dimensionen entsprechen, partiell überlappend, technische Prävention sowie Spezial- und Generalprävention.
3. Technische Prävention
Schon der Volksmund sagt: „Gelegenheit macht Diebe“. Beobachtungen erhärten diese Erfahrung. An bestimmten Ortlichkeiten und in manchen Gebieten kommt es im Gegensatz zu anderen in höherem Maße zu Kriminalität. Diese verbrechensfördernden Gelegenheiten hat man auch schon seit langem erkannt. Die Kriminalitätsverhütung nimmt sich aber erst neuerdings systematisch dieser Erfahrungen und Einsichten an, um daraus Nutzen zu ziehen. Zum Beispiel versucht man, in der Verkehrsprophylaxe Verkehrswege, insbesondere Kreuzungen mit hohem Unfallrisiko, durch Um- und Ausbau technisch zu entschärfen. Auch zur Vermeidung vandalistischer Handlungen hat man in den Vereinigten Staaten, in England und den Niederlanden Erfahrungen gesammelt, um derartigen Erscheinungen durch technische Vorbeugungsmaßnahmen wirksamer entgegenzutreten. Ein beachtlicher Teil der polizeilichen Aufklärung, Beratung und Vorbeugungsarbeit hat daher die technische Prävention zum Inhalt. Die allgemeine Einführung des Lenkradschlosses bei sämtlichen Motorfahrzeugen Anfang der sechziger Jahre hat die Kraftfahrzeugdiebstähle eingedämmt und der Zahl nach erheblich begrenzt, wenn auch nicht in dem erhofften Maße. Neuere Anwendungsfälle liefern elektronische Fahrzeugsicherung, Stadtplanung, Baugestaltung, Bankenschutz und Flughafenkontrolle. An ihnen werden beispielhaft die Vorzüge und Erfolge technischer Prävention, aber auch die Ambivalenz und Vielschichtigkeit im Hinblick auf Umgebung, Verlagerung und theoretische Deutung erkennbar (siehe dazu LB § 31, 3). Situative Kriminalprävention (u.a. „Neighbourhood Watch“) erscheint gegenüber Gelegenheitsdelinquenz aussichtsreich, weniger freilich für die Beeinflussung von Karrieretätern. Insbesondere lassen sich die möglichen Neben- und Rückwirkungen vorbeugender Sicherungsmaßnahmen nicht übersehen. Gemeint sind damit Ausweich-, Umstellungs-, Eskalations- und Verlagerungseffekte.

4. Generalprävention
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Generalprävention. In: KKW 1993°, 157-164; Allport, G., The J-Curve-Hypothesis of Conforming Behavior. J of social Psychology 5 (1934); Allport, F., Persönlichkeit. Meisenheim 1959; Balvig, Trends, Explanations and Consequences. In: Scandinavian Criminal Policy and Criminology 1980-1985, ed. by N. Bishop. Copenhagen, 1985, 7-17; Blumstein/Cohen/Nagin (eds.), Deterrence and Incapacitation: Estimating the Effects of Criminal Sanctions on Crime Rates. Washington/D.C. 1978; Burgstaller/Csaszar, Ergänzungsuntersuchungen zur regionalen Strafenpraxis. ÖJZ 40 (1985) 417-427; Dölling, Generalprävention durch Strafrecht: Realität oder Illusion? ZStW 102 (1990), 1-20; Hassemer u.a., Generalprävention im Straßenverkehr. In: Sozialwissenschaften im Strafrecht. Neuwied 1984, 230-262; Hauptmann, Psychologie für Juristen. Kriminologie für Psychologen. Einführung in die Sozialpsychologie des Strafrechts. München u.a. 1988; Heinz, Die Wechselwirkungen zwischen Sanktionen und Rückfall bzw. Kriminalitätsentwicklung. In: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, hrsg. v. Bundesministerium der Justiz. Wien 1996, 1-163; Jakobs, Strafrecht. A.T. Berlin u.a. 1983; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. A.T. Berlin 1996°; Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention. Untersuchungen zur Kriminologie der Verkehrsdelikte und zum Verkehrsstrafrecht. Tübingen 1970; Karstedt, Normbindung und Sanktionsdrohung. Frankfurt/ M. 1993; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht. Zum positiven Aspekt der Generalprävention. In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 813-828; Narional Swedish Council for Crime Prevention (ed.), General Deterrence. A Conference on Current Research and Standpoints. Stockholm 1975; Schöch, Göttinger Generalpräventionsforschung. In: KrimFo 35/1 (1988), 227-246; Schumann u.a., Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalprävention. Neuwied u.a. 1987; Trommsdorff (Hrsg.), Sozialisation und Kulturvergleich. Stuttgart 1989.

Eine der Strategien, wenn nicht gar eine Theorie, strafrechtliche Verhaltensnormen zu sichern, ist die Generalprävention. Sie wird seit den Anfängen der bewußten Kriminalpolitik Mitte des 18. Jahrhunderts kriminaltheoretisch erörtert. Im Gefolge der positivistischen Kriminologie und der sogenannten modernen Strafrechtsschule v. Liszts und der IKV hatte sie erheblich an Bedeutung verloren. Die empirische Blickschärfung für die Generalprävention setzte erst Anfang der sechziger Jahre ein, wenn zum Teil auch gegensätzlich motiviert. Demgemäß war das neue Interesse sehr vielfältig und hatte ganz verschiedene Wurzeln (vgl. Kaiser 1970, 351 ff. m.N.; LB § 31,4).

