Neuntes Kapitel Aspekte angewandter Kriminologie
Aspekte angewandter Kriminologie
§42 Anwendungsorientierung und Verwertungsinteressen
Schrifttum: Barton, Kriminologie für Strafverteidiger? StV 8 (1988), 228-232; Göppinger (Hrsg.), Angewandte Kriminologie. – International. Bonn 1988; Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung im Gespräch zwischen Strafrechtspraxis und Kriminologie. Wiesbaden 1992; Jehle/Egg (Hısg.), Anwendungsbezogene Kriminologie zwischen Grundlagenforschung und Praxis. Wiesbaden 1985; Kerner, Politik, Praxis und Wissenschaft — Reflexionen über Einsichten und Probleme (auch) anhand von Beispielen praktischer Vermittlungsversuche. In: Entwicklungstendenzen kriminologischer Forschung: Interdisziplinäre Wissenschaft zwischen Politik und Praxis, hrsg. v. Kury. Köln u.a. 1986, 235-277.
Anwendungsorientierte Kriminologie meint die technologische Umsetzung und Verwertung von empirischen Befunden in Gesetzgebung und Praxis strafrechtlicher Sozialkontrolle. Sie umfaßt damit mehrere Schritte. Diese reichen von der Gewinnung gesicherten Erfahrungswissens bis zu dessen Übertragung in die administrativen, legislativen und justitiellen Entscheidungsprozesse. Praxisbezogene Aufgaben bestimmen den Inhalt. Sie lassen sich mit den kriminologischen Forschungsfeldern Prävention, Prognose, Sanktion, Implementation, Evaluation und Reform stichwortartig umschreiben. Dabei rechnen zur Praxis vor allem Polizei, Staatsanwaltschaften, Strafgerichte, Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht, Strafvollzug und die Justizverwaltung, aber auch die Strafverteidiger.
Anwendungsbezogene Kriminologie ist also wichtig. Sie ist aber auch problematisch. Denn die Aufgaben und Denkweisen von Wissenschaft und Praxis sind verschieden: diskursives Lernen hier, strategisches Lernen dort. Dem steht nicht entgegen, daß es weder „die“ Kriminologie noch „die“ Praxis gibt. Jedoch sind Leistungsfähigkeit, Rolle und Verantwortung der Kriminologie als unabhängiger Wissenschaft ebenso herausgefordert wie Strafgesetzpolitik, Strafrechtspflege und Polizei. Unterschiedliche Aufgabenstellung und Rolle schließen eine Verschmelzung von Praxis und Forschung selbst in gemeinsamen Einrichtungen oder im Rahmen der sogenannten Aktionsforschung aus, wenn jede Seite die ihr obliegenden Funktionen fruchtbar erfüllen will. Auch wenn Aufgaben und Rollen verschieden sind und sich die Erwartungen beider Systeme oder „Kulturen“ nur teilweise decken, sind Zusammenarbeit und Transfer möglich.
Die Aktualität kriminologischer Anwendungsorientierung wird unterschiedlich bestimmt. Sie beruht einmal auf handfesten, obschon verschieden gelagerten Bedürfnissen der Praxis und zum anderen auf gegenläufigen Rationalitätsmodellen und Rollenkonflikten der Wissenschaft. Selbst dann, wenn man die Bedenken nicht teilt, die der Anwendungs- und Praxisorientierung entgegenstehen können, sind die Vorgänge der Übertragung empirischen Wissens in praktische Entscheidungen und deshalb auch die Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis noch immer schwierig. Aus diesem Grund sind die Zweifel an der Praxisrelevanz kriminologischen Wissens nie verstummt. Mitunter mag auch empirisches Wissen im kriminalpolitischen Willensbildungsprozeß lediglich eine Alibifunktion erfüllen, weil andere Interessen und Bewertungen den Vorrang gewinnen. Nicht minder wichtig erscheint die Erwägung, daß durch den Anwendungsbezug der Forschung kriminologisches Wissen eingeengt oder gar fremdbestimmt werden und damit eine Verarmung eintreten könnte und daß überdies durch die geforderte Anwendungsorientierung für die Grundlagenforschung zu wenig Mittel verfügbar blieben. Derartige Gefahren und Sorgen sind fraglos ernst zu nehmen. Sie erweisen sich aber bei genauerer Betrachtung für die Gegenwart und absehbare Zukunft als unbegründet.
Läßt die Geschichte anwendungsbezogener Kriminologie erhebliche Wandlungen erkennen, so stehen doch Entscheidungshilfen mittels Diagnose und Prognose für eine zweckrationale Sanktionsauswahl und Strafbemessung stets im Mittelpunkt. In neuerer Zeit haben ferner Erfolgskontrollen durch Implementations- und Evaluationsforschung zunehmend Bedeutung erlangt (siehe oben § 11,4). Dabei ist allerdings die Betrachtungsweise fragwürdig geworden, wonach Probleme und deren Definition am Anfang stehen, um dann gelöst zu werden. Vielmehr werden Probleme häufig nicht gelöst, sondern entsprechend den ablaufenden Interventionen und deren Wirkungen ständig neudefiniert. Viele Wirkungen sind nur auf der symbolischen Ebene angesiedelt (zum „symbolischen Strafrecht“ siehe oben § 10, 2).
Am stärksten gefestigt, obschon nicht unangefochten, ist die herkömmliche Rolle des forensischen Sachverständigen, gleichsam das Grundmodell etablierter Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis. Die moderne Anhörung von Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren durch sogenanntes Hearing unterscheidet sich substantiell davon nicht. Freilich wird mit der Auswahl des kriminologischen Sachverständigen auch gleichzeitig über eine bestimmte Art der Wissensinhalte, die erfragt oder gar erwartet werden, vorentschieden. Anhörungsverfahren im Vorfeld der Gesetzgebung, seltener im Strafverfahren, liefern dafür anschauliche Beispiele. Sie zeigen nicht nur die Schwierigkeiten des Übertragungs- und Nutzungsprozesses von offensichtlich unterschiedlichem Erfahrungswissen, sondern lassen schon Fragen hinsichtlich der Sicherung empirischen Wissens aufkommen, Sicherung in der Gewinnung und Sicherung in der Übertragung. Die in neuerer Zeit zu dem Grundmodell des forensischen Sachverständigen entwickelten Organisationsalternativen, insbesondere das pragmatische oder partnerschaftliche Modell, können trotz aller Attraktivität die methodischen Schwierigkeiten nicht verhindern, mögen sie vielleicht noch eher verdunkeln.
Vielfältige Aufgaben für eine anwendungsorientierte Kriminologie liefern besonders die sozialen Dienste in der Justiz wie Jugendgerichtshilfe, Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Bewährungs- und Führungsaufsicht sowie der Strafvollzug und die Untersuchungshaft. Teilweise werden sie als praxisbegleitende Forschung dem Kriminologischen Dienst (§ 166 StVollzG) zugewiesen. Hier handelt es sich im wesentlichen um die vergleichende Sanktionen- und Wirkungsforschung, um die Mängel und Mißerfolge bisheriger Sanktionspraxis aufzudecken und das Bedingungsgefüge für eine günstigere Legalbewährung sowie Sozialintegration ausfindig zu machen. Offene Vollzugsgestaltung, Gewährung von Vollzugslockerungen, Intensivierung der Bewährungs- und Strafentlassenenhilfe sowie die Handhabung des Täter-Opfer-Ausgleichs stellen hier Forschungsaufgaben.
Immerhin ist in neuerer Zeit zur Handhabung der Untersuchungshaft und des Strafvollzugs, zu den Vollzugslockerungen, zu besonderen Vollzugsformen wie der sozialtherapeutischen Behandlung und schließlich auch zum Sorgenkind des Maßregelvollzuges eine Reihe von empirischen Erhebungen durchgeführt worden, die genauere und verläßlichere Einsichten in die Vollzugsrealität ermöglichen. Da sich der Strafvollzug, wie die Sanktionenstatistik erkennen läßt, im ständigen Wandel befindet, insbesondere in neuerer Zeit wiederum Überfüllungsprobleme bewältigen muß, hinkt die Forschung fast ständig hinter der sich verändernden Vollzugswirklichkeit hinterher. Schon deshalb besteht ein nie zu Ende gehender Bedarf an empirischem Wissen zur aktuellen Vollzugssituation. Sinngemäß das gleiche gilt für Bewährungshilfe und Führungsaufsicht. Beide Dienste haben bekanntlich in den letzten Jahren erheblich an Ausdehnung und Bedeutung gewonnen. Damit machen sie auch die Begleitung durch die Forschung notwendig. Hierfür ist der Kriminologische Dienst des Vollzugs nicht zuständig. Um so dringlicher sind andere Forschungseinrichtungen aufgerufen, die Lücke zu schlie- Ben.
Da aber selbst bei informierter Vorausschau die akuten Forschungsbedürfnisse der nächsten Jahre nicht immer antizipiert und vorab befriedigt werden können, werden in der Strafgesetzpolitik stets Entscheidungen bei partieller oder unvollständiger Information zu treffen sein. Hier kann nur im nachhinein anwendungsbezogene Forschung tätig werden, nämlich durch die erwähnte Implementations- und Evaluationsforschung, die auch aus empirischer Sicht eine Erfolgsabschätzung ermöglicht. Dabei unterliegt keinem Zweifel, daß kriminalrechtliche Sanktionen überwiegend zu punktuell, zu kurz und zu spät eingreifen, um das zugrundeliegende vielschichtige Bedingungsgefüge wirksam zu verändern. Wenn es richtig ist, daß lediglich komplex gedachte Erklärungsansätze der Verbrechensentstehung gerecht werden, so können auch nur entsprechend breit gefächerte und vielfältig eingreifende Programme der Verbrechensverhütung Aussicht auf Erfolg versprechen.
Im Bereich polizeilicher Praxis ist die Anwendungsorientierung in den letzten Jahrzehnten am häufigsten erörtert und am intensivsten geprüft worden. Die Zwischenergebnisse der fast permanenten Diskussion haben immer neue Impulse ausgelöst, um kriminologische Befunde in die alltägliche Praxis umzusetzen. Sie haben auch zur Frage der Aufnahme von Forschungsergebnissen durch die Praktiker geführt. Zwar gibt es manche Zweifel an Sicherung und Relevanz kriminologischen Wissens, aber keine „Akzeptanzkrise“. Immerhin kann das Akzeptanzproblem erleichtert werden, wenn man anwendungsorientierte Forschung von vornherein mit der Praxis plant und durchführt sowie deren Ergebnisse in verständlicher Sprache mitteilt. Überdies ist dafür bedeutsam, daß Praktiker durch Aus- und Fortbildung mit empirischen Befunden und deren Interpretation frühzeitig und genügend vertraut gemacht werden. Mag es gelegentlich so scheinen, als seien die Probleme anwendungsorientierter Kriminologie größer und die Grenzen höher als die Möglichkeiten, so sind diese vielfältig und wichtig genug, um den Einsatz auch der unabhängigen Forschung zu rechtfertigen.
§ 43 Kriminalprognose
1. Problemstellung und Ausgangspunkte
Schrifttum: Sontheimer, Voraussage als Ziel und Problem moderner Sozialwissenschaft. In: Universitätstage 1965, hrsg. v. der Freien Universität Berlin 1965, 16-33.
Zwar beeinflussen die Unsicherheiten in der Verallgemeinerung von Tätermerkmalen und die Prozesse der Selektion auch die Kriminalprognose. Ferner müssen sozialethische und rechtsstaatliche Belange beachtet werden. Dies legen besonders die Erfahrungen mit der Gefährlichkeitsprognose nahe. Dennoch kann auf die Voraussage nicht verzichtet werden.
Denn überall, wo sich der Mensch nicht dem blinden Zufall oder unerwünschten sozialen Kräften überlassen, sondern sein Leben bewußt und verantwortlich gestalten will, muß er planen. Einer solchen Absicht entspricht ein rationales, zweckorientiertes, gezieltes und, wenn möglich, erfolgreiches Vorgehen. Dieses Bestreben setzt die Kenntnis von Zusammenhängen voraus, um künftige Entwicklungen abschätzen („savoir pour prevoir“ — Comte) und mögliche Gefahren verhindern zu können (,„prediction and control“). „Die Verbindung von Voraussage mit Kontrolle ist symptomatisch. Kontrolle ist die lenkende Beeinflussung und Beherrschung des sozialen Objekts“ (Sontheimer 1965, 21). Daher hat man die empirisch vorgehenden Sozial- und Humanwissenschaften im Gegensatz zu den herkömmlichen Geisteswissenschaften als „Prognosewissenschaften“ bezeichnet. Das Erfahrungswissen über die relevanten Zusammenhänge sollte daher so groß und gesichert sein, daß sich anhand der Kenntnis der Eintritt künftiger Ereignisse voraussagen läßt. Auf diese Weise kann man Gegenmittel ergreifen und Schutzvorkehrungen treffen. Man denke nur an die alltägliche Abschätzung von Risiken in Versicherungswirtschaft und Medizin, ferner an die düstere Kriminalitätsprognose für die nachwachsende Ausländergeneration (sog. soziale Zeitbombe!) oder einfach an unser Verhalten im täglichen Leben. Fast dauernd, wenn auch unbewußt, diagnostizieren und prognostizieren wir und handeln oft danach. Immer jedoch werden erfahrene Sachverhalte und Zusammenhänge dazu benützt, künftiges Verhalten zu steuern. Hierfür ist vor allem wichtig, alle relevanten Informationen zu kennen und sachkundig zu berücksichtigen.
2. Begriff der Kriminalprognose
Schrifttum: Dölling (Hrsg.), Die Täter-Individualprognose. Heidelberg 1995; Gottfredson, Diagnosis, Classification, and Prediction in the Criminal Justice System. In: Criminological Diagnosis. An International Perspective. Lexington/Mass. u.a. 1983, 203-233; Leferenz, Die Kriminalprognose. In: HB der forensischen Psychiatrie. Bd. 2, hrsg. v. Göppinger u.a. Berlin 1972, 1347-1384; Schöch, „Prognosefall“. In: Jur. Studienkurs 1994*, 95-104.
Gezielte und zweckmäßige Handhabung setzt auch im Bereich der Verbrechenskontrolle – in der Strafgesetzpolitik, der polizeilichen Verfolgungstätigkeit, der Strafzumessungspraxis oder im Strafvollzug — neben der Analyse von Sachzusammenhängen und Persönlichkeiten die Prognose voraus. Entsprechend den reichen Anwendungsfällen in der Strafrechtspflege beschränkt man den Begriff der Kriminalprognose im wesentlichen auf Wahrscheinlichkeitsaussagen über das künftige Legalverhalten von Personen (vgl. Leferenz 1972, 1347 ff., Schneider 1987, 308, 312; Eisenberg 1995, 189 ff.,; Göppinger 1997, 191).
Freilich handelt es sich dabei nur um eine wissenschaftliche Konvention. Denn auch kriminalpolitische Prognosen — z.B. über die Effektivität der Entkriminalisierung des Verkehrs- oder Demonstrationsstrafrechts, über die Wirkungen der Kriminalisierung des Drogengebrauchs und der Subventionserschleichung oder die Bekämpfung von Gewaltkriminalität und Terrorismus — sowie Voraussagen über die Verbrechensbewegung bis über das Jahr 2000 hinaus stellen Formen der Kriminalprognose dar (dazu eingehend Kürzinger 1996, 312 ff.; ferner oben 8 24, 3.5). Doch wird eine solche Fragestellung entsprechend den forensischen Bedürfnissen und der strafrechtlichen Ausbildung an der Universität begrifflich überwiegend ausgeklammert.
Als Elemente der täterbezogenen Individualprognose lassen sich Diagnose, Klassifikation und Vorhersage unterscheiden. Dabei bezieht sich die Diagnose auf den Zustand eines bestimmten Täters. Klassifikation hingegen meint die auf der Diagnose beruhende Zuordnung zu einer Kategorie ähnlicher Individuen, während die Voraussage für eine Einschätzung des erwarteten zukünftigen Verhaltens eines Täters auf dessen Klassifikation zurückgreift (Gottfredson 1983, 204 ff.).
Der Schwerpunkt der Prognosepraxis und ihr folgend auch der Prognoseforschung liegt also in den Bereichen der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges. Man denke nur an die spektakulären Triebtäterfälle in Belgien und Bayern im zweiten Halbjahr 1996, die zu einer bislang unbekannten Mobilisierung der Öffentlichkeit geführt haben. Die Voraussage über die künftige Straffälligkeit des Rechtsbrechers bildet dabei eine feste Voraussetzung für die gerichtliche Entscheidung, wenn häufig auch nur implizit. Mit der breiteren Öffnung des Strafrechts für den Zweckmäßigkeitsgedanken aufgrund der Strafrechtsreformgesetze ist die Prognosestellung wichtiger denn je (Schöch 1994, 96). Daher ist es nur folgerichtig, wenn man in der strafrechtlichen Lehrbuch- und Kommentarliteratur in zunehmendem Maße darauf hinweist, daß empirisch gesicherte Prognoseverfahren zumindest als Ergänzung von richterlichen Prognosen etwa bei Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung oder über die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung vom Richter herangezogen werden sollten. Unabhängig davon, ob es sich um die Prognose im Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht handelt, ob es um die Urteils-, Entlassungs- oder Behandlungsprognose geht, soll die Voraussage die strafrechtliche Entscheidungspraxis rationaler, durchsichtiger und wirksamer gestalten. Der explizite Gebrauch von Prognosen ist geeignet, Ermessensspielräume einzuschränken. Die Stellung von Kriminalprognosen dient deshalb nicht nur der Vorbereitung von Entscheidungen, sondern zugleich deren Legitimierung. Ausgangspunkte sind jedoch immer die Straftat und die Täterpersönlichkeit.
3. Anwendungsbereich
Schrifttum: Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht. Zur normativen Relevanz empirischen Wissens und zur Entscheidung bei Nichtwissen. Hamburg u.a. 1983; ders., Dogmatische Grundfragen der bedingten Entlassung und der Lockerungen des Vollzugs von Strafen und Maßregeln. ZStW 102 (1990), 707- 792, Geisler, Prognoseentscheidungen — ein empirisches und entscheidungstheoretisches Problem. In: GS für Kaufmann. Berlin u.a. 1986, 253-266; Kühl/Schumann, Prognosen im Strafrecht — Probleme der Methodologie und Legitimation. RuP 7 (1989), 126-148; Rasch, Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko. In: FS für Blau. Berlin u.a. 1985, 309-325; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar. München 1997”.
Die Kriminalprognose weist einen breiten Anwendungsbereich auf. Bekannte und wichtige Anwendungsfälle liegen der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 Abs. 1 StGB) und der bedingten Entlassung aus dem stationären Strafvollzug (§§ 57 Abs. 1, 57 a StGB, 454 StPO) zugrunde. Ferner setzen die Verhängung und Bestimmung von Maßregeln der Besserung und Sicherung gem. §§ 61 ff. StGB jeweils eine positive Gefährlichkeitsprognose voraus. Das Gericht ordnet die Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus nur dann an, wenn der Täter „für die Allgemeinheit gefährlich ist“, oder die Sicherungsverwahrung, wenn „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten … für die Allgemeinheit gefährlich ist“. Um die Gefährlichkeitsprognose zu gewährleisten, wird sie vom Gesetz teilweise kraft Vorliegens bestimmter Tatsachen vermutet (z.B. in § 69 Abs. 2 StGB; zum Ganzen Schönke/Schröder/ Stree 1997, § 56, Rn. 14 ff.).
Außerdem machen das Jugendstrafrecht (insb. 88 5, 17 ff., 88 £. JGG), das Strafverfahrensrecht (§ 112 a Abs. 1 StPO), das Strafvollzugsrecht (88 7 Abs. 1,9 ff., 11 Abs. 2, 13 StVollzG) und das Punkteverfahren für Verkehrstäter nach § 15 b StVZO Prognosen notwendig. Immer jedoch handelt es sich bei der Kriminalprognose um die angewandte Erklärung kriminologischer Befunde, um ein Stück „Herrschaftswissen“, da sie in den Dienst der Verbrechenskontrolle, partiell durch Resozialisierung des Rechtsbrechers, gestellt wird. Damit wirft sie auch ethische Fragen auf, sei es bezüglich der Zulässigkeit von Maßnahmen oder der Konsequenzen.
Angesichts begrenzter empirischer Erkenntnisse, vor allem über das breite Mittelfeld der Probanden, aber auch über die Extremgruppe der Insassen des Maßregelvollzuges (vgl. Rasch 1985, 309 ff.), deren künftiges Legalverhalten sich nach den vorhandenen Prognosemethoden nur ungenau abschätzen läßt, erhebt sich immer wieder Kritik. So wird gefordert, den Anwendungsbereich der Kriminalprognose im Strafrecht einzuschränken. Für die überwiegende Zahl der Täter wird dazu vorgeschlagen, unsichere Prognosemethoden durch andere Kriterien wie Geeignetheit und Erforderlichkeit der jeweiligen Sanktionen zu ersetzen (Frisch 1983, 95 ff., 127 ff.). Hierbei wird jedoch verkannt, daß Eignung und vor allem Notwendigkeit einer Sanktion sich erfahrungswissenschaftlich kaum weniger schwierig beurteilen lassen und die Begründungen auf die Elemente der Kriminalprognose nicht verzichten können. Dies gilt insbesondere für die Gefährlichkeitsprognose auf dem Gebiet des Maßregelrechts und die Mißbrauchsprognose bei der Gewährung von Vollzugslockerungen. Es handelt sich um Anwendungsfälle, welche Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend beschäftigen (dazu eingehend unten 4.).
4. Entwicklung und Stand der Prognoseforschung
Schrifttum: Bock, Die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse und ihre Bedeutung für die Kriminalprognose. In: Die Täter-Individualprognose, hrsg.v. Dölling. Heidelberg 1995, 1-28; Fenn, Kriminalprognose bei jungen Straffälligen. Freiburg 1981; Frey, Der frühkriminelle Rückfallverbrecher. Basel 1951; Glueck/Glueck (eds.), Identification of Predelinquents. New York 1972; Göppinger, Angewandte Kriminologie. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin u.a. 1985; Höbbel, Bewährung des statistischen Prognoseverfahrens im Jugendstrafrecht. Göttingen 1968; Meyer, Rückfallprognose bei unbestimmt verurteilten Jugendlichen. Bonn 1956; Sarnecki u.a., Predicting Social Maladjustment. Stockholm Boys Grown Up. Stockholm 1985; Schöch, Prognosefall. In: Jur. Studienkurs 1994, 95-104; Schultz, Zum Problem der Prognose in der Bewährungshilfe. Köln 1975; Spieß, Aussetzungspraxis, Bewährungsprognose und Bewährungserfolg bei einer Gruppe jugendlicher Probanden. In: Empirische Kriminologie, hrsg. v. d. Forschungsgruppe Kriminologie. Freiburg 1980, 425-445.
Hat mit den zahlreichen Anwendungsfällen prognostischer Aussagen im Strafrecht der „Zweckgedanke“ seinen späten gesetzlichen Ausdruck gefunden, so bleiben Qualität und Durchsetzung nicht nur von der Strafrechtspflege, sondern auch von der wissenschaftlichen Zurüstung abhängig, und d.h. zunächst von der kriminalprognostischen Konkretisierung. Die heutige Prognoseforschung teilt freilich den Bedeutungsverlust des „ätiologischen Paradigmas‘“ oder der nur täterorientierten Analyse.
Die Vielzahl der Ansätze und Einzeluntersuchungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die prognostischen Instrumente im breiten Mittelfeld der Untersuchungs- und Bewährungsprobanden ungenau blieben. Um erstens die Prognostizierbarkeit der Fälle und zweitens die Treffsicherheit der Voraussagen zu erhöhen, bemühte man sich um die weitere Verwissenschaftlichung der Kriminalprognose. Man versuchte, bessere Verfahrensweisen zu entwickeln. Damit war der Methodenstreit auch in der Kriminalprognostik fest angelegt. Weil Juristen, Psychologen und Psychiater in gleicher Weise die Verbesserung der Kriminalprognose erstrebten, handelt es sich hier zugleich um einen verdeckten Streit um die Sachverständigenkompetenz.
Die Praktiker der Strafrechtspflege gehen allgemein von einer „intuitiven Prognose“ aus. Sie lassen sich dabei von sogenannten Alltags- oder naiven Verhaltenstheorien über menschliches Handeln leiten. Derartige Alltagstheorien und ihr Einfluß auf das richterliche Entscheidungsverhalten sind bis jetzt erst selten in das Blickfeld kriminologischer Forschung gerückt. Es besteht freilich begründeter Anlaß zu der Vermutung, daß die wesentlichen Faktoren, die Richter und Staatsanwälte ihren Prognosen zugrunde legen, mit den auf der Basis des Mehrfaktorenansatzes gewonnenen Prognosefaktoren übereinstimmen (siehe Fenn 1981, 133 ff.). Diese allgemeinen nur auf wenige Merkmale reduzierten Informationen — vor allem der Legalbiographie und der sozialen Integration als Indikatoren entnommen — entsprechen in hohem Maße dem allgemeinen Menschenverstand. Es handelt sich wohl um „geronnene Erfahrung“. Jedoch ist das Verfahren der intuitiven Prognose nicht gegen den Einfluß von individuellen Werthaltungen und Einstellungen abgesichert. Ein solches Vorgehen kann zu richtigen Ergebnissen führen, bewirkt diese aber keinesfalls notwendigerweise oder in der Mehrzahl der Fälle (irrig deshalb KG NJW 1972, 2228; 1973, 1420). Daher kann nicht verwundern, daß diese Methode, obwohl nicht minder auf Lebens- und Berufserfahrung gegründet, den’stärksten wissenschaftlichen Einwänden ausgesetzt ist.
Strenggenommen handelt es sich bei der sogenannten intuitiven Prognose um keine wissenschaftliche Methode, sondern um ein selbständig erarbeitetes Verfahren der Praktiker in Strafrechtspflege, Bewährungshilfe und Strafvollzug. Deshalb verdient dieses Verfahren auch keine besondere Beachtung mit Ausnahme der Tatsache, daß es mangels besserer wissenschaftlicher Zurüstung weit verbreitet ist (nach Fenn 1981, 90 wenden nur 3 bis 5% der befragten Strafrichter und Staatsanwälte wissenschaftliche Prognoseverfahren an), zumal die Heranziehung von speziellen Sachverständigen in vielen Fällen zu zeitraubend und kostenaufwendig wäre.
Wissenschaftliche Prognoseverfahren gliedern sich der herkömmlichen Übung folgend in die klinische und die statistische Methode (dazu eingehend Göppinger 1997, 194 ff.). Als dritte Technik wird man noch die Strukturprognostik, die in der Persönlichkeitsforschung der Herausarbeitung von Syndromen oder Konstellationen entspricht, hinzuzählen müssen. Dieses letzte Verfahren bildet eine Art Synthese der beiden erstgenannten.
Die klinische Methode oder empirische Individualprognose will die Prognoseentscheidung durch Untersuchungen des Lebenslaufes, der Familien-, Arbeitsund Freizeitverhältnisse des Probanden, ferner durch gezielte Explorationen und Anwendungen psychodiagnostischer Tests empirisch stützen. Sachkundig hierfür sind speziell geschulte und erfahrene Psychiater und Psychologen. Allgemein wird das erwähnte Vorgehen durch eine körperliche Untersuchung und weitere klinische Hilfsuntersuchungen ergänzt. Die Befunde bestimmen dann, wenn sie mit dem kriminologischen Bezugswissen verknüpft werden, die Kriminalprognose.
Die Verfahren dieser Methode leiden daran, daß sie empirisch durchweg an kriminologischen Extremgruppen gesichert wurden, daß daher ihre Verläßlichkeit im Mittelfeld der Untersuchungsprobanden nachläßt. Im übrigen wurden sie i.d.R. anhand kleinerer Zahlen von Untersuchungspersonen erprobt, deren Auswahl nicht zufällig war. Auch wurde die klinische Methode nur selten einer ähnlichen Effizienzkontrolle ausgesetzt wie die statistischen Prognoseverfahren. Schließlich beschränkt sich die Handhabung der klinischen Methode auf einen kleinen Kreis von Sachverständigen und ist aus Gründen der Kapazität und Prozeßökonomie für die große Zahl der Prognoseentscheidungen wenig praktikabel.
Die statistische Prognose will aufgrund der Häufung von Merkmalen der Rechtsbrecher eine Voraussage treffen. Dabei liegt ihr die Überlegung zugrunde, daß mit der Zunahme kriminogen gedachter Faktoren auch die Zahl der Schlechtpunkte wächst und damit eine ungünstige Prognose rechtfertigt. Die benutzten prognostischen Faktoren sind durchweg im Wege empirischer Verallgemeinerung der Analyse von Lebensläufen einzelner Rechtsbrechergruppen entnommen. Wegen der größeren Ergiebigkeit an gesuchten Faktoren wurden bevorzugt Unterlagen ausgewertet, die Rückfalltäter betrafen. Die nach Auffassung der Untersucher zwischen Rückfälligkeit und Rechtskonformität unterscheidungsfähigsten Faktoren physischer und vor allem psychischer und sozialer Art wurden in einer oftmals eklektischen Vorgehensweise aneinandergereiht und auf ihre empirische Bedeutung mittels unterschiedlicher statistischer Verfahren untersucht. Die danach aussagekräftigen Faktoren für die Straffälligkeit wurden in Zahlen ausgedrückt und zu sogenannten Prognosetafeln zusammengestellt. In der praktischen Anwendung werden vom Benutzer dieser Tafeln zunächst die relevanten Merkmale aus den Akten des Straffälligen oder Untersuchungsprobanden erhoben, der Prognosetafel entsprechend bewertet und eine Gesamtzahl ermittelt. Je nach deren Größe, und das heißt nach Zahl der sogenannten Gut- oder Schlechtpunkte, ist die Prognose günstig oder ungünstig. Zweck der Prognosetabellen oder -tafeln ist es, den Praktikern der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges ein Hilfsmittel zur Prognosestellung zu liefern. Ebenso wie beim klinischen Verfahren gibt es auch bei der statistischen Methode mehrere Techniken.
Fraglos liegt eine Bestätigung des der statistischen Prognose zugrundeliegenden Prinzips darin, daß die Rückfallquote von Risikogruppe zu Risikogruppe mit der Zahl der Rückfallfaktoren wächst (Schultz 1975, 96 ff.). Aber die Schwäche derartiger statistischer Verfahren besteht ebenso wie jene der klinischen Methoden in der nur unsicheren prognostischen Aussagekraft im sogenannten Mittelfeld der Straftäter. Außerdem fällt auf, daß die statistischen Techniken durchweg ungünstiger prognostizieren, als das spätere Legalverhalten der fraglichen Personen zeigt. Die mangelnde Treffsicherheit der statistischen Methode beruht wohl im wesentlichen auf einem vereinfachten Verständnis der Kriminalität in Anlehnung an das pragmatische Mehrfaktorenkonzept. Dieses Vorgehen erweist sich zwar in Fällen gravierender Sozialisationsdefekte aufgrund handfester Indikatoren als aussagekräftig. Es versagt aber dort, wo der Sozialisationsdefekt weniger sichtbar wird oder wo Konflikte gegenläufiger Sozialisationsrichtungen, etwa Elternhaus gegen Altersgruppe, auftreten. Im übrigen leidet es an der geringen Beachtung der voraussichtlichen Sanktionswirkung (Schöch 1994, 100) und der Nachentlassungssituation, ferner an der prinzipiellen Nichtberücksichtigung jeglichen Spontanhandelns. Denn wir wissen heute, daß zwar die große Zahl junger Menschen irgendwann einmal oder gelegentlich delinquiert, es jedoch im übrigen versteht, auch ohne folgenreiche Kontakte mit Polizei und Justiz sozial unauffällig und überwiegend rechtstreu zu leben. Das in den Prognosetafeln zum Ausdruck gelangende Bild der Straffälligkeit trägt sowohl der unterschiedlichen Komplexität und Dynamik des Rechtsbruchs als auch der vielschichtigen Umweltlage in der Risikozeit nicht genügend Rechnung.
An dieser starren Mechanik krankt insbesondere die Frühprognose von potentiellen Tätern im Kindesalter. Das Ehepaar Glueck meinte zwar, anhand von drei Faktoren (Aufsicht durch Mutter, Erziehung und Bestrafung durch Mutter, Zusammenhalt innerhalb der Familie) potentielle Delinquenten schon im Alter von zwei bis drei Jahren erkennen zu können. Doch andere Untersuchungen konnten die Brauchbarkeit der bisherigen Frühprognose nicht bestätigen. Wenn es irgendwo eine Eigendynamik sozialer Voraussagen („self-fulfilling prophecy“) gibt, so böte sich hier ein reiches Anwendungsfeld. Auf diese Weise aber entstünde die Gefahr, daß Diagnose und Prognose erst die soziale Eigendynamik auslösen und in Gang halten, ja daß sie erst dadurch einen Stigmatisierungsprozeß einleiten. Als dritte Methode zur wissenschaftlichen Gewinnung von Voraussagen will die Strukturprognose sowohl die Mängel der klinischen als auch der statistischen Methode dadurch vermeiden, daß sie beide Wege in gewisser Hinsicht miteinander verbindet. Die Unterschiedlichkeit der straffälligen Population soll durch spezifische Strukturen erfaßt werden und in den Prognosetafeln Ausdruck finden. Jedoch haben sich bis heute auch die Strukturprognosetafeln als unstabil erwiesen (dazu eingehend LB § 88).
Beachtung verdient ferner der Versuch Göppingers, mit der Methode der idealtypisch- vergleichenden Einzelfallanalyse ein prognostisches Instrumentarium zu schaffen, das als Ergänzung zur klinischen Prognose gedacht ist und allen in der Strafrechtspflege tätigen Berufsgruppen offenstehen soll (dazu eingehend Göppinger 1997, 411 ff.). Aufbauend auf die Ergebnisse der Tübinger Jungtäter- Vergleichsuntersuchung wurde eine Anleitung zur Erstellung einer kriminologischen Diagnose entwickelt, die besonders für Fälle der Eigentums- und Vermögenskriminalität von psychisch unauffälligen Tätern mit sozial auffälligem Lebenszuschnitt geeignet sein soll (dazu Göppinger 1985, 16 ff., 150 ff.). Ferner wird eine Anwendung der Einzelfallanalyse als Instrument der Früherkennung drohender Straffälligkeit für möglich gehalten (vgl. Bock 1995, 18 ff., Göppinger 1997, 456 ff.). Allerdings bleiben Integration und Gewichtung der vielfältigen Befunde schwierig und setzen eine gewisse Erfahrung im Umgang mit dem Menschen voraus. Da das anspruchsvolle prognostische Instrumentarium zudem zeitlich recht aufwendig sein dürfte, stellt sich die Frage nach der Praxistauglichkeit der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse. Im übrigen fehlt es an einer retrospektiven oder prospektiven Überprüfung der Methode (vgl. dazu Schöch 1994, 103).