Freilich mehrten sich auf der anderen Seite die Einwände gegen jegliche Generalprävention. Die Ablehnungsgründe kamen teilweise aus der Lern- und Verhaltenstheorie, aus der Friedensforschung, aber auch aus der neuen Verdächtigung des Rechts und somit auch des Strafrechts als Mittel der „repressiven“ Gesellschaft im Zuge der Protestbewegung der späten sechziger Jahre. Die neue Problematisierung von Macht und Herrschaft, zum Teil in Anlehnung an den Labeling approach, wandte sich nicht nur gegen eine Politik von „law and order“, sondern bezog auch die generalpräventive Strategie mit in die Kritik ein. Für die Rechtfertigung der Generalprävention reicht es allerdings aus, wenn diese die herrschende Wertordnung verteidigt, welche — wie neuere Einstellungsuntersuchungen belegen (dazu unten §§ 15; 17) – sich auf eine breite Wertüberzeugung in der Bevölkerung stützen kann.

Mit der Annahme generalpräventiver Wirkungen der Strafe verbindet sich der Anspruch, potentielle Rechtsbrecher von strafbaren Handlungen abzuschrecken sowie in der Bevölkerung allgemein auf die Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung hinzuwirken. Während sich die „negative“ oder „spezielle Generalprävention‘ auf die sich mit der Sanktionsdrohung und der Sanktionspraxis verbindende Abschreckung potentieller Rechtsbrecher richtet, meint die „positive“ oder „integrative Generalprävention“ (dazu BVerfGE 45, 1 ff.; Müller-Dietz 1985, 813 f£., Jescheck/Weigend 1996, 68 f.;, Göppinger 1997, 622 ff.) die dem Strafrecht und seiner Handhabung unterstellte verhaltenssteuernde Kraft (dazu Kaiser 1970, 363 f.). Positive Generalprävention zielt danach auf Einübung von Normvertrauen, Normanerkennung und Rechtstreue (Jakobs 1983, 9), womit sich freilich — genau betrachtet — etwaige Unterschiede zur Sozialisation verflüchtigen. Positive oder integrative Generalprävention ist daher substantiell nichts anderes als ein auf das Strafrecht und den Normalbürger bezogener Anwendungsfall der Sozialisationstheorie (dazu unten § 28, 1). Weil es an der erwarteten Verhaltenssteuerung durch Strafrecht fehlen könnte, haben die Hypothesen der Generalprävention in den letzten Jahren eine reiche empirische Forschungspraxis unter der Fragestellung ausgelöst, inwieweit die Mittel des Strafrechts geeignet sind, die elementaren Rechtswerte durch Verhaltenskonformität zu sichern und sozial unerwünschte Verhaltensweisen zu vermindern (vgl. Dölling 1990, 1 ff.).

Die Schwerpunkte empirischer Untersuchung konzentrieren sich, abgesehen von Todesstrafe und jugendkriminalrechtlicher Sanktionenpraxis, auf die Effektivität der Strafzumessungspraxis in der Straßenverkehrsdelinquenz, die neben der Drogenkontrolle, dem Minderheitenschutz und den Reaktionen auf sexuellen Kindesmißbrauch von den Gerichten in besonderem Maße zu einem Experimentierfeld generalpräventiver Sanktionen gemacht wurde. Zwar rechtfertigt nach Auffassung der Rechtsprechung der Schutz der Allgemeinheit durch Abschrekkung „eine schwerere Strafe — als sie sonst angemessen wäre — nur dann, wenn hierfür eine Notwendigkeit besteht. Dies trifft aber allein in den Fällen zu, wo bereits eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt worden ist“ (BGH NStZ 1982, 463; 1986, 358). Damit werden Notwendigkeit ebenso wie Wirkungsweise generalpräventiver Strafzumessungspraxis empirisch überprüfbar. Jedoch darf dabei nicht verkannt werden, daß wir durch Verengung der Sichtweise auf das Modell „Sanktion-Verbrechen“ übergreifende Systemleistungen ausblenden. Mit anderen Worten schreiben wir etwas als Wirkung der Sanktion zu, was dem gesamten Kontrollsystem zukommt, oder aber wir lasten andererseits der Sanktion als Versagen an, was in der breit gefächerten Verbrechensgenese begründet liegt und von keiner Kriminalsanktion beeinflußt werden könnte.

Danach verwundert nicht, daß nach dem gegenwärtigen Forschungsstand empirische Anhaltspunkte für die Effektivität strengerer Maßstäbe in der Strafzumessung nicht vorliegen. Keine der deutschsprachigen Studien, die reales Verhalten in Zusammenhang mit Aspekten der Strafverfolgung gebracht haben und nicht bei bloßer Attitüdenforschung geblieben sind, hat Anhaltspunkte für beachtlich abschreckende Wirkungen von Strafen gegeben, weder bezogen auf Schwere noch auf Wahrscheinlichkeit. Gesetzlicher Strafrahmen, Sanktionsart, Sanktionswahl und richterliche Strafhöhenbemessung haben danach relativ geringes Gewicht für die Befolgung von Gesetzen, wenn überhaupt (Schumann u.a. 1987, 12, 161 ff. m.N.).