5. Zusammenfassung und Kritik
Schrifttum: Bischof, Zum weiteren Verbleib strafrechtlich Untergebrachter im psychiatrischen Krankenhaus nach Aussetzung des Maßregelvollzugs. Forensia 8 (1987), 108-112; Farrington u.a., Criminological Prediction: The Way Forward. In: Prediction in Criminology, ed. by Farrington u.a. New York 1985, 258-269; Frisch, Unsichere Prognose und Erprobungsstrategie —- am Beispiel der Urlaubsgewährung im Strafvollzug. StV 8 (1988), 359-367; Hinz, Gefährlichkeitsprognose im Maßregelvollzug. Recht und Psychiatrie 1986, 122-127; Horstkotte, Strafrechtliche Fragen zur Entlassungspraxis nach § 67 d Abs. 2 StGB. MschrKrim 69 (1986), 332-341; Jung, Die Prognoseentscheidung zwischen rechtlichem Anspruch und kriminologischer Einlösung. In: FS für Pongratz. München 1986, 251-261; Lösel, Prognose und Prävention von Delinquenzproblemen. In: Psychologische Prävention, hrsg. v. Brandstädter u.a. Bern u.a. 1982, 197-239; Mende/ Schüler-Springorum, Aktuelle Fragen der forensischen Psychiatrie. In: Brennpunkte der Psychiatrie, hrsg. v. Kisker u.a. Berlin u.a. 1990, 303-338; Rasch, Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko. In: ES für Blau. Berlin u.a. 1985, 309-326; Schöch, „Prognosefall“. In: Jur. Studienkurs 1994°, 95-104; Volbert, Zwischenfälle im Maßregelvollzug. Wie kalkulierbar ist das Risiko? MschrKrim 69 (1986), 341-348.
Insgesamt läßt sich folgendes feststellen: Es bestehen theoretische und praktische Notwendigkeiten zur Voraussage von Legalverhalten und Kriminalität. Im Hinblick auf die forensischen Aufgaben ist besonders die empirische Individualprognose bedeutsam. Urteils-, Entlassungsund Behandlungsprognose bestimmen hier den Anwendungsbereich. Diesen rechtspolitischen Bedürfnissen steht nicht entgegen, daß gegenwärtig in der internationalen Kriminologie ebenso wie die Täteranalyse auch die Prognoseforschung keinen breiten Raum einnimmt. Doch abgesehen von der Beurteilung von Extremgruppen unter den Rechtsbrechern teilt die Prognose die Unsicherheiten der Täterdiagnose. Zwischen beiden existiert ein Zusammenhang insofern, als die Diagnose der Prognose vorausgeht und logisch kein Unterschied zwischen der Erklärung vergangenen Verhaltens und der Voraussage künftigen Verhaltens besteht. Die Prognose kann also keine größere Genaui gkeit erreichen als die Persönlichkeitsbeurteilung. Dies zeigt sich besonders an der verhältnismäßig treffsicheren Leistungsprognose im Gegensatz zur unsicheren Voraussage sozialen Verhaltens. Soweit die Nachprüfung kriminologisch- psychiatrischer Individualprognosen relativ verläßliche Ergebnisse ausweist, ist die Verallgemeinerungsfähigkeit derartiger Befunde auf vergleichbare Extremgruppen der straffälligen Population begrenzt. Für die herkömmlichen Verfahren der statistischen Methode gilt, daß sie weder absolut gesehen genügend verläßlich noch dem „intuitiven“ Vorgehen gegenüber überlegen sind. Auch wenn zumindest ältere Tafeln nicht einmal treffsicherer als der Zufall vorauszusagen vermögen, sO haben doch neuere Arbeiten diskriminative Werte erzielt, die über die Kenntnis von A-priori-Wahrscheinlichkeiten der Rückfälligkeit hinausgehen. Freilich ist hiermit noch nicht die Überlegenheit derartiger Verfahren &egenüber dem „intuitiven“ Vorgehen dargetan. Die Mängel liegen vor allem in der prospektiven Validierung, der geringen theoretischen Fundierung und der mangelnden Berücksichtigung jener Auswirkungen, die durch kriminalprognostische Entscheidungen bei den Straffälligen induziert werden. Allerdings steht der Behebung des Theoriedefizits die Schwierigkeit entgegen, daß nach ihrem gegenwärtigen Stand kriminologische Theorie (dazu oben § 9, 1) kaum in der Lage ist, die Auswahl der aussagekräftigen Prädiktoren umfassend zu leiten. Auch die als Korrektiv geforderte „ganzheitliche Betrachtung“ liefert kein überlegenes Verfahren. Denn es wird nicht erkennbar, worauf sich genau die Prognosestellung stützt. Die empirische Verallgemeinerung und Überprüfung werden hier erschwert.
Von den verschiedenen wissenschaftlichen Wegen zur Voraussage dürfte — gemessen an den praktischen Möglichkeiten und Bedürfnissen — nur die Strukturprognoseforschung weiterführen und aussichtsreich sein. Insofern trifft sie sich mit den neueren Tendenzen der Persönlichkeitsforschung in der Kriminologie (siehe oben §§ 27-30). Für die Praxis der Gegenwart und der nahen Zukunft bleibt einstweilen bloß die reichere Heranziehung von Sachverständigen für die empirische Individualprognose übrig, insbesondere in Fällen der Behandlung, aber auch der bedingten Entlassung. Die Übertragbarkeit auf Fälle des sogenannten Mittelfeldes, die nicht vom psychiatrischen Erfahrungsgut gedeckt werden, erscheint jedoch in ihrer Gültigkeit fraglich und ungesichert.
Problematisch gestaltet sich die Gefährlichkeitsprognose auf dem Gebiet des Maßregelrechts der §§ 61 ff. StGB. Dabei nimmt die Prognose im Rahmen der Bestimmung der Aussichtslosigkeit einer Entziehungskur nach § 64 Abs. 2 StGB eine gewisse Sonderstellung ein. Denn zum einen führt etwa bei der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine negative Prognose zu einschneidenden Konsequenzen, die im Einzelfall bis zur lebenslangen Unterbringung — überdies generell unter schlechteren Bedingungen als jenen des Strafvollzugs — reichen. Zum anderen bringt die zwangsläufig schwierige Probandenstruktur im Maßregelvollzug zusätzliche Unsicherheiten mit sich. Angesichts der komplizierten Rechtslage und der Sensibilität des Bereiches neigt man wohl manchmal dazu, die tatsächliche Gefährlichkeit zu überschätzen (Rasch 1985, 309 ff.) und vorschnell eine negative Prognose zu erstellen. Deshalb wird das gelegentlich zu beobachtende „naive Zutrauen“ in die Fähigkeit der Experten, künftiges Verhalten vorauszusehen sowie die Gefährlichkeit von Menschen zu bestimmen und zu quantifizieren, kritisiert (Horstkotte 1986, 333). Allerdings gibt es auch gegenteilige Fälle mit folgenschwerer Unterschätzung der Rückfallgefahr. Dies gilt besonders für den Anwendungsbereich der Entlassungsprognose, während die Einweisungsprognose diesen speziellen Schwierigkeiten nicht in demselben Maße ausgesetzt ist. Im Rahmen der Entlassung äußert sich die Prognose als „kalkuliertes Risiko“ (Rasch 1985, 319). Das Gesetz verlangt allerdings keine volle Gewähr künftigen Wohlverhaltens, keine absolut sichere Prognose (Horstkotte 1986, 338), was ohnehin unmöglich wäre. In den Grenzen der Verantwortlichkeit kommt der Erprobung vielmehr der Charakter eines Experimentes zu; dabei dienen Vollzugslockerungen der Erprobung der Belastbarkeit unter erweiterter Bewegungsfreiheit (zur Erprobungsstrategie Frisch 1988, 361 ff.), die Aussetzung der Maßregel der Erprobung in Freiheit (Horstkotte 1986, 337).
Freilich, nur der Rechtsbrecher, der auch von den Einrichtungen der strafrechtlichen Sozialkontrolle erfaßt wird, gibt besondere Veranlassung zur Persönlichkeitsbeurteilung und Kriminalprognose; nur er wird sanktioniert. Mögen die Einschätzungen hinsichtlich der Täterpersönlichkeit und die kriminalprognostischen Folgerungen auch knapp und flüchtig sein, immer bestimmen sie Auswahl und Verhängung der Kriminalsanktionen mit oder liegen ihnen schon implizit zugrunde.
§ 44 Strukturwandel des kriminalrechtlichen Sanktionensystems
Schrifttum: Heinz, Die Wechselwirkungen zwischen Sanktionen und Rückfall bzw. Kriminalitätsentwicklung. In: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, hrsg.v. Bundesministerium der Justiz. Wien 1996, 1-163; Hirsch, Bilanz der Strafrechtsreform. In: GS für Kaufmann. Berlin u.a. 1986, 133-165; Horstkotte, Rückblick auf die Strafrechtsreform von 1969: Erwartungen, Erfolge, Enttäuschungen. BewHi 31 (1984), 2-13; Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte. Bern 1992; Schöch, Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung. ZStW 92 (1980), 143-184; Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Stuttgart u.a. 1991; Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis. Eine rechtspolitische und statistische Untersuchung der Straf- und Jugendrechtsfolgen. Entwicklung von 1945-1980. Göttingen 1983.
Welche Beweggründe veranlaßten den Gesetzgeber in der Nachkriegszeit, das Sanktionensystem neu zu gestalten? Im Hinblick auf den Grundrechtsgehalt der Verfassung sollte das Strafrecht vor allem rechtsstaatlicher, verhältnismäßiger und humaner werden. Dabei gewann auch der Gedanke einer europäischen Rechtsangleichung an Bedeutung, waren doch damals im Ausland freiheitsentziehende Sanktionen schon zum Teil erheblich eingeschränkt worden. Deshalb sollte durch Zurückdrängen des Freiheitsentzuges überflüssiges Leiden vermieden sowie der Rückfall durch Behandlung in Freiheit und nur hilfsweise in Unfreiheit verhütet werden
Diese allgemeinen und grundsätzlichen kriminalpolitischen Erwägungen führten zu dem sanktionenrechtlichen Programm, die kurze Freiheitsstrafe zurückzudrängen, der Geldstrafe Priorität bei der strafrechtlichen Sozialkontrolle im Bereich der unteren und mittleren Kriminalität einzuräumen, die Freiheitsstrafe zu vereinheitlichen sowie den Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung zu erweitern.
Bei der Zieldiskussion und programmatischen Konkretisierung spielte der Resozialisierungsgedanke eine wichtige Rolle (vgl. Hirsch 1986, 160), auch wenn er zunächst nirgends ausdrücklich normiert wurde. Erst mit Einführung des Strafvollzugsgesetzes (insbesondere §§ 2 f. StVollzG) fand er seinen gesetzlichen Ausdruck. Schon zwischenzeitlich hatte sich der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung die Neuorientierung der Strafziele mit der neuen Bedeutung präventiver Strafzwecke zu eigen gemacht, wonach „die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist“ (BGHSt 24, 42, Urteil v. 8.12.1970).
Insgesamt lassen sich die Wandlungen durch drei Merkmale kennzeichnen:
® Bedeutungsverlust freiheitsentziehender Kriminalsanktionen durch wachsenden Legitimationsdruck, Beschränkung und Vollzugslockerungen, ® Vordringen ambulanter Sanktionsmittel, insbesondere der Strafaussetzung zur Bewährung und der sogenannten informellen Sanktionierung, sowie ° Siegeszug der Geldstrafe.
Versucht man die gegenwärtige Phase der Strafrechtsentwicklung auf eine kennzeichnende Formel zu bringen, so könnte man ebenso von einem begrenzten Schuldstrafrecht wie gemäßigten Zweckstrafrecht sprechen. Zwar ist die Theorie der Verbrechenskontrolle, die der gegenwärtigen Kriminalpolitik implizit zugrunde liegt, vielschichtig strukturiert, da sie als diffuse Vereinigungstheorie verschiedene Strafziele, Strategien und Mittel zuläßt. Jedoch sind die Kontroll- und Sanktionsstrategien der Praxiswillkür insoweit entzogen, als die Gesetze innerhalb eines Handlungsspielraums klare Prioritäten und Handlungsanweisungen vorschreiben — etwa Vermeidung von Freiheitsstrafen zugunsten ambulanter Kriminalsanktionen (§§ 46 Abs. 15. 2,46 a,47,56 StGB) -, die durch eine relativ gleichförmige professionelle Sozialisation der Juristen innerhalb einer begrenzten Variationsbreite auch einheitlich befolgt werden.
Eine Analyse von Soll und Haben der Strafrechtsreform unter dem Aspekt des Sanktionensystems kann heutzutage auf die Erörterung von gemeinnütziger Arbeit und Wiedergutmachung durch den Täter nicht verzichten. Daß diese Gesichtspunkte in der Zielsetzung des Reformgesetzgebers Ende der sechziger Jahre keine oder nur geringe Berücksichtigung gefunden haben, ist nicht zu leugnen. Doch läßt sich andererseits nicht weniger übersehen, daß verallgemeinerungsfähige Erfahrungen über gemeinnützige Arbeit, Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich in den sechziger Jahren noch fehlten und selbst gegenwärtig nur eingeschränkt vorliegen. Diese ermutigen bestenfalls zum Experimentieren im Rahmen des Jugendstrafrechts und zur Berücksichtigung im Strafverfahren oder im Zusammenhang mit der Strafaussetzung zur Bewährung bzw. der Verfahrenseinstellung gem. § 153 a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO sowie im Rahmen der Strafzumessung (siehe etwa §46a StGB). Ob und inwieweit die Erfahrungen des hessischen Modells zur gemeinnützigen Arbeit oder die Bestrebungen des schweizerischen Reformgesetzgebers weitergehende Forderungen zur Veränderung des Sanktionensystems rechtfertigen, wird sich erst noch zeigen müssen. Aus der mangelnden Antizipation derartiger Entwicklungen, die auch gegenwärtig noch als unüberschaubar gelten, läßt sich jedoch eine Kritik am Reformgesetzgeber des Jahres 1969 nicht herleiten.
Dort aber, wo der Reformgesetzgeber innerhalb seiner Ziele und seines Programms zu zaghaft und ängstlich oder auf falschem Wege zu sein schien, hat er inzwischen einige Korrekturen vorgenommen: Die Anwendung der Strafaussetzung zur Bewährung bzw. die Strafrestaussetzung wurden erleichtert, die bedingte Entlassung für zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte gem. § 57 a StGB eingeführt und die Rückfallverschärfung nach § 48 StGB a.F. aufgehoben. Freilich sei dabei nicht verkannt, daß schweizerische Reformbestrebungen über das bislang erzielte Reformergebnis hinausgreifen. Folgt man den neueren Einstellungsbefragungen und der Akzeptanz der geltenden Sanktionsstrategien durch die Öffentlichkeit, so kann man feststellen, daß im ganzen betrachtet die Bevölkerung Reformziele und Sanktionenpraxis mitträgt (siehe dazu oben § 15).Dem steht die mitunter mißbilligte Praxis der Vollzugslockerungen und bedingten Entlassungen nicht entgegen. So gesehen ist auch eine behutsame Fortschreibung bisheriger Entwicklungen zu erwarten. Die Strafrechtsreform hat uns den Anschluß an die internationale Reformentwicklung, vielleicht sogar den Durchbruch gebracht. Mag die partielle Behandlungsorientierung in manchen Teilen der Welt als ‚‚verspätet“ gelten, so sind über die Richtigkeit und den
Erfolg dieses Vorgehens die Würfel noch keineswegs gefallen. Für Praxis und Vollzug der Sanktionen in Deutschland jedoch hat sie Anstöße, Erfahrungen, Humanisierung und im ganzen einen gewaltigen Schritt nach vorn bewirkt. Die Ausgestaltung der Rechtsstellung des Strafgefangenen und des Beschwerdesystems ist ferner eine nicht gering zu veranschlagende Eigentümlichkeit des deutschen Sanktionenvollzugs, die freilich nicht dazu dienen sollte, inhaltliche Innovationen des Sanktionensystems entbehrlich zu machen. Der deutliche Strukturwandel im Sanktionensystem seit der Jahrhundertwende, insbesondere aber in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Hinwendung zu ambulanten Sanktionen und der Einschränkung von Freiheitsstrafen (vgl. Tab. 13), hat zu unterschiedlichen Interpretationen Anlaß gegeben. Die Deutungen reichen von der Ausweitung sozialer Kontrolle einerseits bis zu einem Zuwachs an Freiheit, Humanisierung, ja „Zivilisierung‘ der Macht bis zum „Machtverfall‘ des Staates andererseits. Jedoch wird man der Entwicklung kaum gerecht, wenn man sie eindimensional verengt sowie den internationalen Harmonisierungsdruck vernachlässigt.
Die beschriebenen Wandlungen lassen sich erwartungsgemäß an der Praxis ablesen. Zur Kennzeichnung der Strukturen muß es in diesem Einführungsbuch allerdings genügen, wenn die wichtigsten Formen und Ausprägungen der Kriminalsanktionen erörtert werden (vgl. im übrigen die Lehrbücher für Kriminologie und Strafvollzug).