So lassen sich etwa meßbare verbrechensmindernde Wirkungen selbst bei der schwersten Gewaltkriminalität aus einer bestimmten Art der Sanktionspraxis, geschweige der Sanktionsandrohung, nicht herleiten. Die vorgestellte Schwere oder Härte der Strafe tritt zurück, auch und gerade beim sogenannten Rationaltäter. Selbst bei der lebenslangen Freiheitsstrafe kann man eine präventive Wirkung beim Mord für den potentiellen Täterkreis nicht ermitteln. Dies muß allerdings nicht bedeuten, daß sie nicht vorhanden wäre. Vielmehr läßt sie sich bisher nicht empirisch sichern. Insgesamt zeigt sich, daß Abschreckung nur eingeschränkt besteht, nämlich differentiell (deliktsbezogen) und restriktiv (die Quantität der Taten reduzierend), nicht aber absolut und generell. Ferner ist dieser eingeschränkte Abschreckungseffekt nur bei einer marginalen Gruppe zu unterstellen, die nicht schon ohnehin, z.B. aus moralischer Überzeugung, konform handelt (Schumann u.a. 1987, 164). Freilich darf man bei der Beurteilung dieser Forschungsergebnisse die Sondersituation von Jugendlichen nicht verkennen, für welche die Verhaltenssteuerung durch Recht erfahrungsgemäß ohnehin nur von geringem Gewicht ist. Im übrigen jedoch sind die Ergebnisse mit den bisherigen Forschungsbefunden konsistent. Danach sind die Zusammenhänge zwischen moralischer Billigung der Strafnormen und Verzicht auf Delinquenz enger als diejenigen zwischen Aspekten der Strafverfolgung und der Delinquenz.

Der allgemeine Forschungsstand besagt weiter, daß erwartungsgemäß das Entdeckungsrisiko noch am ehesten gefürchtet wird. Auch scheint bei Erwachsenen im Rahmen der Begehung minderschwerer Delinquenz Strafvariablen Gewicht zuzukommen und für eine rationale Abwägung mitunter bedeutsam zu werden. Höherrangig wird demgegenüber vor allem bei schwereren Straftaten die subjektive moralische Verbindlichkeit der Norm bewertet. Strafrahmen und Strafpraxis werden relativ realistisch eingeschätzt. Auch geht man davon aus, daß die Begehungswahrscheinlichkeit bei angenommener Straflosigkeit wesentlich höher ist als bei Strafbarkeit des Verhaltens. Ferner scheint die Erwartung informeller Sanktionen, insbesondere durch Familie und Freundeskreis, größere Bedeutung zu besitzen als die erwarteten Konsequenzen in Form von staatlicher Strafe (Albrecht 1993, 162). Jedoch ist der Befund wohl von der sozialkulturellen Einbettung des Strafensystems und dem Bedärf an externer Verhaltenskontrolle abhängig, gewinnt also etwa in der gruppenorientierten Kultur Japans eine andere Bedeutung als in der individualgeprägten Kultur Westeuropas (vgl. Trommsdorf 1989, 3, 119).

Bleibt nach der strafgesetzlichen Androhungsprävention auch die generalpräventiv motivierte Strafzumessungspraxis in ihrer Wirkungsweise unsicher, so liegt es nahe, die Präventionserwartungen vor allem auf die Intensität der Strafverfolgung zu stützen. In der Vergrößerung von Entdeckungs- und Strafrisiko (Erhöhung der Sanktionsgeltung) werden denn auch zunehmend die Chancen der Generalprävention erblickt. Dabei kann nicht zweifelhaft sein, daß selbst die Strafverfolgung wiederum ein vielschichtiges Teilsystem darstellt. Ihre Intensität ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu ihnen zählen Polizeidichte (‚„manpower“), Zeitbudget und Sichtbarkeit der Polizei, polizeiliche Mittel der Taktik und Technik, die Mitwirkung der Bevölkerung, etwa bei der Fahndung und Anzeigeerstattung, die rechtspolitischen Handlungsanweisungen und Diversionsstrategien, die Anwendungsbreite von Untersuchungshaft und Strafvollzug, die Durchlässigkeit der nationalen Grenzen und schließlich die Kommunikation zwischen Trägern der Verbrechenskontrolle und der Bevölkerung. Alsrealistische kriminalpolitische Möglichkeit bleibt offenbar nur die Intensivierung der polizeilichen Verfolgung. Dabei ist an eine erhöhte Polizeidichte und größere Transparenz der polizeilichen Tätigkeit zu denken, freilich nicht selten mit dem unbeabsichtigten Nebeneffekt vermehrter Anzeigen. Neuere Ansätze der Kriminalökonomie und vergleichenden Kriminologie suchen anhand geeigneter Indikatoren wie z.B. dem „Sicherheitsgefühl“ der Bevölkerung und subjektiver Perzeption des Strafrisikos, der Opferrate, Kriminalitätsrate oder Aufklärungsziffer die Verwirklichung der strafrechtlichen Präventionsziele zu überprüfen. Sie scheinen auch in der Lage zu sein, zur Verhaltens- und Sanktionsgeltung strafrechtlicher Normen und damit zur empirischen Überprüfbarkeit der Generalprävention beizutragen (zum Modell der Geltungsstruktur und der Quantifizierung der Normgeltung siehe oben § 10, 2).

Wie die empirischen Untersuchungen überdies zeigen, hatte die Bevölkerung in Westdeutschland bis weit in die achtziger Jahre hinein kaum einen Kriminalitätsanstieg wahrgenommen; auch forderte sie Strafschärfung nur in geringem Umfang als notwendiges Mittel der Kriminalitätsbekämpfung (vgl. Schöch 1988, 238). Diese überraschend maßvollen Einschätzungen werden durch weitere Befragungsergebnisse zu Sinn und Zweck der Strafe nach der persönlichen Meinung der Befragten bis zum Ende der achtziger Jahre bestätigt. Dafür erscheint belangvoll, daß die kriminalrechtlichen Sanktionen in ein umfassenderes Netzwerk von sozialen Normen und Reaktionen eingebettet sind, deren Bedeutung für die Verhaltenskonformität größer ist als die der Strafe. Immerhin wird die Verbindlichkeit der Norm, ausgedrückt durch den erfragten Grad der Verwerflichkeit abweichenden Verhaltens, beachtlich hoch angegeben. Die etwa von der Mutter erwartete Reaktion, die man als Indikator für das durch familiäre Sozialisation vermittelte Gewissen bezeichnen kann, erreicht selbst bei Bagatelldelikten relativ hohe Werte. Demgegenüber scheint das Gewicht der erwarteten Reaktion bei Freunden und Bekannten nicht ganz so hoch zu sein. Die moralische Verbindlichkeit der Norm und die informellen Reaktionen weisen generalpräventiv das größte Gewicht auf, und zwar sowohl hinsichtlich der Abschreckungswirkung als auch in geringerem Ausmaß bezüglich der Indikatoren für die positive Generalprävention, d.h. die Rechtstreue und Normbekräftigung.