§45 Praxis kriminalrechtlicher Sanktionen
1. Lebenslange Freiheitsstrafe
Schrifttum: Goeman, Das Schicksal der Lebenslänglichen. Berlin 1977; Jescheck, Die lebenslange Freiheitsstrafe. In: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, hrsg. v. Jescheck. Baden-Baden 1983/84, 2005-2018; Jescheck/Triffterer (Hrsg.), Ist die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig? Dokumentation über die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 22. und 23. März 1977. Baden-Baden 1978; Jung/Müller- Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug — Wie lange noch? Bonn 1994; Kaiser, „Lebenslänglichenfall“. In: Jur. Studienkurs 1994*, 134-145; Kerner, Tötungsdelikte und lebenslange Freiheitsstrafe. ZStW 98 (1986), 874-918; Laubenthal, Lebenslange Freiheitsstrafe. Vollzug und Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung. Lübeck (um 1987); Maguire, Dangerousness and the Tariff: The Decisionmaking Process in Release from Life Sentences. BritJ Crim 24 (1984), 250-268; Schultz, Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Bern 1985; Sessar, Die Umgehung der lebenslangen Freiheitsstrafe. MschrKrim 63 (1980), 193-206; Smith (ed.), Life-Sentence Prisoners. London 1979; Snacken u.a., Changing Prison Populations in Western Countries: Fate or Policing. European Journal of Crime 3 (1995), 18-53; Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe über Tatschuld und positive Generalprävention. MschrKrim 73 (1990), 65-81; Wulf, Kriminelle Karrieren von „Lebenslänglichen“. Eine empirische Analyse ihrer Verlaufsformen und Strukturen anhand von 141 Straf- und Vollzugsakten. München 1979.
Das deutsche Strafgesetzbuch kennt seit dem 1. April 1970 und das österreichische Strafgesetzbuch seit dem 1. Januar 1975 nur noch einheitlich die „Freiheitsstrafe“. Diese ist entweder lebenslang oder zeitlich begrenzt (§ 38 Abs. 1 dtStGB; § 18 Abs. 1 öStGB). Nach Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG ist die lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik die schwerste Strafe, so als absolute Strafe für Mord und Völkermord, freilich mit der Möglichkeit einer Strafmilderung. Sie bringt in Androhung und Verhängung den Schuldvergeltungsgedanken ungebrochen und damit am entschiedensten zum Ausdruck. Für ihren Vollzug wiederum gilt der Resozialisierungsgedanke, allerdings begrenzt durch Sicherungsbedürfnis (§ 13 Abs. 2 StVollzG) und besondere Schuldschwere (§ 57 a Abs. 1 StGB). Dennoch sind ihre Androhung, Verhängung und ihr Vollzug problematisch geblieben.
Die Verminderung der natürlichen Lebensfunktion, der Persönlichkeitsabbau, die Regression in infantile Stadien und die zunehmende Lebensuntüchtigkeit von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten sind vielfach beschrieben worden. Demgegenüber nimmt die neuere Forschung (Goeman 1977, 57; Wulf 1979, 239 ff., 254) nicht mehr wie bisher an, daß der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe einer allmählichen Zerstörung der Persönlichkeit gleichkommt. Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß aufgrund der Gnadenpraxis ein Großteil der sogenannten „Lebenslänglichen“ im Bundesgebiet nach etwa 20 Jahren, im Ausland zum Teil nach zehn Jahren, bedingt entlassen wurde. Neuere Erhebungen über ungünstige prognostische Fälle, also sozialgefährlich bleibende Lebenslängliche, die keine Aussicht auf bedingte Entlassung haben, gibt es aber kaum (siehe im einzelnen BVerfGE 34, 187 ff., und den Sammelband von Jescheck/Triffterer 1978). Immerhin läßt der englische Sammelbericht von Smith (1979) über „Lebenslängliche‘ erkennen, daß diejenigen Inhaftierten, welche die längsten Zeiten verbüßen müssen, häufig Symptome geistiger Störung zeigen, und zwar schon zum Zeitpunkt der Verurteilung.
Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht die lebenslange Freiheitsstrafe im Ergebnis gebilligt (weiterhin kritisch, aber wenig überzeugend Weber 1990, 65 ff.), obschon mit Auflagen an den Gesetzgeber. Daraufhin wurde mit Einführung des § 57 a in das StGB im Jahre 1982 auch bei der lebenslangen Freiheitsstrafe die Strafrestaussetzung gesetzlich vorgesehen und die bis dahin schon weithin übliche Gnadenpraxis durch Einführung der sogenannten Justizlösung überwiegend auf eine gerichtlich überprüfbare Rechtsgrundlage gestellt. Die mögliche Entlassung wird heute als festes Kalkül in das Bedingungsgefüge der Haftschicksale einbezogen, so daß die lebenslange Freiheitsstrafe praktisch als Freiheitsstrafe unbestimmter Dauer erscheint. Dabei treten aber die Fälle mit ungünstiger Kriminalprognose allzu leicht zurück. Wird der fortdauernde Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe mit der besonderen Gefährlichkeit des Täters begründet, was für etwa ein Drittel aller Lebenslänglichen zutrifft und sich vor allem in den Prognoseentscheidungen äußert (vgl. Maguire 1984, 250 ff.), so muß die Gefährlichkeit aufgrund ständiger Beobachtung und Begutachtung der Persönlichkeit des Gefangenen immer wieder neu festgestellt werden. Nur dann kann sie den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertigen (siehe dazu BVerfG, NStZ 1992, 405 ff.).
Zieht man die Strafverfolgungsstatistik zu Rate, so zeigt sich, daß in den Jahren 1945 bis einschließlich 1975 in insgesamt 1915 Fällen eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde (vgl. BVerfGE 45, 203). Davon entfielen auf Mord ungefähr 97%, auf besonders schweren Totschlag 1,6%, auf besonders schweren Raub 0,9%, auf Vergewaltigung mit Todesfolge und räuberischen Angriff auf Kraftfahrer zusammen noch einmal 0,5%. Daraus folgt, daß die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe durch die Gerichte immer mehr auf die gesetzlich zwingenden Fälle des § 211 StGB beschränkt wird. Im Jahr 1994 traf dies auf 82 der 86 Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu (StVSta 1994, 118 ff.; zu den Definitionsprozessen bei Tötungsdelikten eingehend Sessar 1980, 193 ff.). In jüngster Zeit ist allerdings erneut eine leichte Zunahme der inhaftierten Lebenslänglichen zu beobachten. Nachdem die Zahl Mitte der siebziger Jahre auf unter 1000 gesunken war, hat sie jetzt wieder diese Marke überschritten. Diese Entwicklung beruht wohl auf dem allgemeinen Wandel der Strafzumessungs- und Entlassungsstrategien, die offenbar restriktiver geworden sind. Von den 1177 Verbüßern einer lebenslangen Freiheitsstrafe waren am 31. März 1991 51 Frauen, aber auch 17 Personen im Alter von 70 Jahren und mehr (StVollzSta 1991, Reihe 4.1, 10 £.).
Mit der Entwicklung von Verbüßern einer lebenslangen Freiheitsstrafe und damit der gesamten Problematik dieser Kriminalsanktion ist die Entlassungspraxis untrennbar verknüpft. Bis zur Einführung des §57 a StGB im Jahr 1982 wurde die Mehrzahl der Lebenslänglichen im Gnadenweg nach einer Strafzeit von etwa 20 Jahren bedingt entlassen, im westlichen Ausland schon nach erheblich kürzerer Verbüßungszeit.
Wichtige Gründe sprechen, wenn nicht für die Abschaffung, so doch für die faktische Begrenzung der lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BVerf- GE 45, 188 ff.). Zu denken ist hier in erster Linie an die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung (vgl. § 57 a dtStGB; § 46 Abs. 4 öStGB; Art. 38 Ziff. 1 Abs. 2 schwStGB). Besonders die Frage nach der bedingten Entlassung hängt fundamental mit der Rückfallgefährdung des Täters, d.h. mit dem Problem einer verläßlichen Kriminalprognose, zusammen. Das Rückfallrisiko ist jedoch nach den bisherigen Erfahrungen, insbesondere im Vergleich mit anderen Straftätergruppen, gering. Daher kann man davon ausgehen, daß bei der überwiegenden Mehrheit der Insassen die probeweise Entlassung gewagt werden kann, wenngleich eine Schematisierung des zu entscheidenden Einzelfalles vermieden werden muß.
In der Handhabung des § 57 a StGB zeigt sich allerdings, daß sich manche Erwartungen in diese Vorschrift nicht erfüllt haben. Insgesamt verfolgen die Strafvollstreckungskammern und die Oberlandesgerichte, vor allem im Anschluß an BVerfGE 64, 261 ff., einen restriktiven Kurs. Im Jahr 1992 wurden insgesamt nur 167 Strafrestaussetzungen nach § 57 a StGB gezählt (StVollzSta 1992, Reihe 4.2, 7). Ein Vergleich mit Staaten des westlichen Auslandes führt zu dem Ergebnis, daß dort „lebenslänglich“ erheblich kürzer ist als in der Bundesrepublik (eingehende Nachweise siehe LB § 93, 1). Immerhin führte die Verknüpfung von gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafen mit einem schärferen Strafzumessungssystem in England und Wales zu einem eindrucksvollen Anstieg der Lebenslänglichen im Strafvollzug (von 76 Strafgefangenen im Jahr 1965 zu 229 im Jahr 1990) und der durchschnittlichen Dauer der Freiheitsstrafen vor der bedingten Entlassung (nämlich von 9 Jahren Anfang der 70er Jahre zu 13 Jahren im Jahr 1990). Entsprechend stieg die Durchschnittspopulation der Lebenslänglichen von 140 im Jahr 1957 auf 1675 im Jahr 1981 und auf etwa 3000 im Jahr 1992 an. Danach gilt Großbritannien als Land mit mehr Lebenslänglichen im Vollzug als alle anderen Staaten des Europarates zusammen (berichtet nach Snacken u.a. 1995, 33 m.N.).
Die allgemein zurückhaltende Aussetzungspraxis in Deutschland entspricht der gesetzlichen Regelung und ihrer Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Denn nach § 57 a Abs. 1 Ziff. 2 StGB ist ähnlich § 46 Abs. 4 S. 2 öStGB bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung Lebenslänglicher — anders als bei den zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten nach § 57 StGB – der Gesichtspunkt der besonderen Schuldschwere zu beachten. Die Berücksichtigung dieses Kriteriums kann dazu führen, daß die Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren im Einzelfall erheblich überschritten wird, wie die Praxis zeigt. Da der Gesichtspunkt der besonderen Schuldschwere im Anschluß an BVerfGE 64, 261 ff. keineswegs nur in Ausnahmefällen herangezogen wird, besteht die Gefahr, daß sich weiterhin die Verbüßungszeiten der lebenslangen Freiheitsstrafen stark unterscheiden, ohne durch entsprechend unterschiedliche Sozialprognosen begründet zu sein.
Insgesamt freilich deckt sich die Tendenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit den Auffassungen anderer oberster Gerichte des westlichen Auslands bis zu jenen der USA und Japans. Eine Änderung ist in naher Zukunft nicht zu erwarten. Auch die Bundesregierung sieht hier keinen Änderungsbedarf (vgl. Recht Nr. 4/1996, 58, 62). Lediglich kleinere Korrekturen werden mittlerweile von den Strafgerichten vorgenommen, nachdem der Große Senat für Strafsachen (BGHSt 30, 105 ff.) die Durchbrechung der zwingenden Anordnung zu lebenslanger Freiheitsstrafe bei Mord ermöglicht hat (sog. Rechtsfolgenlösung des Bundesgerichtshofs). Diese ist allerdings im Schrifttum auf breite Kritik gestoßen. Da sie nur in Ausnahmefällen gelten soll, werden vom Bundesgerichtshof seitdem sämtliche Urteile von Untergerichten, welche in der Regel bei § 211 StGB von der lebenslangen Freiheitsstrafe abweichen, aufgehoben. Man wird deshalb feststellen müssen, daß die Lage der lebenslangen Freiheitsstrafe, bei allem Wandel im Detail, im wesentlichen über die Jahrzehnte hinweg konstant geblieben ist.
2. Kurze Freiheitsstrafe
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik. In: Vergleichung als Methode der Strafrechtswissenschaft und der Kriminologie, hrsg. v. Jescheck u.a. Berlin 1980, 235-255; Dolde/Jehle, Wirklichkeit und Möglichkeiten des Kurzstrafenvollzugs. ZStrVo 35 (1986), 195-202; Dolde/Rössner, Auf dem Wege zu einer neuen Sanktion: Vollzug der Freiheitsstrafe als Freizeitstrafe. ZStrVo 99 (1987), 424-451; Hüsler/Locher, Kurze Freiheitsstrafen und Alternativen. Analyse der Sanktionspraxis und Rückfall-Vergleichsuntersuchung. Bern 1991; Killias, Der Kreuzzug gegen die kurze Freiheitsstrafe. In: Reform strafrechtlicher Sanktionen, hrsg.v. Bauhofer u.a. Chur 1994, 111-139; Kohlmann, Vollstreckung kurzfristiger Freiheitsstrafen – wirksames Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität? In: FS für Triffterer. Wien 1996, 603-616; Kunz, Die kurzzeitige Freiheitsstrafe und die Möglichkeit ihres Ersatzes. SchwZStr 103 (1986), 182-215; Riklin, Die Diskussion über die kurzen Freiheitsstrafen und die Alternatiyen im europäischen Ausland. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 3 (1985), 122-130; Schaffmeister, Durch Modifikation zu einer neuen Strafe. Versuch einer Erklärung der fortdauernden Verwendung der kurzen Freiheitsstrafe in den Niederlanden. In: FS für Jescheck. Berlin u.a. 1985, 991-1014; Tiedemann, Sanktionen gegen-Wirtschaftskriminelle. In: Politische Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, hrsg. v. der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie. Diessenhoffen 1984, 273-284; Tournier, Statistics on Prison Population in the Member States of the Council of Europe. Penological Information Bull 19 and 20 (1994-1995), 34-92, Weigend, Die kurze Freiheitsstrafe — Eine Sanktion mit Zukunft? IZ 1986, 260-269.
Unter kurzer Freiheitsstrafe versteht man allgemein eine Freiheitsentziehung mit Strafcharakter bis zu 6 Monaten. Ihre Funktion als Individualabschreckung (Prinzip des „short sharp shock“) und Generalprävention („Verteidigung der Rechtsordnung“) sowie die von ihr tatsächlich ausgehenden Wirkungen sind umstritten. Ihre Anwendungshäufigkeit ist international beachtlich.
Die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe zählt zu den wichtigsten Forderungen strafrechtlicher Reformbewegung der letzten einhundert Jahre. So ist in § 47 StGB die kurze Freiheitsstrafe mit einer Dauer von weniger als 6 Monaten zwar anerkannt. Gleichwohl hat der Gesetzgeber versucht, sie zur ultima ratio auszugestalten. Sie soll nur dann eingreifen, wenn besondere Umstände ihre Verhängung unumgänglich machen (8 47 Abs. 1 StGB). Schwerwiegende Einwände gegen ihre Anwendung bestehen deshalb, weil der Täter aus seinen sozialen Bezügen gerissen wird, nur um kurze Zeit später nach seiner Entlassung wieder vor dem alten Problem zu stehen. Hinzu tritt, daß durch eine Freiheitsstrafe von weniger als 6 Monaten eine integrierende Beeinflussung des Täters kaum möglich ist. Vor allem hat der Verurteilte während seiner Haftzeit keinerlei Möglichkeiten, rechtstreues Verhalten einzuüben und zu beweisen. Neben der Gefahr erhöhter krimineller Ansteckung, welcher der Gefangene ausgesetzt wird, ist für die Zurückhaltung bei der Vollstreckung der kurzen Freiheitsstrafe ferner die finanzielle Ersparnis hervorzuheben. Statistische Untersuchungen gelangen denn auch zu dem Schluß, daß zu kurzer Freiheitsstrafe Verurteilte in den ersten sechs Monaten nach der Verurteilung überdurchschnittlich viele Rückfälle aufweisen (für die Schweiz Hüsler/Locher 1991, 182).
Dennoch ist die kurze Freiheitsstrafe keineswegs zur erwarteten Ausnahme geworden. Zwar hat sie bei der Strafverhängung erheblich abgenommen und ist auf etwa ein Zehntel ihres früheren Umfanges zurückgedrängt worden. So wurde sie 1994 nur in 9 545 Fällen verhängt (26,8%) von insgesamt 35 577 unbedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafen im Altbundesgebiet (StVSta 1994, 118). Aber die Zahl derjenigen, die jährlich tatsächlich eine Freiheitsstrafe von weniger als 6 Monaten verbüßen, wird auf das Sechsfache des Verhängten geschätzt: das sind ungefähr 60 000 oder 10% aller nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (Weigend 1986, 261). Dieser beträchtliche Zuwachs erfolgt auf Umwegen. Er beruht auf den an sich unbeabsichtigten Nebenfolgen bei der Vollstreckung anderer Sanktionen, insbesondere durch Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen, durch Widerruf von Straf- und Strafrestaussetzung, durch bedingte Entlassung bei längeren Freiheitsstrafen und die Anrechnung von Untersuchungshaft. Gleichwohl werden damit Reformintention und Entscheidungsprogramm nach § 47 Abs. 1 StGB keineswegs aufgehoben, sondern im Ergebnis nur geschwächt.
Mit der Häufigkeit kurzer Freiheitsstrafen steht die Bundesrepublik nicht allein, obschon die Gründe der Anwendung international erheblich voneinander abweichen. Aufgrund anderer Erwägungen erlebt die kurze Freiheitsstrafe im Ausland geradezu eine Renaissance. War die Beibehaltung dieser Strafe in der Bundesrepublik Deutschland eine Kompromißlösung und sollte sie lediglich als „kriminalpolitische Notbremse“ (Weigend 1986, 261), insbesondere für die Ersatzfreiheitsstrafe, dienen, so liegt sie nunmehr voll im aktuellen kriminalpolitischen Trend (dazu ausführlich Riklin 1985, 122 ff.; Dolde/Jehle 1986, 195 ff., Kunz 1986, 182 ff.; Weigend 1986, 260 ff.; Killias 1994, 111 ff.; Kohlmann 1996, 415). Dies zeigt auch der nähere Blick in die Sanktionenpraxis des westlichen Auslandes.