Fast genauso bedeutsam sind aber in gegenläufiger, also delinquenzfördernder Richtung die vermuteten Gruppennormen (Schöch 1988, 240). So ist der die Strafrisikoeinschätzung vermindernde Einfluß des Kontakts zu delinquenten Freunden, vor allem für den Konsum von Cannabis-Produkten, durch empirische Studien gut belegt (Schumann u.a. 1987, 136 f. m.N.). Drogengebrauch ist neben dem Delikt der Leistungserschleichung typischerweise eine Handlung, die mit und in der Gruppe begangen wird.

Gleichwohl kann man feststellen, daß die subjektiv vorgestellte Strafverfolgungswirklichkeit für die Einstellung des Normalbürgers zu strafrechtskonformem Verhalten nur geringe oder keine Bedeutung hat, während die subjektive Strafempfindlichkeit relevant ist. Dies will besagen, daß für den Bevölkerungsdurchschnitt die Begehung von Straftaten wegen der hohen moralischen Verbindlichkeit von Strafrechtsnormen so fern liegt, daß selbst bei minimalem Entdeckungsrisiko oder bei mildester Strafzumessungspraxis keine verbreitete Neigung zur Deliktsbegehung besteht.

Allerdings wird man diese Aussage einschränkend wohl nur auf die traditionelle Kriminalität sowie auf „normale“ Zeiten beziehen dürfen. Anders kann sich— wie angedeutet – die Sachlage bei der Kontrolle von Bagatelldelinquenz und bei der Betäubungsmittel-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltkriminalität stellen.

Wegen der inneren Distanz zur Kriminalität und der eringen Varianz entsprechender Indikatoren erlangt die vermutete Sanktionswirklichkeit keine oder nur geringe statistische Bedeutung. Allein die Vorstellung, für sein Verhalten bestraft werden zu können, wird bereits als so schwer empfunden, daß hiervon abschreckende und normbekräftigende generalpräventive Wirkungen ausgehen. Dieser Sachverhalt spricht für die Annahme, daß eine Senkung des Strafniveaus zu einer Sensibilisierung des Strafempfindens führen kann, so daß schließlich durch mildere Strafen gleiche Abschreckungswirkungen erzielt werden können (Schöch 1988, 243).

Freilich kann die vergleichende Forschung, soweit sie die Untersuchung von verschiedenen Verfahrens- und Sanktionsformen zum Gegenstand nimmt, nicht der kritischen Frage ausweichen, wie sich die verschiedenen Sanktionen, Sanktionensysteme und -alternativen auf die Kriminalitätsbewegung (dazu eingehend Heinz 1996, 1 ff., 157 ff. m.N.) oder zumindest auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung auswirken. Denn für Interesse und Rechtsbewußtsein des Bürgers ist weniger das Steigen oder Fallen der Rückfallquote als vielmehr sein persönliches Viktimisierungsrisiko belangvoll. Daher läßt sich die Frage nach der Kriminalitätsbelastung von der kriminalpolitischen und sanktionsrechtlichen Fragestellung nicht etwa abkoppeln in der Annahme, daß die Kriminalitätsbewegung überhaupt nicht beeinflußt und deshalb die Strafrechtspflege auch unabhängig von der Kriminalitätsentwicklung gedacht, gestaltet oder erneuert werden könne.

So ist eine österreichische Untersuchung, „Erfolg oder Mißerfolg der regional unterschiedlichen Sanktionierungsmuster anhand der mehrjährigen Kriminalitätsentwicklung in den vier OLG-Sprengeln abzuschätzen, … letztlich erfolglos geblieben“ (Burgstaller u.a. 1985, 427). Eine skandinavische Studie schließt aus gleichförmiger Verbrechensbewegung in den skandinavischen Ländern bei unterschiedlichen Strafrechtsordnungen auf die Einflußlosigkeit des kriminalrechtli-

chen Systems bezüglich der Verbrechensentwicklung (Balvig 1985, 10 ff., 16). Derartiger Folgerung und ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit widersprechen jedoch einzelne, obschon aussagekräftige Erfahrungen. So ging die Anzahl tödlicher Verkehrsunfälle nach der Sanktionsbewehrung der Gurtanlegepflicht ab Mitte 1984 in der Bundesrepublik Deutschland rapide zurück. Entsprechendes gilt für die Schweiz. Ein niederländisches Strategiepapier sieht einen aussagekräftigen Hinweis auf die potentielle Wirkung größerer Überwachung in der Tatsache, daß die Zahl von Vielfahrtenkarten, die für den Amsterdamer Busverkehr verkauft wurden, sich in einer Woche verdoppelte, nachdem die Wiedereinführung der Kontrolle durch den Fahrer angekündigt worden war.