In Österreich wurden bei Erwachsenen 1995 insgesamt 13 147 Freiheitsstrafen von bis zu 6 Monaten Dauer verhängt (= 68,0% aller Freiheitsstrafen), davon 3200 unbedingt (= 16,6% von allen). Dies waren 4,8% aller gerichtlichen Verurteilungen (Gerichtl. Kriminalstatistik 1995, 152).
In der Schweiz überwiegen bei den 1994 verhängten Freiheitsstrafen die kurzen Strafen eindeutig. In 89% der Fälle lag die Strafdauer bei drei Monaten oder weniger. Bei 81% der bedingten und 61% der unbedingten Freiheitsstrafen betrug die Dauer sogar weniger als 30 Tage. Nur 4% der verhängten Freiheitsstrafen wiesen eine Dauer von einem Jahr und mehr auf (Strafurteilsstatistik 1994).
Die faktische Dominanz der kurzen Freiheitsstrafe wird noch deutlicher am Beispiel der als kriminalpolitisch besonders fortschrittlich geltenden Staaten:
So steht in den Niederlanden die kurze Freiheitsstrafe klar im Vordergrund. Im Gegensatz zum Bundesgebiet mit durchschnittlich 5,5 Monaten beträgt dort die mittlere Haftzeit lediglich 3,2 Monate. Ähnliches gilt für Dänemark, welches eine mittlere Haftdauer von etwa einem Monat aufweist, ferner für Norwegen (Tournier 1994-1995, 74, 84).
Die Gründe für diese Entwicklung sind denn auch erwartungsgemäß vielfältig. Wie schon die erwähnten internationalen Unterschiede in der durchschnittlichen Inhaftierungsdauer erkennen lassen, ist in den Niederlanden, in Skandinavien und der Schweiz die kurze Freiheitsstrafe unter Zurückdrängung längerer Strafzeiten zur Freiheitsstrafe schlechthin geworden, während man dies in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nicht feststellen kann. Deshalb handelt es sich auch nur sehr eingeschränkt um eine Auswirkung der allgemeinen Krise des Behandlungsgedankens (dazu ausführlich oben § 13, 5). Wie dort findet sich freilich auch hier in Zusammenhang mit der Befürwortung kurzer Freiheitsstrafen eine eigenartige Koalition einer mehr konservativen Strömung mit punitiver Grundhaltung sowie dem konträren Lager liberal- progressiv denkender Kreise, die auf eine Verkleinerung strafrechtlicher Übelszufügung bedacht sind und in den kurzen Freiheitsstrafen den unbestrittenen Vorteil sehen, daß sie eben kurz sind (Kunz 1986, 198). Hinzu kommt die Einschätzung, daß in der modernen westlichen Wohlstands- und Freizeitgesellschaft die persönliche Handlungsfreiheit hohen Wert genießt und deshalb auch ihr kurzzeitiger Entzug als empfindliche Einbuße empfunden wird (vgl. Schaffmeister 1985; Kunz 1986, 199; ferner Riklin 1985, 127, Fn. 57 zur schwedischen Reformdiskussion). Dafür hat sich international inzwischen die dem englischen Criminal Justice Act 1948 entnommene Formel des „short sharp shock“ durchgesetzt, die ironischerweise aus der Operette „Mikado“ (1885) von Sullivan und Gilbert stammt.
In dieser Funktion des empfindlichen Denkzettels wird die kurze Freiheitsstrafe als besonders geeignet für sozialintegrierte Personen, namentlich in den Bereichen der Verkehrs- und Wirtschaftsdelinquenz, angesehen. Sie trifft einerseits solche Täter höchstpersönlich, die aber andererseits einer Resozialisierung im üblichen Sinne nicht bedürfen. Außerdem entfaltet die Furcht vor Freiheitsentzug und wirtschaftlicher Existenzbeeinträchtigung im Falle der Betriebsschließung positive Wirkungen auf potentielle Täter (Tiedemann 1984, 273 ff., Riklin 1985, 126; Kunz 1986, 199, jeweils m.N.). Jedoch stehen die vergleichenden Wirkungsanalysen darüber noch aus und damit auch die Erkenntnisse über die Erforderlichkeit der Verhängung.
Eine abschließende Beurteilung dieser gegenläufigen und vielschichtigen Strömungen im In- und Ausland fällt nicht leicht. Denn die Aufgaben, die der kurzen Freiheitsstrafe in den verschiedenen Ländern angesonnen werden, decken sich nur teilweise.
Nach dem gesetzlichen Entscheidungsprogramm mag in der Schweiz und auch in Österreich eine breite Anwendung kurzer Freiheitsstrafen zulässig sein. In der Bundesrepublik hingegen läuft eine derartige Erwägung den Zielen der Strafrechtsreform zuwider. Die Mindeststrafe beträgt nach geltendem Recht (§ 38 StGB) einen Monat. Diese Regelung verdient Zustimmung, denn die „short sharp shock“-Ideologie ist nicht nur in ihrer straftheoretischen Begründung, sondern auch in ihrer praktischen Durchsetzung anfechtbar. Weder läßt sich mit Sicherheit von der kurzen Freiheitsstrafe eine bessere Verwirklichung der präventiven Strafziele erwarten als von anderen Sanktionen, noch kann von einer prinzipiell geringeren Effizienz gesprochen werden. Besteht insoweit eine „Non-liquet“-Situation, dann führt das verfassungsrechtliche Prinzip des Mindesteingriffs oder der Grundsatz der Erforderlichkeit zur Ablehnung der kurzen Freiheitsstrafe (dazu Weigend 1986, 262 ff.). Wenn sich hierzulande der Gesetzgeber trotz schwerer Bedenken nicht dazu entschließen konnte, vollständig auf die kurze Freiheitsstrafe zu verzichten, so aufgrund anderer Erwägungen. Denn die kurzfristige Freiheitsentziehung erscheint vor allem in Form der Ersatzfreiheitsstrafe als Druckmittel notwendig, um die Geldstrafe gegenüber säumigen Zahlern durchzusetzen und um ferner die Strafaussetzung zur Bewährung für den Fall des Scheiterns mit fühlbaren Konsequenzen abzusichern. Der weitere Kurzstrafenvollzug auf dem Wege der bedingten Entlassung oder der Untersuchungshaft läßt sich ohnedies nicht völlig vermeiden, ganz abgesehen davon, daß dies auch teilweise gar nicht wünschenswert wäre. Ob darüber hinaus Wissen und Diskussion der Gegenwart Anlaß bieten, das Niveau der Strafdauer generell zu senken, um damit übergeordneten Humanisierungsbestrebungen zu entsprechen, bedarf noch stärkerer empirischer Überprüfung.
3. Strafaussetzung zur Bewährung
Schrifttum: Bieker, Bewährungshilfe aus der Adressatenperspektive. Sichtweisen, Erfahrungen und Reaktionen der Probanden. Bonn 1989; Bockwoldt, Strafaussetzung und Bewährungshilfe in Theorie und Praxis. Lübeck 1982; Böhm/Erhard, Strafrestaussetzung und Legalbewährung; Ergänzungsuntersuchung. Darmstadt 1991; Dünkel/Ganz, Kriterien der richterlichen Entscheidung bei der Strafaussetzung nach § 57 StGB. MschrKrim 68 (1985), 157-175; Feltes, Strafaussetzung zur Bewährung bei freiheitsentziehenden Strafen von mehr als einem Jahr. Heidelberg 1982; Heinz, Strafrechtsreform und Sanktionsentwicklung. ZStW 94 (1982), 632-668; Kerner u.a., Straf(rest)aussetzung und Bewährungshilfe. Heidelberg 1984; Riklin, Neue Sanktionen und ihre Stellung im Sanktionensystem. In: Reform strafrechtlicher Sanktionen, hrsg.v. Bauhofer u.a. Chur 1994, 143-182; Spieß, Prognose. In: Prävention abweichenden Verhaltens. Maßnahmen der Vorbeugung und Nachbetreuung, hrsg. v. Kury. Köln u.a. 1982, 571-604.
Strafaussetzung zur Bewährung oder bedingter Strafvollzug ist ein kriminalpolitisch bedeutsames Sanktionsmittel der Gegenwart. Sie kann sich auf die Vollstreckung der Freiheitsstrafe (§ 56 dtStGB; Art. 41 schwStGB) und der Geldstrafe (z.B. § 43 Abs. 1 öStGB; siehe auch § 59 dtStGB) beziehen. Ihre Rechtsnatur ist umstritten. Die Funktions- und Wirkungsanalyse spricht dafür, in der Strafaussetzung entgegen ihrer rechtlichen Konstruktion nicht nur die Modifikation einer Hauptstrafe zu erblicken, sondern mindestens eine Kriminalsanktion eigener Art, wenn nicht gar eine „dritte Spur‘ des Sanktionensystems. Die Strafaussetzung muß sich nicht im bedingten Strafausspruch erschöpfen, sondern kann mit Weisungen und Auflagen sowie der Unterstellung unter die Bewährungsaufsicht verbunden werden. Im Hinblick darauf dient sie in erster Linie der Resozialisierung der Verurteilten — vor allem in Verbindung mit der Bewährungshilfe —, sekundär, insbesondere bei nicht Resozialisierungsbedürftigen, auch bloßer Individualabschreckung und der Entlastung des stationären Strafvollzugs. Vom Verurteilten und der Öffentlichkeit her betrachtet gilt sie nicht selten als „Vergünstigung“ gegenüber der Vollstreckung der Bezugsstrafe. Nach ihrer Anwendungshäufigkeit hat sie — in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in der Schweiz — die vollstreckte Freiheitsstrafe seit den siebziger Jahren überflügelt. Die Strafaussetzung kann sich ferner auf die gesamte Strafe oder nur einen Teil davon, insbesondere den Strafrest, beziehen. Auch die Strafrestaussetzung (§§ 57 f. dtStGB) oder bedingte Entlassung (§ 46 öStGB; Art. 38 schwStGB) ist kriminalpolitisch äußerst wichtig.
Wie über die Veränderungen des Sanktionensystems bereits ausgeführt wurde (vgl. oben § 44), stellt die Entwicklung der Strafaussetzung zur Bewährung eine der bedeutendsten Wandlungen der Sanktionspraxis in den letzten drei Jahrzehnten dar. Betrug die Aussetzungsquote im Jahr 1968 nur etwa 35%, so hat sie sich unmittelbar nach der Strafrechtsreform sprunghaft auf 53% im Jahr 1970 erhöht und liegt nun etwa bei 69% (StVSta 1994, 66 f.).
Die Dauer der Bewährungszeit beträgt bei Erwachsenen in den meisten Fällen im Durchschnitt ebenso wie bei Jugendlichen 3 Jahre, obwohl das Gesetz bei Erwachsenen einen Rahmen von 2 bis 5 Jahren (vgl. § 56 a StGB), bei Jugendlichen aber nur einen von 2 bis 3 Jahren (vgl. § 22 Abs. 1 JGG) vorschreibt. 1994 wurden bei 51,9% der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen Auflagen angeordnet und bei 41,4% Weisungen erteilt (StVSta 1994, 66 £.). Als Auflage wurde überwiegend die Zahlung einer Geldbuße verfügt.
Allerdings werden nur etwa 25% aller verurteilten Bewährungsprobanden auch der Bewährungshilfe unterstellt. Dennoch hat sich die Zahl der Unterstellungen unter die Bewährungshilfe insgesamt verzehnfacht, wobei der Zuwachs bei den Erwachsenen mit einer nunmehr elfmal höheren Probandenzahl überproportional ausgefallen ist. Insgesamt wurden im Jahr 1991 130 750 Bewährungsaufsichten gezählt, davon 97 293 bei Erwachsenen (BewHisSta 1991, 8).
Der allgemeine Trend — weg von stationären Maßnahmen und hin zu ambulanten Sanktionen — zeigt sich aber nicht nur in diesem Bereich. Bei der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB wird die Bewährungshilfe schon vom Gesetz her als Regelfall angesehen, wenn der Täter mindestens ein Jahr der Strafe verbüßt hat (§ 57 Abs. 3 S. 2 StGB). Diese Bestimmung trägt den besonderen Eingliederungsschwierigkeiten nach längerer Haft Rechnung. Deshalb ist bei der Strafrestaussetzung auch die Unterstellungsquote unter die Bewährungshilfe höher. Selbst hinsichtlich der für den Strafvollzug verbleibenden Population der Straffälligen scheint die Strafrechtspflege zunehmend auf ambulante Maßnahmen zu vertrauen, wie sich aus dem prozentualen Zuwachs der bedingten Strafentlassung (§ 57 StGB) ergibt.
Diese Entwicklung hat erwartungsgemäß zu erheblichen Kapazitätsproblemen geführt. Neben der Überlastung haben die Bewährungshelfer zusätzlich mit einer schwieriger werdenden Probandenstruktur zu kämpfen.
Am 31.12.1991 unterstanden 97 293 Erwachsene den insgesamt 2129 Bewährungshelfern in der Bundesrepublik. Bezieht man diese Zahl auf alle 130 750 Probanden der Bewährungshilfe, so ergibt sich eine Probandenzahl von 61 pro Bewährungshelfer (BewHiSta 1991, 10). Am 31.12.1963 kamen hingegen auf die 496 Bewährungshelfer 27 401 Probanden, davon nur 7141 Erwachsene, also insgesamt ca. 55 Probanden pro Bewährungshelfer (vgl. BewHiSta 1963, 8). Angesichts der erhöhten Belastung der Bewährungshelfer ist nicht zu verkennen, daß sich diese durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs und die sich wandelnde Sanktionspraxis der Gerichte zahlreichen Schwierigkeiten gegenübergestellt sehen. Dazu hat vor allem der starke Anstieg der Probandenzahl beigetragen, der nur allmählich durch vermehrte Einstellung von Bewährungshelfern aufgefangen werden konnte
Von den am 31.12.1991 gezählten 98 912 nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Bewährungsprobanden war bei 55 063 (= 55,7%) die gesamte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, bei 44 791 (= 42,3%) nur der Strafrest (BewHiSta 1991, 10). Damit zeigt sich, daß jeweils nur bei ungefähr der Hälfte der unterstellten Probanden die Strafe unmittelbar zur Bewährung ausgesetzt wird, während die andere Hälfte in der Regel einen längeren Aufenthalt im Strafvollzug hinter sich hat. Die Konsequenzen hieraus im Hinblick auf den Erfolg der Bewährungshilfe sollen anhand der empirischen Arbeiten näher beleuchtet werden.
In der zum Teil veränderten Struktur der Probanden und in der anhaltenden Falizunahme, die mit der Vergrößerung der Dienststellen zahlreiche Organisationsfragen geschaffen hat, werden die Hauptprobleme der gegenwärtigen Bewährungshilfe gesehen. Abgesehen von der großen Probandenzahl, die weit über der geforderten Sollzahl von 30-40 pro Bewährungshelfer liegt, treten besondere Schwierigkeiten durch den erweiterten Personenkreis auf. So werden heute viele Täter der Bewährungsaufsicht unterstellt, die früher mit einer Aussetzung nicht rechnen konnten; darunter auch so verschiedene und schwierige Behandlungsfälle wie Drogendelinquenten und Täter der mittelschweren bis schweren Kriminalität mit zum Teil schlechter Prognose. Man muß auch bei dem hier zunehmend in Betracht kommenden Probandenkreis also beachten, daß erhebliche Sozialisationsmängel und Mehrebenenkonflikte im sozialen Nahraum vorliegen. Eine weitere Schwierigkeit wird in der Doppelfunktion des Bewährungshelfers gesehen (vgl. Bieker 1989, 243, 249).
Bei der Frage nach der Effizienz der Strafaussetzung zur Bewährung schlagen sich im besonderen Maße die unterschiedlichen Erfolgskriterien, regionale Verschiedenheiten der einzelnen Untersuchungen und die Struktur des Probandenkreises nieder. Als Erfolgskriterien bieten sich sowohl die Rückfälligkeit als auch die Widerrufsquote an, wobei ein Widerruf in vielen Fällen nicht mit Rückfall gleichzusetzen ist. Nach den empirischen Untersuchungen wird auch deutlich, daß Erfolgs- und Mißerfolgsquote je nach Kriterium und Probandenkreis sehr unterschiedlich sind. Insgesamt gesehen ist jedoch bei der Widerrufspraxis inzwischen eine gestiegene Risikobereitschaft erkennbar, so daß die positive Entwicklung der Straferlaßquote zunehmend auch vorbestraften Probanden zugutekommt, freilich mit noch unsicherem Ergebnis dieser Strafzumessungsstrategie.
Verglichen mit den entsprechenden Relationen des Jahres 1964 hat sich die Mißerfolgsrate der unterstellten Bewährungsprobanden kaum erhöht (dazu Spieß 1982, 581 f.), und zwar ganz im Gegensatz zu jener der nicht unterstellten Bewährungsprobanden. Eine gegenteilige Erwartung lag aber nach der erheblichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs nahe. Wahrscheinlich sind in der Gerichtspraxis die Bewährungskriterien allmählich großzügiger und die Widerrufsgründe einengender ausgelegt worden. Gegenwärtig muß man davon ausgehen daß insgesamt betrachtet in annähernd 35% aller Fälle die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen werden muß (dazu Heinz 1982, 653), freilich bei den der Bewährungshilfe unterstellten Probanden etwa zu 50%, obschon nur in rd. 35% der Fälle wegen erneuter Straffälligkeit.
Das Mängelprofil der Bewährungshilfe liegt demgegenüber in der erneut gestiegenen Fallzahl, also in der Belastung, in den beschränkten Übergangs- und Unterbringungsmöglichkeiten für die Probanden, in der noch unsicheren Eignung von Verurteilten für die Bewährungshilfe und in der äußerst geringen Kontaktintensität, wenn nicht gar Beziehungslosigkeit zwischen Bewährungshelfer und Bewährungsprobanden (dazu Bockwoldt 1982, 226 ff.), welche sich aus den vorerwähnten Gründen ergibt.
Immerhin zeigen sich die derzeitige Strafaussetzung zur Bewährung und die Bewährungshilfe für einen bestimmten Täterkreis als zumindest gleich wirksames, wenn nicht gar der unbedingten Freiheitsstrafe überlegenes Sanktionsinstrument, ganz abgesehen von der geringeren Eingriffsintensität und der Kostenersparnis. Vor allem bei älteren und erstmalig bestraften Tätern sowie bei weiblichen Probanden scheint sich die Strafaussetzung in den meisten Fällen als wirksames Sanktionsmittel zu bewähren. Allerdings sind bei Jugendlichen und Heranwachsenden tendenziell höhere Widerrufsquoten zu verzeichnen. Dieses Phänomen scheint aber so alt wie der Gedanke der Strafaussetzung zu sein. Die alte Klage zur bedingten Begnadigung bezeugt dies. Dennoch ist zur Erfolgssteigerung eine bessere richterliche Prognose notwendig, eine größere Zahl von Bewährungshelfern und eine im Hinblick auf die zunehmend schwieriger werdenden Probandenfälle verbesserte Ausbildung. Unter solchen Bedingungen läßt sich die Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung als Sanktionsmittel rechtfertigen und auch effizient gestalten (vgl. etwa Feltes 1982, 43 ff.; Riklin 1994, 156).
4. Geldstrafe
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berücksichtigung des Tagessatzsystems. Berlin 1980; ders., Die Legalbewährung bei zu Geld- und Freiheitsstrafen Verurteilten. Freiburg 1982; Bernhard, Der Bußenvollzug gemäß Art. 49 StGB unter besonderer Berücksichtigung der Praxis des Kantons Zürich. Diessenhofen/CH 1982; Carlen/Cook (eds.), Paying for Crime. Milton Keynes/GB 1989; Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen. Darstellung des Sanktionsmittels Geldstrafe und dessen empirische Überprüfung nach Einführung des Tagessatzsystems. Jur. Diss. Gießen 1983; Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle. Beständigkeit im Wandel? BewHi 31 (1984), 13-37, Hillsman, Fines and Day Fines. Crime-Justice 12 (1990), 49-98; Morris/ Tonry, Between Prison and Probation. New York 1990; Softley, Fines in Magistrat®s Courts. London 1978; Tonry, Sentencing Matters. New York u.a. 1995.
Die Geldstrafe besteht in der persönlichen Verpflichtung des Verurteilten, eine bestimmte Geldleistung an den Staat zu erbringen. Sie ist nach bisherigem Recht die einzige Hauptstrafe am Vermögen und gilt als die mildeste Strafart. Zugleich ist sie wie überwiegend in den westeuropäischen Ländern die zahlenmäßig bedeutsamste Sanktion. Schon kurz nach der Jahrhundertwende erblickte man in ihr die „Hauptstrafe der Zukunft“. Sie erfüllt vor allem eine schuldvergeltende Aufgabe und schließt in diesem Rahmen die Berücksichtigung präventiver Funktionen mit ein. Sie soll als Reaktion auf leichte bis mittelschwere Kriminalität dienen. Hier kommt ihr als Regelstrafe erhebliche Bedeutung im strafrechtlichen Sanktionskatalog zu. Wurde sie ursprünglich auch nicht (nur) als Alternative zur kurzen Freiheitsstrafe geschaffen, so hat sie doch zunehmend einen solchen Charakter angenommen. Im Zusammenhang mit der Geldstrafe muß auch die große Zahl der Geldbußen, insbesondere nach § 153 a StPO, beachtet werden, um die vorherrschende Rolle der pekuniären Sanktionen deutlich werden zu lassen.
Die Situation der Geldstrafe im Bundesgebiet stellt sich derzeit folgendermaßen dar: Es entfielen 1994 bei rd. 690 000 Strafen etwa 83% auf die Geldstrafe. Danach wurde von der Geldstrafe allgemein und der Höhe nach am häufigsten von allen Sanktionsmitteln Gebrauch gemacht. Hierbei beschränken sich Durchbruch und Anwendungsbreite der Geldstrafe keineswegs auf das Verkehrsstrafrecht. Auch bei den einfachen Eigentums- und Vermögensdelikten, bei Straftaten gegen den Staat, die öffentliche Ordnung und im Amte — darunter insbesondere bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und bei Hausfriedensbruch — wurde die Freiheitsstrafe weitgehend durch die Geldstrafe ersetzt. Geringere Anwendung fand sie hingegen vor allem bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, bei Unterhaltspflichtverletzungen und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Heinz 1984, 17). Im Bereich der mittleren Kriminalität läßt sich hingegen keine schematische Handhabung feststellen. Dennoch zeigt der Blick auf die Sanktionspraxis, daß bislang durch die Geldstrafe lediglich kurze Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten ersetzt wurden. Denn etwa 96% der verhängten Geldstrafen liegen unter 90 Tagessätzen (StVSta 1994, 146).
Die nähere Analyse der Geldstrafenpraxis im Jahre 1994 zeigt im einzelnen, daß von insgesamt 578 419 Geldstrafen 556 792 90 Tagessätze nicht überschritten. Eine nennenswerte Anwendung im oberen Bereich der Tagessatzzahl ist nicht zu verzeichnen. Hier läge für die weitere Entwicklung noch ein beachtlicher Anwendungsspielraum, der sich besonders im Bereich der Wirtschafts- und Umweltkriminalität nutzen ließe. Auch bei der Höhe der Tagessätze herrschen Summen im unteren bis mittleren Bereich vor. Insgesamt lagen von allen Geldstrafen bis 90 Tagessätzen nur rd. 19% zwischen 50 und 100 DM, lediglich 0,9% über der 100 DM-Grenze, wobei der Prozentsatz mit steigender Höhe der Tagessätze etwas zunimmt.
In Österreich wird die Geldstrafe ebenfalls nach dem Tagessatzsystem verhängt. Dabei scheint die Zahl der Tagessätze im Durchschnitt höher zu liegen als in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl der Anteil der Geldstrafe an allen verhängten Kriminalsanktionen in Österreich geringer ist. 47,5% der 1995 (unbedingt und bedingt) bei Erwachsenen verhängten Geldstrafen betrugen bis zu 5000 Schillinge (ca. 715 DM). Immerhin lagen 4,0% aller 44 362 Geldstrafen in dem Bereich zwischen 25 000 und 50 000 S., 1,3% darüber. 31,1% aller Geldstrafen und 40,9% der Geldstrafen gegen nicht vorbelastete Täter wurden bedingt ausgesprochen, allerdings bei starken regionalen Unterschieden (Gerichtl. Kriminalstatistik 1995, 178).
In der Schweiz scheint die Bedeutung der Geldstrafe auf den ersten Blick sehr gering zu sein. Nach Angaben des Bundesamts für Statistik waren 1994 ca. 30% (= 21 292) der registrierten Strafen Geldbußen. Diese Zahlen spiegeln aber die Sanktionspraxis nur unvollkommen und verzerrt wider, weil die wegen Übertretungen verhängten Bußen erst ab einer bestimmten Höhe in das Strafregister eingetragen werden, seit 1. Juli 1982 ab 500 Sfr. Vermutlich sind bei fast allen Straftaten die Bußen im unteren Bereich stark überrepräsentiert. Die Höhe der Buße variiert zwischen 1 Sfr. und mehr als 100 000 Sfr., wobei die Höhe in der Mehrzahl der Bußen nicht mehr als 500 Sfr. beträgt. Eine beträchtliche Anzahl von Bußen wird jedoch kumulativ neben stationären Sanktionen verhängt. Au- Berdem sind die Bußen bei Bagatellzuwiderhandlungen und im kantonalen Recht von erheblicher Bedeutung (Bernhard 1982, 6 ff.). Schätzungen bewegen sich in der Größenordnung von 300 000 bis 500 000 Verurteilungen zu Bußen pro Jahr.
Hingegen spielt die Geldstrafe in den USA nur eine untergeordnete Rolle. Zwar wird sie häufig neben anderen Sanktionen verhängt (in 86% der Urteile von lower courts, 42% bei upper courts), aber selten allein (36% bei lower courts, 8% bei upper courts). Ihre in Europa allenthalben durchgesetzte Position als legitime Alternative zur — insbesondere kurzfristigen — Freiheitsstrafe konnte sie in den USA daher nicht erreichen (vgl. Hillsman 1990, 62; zu den Gründen Morris/Tonry 1990, 129; Tonry 1995, 124). Im Gegenteil schließen die Gesetzbücher verschiedener Einzelstaaten die Ahndung schwerer Straftaten durch Geldstrafe allein ausdrücklich aus. Auch im Bereich der Bagatellkriminalität sind die Gerichte niemals gehindert, den Täter zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen. Statistisch verläßliche Informationen über die Anwendungshäufigkeit der Geldstrafe lassen sich kaum finden. Die wenigen vorhandenen Daten unterstreichen freilich die geringe Bedeutung der Geldstrafe in den Vereinigten Staaten
Angesichts der beachtlichen, obschon international unterschiedlichen Anwendungsbreite der Geldstrafe bleibt zu fragen, ob sich die neue Geldstrafenpraxis bewährt hat oder ob Gesetzgeber und Strafrechtspflege in der Bundesrepublik nicht zu sehr auf die Anwendung der Geldstrafe vertraut haben. Immerhin geben einige Schwierigkeiten und Mängel zu denken; sie bieten zu weitergehenden Reformbestrebungen Anlaß.
5. Ersatzfreiheitsstrafe
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berücksichtigung des Tagessatzsystems. Berlin 1980; Bernhard, Der Bu- Benvollzug gem. Art. 49 StGB unter besonderer Berücksichtigung der Praxis des Kantons Zürich. Diessenhofen/CH 1982; Moxon, Fine Default: Unemployment and the Use of Imprisonment. HomOffResBull 16 (1983), 38-41; Schädler, Das Projekt „Gemeinnützige Arbeit“ — die nicht nur theoretische Chance des Art. 293 EGStGB. ZRP 16 (1983), 5-10; ders., Der „weiße Fleck“ im Sanktionensystem. Ein Beitrag zur Diskussion um Geldstrafe, freie Arbeit und Ersatzfreiheitsstrafe. ZRP 18 (1985), 186-192; Shaw, Monetary Penalties and Imprisonment: The Realistic Alternatives. In: Paying for Crime, ed. by Carlen u.a. Milton Keynes 1989, 29-45.
Wie das Gesetz bestimmt, tritt an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe Freiheitsstrafe (§ 43 S. 1 StGB). Die Ersatzfreiheitsstrafe ist echte Strafe. Ihre Verbüßung tilgt zugleich die Geldstrafe. Ihrer Art nach ist die Ersatzfreiheitsstrafe grundsätzlich Freiheitsstrafe
Angesichts der Bemühungen, den Vollzug von Freiheitsstrafen einzuschränken, erscheint die Ersatzfreiheitsstrafe äußerst Kontraproduktiv. Vor allem hat sich seit Ende der siebziger Jahre der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe mit der Zunahme der Geldstrafen einerseits und der zunehmend schwieriger gewordenen Wirtschaftslage andererseits zu einem Problem entwickelt.
So müssen ungefähr 5% aller zu Geldstrafe Verurteilten diese wegen Uneinbringlichkeit im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe „absitzen“. An der gesamten an einem Stichtag vorhandenen Vollzugspopulation machen die Ersatzfreiheitsstrafe Verbüßenden lediglich 3,3% aus. Von allen in einem Jahr beginnenden Freiheitsstrafvollstreckungen (Zugängen) entfielen 1992 aber 6,1% auf Ersatzfreiheitsstrafe. Der Unterschied zwischen den beiden abweichenden Prozentsätzen beruht auf der relativen Kürze der Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber der normalen Freiheitsstrafe, so daß sie bei Stichtagsbetrachtungen weniger zu Buche schlägt. Dabei sind beträchtliche regionale Unterschiede festzustellen (StVollzSta 1992, Reihe 4.2, 10 ff.): Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe Verbüßenden an der Vollzugspopulation ist am geringsten in Rheinland-Pfalz (2,2%) und im Saarland (0,7%), am höchsten hingegen in Thüringen mit 5,8%. Ihr Anteilan den Zugängen eines Jahres schwankt noch stärker: In Hessen (4,1%) ist er am geringsten, in Bremen (20,4%) am höchsten.
Diese Entwicklung beruht freilich auf dem erheblichen Vordringen der Geldstrafe im Zuge der Strafrechtsreform. Dies zeigt deutlich, daß die damalige Reform stark durch die zu jenem Zeitpunkt günstige Wirtschaftslage beeinflußt wurde, als nahezu jedermann über ausreichende finanzielle Mittel zu verfügen schien. Festzuhalten ist aber auch, daß die Ersatzfreiheitsstrafe als „Rückgrat des Geldstrafensystems“ (dazu Schädler 1983, 7 m.N.) unverzichtbar erscheint. In.diesem Sinne übt sie die Funktion eines letzten Druckmittels aus, dessen Notwendigkeit besonders gegenüber zahlungsunwilligen Verurteilten deutlich wird.
Auf der anderen Seite ist die Ersatzfreiheitsstrafenregelung jedoch höchst widersprüchlich. Denn Geldstrafe und Freiheitsstrafe sind zwei völlig verschiedene Kriminalsanktionen mit einem in der Regel unterschiedlichen Adressatenkreis. So ist zu beachten, daß auch die Vollstreckung einer uneinbringlichen Geldstrafe eine Freiheitsstrafe darstellt, und zwar eine echte Freiheitsstrafe (BGHSt 20, 16). Diese wird vollstreckt ohne eir. Abstellen auf die Schuldfrage und trotz problematischer Umrechnungskriterien bezüglich der Freiheitsstrafendauer einerseits und der Anzahl der Tagessätze andererseits (dazu Eisenberg 1995, 519).
Die Hauptschwierigkeit wird darin erblickt, daß es höchst unverhältnismäßig erscheint, Verurteilte wegen ihrer finanziellen Schwäche mit einschneidenden und stigmatisierenden Wirkungen einer – sei es auch noch so kurzen — Freiheitsstrafe zu konfrontieren (Schädler 1983, 5). So ergibt sich relativ häufig, daß allein die Mittellosigkeit des Verurteilten Anlaß zur Einweisung in die Strafanstalt bildet, was gleichzeitig bedeutet, daß er eine ihrer Natur nach einschneidendere Qualität von Strafe erleidet, als ihm gegenüber durch den Richter ursprünglich verhängt worden war. Auf diese Weise kann die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe mit niedrigerer Berufsposition bzw. Arbeitslosigkeit zusammentreffen (vgl. Albrecht 1980, 271, 301) bzw. mit sozialer Randständigkeit und Alter (Schädler 1985, 190; zur Substitution der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit gem. Art. 293 EGStGB siehe unten 8.).
6. Gewinnabschöpfung
Schrifttum: Dessecker, Gewinnabschöpfung im Strafrecht und in der Strafrechtspraxis. Freiburg 1992; Eser, Neue Wege der Gewinnabschöpfung. In: FS für Stree und Wessels. Heidelberg 1993, 833-853; Gradowski/Ziegler, Geldwäsche, Gewinnabschöpfung. Wiesbaden 1996; Hildenstab, Die Gewinnabschöpfung im Umweltstrafrecht. Köln 1990; Kaiser, Die Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitische Aufgabe. In: FS für Tröndle. Berlin 1989, 684-704; Kerner, Der Verbrechensgewinn als Tatanreiz aus kriminologischer Sicht. In: Macht sich Kriminalität bezahlt? Hrsg. v. Bundeskriminalamt. Wiesbaden 1987, 17-50; Kilchling u.a., Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Freiburg 1997; Oswald, Geldwäsche — Die Implementation gesetzlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Untersuchung des § 261 StGB in Verbindung mit dem Geldwäschegesetz. Freiburg 1997; Perron, Vermögensstrafe und erweiterter Verfall. JZ 48 (1993), 918-925; Werner, Bekämpfung der Geldwäsche in der Kreditwirtschaft. Freiburg 1996.
Im Rahmen der Bekämpfung organisierter Betäubungsmittelkriminalität hat die Gewinnabschöpfung in der rechtspolitischen Diskussion Bedeutung erlangt. Mit ihr wird eine „dritte Dimension“ der Verbrechensbekämpfung neben der Überführung der Tatbeteiligten und der Sicherstellung illegaler Drogen verfolgt. Der Anreiz zur Begehung besonders gewinnträchtiger Straftaten wie Betäubungsmittel- und Waffenhandel, Zuhälterei und bandenmäßiger Diebstahl soll durch die Gewinnabschöpfung verringert werden. Daneben gilt es, durch die Gewinnabschöpfung auch der Umweltkriminalität entgegenzuwirken (dazu Hildenstab 1990).