Die Annahme von der verhaltenssteuernden Kraft des Rechts könnte sich als irrig erweisen. Dennoch gehen alle modernen Gemeinwesen von ihr aus. Immerhin scheint sie nicht oder nicht nur auf Spekulationen zu beruhen, sondern kann sich auf gewisse empirische Anhaltspunkte stützen. Als Indikator für die Wirksamkeit des institutionellen Zwanges zu normgerechtem Verhalten läßt sich die empirische Verteilung entsprechend der sogenannten J-Kurve begreifen. Dem liegt die Hypothese zugrunde, daß Verhaltensweisen eine J-förmige Verteilung zeigen, wenn die Handelnden einem Konformitätsdruck unterliegen (siehe Schaub. 2). Dafür sprechen nicht nur Erfahrungen des interkulturellen Vergleichs, insbesondere bezüglich Japans (vgl. Trommsdorf 1989 m.N.), sondern auch die erwähnten europäischen Beobachtungen.

Im Gegensatz zu normalverteilten natürlichen Merkmalen wie Körpergröße und Körpergewicht werden Eigenschaften nicht nur zufallsbiologisch bestimmt, sondern hängen auch von der Kultur, also von Werten ab. Hier aber finden wir ein entgegengesetztes Prinzip. „Als Faustregel gilt, daß eine Eigenschaft um so weniger in normaler Verteilung zu erwarten ist, je mehr sie mit den sozialen Normen zusammenhängt“ (G. Allport 1959). Volkssitte, Recht und sonstige Normensysteme neigen dazu, Gleichförmigkeit zu fordern. Besteht also ein gewisser sozial-kultureller Normdruck, so ergibt sich eine Verschiebung. Wir finden daher empirische Verteilungen in Gestalt der J-Kurve mit dem Maximum dort, wo es die Norm selbst fordert, wo der „soziale Druck“ bestimmend wirkt. F. Allport (1934) hat diese Annahme mit dem Bild von einer Sanddüne veranschaulicht, die vom Wind je nach Stärke J-förmig gestaltet wird. Allports „J-Kurven- Hypothese‘ ist wiederholt überprüft worden, immer mit dem gleichen Ergebnis (zur Verhaltensgeltung im Betäubungsmittelrecht siehe unten § 37). Auch Dunkelfeldforschungen haben sie bestätigt.

Gleichwohl wirft das gegenwärtige System der Verbrechenskontrolle erhebliche Fragen auf. Diese zeigen sich z.B. am Anstieg der registrierten Kriminalität in den letzten vier Jahrzehnten (vgl. unten §§ 21, 2 u. 3; 24, 3). Angesichts der beträchtlichen Zuwachsrate wird die Effizienz des herkömmlichen Systems bezweifelt. Mitunter spricht man gar von einer „Krise der Justiz“ oder des Sanktionensystems. Bedeutsam für derartige Einschätzungen ist offenbar der Zusammenhang von Perzeptionen der Verbrechensrate, Viktimisierung, Sanktionsleistung und Präventionsstrategie. Dabei darf man jedoch den Partialcharakter und die begrenzte Wirkungsmöglichkeit der Kriminaljustiz innerhalb des gesamten Netzwerkes interner und externer Verhaltenskontrolle nicht übersehen, so daß dem Strafrecht nicht selten nur eine Art Krisenintervention verbleibt (vgl. dazu Jescheck/Weigend 1996, 751).

Ein anderer Weg, durch strafrechtliche Aktivitäten Einfluß zu nehmen, um auf der Mikroebene vorzubeugen, ist die Spezialprävention. Ihren Möglichkeiten und Leistungen soll jetzt das Interesse gelten.

5. Spezialprävention
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe Verurteilten. Freiburg i.Br. 1982; Albrecht P.-A., Spezialprävention angesichts neuer Tätergruppen. ZStW 97 (1985), 831-870; Bock, Kriminologie und Spezialprävention. ZStW 102 (1990), 504-533; Dünkel, Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Freiburg i.Br. 1980; Hartung, Spezialpräventive Effizienzmessung. Jur. Diss. Göttingen 1981; Heinz/Hügel, Erzieherische Maßnahmen im deutschen Jugendstrafrecht. Abschlußbericht. Bonn 1987; Kaiser, Resozialisierung und Zeitgeist. In: FS für Würtenberger. Berlin 1977, 359- 372; Lipton, The Effectiveness of Treatment for Drug Abuses under Criminal Justice Supervision. Washington 1995; Lipton/Martinson/Wilks, The Effectiveness of Correctional Treatment: A Survey of Treatment Evaluation Studies. New York 1975; Lösel, The Efficacy of Correctional Treatment: A Review and Synthesis of Meta-evaluations. In: What Works: Reducing Offending, ed. by McGuire, 1995, 79-111; ders. u.a.: Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Qualitative und quantitative Analysen und Vorschläge zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten des Justizvollzugs. Abschlußbericht. Stuttgart 1987; Meier, Crime and Society. Boston u.a. 1989; Morris/Tonry, Between Prison and Probation. Intermediate Punishments in a Rational Sentencing System. New York u.a. 1990; Ortmann, Resozialisierung im Strafvollzug. Theoretischer Bezugsrahmen und empirische Ergebnisse einer Längsschnittstudie zu den Wirkungen von Strafvollzugsmaßnahmen. Freiburg i.Br. 1987; Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren. Köln u.a. 1983; Rossi/Wright, Evaluation Research: An Assessment. Annual Review of Sociology 10 (1984), 331-352; Roxin, Die Wiedergutmachung im System der Strafzwecke. In: Wiedergutmachung und Strafrecht, hrsg. v. Schöch. München 1987, 37-55; Schünemann, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars. 2. Teil: Schuld und Kriminalpolitik. GA 133 (1986), 293-352; Sechrest/White/Brown (eds.), The Rehabilitation of Criminal Offenders: Problems and Prospects. Washington/D.C. 1979; Thornton, Treatment Effects of Recidivism: A Reappraisalofthe „Nothing Works“ Doctrine. In: Applying Psychology to Imprisonment, ed. by McGurk u.a. London 1987, 181-189.