Das geltende Recht stellt als Möglichkeiten zur Gewinn- und Erlösabschöpfung seit dem im Herbst 1992 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) den Verfall, den Erweiterten Verfall und die Vermögensstrafe bereit. Die beiden Formen des Verfalls richten sich gegen das Eigentum. Sie beziehen sich allerdings nicht wie die Einziehung (§§ 74 ff. StGB) auf Tatwerkzeuge oder Tatprodukte, sondern auf den Bruttoerlös aus der Tat. Während die Grundform des Verfalls (§ 73 StGB) fordert, daß der Erlös aus einer Tat erlangt wurde, wegen der die Verurteilung erfolgt, greift der Erweiterte Verfall (§ 73 d StGB) bei bestimmten Delikten bereits dann ein, wenn die Umstände die Annahme rechtfertigen, daß Gegenstände Erlöse aus (irgendwelchen) Straftaten darstellen. Der Gesetzgeber hat die Rechtsnatur dieser Sanktionen offen gelassen. Die Einordnung als Maßnahme unter § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB ist ordnungstechnischer Natur und gibt keinen Aufschluß darüber, ob es sich bei den genannten Sanktionen um Strafen, Maßregeln oder Rechtsfolgen eigener Art handelt. Der Verfall, der nach altem Recht auf den Nettogewinn aus der Tat beschränkt war, wurde als quasi-kondiktionelle Ausgleichsmaßnahme verstanden. Nach der Reform liegt es näher, ihm wie manchen Formen der Einziehung einen strafähnlichen Charakter zuzusprechen. Demgegenüber richtet sich die Vermögensstrafe (8 43 a StGB) wie die Geldstrafe gegen das Vermögen, wird in ihrer Höhe aber außer durch den Grundsatz der Schuldangemessenheit der Strafe letztlich nur durch den Wert des Vermögens begrenzt.
Vor allem die Beweisschwierigkeiten, die eine zügige und erfolgreiche Gewinnabschöpfung hindern, führten dazu, die Geldwäsche als Vorbereitungshandlung und Rechtspflegedelikt unter Strafe zu stellen. Der Gesetzgeber hatte dabei von der Vielfalt der Erscheinungsformen auszugehen, in denen sich die Erschwerung oder Vereitelung des staatlichen Abschöpfungsanspruchs manifestiert. In Deutschland hat der Gesetzgeber durch das OrgKG § 261 StGB die Geldwäsche unter Strafe gestellt, jedoch mit nur wenigen Vortaten verknüpft, aus denen die Vermögensgegenstände herrühren. Deshalb besteht die Tendenz, die sogenannten Katalogtaten über die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung und Betäubungsmittelstraftaten auf Menschenhandel, Zuhälterei und umweltgefährdende Abfallbeseitigung sowie Korruption, Erpressung, Hehlerei und andere Vermögensdelikte zu erweitern (dazu Oswald 1997 m.N.). Das im Oktober 1993 in Kraft getretene Geldwäsche-Gesetz statuiert überdies bußgeldbewehrte Identifizierungs-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten vor allem der Kredit- und Finanzinstitute und hat zudem die Funktion eines „ Ausführungsgesetzes“ zu § 261 StGB, in dem die Verletzung seiner Handlungspflichten zugleich die objektive Pflichtwidrigkeit begründet, die den Vorwurf der Fahrlässigkeit, auch in Form der Leichtfertigkeit, bei der Erfüllung des Straftatbestandes der Geldwäsche beinhaltet (vgl. Werner 1996, 65 ff.). Allerdings bleibt noch immer der Zugriff auf die illegalen Gewinne des organisierten Verbrechens weit hinter den Erwartungen zurück (vgl. Kilchling u.a. 1997 m.N.). Die Bundesregierung beabsichtigt nunmehr mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Geldwäschebekämpfung (BR-Drucks. 554/96) eine Erweiterung des Katalogs der Straftaten, die Vortaten einer Geldwäsche sein können. Zudem soll die Verdachtsschwelle bei der Sicherstellung von Gegenständen zum Zwecke des Verfalls oder der Einziehung abgesenkt werden.
Die präventive Wirkung derartiger Maßnahmen zielt dahin, daß Kriminalität sich nicht lohnen darf. Voraussetzung für die Effektivität gewinnabschöpfender Maßnahmen ist, daß der erzielbare Gewinn einen Auslösefaktor für kriminelles Verhalten darstellt. Die Annahme beruht auf der kriminalökonomischen Theorie (dazu Dessecker 1992, 66 ff.). Danach läßt sich der handelnde Mensch von Kosten-Nutzen-Erwägungen leiten. Eine bestimmte Tätigkeit wird nur vorgenommen, wenn der erwartbare Nutzen die Aufwendungen überwiegt (Kaiser 1989, 688). Neben der Kriminalitätsbekämpfung durch Erhöhung der Sanktionskosten (Sanktionsintensität, -geschwindigkeit und -wahrscheinlichkeit) soll die Gewinnabschöpfung auf der anderen Seite des ökonomischen Kalküls ansetzen, der Verringerung des Nutzens (Kerner 1987, 28). Diese Theorie erscheint insofern fraglich, als sie den multikausalen Vorgang der Entstehung kriminellen Verhaltens zu eindimensional mit einer Kosten-Nutzen-Analyse erklärt. Auch entfalten nach Modellrechnungen gewinnabschöpfende Maßnahmen geringere Präventionswirkung als Sanktionserhöhungen.
Trotz der Unwägbarkeiten bei der Effizienzprognose — es fehlt vor allem an der empirischen Überprüfung der kriminalökonomischen Thesen — soll das Institut der Gewinnabschöpfung intensiviert werden, um so die organisiörte Kriminalität mit ihren immensen Gewinnen treffen zu können. Doch gegenwärtig wird davon noch selten Gebrauch gemacht. So entfielen in den Jahren 1976 und 1989 auf durchschnittlich 670 Verurteilungen 70 bzw. 307 Verfallanordnungen. Der Grund für die geringe Anwendung liegt auch in den Mängeln des bis 1992 geltenden Rechts. Auf Kritik sind insbesondere das nun beseitigte Nettoprinzip gem. § 73 Abs. 1 Nr. 1 StGB, die Subsidiarität des staatlichen Verfallanspruchs gegenüber Regreßansprüchen Dritter gem. § 73 Abs. 1 Nr. 2 StGB und verfahrensrechtliche Defizite bei der Beschlagnahme nach § 111 b StPO gestoßen. Ob die jüngsten Reformen die nach wie vor komplizierte Gesetzesregelung praktikabler gemacht haben, bleibt abzuwarten. Immerhin enthalten diese verschiedene Beweiserleichterungen beim Nachweis krimineller Gewinne aus einer Straftat. Die Novellierung begegnet aber verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Unschuldsvermutung und die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG (Dessecker 1992, 296 ff.).
7. Maßregeln der Besserung und Sicherung
Schrifttum: Bühringer u.a., Die Ausübung von justiziellem Zwang bei der Behandlung von Drogenabhängigen. In: Feuerlein u.a. (Hrsg.), Therapieverläufe bei Drogenabhängigen. Berlin u.a. 1989, 43-74; Bundesamt für Justiz (Hrsg.), Bericht zur Revision des Allgemeinen Teils und des Dritten Buches des schweizerischen Gesetzbuches. Bern 1993; Dessecker, Suchtbehandlung als strafrechtliche Sanktion. Wiesbaden 1996; Eder-Rieder, Rückfallstrafschärfung und Unterbringung gefährlicher Rückfalltäter im deutschen, österreichischen und schweizerischen Recht. KrimGegfr 17 (1986), 15-30; Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland, hrsg.v. Bundesministerium der Justiz. Bonn 1996; Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? Heidelberg 1990; Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand. Freiburg 1996; Leygraf, Psychisch kranke Straftäter. Epidemiologie und aktuelle Praxis des psychiatrischen Vollzugs. Berlin u.a. 1988; Mayerhofer, Die Krise der Sicherungsverwahrung. In: KrimGegfr 17 (1986), 31-45; Pallin, 88 21-27 ÖStGB. In: Wiener Kommentar, hrsg. v. Foregger u.a. Wien 1979 ff.,; Rasch, Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko. In: FS für Blau. Berlin u.a. 1985, 309-325; ders., Forensische Psychiatrie. Stuttgart u.a. 1986, 72-110; Rinke, Therapeutische Zwangsmaßnahmen bei Maßregelvollzug im Psychiatrischen Krankenhaus. NStZ 1988, 10-15; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar. München 1997 ‚ Schüler- Springorum, Die sozialtherapeutischen Anstalten — ein kriminalpolitisches Lehrstück? In: GS für Kaufmann. Berlin 1986, 167-187; Streng, Vikariierungs- Prinzipund Leidensdruck. Überlegungen zum Verhältnis von Therapie und Strafe im Rahmen von § 67 StGB. StrV 1987, 41-42; Volckart, Maßregelvollzug. Neuwied 1996*; Weber, Katamnesen psychisch auffälliger Straftäter unter Führungsaufsicht. München 1985.
Maßregeln der Besserung und Sicherung sind Kriminalsanktionen, welchen nach der Absicht des Gesetzgebers kein Strafcharakter zukommen soll. Sie entziehen oder beschränken die Freiheit der Betroffenen. Diese sollen nach Möglichkeit resozialisiert, zumindest aber soll die Allgemeinheit für begrenzte Zeit vor ihnen geschützt werden. Aufgabe und Zweck der Maßregeln ist in erster Linie die Besserung, weil die bloße Verwahrung, selbst wenn sie als „humane containment‘‘ menschenwürdig erfolgt, als unbefriedigend empfunden wird. Verwahrung als einziger Zweck kann dem gesteigerten Legitimationsdruck, dem die freiheitsentziehenden Kriminalsanktionen in der modernen Gesellschaft ausgesetzt sind, nicht standhalten. Dazu ist nur die Wiedereingliederung imstande. Deshalb darf auch der bloß zur Sicherung Untergebrachte von den sozialisierenden oder heilenden Angeboten der Vollzugs- und Verwahrungseinrichtungen nicht ausgeschlossen werden (88 129 £. StVollzG). Dem widerspricht keinesfalls, daß es im Rahmen der Freiheitsentziehung nicht als die Aufgabe des Staates betrachtet wird, Menschen um ihrer selbst willen oder zum Zweck sittlicher Hebung zu bessern (BVerfGE 22, 219). Denn eine Ausnahme gilt jedenfalls dann, wenn Menschen andere oder sich selbst gefährden. Ihre grundsätzliche Rechtfertigung finden die Maßregeln somit im Sicherungsbedürfnis der staatlichen Gesellschaft und in deren notwehrähnlicher Lage (vgl. dazu BVerfGE 91, 1, 28). Denn die Gesellschaft muß und darf sich vor ihren gefährlichen Mitgliedern in einem Umfang schützen, der ihr Sicherungsbedürfnis befriedigt (Schönke/Schröder/Stree 1997, Vorbem. 2 zu §§ 61 ff. StGB).
Im Grundsatz geht also auch das Maßregelsystem — obschon von der Sicherungsfunktion gerechtfertigt und teilweise durchdrungen – vom Therapiegedanken aus, so daß man in der Regel ein Recht auf Behandlung annimmt. Einen solchen Weg hat der Gesetzgeber etwa im Betäubungsmittelgesetz gemäß der Strategie „Therapie statt Strafe‘ beschritten. Mangels Therapieplätzen von dem Vorwegvollzug der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zugunsten der Strafverbüßung abzusehen, wäre unzulässig (BGH, NStZ 1982, 132).
Auch im übrigen meint der Gesetzgeber, den Sicherungsbedürfnissen der Allgemeinheit am besten dadurch Rechnung zu tragen, daß man Anstrengungen zur Heilung und Resozialisierung im Vollzug unternimmt. Allerdings wird diese Aufgabe von den einzelnen Maßregeln unterschiedlich wahrgenommen. Während die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor allem therapeutische Zwecke verfolgt, streben Sicherungsverwahrung, Berufsverbot, Entziehung der Fahrerlaubnis und Führungsaufsicht primär die Sicherung an. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nimmt wiederum eine Zwischenstellung ein.
Dem steht auf der anderen Seite aber ein Anspruch, von Behandlungsmaßnahmen verschont zu werden, gegenüber („right to be different‘). Dies fordert vor allem die jüngere Kritik ein, welche-parallel zur allgemeinen Kritik am Behandlungsvollzug — die These von der Unmöglichkeit wirklicher Therapie in Unfreiheit vertritt. Die Erzwingung von äußerlicher Therapiebereitschaft durch Strafvollzug sei nicht nur unergiebig, sondern geradezu ein erschwerender Faktor für die Therapie (so etwa Streng 1987, 41 £. m.w.N.). Als Konsequenz bliebe in diesem Fall allerdings nur die reine Verwahrung oder Strafverbüßung. Ein genereller Anspruch des Täters, von Behandlungsmaßnahmen verschont zu bleiben, besteht aber nicht. Jedoch muß für die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel nach einem neueren Urteil des BVerfG zumindest eine hinreichend konkrete Aussicht bestehen, den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren. Die bisherige Formulierung des § 64 I StGB, wonach die Anordnung einer Suchttherapie nur zulässig ist, wenn sie nicht von vornherein aussichtslos erscheint, verstößt dagegen nach Ansicht des 2. Senats des BVerfG gegen die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 91, 1 ff.; dazu Dessecker 1996, 1 ff., 23 ff.). In Fällen besonderer Akutsituationen — zu denken ist z.B. an eine Zwangsernährung beim Hungerstreik — und bei fehlender Krankheitseinsicht von bestimmten Gruppen der Gefangenen wie drogenabhängigen Delinquenten oder psychisch kranken Rechtsbrechern, ist die Zulässigkeit der Behandlung auch gegen den Willen des Betroffenen allgemein anerkannt (Rinke 1988, 11, 15). Im übrigen zeigen jüngere Ergebnisse der Evaluationsforschung aus der Schweiz und den USA (Bühringer u.a. 1989, 43, 70 f.), daß die unter Zwang vollzogene therapeutische Behandlung nicht unbedingt erfolgloser als die freiwillige Therapie ist. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die Ziele der Besserung mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, gelten die Maßregeln als „empfindliche Stellen unseres Strafrechtssystems“ (Rasch 1986, 72).
Einen Schritt weg von der geschilderten therapeutischen Ausrichtung des Maßregelsystems vollzog der Gesetzgeber, indem er im Jahre 1984 die geplante Maßregel der Überweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 65 StGB a.F.) nach mehreren „Verschiebegesetzen“ vor deren endgültigem Inkrafttreten zum 1.1.1985 gestrichen hat. Diese war ursprünglich als Kernstück des Maßregelsystems gedacht und in der Reformdiskussion ehemals „vollzugspolitisches Thema Nummer eins“ (Schüler-Springorum 1986, 167 £.).
Im Gegensatz zur bundesdeutschen Entwicklung wird jedoch in der Schweiz im Rahmen der Diskussion um eine Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen StGB die Einführung der Sozialtherapie erwogen, und zwar im Sinne der Maßregellösung (dazu Bundesamt für Justiz 1993). Als Vorbild dienen nicht nur die Erfahrungen in der Bundesrepublik, sondern auch entsprechende Regelungen in Portugal und Spanien.
Österreich, das den Maßregelvollzug erst seit 1975 eingeführt hat (dazu Rasch 1986, 73), kennt zwar keine spezifisch sozialtherapeutische Anstalt, doch in § 20 Abs. 2 öStGB die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, die sich hinsichtlich der für sie bestimmten Täter und insbesondere der angestrebten Resozialisierung in ihrem Anwendungsbereich mit dem der sozialtherapeutischen Anstalten überschneidet (dazu Pallin im Wiener Kommentar zum öStGB 1979 ff., § 21 Rdn. 1 u. 16). Die praktische Relevanz ist allerdings, verglichen mit den Gesamtzahlen im deutschen Maßregelvollzug geringer: 1995 gab es insgesamt 69 Unterbringungen nach §§ 21 Abs. 2, 22, 23 öStGB (öGer- KriSta 1995, 149). Dazu kamen noch 39 wegen Unzurechnungsfähigkeit Eingewiesene gem. § 21 Abs. 1 öStGB. Die jährliche Anordnung von Maßnahmen betrifft insgesamt weniger als 1% aller gerichtlichen Kriminalsanktionen.
Nach dem in Deutschland geltenden Maßregelrecht setzt die Verhängung von Maßregeln neben der konkreten Anlaßtat allgemein die begründete Erwartung künftiger nicht unerheblicher Straffälligkeit voraus (positive Gefährlichkeitsprognose: zur prognostischen Problematik eingehend oben § 43, 5). So wie die Zumessung der Strafe durch das Schuldprinzip begrenzt wird, ist die Anordnung einer Maßregel nur insoweit zulässig, als die mit ihr verbundenen Lasten nicht außer Verhältnis zu der vom Täter ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB). Um der optimalen Effizienz willen sollen die Maßregeln und Strafen der jeweils wechselnden Behandlungsbedürftigkeit und -empfänglichkeit des Täters angepaßt werden. Die Erfüllung dieser Aufgabe erscheint eher durch den Maßregelvollzug lösbar als durch den Strafvollzug. Deshalb bestimmt das Gesetz, daß — mit Ausnahme der Sicherungsverwahrung — die Maßregel grundsätzlich vor der Strafe, aber unter Anrechnung auf diese vollzogen werden soll (§ 67 Abs. 1 StGB). Dabei kann gegebenenfalls die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden (8 67 Abs. 5 StGB). Außerdem eröffnet das Gesetz Möglichkeiten zum vikariierenden Austausch von Strafen und Maßregeln und zur Überweisung des Täters aus einer Maßregelform in eine andere, wenn dadurch die spezialpräventiven Zwecke erreicht werden können (dazu Streng 1987, 41 f.).