Generalprävention will auf das Verbrechen als Sozialerscheinung einwirken, will die Verbrechensrate allgemein senken; sie schweigt jedoch zum Verbrechen als Individualerscheinung, insbesondere zur Rückfallverhütung des bereits straffällig Gewordenen. Diese Frage sucht die Spezialprävention zu beantworten. Im forensischen Blickfeld kommt ihr gar der Vorrang zu. Zwar liegt ihr Zweck ebenso wie bei der Generalprävention in der Aufgabe, künftige Rechtsbrüche zu verhindern („poena relata ad effectum“). Wendet sich jedoch die generalpräventive Strategie an potentielle Rechtsbrecher und an die Allgemeinheit, so nimmt die Spezial- oder Individualprävention den individuellen Rechtsbrecher zum Adressaten ihrer Einflußnahme. Diese ist danach täterbezogen. Sie kann ebenso wie die Generalprävention in zwei Richtungen wirken (dazu BVerfGE 45, 187, 254 ff.): Als „positive“ Spezialprävention bezweckt sie durch Erziehung, Besserung und Wiedergutmachung (Roxin 1987, 50 f. ), als „negative‘‘ Spezialprävention durch Abschreckung oder Unschädlichmachung künftig rechtskonformes Verhalten des Täters. Spezialpräventiv gemeinte Sanktionen sind freilich nicht Selbstzweck, sondern verstehen sich schon ex definitione als Vorbeugungsmittel. Trotz langer Überlieferung und Erörterung sind Funktion und Effizienz der Spezialprävention umstritten

Während der letzten zwei Jahrzehnte hat international die Streitfrage um Behandlung, Abschreckung oder Sicherung des Straftäters erneut große Bedeutung erlangt. Aufgrund von amerikanischen Sekundäranalysen, die hauptsächlich Behandlungsprojekte der fünfziger und sechziger Jahre zum Gegenstand genommen hatten, war man zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Behandlung im Rahmen der Kriminaljustiz, insbesondere im Strafvollzug, keine positiven Erfolge erreichen lasse (so Lipton u.a. 1975; anders jedoch die neuere Sekundäranalyse Liptons 1995, 52 f.). Ein amerikanischer Akademiebericht vertritt aufgrund neuer Analyse der Forschungslage jedoch die Auffassung, daß die Frage noch offen sei (vgl. Sechrest u.a. 1979, 15, 34). Methodische Mängel der ausgewerteten Primärforschungen haben ihn zu dieser Einschätzung veranlaßt. Dem scheinen auch die neuen Situations- und Trendanalysen zu entsprechen (kritisch Thornton 1987, 186 ff.; Lösel 1995, 79 ff.). In einer Analyse fachübergreifender Evaluationsforschung (Rossi u.a. 1984, 331 ff.) wird überdies klargestellt, daß es unmöglich sei zu ermitteln, welche Wirkungen die Programme der sechziger und siebziger Jahre auf die Einstellungs- und Verhaltensänderung tatsächlich gehabt hätten: Weder in den Bereichen der Erziehung noch auf den Gebieten der Gesundheit, des Wohnungswesens oder sonstiger Sozialpolitik habe man beeindruckende Ergebnisse erzielt. Die Gründe dafür werden vor allem in der begrenzten Anwendung von Experimentalbedingungen auf die Interventionsprogramme vermutet; so lasse sich regelmäßig kein Zufallsdesign einrichten. Außerdem sei es schwierig, Dienstleistungen wie die Behandlung unter experimentelle Kontrolle zu bringen. Nichtexperimentelle Formen der Behandlungsforschung jedoch lieferten eine nur sehr begrenzte Problemlösung, zumal sie sich allzuleicht der Kritik aussetzten.

Da sich aber der deutsche Gesetzgeber im Zuge der kriminalpolitischen Reform 1969 mit der Erneuerung des materiellen Strafrechts und 1976 mit der Schaffung eines Strafvollzugsgesetzes — wie ähnlich weit früher der schweizerische und österreichische Gesetzgeber — weitgehend der individualpräventiven Zielsetzung geöffnet hat, stellt sich die Frage, ob die vorausgegangenen rechtspolitischen Entscheidungen nicht verspätet und verfehlt seien, ja ob man nicht besser generalpräventiven Zielen oder ausschließlich der Schuldvergeltung folgen solle (vgl. hierzu die allerdings überzogene Kritik von P-A. Albrecht 1985, 834 ff.). Die Wendung in der kriminalpolitischen Diskussion ist mit Stichworten wie „Renaissance der Strafe“ oder „Neoklassizimus‘“ umschrieben worden. Schünemann (1986, 347) spricht bezüglich der auf die Freiheitsstrafe beschränkten Ergebnisse gar vom „Waterloo“ des Resozialisierungsgedankens. Er möchte deshalb amerikanischen Stimmen ähnlich (vgl. Meier 1989, 388) überdies die Strafaussetzung zur Bewährung neu interpretieren; dafür aber bieten die bisherigen Ergebnisse der Begleitforschung keinen Hinweis oder Anlaß. Welche empirischen Befunde liegen jedoch über spezialpräventive Wirkungen vor?

Die individualpräventive Sanktions- und Behandlungsforschung weist durchweg Unterschiede in der Legalbewährung der Vergleichs gruppen aus (vgl. Albrecht 1982, 28, 236 ff.; siehe ferner Schaub. 3). Mit zunehmender Gleichförmigkeit des Sozialprofils und der Legalbiographie von Personen der Experimental- und Kontrollgruppen verringern sich allerdings die Unterschiede im späteren Legalverhalten (vgl. Schaub. 4). Die Untersuchungsergebnisse lassen damit zugleich eine beachtliche Breite an Austauschbarkeit und Alternativitätder Sanktionsmittel erkennen. Daher bleibt häufig offen, ob die günstigere Bewährung der Behandelten auf die besondere Selektion oder die spezifische Art der Behandlung zurückzuführen ist (vgl. Hartung 1981, 152 ff.; zu den Problemen der Rückfallforschung eingehend Göppinger 1997, 627 ff.).

Diese Frage ergibt sich auch für den offenen Strafvollzug, die Therapie Drogenabhängiger sowie die Strafaussetzung zur Bewährung, den Täter- Opfer-Ausgleich und selbst für die weniger formalisierten Erziehungsverfahren (siehe Heinz/Hügel 1987, 71 ff., 95; Meier 1989, 378; Lipton 1995, 1,52 f.). Deshalb wäre auch der vermutete Einfluß richterlicher Handlungsstile auf die spätere Legalbewährung allein erwartungswidrig (a.A. Pfeiffer 1983, 309 ff.). Obgleich sich jene Frage bei den erwähnten Kriminalsanktionen ebenso stellt wie bei der Geldstrafe, hat sie sich vor allem auf die Beurteilung der sozialtherapeutischen Behandlung zugespitzt (vgl. Dünkel 1980; Ortmann 1987). Mit ihr scheint sich als Prüfstein zugleich das Schicksal der Spezialprävention zu verbinden. Immerhin zeigt die Meta-Evaluation von 15 deutschen Studien zur Sozialtherapie, daß trotz aller Mängel in der Durchführung die sozialtherapeutisch Behandelten eine — obschon geringfügig — günstigere Legalbewährung als die entsprechenden Vergleichsgruppen aufweisen (siehe ZLösel u.a. 1987, 255; ferner Schaub. 4). Allerdings erweisen sich für den Erfolg die Dauer und Intensität der Behandlung als bedeutsam.

Hingegen ist die Methodenkritik an der sozialtherapeutischen Begleitforschung teilweise überzogen, zumal die Frage des Erfolgsbegriffs erhebliche Schwierigkeiten aufwirft (siehe LB § 91). Dies gilt selbst für den Fall, daß man nur die Legalbewährung mit einer Risikozeit von drei bis fünf Jahren zum Maßstab nimmt. Wird man im allgemeinen der Auffassung zuneigen, bei einer Legalbewährungsrate von mehr als 70% von „Erfolg“ zu sprechen, so fällt eine solche Beurteilung offenkundig schwerer, wenn sich die Mißerfolgsrate in ähnlicher Höhe bewegt. Enttäuschungen bleiben daher nicht aus. Lediglich bei den Gruppen der Alkoholiker und süchtigen Drogentäter hat man sich aufgrund der zahlreichen Fehlschläge daran gewöhnt, eine Rate von 30% bereits als „Erfolg“ zu verbuchen. Hingegen wird man sich noch immer schwer tun, entsprechende Prozentsätze auch als Erfolg sozialtherapeutischer Behandlung oder sozialpädagogischer Bemühungen gelten zu lassen, obwohl bei den hier in Betracht kommenden Zielgruppen das kriminogene Mängelprofil keinesfalls einfacher gelagert ist. Ein „Erfolg“ liegt jedoch immer dann vor, wenn für eine bestimmte Kriminalsanktion die optimale Rückfallrate im Vergleich zu anderen Sanktionen erreicht wird. Daher kann es nur darauf ankommen, ob die fragliche Behandlung besseren Erfolg verspricht als die übliche Strafe (siehe dazu Morris u.a. 1990, SAT S2ATE:

Insgesamt lassen sich dem Forschungsstand zur spezialpräventiven Erfolgsmessung, der vom formlosen Erziehungsverfahren der Diversion über die Geldstrafe und Strafaussetzung bis zu den verschiedenen Formen der Freiheitsstrafe reicht, folgende Ergebnisse und Schlußfolgerungen entnehmen:

  • Die Legalbewährung nach spezialpräventiver Sanktionierung ist unterschiedlich, jedoch allgemein nicht sehr hoch, wenn man von der Geldstrafe, der Strafaussetzung zur Bewährung sowie anderen Formen ambulanter Erledigung absieht (zu negativ jedoch die Beurteilung Kürzingers 1996, 321, zumal die „spezialpräventive Wirkung von Strafen“ im wesentlichen auf den Strafvollzug reduziert wird). ® Selbst dort, wo die ausgewiesenen Ergebnisse und Unterschiede im Legalverhalten gering ausfallen, läßt sich nicht zwingend auf das Scheitern spezialprä-


ventiver Anstrengungen schlechthin schließen, sondern nur folgern, daß sie sich im gegebenen Anwendungsbereich nicht als wirkungsvoll oder als überlegen erwiesen haben, um angesichts der gegenläufigen kriminogenen Kräfte verhaltensbestimmenden Einfluß zu gewinnen. Man denke etwa an den süchtigen Drogentäter. Aber selbst hier verfügen wir inzwischen über genügenden Beweis für eine wesentliche Verminderung der Rückfälligkeit nach der Behandlung (so Lipton 1995, 53). Daher stellt sich entsprechend dem Grundsatz der Erforderlichkeit vor allem die Frage nach den geringst eingreifenden Sanktionsmitteln bei im übrigen gleichen Erfolgschancen. Es geht also konkret darum zu begründen, daß gerade die Freiheitsstrafe geboten ist und nicht auch die Strafaussetzung zur Bewährung, die Geldstrafe oder die Erledigung nach § 153 a StPO ausreichen.

e Daher kann bei aller Kritik gegenüber der Behandlungsideologie auf das Angebot therapeutischer und sozialpädagogischer Mittel nicht verzichtet werden. Diesmuß neben der Strafaussetzung zur Bewährung auch für das StVollzG gelten, welches gerade nicht einem einseitig medizinisch-orientierten Behandlungsbegriff folgt. Andernfalls würden im Namen größerer Rationalität und Gerechtigkeit tatsächlich nur Inhumanität und Rückschritt eingehandelt (kritisch Kaiser 1977, 359 ff.). ®e Nach den neueren Situations- und Trendanalysen ist die Frage nach der Wirkungsweise von Resozialisierungsmaßnahmen noch immer offen, nicht zuletzt wegen des bisherigen Mangels an theoriegeleiteter Behandlungsforschung, so daß sich das Resozialisierungsthema auch noch nicht erledigt hat, ja sogar wieder an Boden gewinnt. ® Im übrigen ist die Krise der und die Kritik an der Resozialisierungsidee — abgesehen von den USA und Schweden, wo nach einer dort ursprünglich herrschenden medizinisch-therapeutischen Phase einige Gesetzeskorrekturen vorgenommen wurden — theoretisch bedeutsamer und folgenreicher als praktisch. Immerhin darf die überprüfbare Relevanz der Theorie (Vollzugsziel) für Vollzugsentscheidungen, insbesondere bei Vollzugslockerungen, nicht übersehen werden. ®e Ferner sollte nicht außer Betracht bleiben, daß im weltweiten Blickfeld gesehen der Behandlungsgedanke keinesfalls überwiegend verworfen wird. Darüber hinaus kann sich der Resozialisierungszweck auch hierzulande einer breiten Akzeptanz im Bewußtsein der Öffentlichkeit erfreuen (siehe dazu unten § 15).

Eine „grundsätzliche Wende in der Beurteilung des Resozialisierungskonzepts für die Theorie der Strafe und der Interpretation der die Sanktionsfestsetzung regelnden Vorschriften“ (Schünemann 1986, 348 £.) ist daher nicht geboten; ihre Konsequenzen wären überdies unerwünscht und verhängnisvoll. Denn selbst „eine mehr generalpräventive Ausrichtung“ entließe das Präventionsstrafrecht nicht aus den Schwierigkeiten der Erfolgskontrolle. Daß diese einfacher gelagert wäre und das Strafziel der Generalprävention positivere Erfolgsaussichten erhoffen ließe, ist zumindest bei der Gruppe der Mehrfach-, Rückfall- und Intensivtäter nicht erwartbar. Überdies kann man Tendenzen zur „Immunisierung“ gegenüber empirischer Überprüfung besonders bei der Generalprävention nicht übersehen.

Eine nicht minder wichtige, obschon ganz anders gelagerte Frage ist jene nach der spezialpräventiven Einflußnahme auf die gesamte Kriminalitätsbewegung, also der Effekte auf der Makroebene des Verbrechens. Derartige Rückwirkungen sind noch schwieriger abzuschätzen, da sich die Allgemeinabschreckung davon kaum trennen läßt. Sind sie auch nicht bedeutungslos, so doch durchweg gering. Dies gilt selbst für die amerikanische Strategie der Sicherung („incapacitation“) mit einer der weltweit höchsten Gefangenenraten und ferner für die verschiedenen Interventionen (z.B. Gewinnabschöpfung, Methadon-Programme, Heroinabgabe oder Therapie) im Bereich der Drogenkriminalität. Günstiger scheint es nur mit der Wirkungsweise der verkehrsrechtlichen Praxis bestellt zu sein, Fahrerlaubnisse zu entziehen. Welche Ausprägung der Individualprävention auch Gegenstand empirischer Erfolgskontrolle sein mag, eine meßbare Beeinflussung der Gesamtkriminalität ist dadurch allein kaum zu erwarten. Nennenswerte Effekte wären auch theoretisch nur schwerlich plausibel zu begründen. Allerdings dürfte die ebenso zügige wie entschiedene Sanktionspraxis gegenüber rechtsextremistischen Tätern seit Herbst 1992 dafür sprechen, daß die Bedeutung der Strafrechtspflege für das Legalverhalten doch eine größere Beachtung verdient, als das bislang mitunter etwas geringschätzig angenommen wird.

So sind denn die Einwände gegen die Spezialprävention, die man häufig ungenau auf das Resozialisierungsziel zu beschränken pflegt, bei Lichte besehen auch anders motiviert. Sie stützen sich hauptsächlich auf heute gängige Befürchtungen gegenüber staatlicher Überwachung und Kontrolle, also auf Gefahren für die Individualfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Diese rechtspolitischen Ziele sind sicher ernstzunehmen; doch die Frage nach deren möglicher Gefährdung ist keine Eigentümlichkeit der Spezialprävention allein. Sie stellt sich auch bei alternativen Strafkonzepten, ohne daß diese in der Lage wären, dem Legitimationsdruck, dem heute vornehmlich die freiheitsentziehenden Kriminalsanktionen ausgesetzt sind, besser standzuhalten. Allein die Resozialisierungsidee verbürgt, die bekannten Defizite der Sanktionsmittel an Humanität und Sozialisationsangeboten zu vermindern, obschon — wie die Erfahrung zeigt — noch immer zu wenig.