Allerdings ist das Vikariierungsprinzip in jüngerer Zeit modifiziert worden, indem im Zuge des 23. StrÄndG vom 13.4.1986 das Verhältnis von Therapie und Strafe im Rahmen von § 67 StGB umgestaltet wurde. Die Neufassung hat dabei vor allem den drogenabhängigen Straftäter im Auge. Nach der Absicht des Gesetzgebers soll anscheinend die Motivation zur Therapie durch Erzeugung eines „Leidensdruckes“ gefördert werden (Streng 1987, 41). Dies bedeutet, daß die Bereitschaft, an der eigenen Rehabilitation mitzuwirken, durch den Druck einer noch nicht vollständig verbüßten Freiheitsstrafe erhöht werden soll (BTDrucks. 10/2720, 13). Aber auch ein teilweiser Vorwegvollzug ist nunmehr gesetzlich erleichtert worden (§ 67 Abs. 2 StGB n.F.). Obschon der Gesetzgeber den Begriff des Leidensdruckes vermieden hat, schließt er damit an die Judikatur einiger Senate des Bundesgerichtshofes an (z.B. BGH, NJW 1986, 141 m. Anm. v. Schüler-Springorum, StrV 1986, 478 ff.). Nach BGH (NStZ 1985, 91 f.) ist der Gesichtspunkt des Leidensdruckes „kein taugliches Kriterium für die Entscheidung“ in diesem Zusammenhang. Die Frage, ob Strafe Therapie fördert, ist aber bislang höchst umstritten’und zumeist bezweifelt worden (vgl. z.B. Rasch 1986, 76, 93 ff.). Man sieht in dieser Konzeption angeblich irrationale Vergeltungsbedürfnisse der Gesellschaft verwirklicht, welche in Therapiebedürfnisse des Täters gekleidet würden, und äußert den Verdacht des Etikettenschwindels (Streng 1987, 41£.).
Zahlenmäßig spielen allerdings Verhängung und Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln im Gegensatz zu ihrer Eingriffsintensität keine große Rolle. Sie beziehen sich im Altbundesgebiet auf etwa 4800 Untergebrachte pro Jahresstichtag. Diese machen weniger als 10% aller Strafgefangenen und Verwahrten aufgrund strafrichterlicher Entscheidung aus. Dabei entfallen etwa zwei Drittel auf psychisch Kranke, der Rest auf Suchtkranke sowie Sicherungsverwahrte (vgl. StVollzSta 1991, Reihe 4.1, 24). Jährlich ergehen knapp 1000 richterliche Anordnungen zum Maßregelvollzug.
Dabei sind die deliktstypischen Schwerpunkte je nach Maßregelart verschieden gelagert. Während Personendelikte und danach Sexualstraftaten bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorherrschen, dominieren bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Betäubungsmittel- und Eigentumskriminalität sowie bei der Sicherungsverwahrung wiederum die Sexualstraftaten und nachrangig Raub und Totschlag (vgl. Kinzig 1996, 210 ff., 569 f.). Dabei verändert sich das Kriminalitätsprofil bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entsprechend dem Alter. Während bei Jugendlichen und Heranwachsenden Sexualdelikte vorherrschen, rücken bei den Erwachsenen Gewaltdelikte in den Vordergrund.
Vornehmster Zweck der Anordnung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist Sicherung durch Heilung oder Besserung mittels der spezifischen Methoden der Psychiatrie. Die nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose mit folgender Unterbringung in die psychiatrische Krankenanstalt wird in etwa einem Dreißigstel der einschlägigen Fälle (i.§.d. §§ 20, 21 StGB) bejaht (vgl. Rasch 1986, 79 unter Hinweis auf die gegenläufigen Entwicklungen in der Anwendung von § 20 StGB einerseits und § 21 StGB andererseits). In der Mitte der fünfziger Jahre wurde die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch doppelt so häufig angeordnet wie heute. Auch bestehen regionale Unterschiede. Nicht selten sind die Beurteilungen von den Möglichkeiten der Unterbringung oder Behandlung des Rechtsbrechers abhängig. Besteht bei vermindert Zurechnungsfähigen die Möglichkeit, den Zustand durch Unterbringung und durch ärztliche Behandlung zu bessern, so ist die psychiatrische Krankenanstalt gegenüber der herkömmlichen Vollzugsanstalt zu bevorzugen. Allerdings ist die Unterbringung eines neurotischen oder triebgestörten Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus, das über keine Sonderabteilung mit für solche Persönlichkeiten notwendigen Sicherungen sowie über kein geeignetes und differenziertes Arbeits- und Behandlungsangebot verfügt, die ungünstigste Maßregel (zur demographischen Struktur der Patienten des Maßregelvollzugs Leygraf 1988, 19 ff.). Oft herrschen dort noch schlechte Unterbringungsbedingungen, die sogar weit hinter denen des Strafvollzugs zurückbleiben (Rasch 1986, 85). Dies kann wiederum zugleich die Entlassungschancen der Untergebrachten vermindern.
Die fortschreitenden Unsicherheiten in Diagnose und Prognose sind es wiederum, die besonders in den Vereinigten Staaten zu wachsender Kritik Anlaß geboten haben. Auch ist die Behandlung der psychisch kranken Täter im geltenden Recht nur unzureichend geregelt. § 136 StVollzG sieht lediglich vor, daß die nötige Aufsicht, Betreuung und Pflege gewährleistet werden. Ist aber die Behandlung aussichtslos, so beschränkt sich die Maßregel lediglich auf eine Unterbringung zum Schutz der Allgemeinheit. Tatsächlich hat denn auch die Verwahrung häufig den Vorrang. Daher ist die Gefahr des Mißbrauchs bei diesem Maßregelinstitut kaum abzuschätzen. Die durchschnittliche Unterbringungsdauer soll 6 bis 12 Jahre betragen. Deshalb kann bei manchen Untergebrachten infolge jahre- oder jahrzehntelanger Verwahrung oft kaum unterschieden werden, inwieweit ihr Verhalten noch von der ursprünglichen psychischen Störung oder aber von typischen Hospitalisierungsschäden bestimmt wird. Da im Laufe der Unterbringung die Ärzte nur vereinzelt Zustandsverbesserungen beobachten können, sind sie in ihrer Entlassungsbereitschaft sehr zurückhaltend, obwohl die Bewertung des Verhaltens auf der Krankenstation als Indikator einer Gefährlichkeitsprognose von umstrittenem Wert ist. Doch stets beinhaltet die Prognose nach der gesetzlichen Regelung — gerade im Hinblick auf die methodischen Unsicherheiten – ein „kalkuliertes Risiko“ (Rasch 1985, 319, 1986, 291 ff.). Auch werden wegen der unsicheren und schwierigen Rechtslage Experimente anhand von Vollzugslockerungen kaum gewagt.
Wie problematisch die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus auch heute trotz allgemein gestiegenen Problembewußtseins noch ist, veranschaulicht ein 1985 ergangenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 70, 297). Gerade die Umstände des zugrunde liegenden Sachverhaltes verdeutlichen, wie großzügig gelegentlich auch heute noch mit dieser problematischen Maßregel umgegangen wird. Dabei zielt die Kritik des Bundesverfassungsgerichts nicht auf den Gesetzgeber, sondern auf die Praxis, in der auch bedenklich leichtfertige Routinebeurteilungen vorzukommen scheinen. Eine derartige Handhabung aber möchte das Gericht – welches der Verfassungsbeschwerde des Antragstellers stattgegeben hat — offensichtlich eingeschränkt sehen, wenn es betont, daß eine mögliche Gefährdung der Allgemeinheit stets in ausreichendem Maße mit dem Freiheitsrecht des Betroffenen in Ausgleich gebracht werden muß und dabei die Anforderungen mit zunehmender Dauer der Maßregel steigen. Dabei muß der Richter – so das Bundesverfassungsgericht weiter — ein vertretbares Risiko auch eingehen (a.a.O., 315). Von diesem Urteil könnte ein Impuls zur weiteren Senkung der Häufigkeit dieser Maßregel ausgehen; immerhin betrug die Zahl der Anordnungen im Jahre 1994 noch 551. Teilweise ist auch an eine Verlagerung hin zur ambulanten Betreuung und Nachsorge wie im Schweizer Recht zu denken (vgl. etwa Rasch 1986, 78).
Die zahlenmäßige Bedeutung der Sicherungsverwahrung ist in den letzten Jahrzehnten empfindlich zurückgegangen. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers.
So wurden gegenüber 206 Personen im Jahre 1964 lediglich 40 Täter im Jahre 1994 zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verurteilt. Die Gesamtzahl der Sicherungsverwahrten verminderte sich dementsprechend von 833 auf nur noch 180 Personen (StVSta 1994, 267; StVollzSta 1964, 27, Jehle 1996, 44; zur empirischen Bestandsaufnahme Kinzig 1996, 129 ff., 563 ff.).
In Österreich besteht mit der Anstalt für gefährliche Rückfalltäter (§ 23 öStGB) ebenso wie in der Schweiz hinsichtlich der Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern (Art. 42 schwStGB) eine ähnliche Rechtseinrichtung. Wenn sich diese in der Ausgestaltung und den gesetzlichen Voraussetzungen auch untereinander und gegenüber der deutschen Regelung unterscheiden (dazu Eder-Rieder 1986, insbesondere 26 ff.), so ist doch übereinstimmend die praktische Relevanz relativ gering (Eder-Rieder 1986, 28 m.N.; ferner Mayerhofer 1986, 31 ff.). Dabei sind aber nicht unerhebliche Unterschiede festzustellen. Während Österreich schon hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen (insb. der eng umschriebenen Anlaßtat) im Vergleich der drei Länder die restriktivste Lösung verwirklicht hat, ist die Lage in der Schweiz bei näherer Betrachtung wesentlich anders, obgleich auch hier ein gewisser Rückgang seit Beginn der siebziger Jahre auffällt. So stehen einer Zahl von 68 Verwahrungen im Jahre 1970 eine durchschnittliche Neuanordnung von bis zu 10 Fällen in den neunziger Jahren gegenüber. Dadurch befinden sich im Jahresdurchschnitt nur noch rd. 100 Verwahrte im Vollzug dieser Maßnahme, eine Zahl, die angesichts der 200 Sicherungsverwahrten in der Bundesrepublik Deutschland als relativ hoch erscheint. So wird denn auch die zu breit angelegte gesetzliche Regelung zunehmend kritisiert und im Zuge des Vorentwurfs zur Revision des Allgemeinen Teils des schwStGB überdies die Abschaffung dieser Maßnahme, jedenfalls aber deren erhebliche Einschränkung vorgeschlagen. Man orientiert sich dabei an den Beispielen der Niederlande und Schwedens, die keine entsprechende Maßnahmen kennen. Auf jeden Fall müsse geändert werden, daß Art. 42 schwStGB immer noch gegenüber bloß asozialen, sogenannten harmlos-lästigen Gewohnheitstätern Anwendung findet.
Ganz anders wiederum verhält es sich mit den nicht freiheitsentziehenden, sondern nur freiheitsbeschränkenden Maßregeln. Diese erfüllen vor allem eine Überwachungs- und Sicherungsaufgabe. Obwohl sie als ambulante Maßnahmen weniger eingreifen als stationäre Sanktionen, ja diese partiell ersetzen, sind sie teilweise wie im Falle der Führungsaufsicht umstritten. Sie haben jedoch eine recht erhebliche Bedeutung gewonnen. Allein die Entziehung der Fahrerlaubnis erfolgt jährlich in mehr als 170.000 Fällen. Demgegenüber treten die jährlichen Anordnungen von Führungsaufsicht und Berufsverbot mit kaum mehr als 200 Fällen stark zurück (StVSta 1994, 71 ff.).
8. Alternativen zur Freiheitsstrafe
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Ansätze und Perspektiven für die gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege. BewHi (1985), 121-134; Cornils, Gemeinnützige Arbeit in den nordischen Ländern. MschrKrim 78 (1995), 322-329; Dölling, Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug. ZStW 104 (1992), 259-289; Dünkel, Alternativen zur Freiheitsstrafe im europäischen Vergleich. In: Freiheit statt Strafe, hrsg. v. Ortner. Tübingen 19867, 147-186; Foucault, Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1977, Fuchs, Der community service als Alternative zur Freiheitsstrafe. Pfaffenweiler 1985; Heinz, Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutschland. In: FS für Jescheck. Berlir u.a. 1985, 955-976; Kerner/Kästner (Hrsg.), Gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege. Bonn-Bad Godesberg 1986; Riklin, Gemeinnützige Arbeit statt Freiheitsstrafe? In: Festgabe für Rötheli. Solothurn 1990, 511-526; Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten zum 59. DJT. Hannover 1992; Tonry, Sentencing Matters. New York u.a. 1996; Weigend, Privatgefängnisse, Hausarrest und andere Neuheiten. Antworten auf die Krise des amerikanischen Strafvollzugs. BewHi 36 (1989), 289-301; ders., Sanktionen ohne Freiheitsentzug. GA 139 (1992), 345-367.
Wie die Häufung im Fachschrifttum und die wachsende Dichte der Diskussion anzeigen, finden die aktuellen Veränderungsbedürfnisse des Systems der Kriminalsanktionen ihren Schwerpunkt in der Frage nach den Alternativen zur Freiheitsstrafe. Die Suche nach überlegenen Problemlösungen stellt sich heute mit zunehmender Dringlichkeit: Krise der Freiheitsstrafe sowie kaum noch finanzierbare Haft- und Folgekosten verstärken den Druck, Änderungen im strafrechtlichen Sanktionenbereich herbeizuführen. Besonders die Bundesrepublik, aber auch Österreich weisen hohe Gefangenenzahlen auf. Beide Staaten stehen bezüglich der Gefangenenrate mit an der Spitze sämtlicher Mitgliedstaaten des Europarätes. Demgegenüber bewegt sich die Schweiz im Mittelfeld — angesichts des relativ hohen Anteils an unbedingt verhängten Freiheitsstrafen ein erstaunlich gutes Ergebnis. Dennoch stellen sich die Überlegungen dort nicht prinzipiell anders.
Das Nachdenken über Alternativen zur Freiheitsstrafe beherrscht auch deshalb in verstärktem Maße die internationale Diskussion, da der Strafvollzug die in ihn gesetzten Erwartungen offenbar nicht erfüllt. Rückfallquoten von mehr als 60% bescheinigen ihm Versagen: Haftschäden und Stigmatisierungswirkungen lassen ihn im Hinblick auf das Ziel der Resozialisierung geradezu als kontraindiziert erscheinen. Kosten-Nutzen-Analysen belegen das krasse Mißverhältnis von Aufwand und Erfolg. Selbst der Behandlungsvollzug läßt sich mit dem Anspruch, derartige Mängel zu vermeiden, nur selten verwirklichen und schon gar nicht breitenwirksam anwenden. Es bestehen deshalb Zweifel, ob der Strafvollzug den an ihn gerichteten Anspruch überhaupt erfüllen kann. Ansätze, welche die Institution des Gefängnisses in Frage stellen, haben dort ihren Ausgangspunkt.
Der Abolitionismus, welcher — partiell auf der Strafphilosophie Foucaults (1977) und dessen Analyse des Gefängnisses beruhend – eine totale Absage an das Gefängnis postuliert und dem heutigen Strafrecht die Hypothese des Nichtbedarfs an Strafe entgegenstellt, ist nur das extreme Beispiel einer breitgefächerten Erörterung, welche eine Reihe berechtigter Fragen aufgeworfen und bereits ein beachtliches Spektrum an Alternativsanktionen entworfen hat, obschon diese nicht immer ausgereift, zweckmäßig oder sinnvoll erscheinen (zum Abolitionismus eingehend oben § 14, 5; zu den Möglichkeiten der Konfliktregelung siehe unten § 49).
Wichtige Ersatzmittel sind nach geltendem Recht die Strafaussetzung zur Bewährung – in der Schweiz bedingter Strafvollzug -, die bedingte Entlassung sowie die Geldstrafe. Aber auch die bedingte Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO leistet einen erheblichen Beitrag zur Senkung der Verurteiltenzahl und mittelbar auch zur Einschränkung der Freiheitsstrafe.
Trotz starker Ausweitung der Strafaussetzung in den letzten Jahren wurde die beabsichtigte Verminderung der Gefangenenbevölkerung nicht erreicht. Auch die Geldstrafe kann gegenwärtig nicht als Alternative zur Freiheitsstrafe schlechthin verstanden werden, da ihr Anwendungsbereich in der Bundesrepublik, anders als z.B. in Japan, auf die kleine und mittlere Kriminalität beschränkt wird. Solange die Ersatzfreiheitsstrafe überdies den einzigen oder hauptsächlichen Ersatz für die uneinbringliche Geldstrafe darstellt, bleibt diese Alternative zur Freiheitsstrafe unzulänglich.
Indessen zeichnet sich eine Änderung dieser unbefriedigenden Situation ab. So wird z.B. Art. 293 EGStGB, wonach die Länder Rechtsverordnungen erlassen können, welche die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit regeln, als realistische Möglichkeit begriffen, der Überbelegung des geschlossenen Vollzugs und besonders dem Ansteigen der Ersatzfreiheitsstrafen entgegenzuwirken. Neu ist diese Alternative zwar nicht. Denn bereits 1924 hatte der Gesetzgeber in § 28 b StGB a.F. diese Tilgungsmöglichkeit vorgesehen. Mangels Bereitschaft der Verwaltung, die notwendigen Ausgestaltungsregelungen zu treffen, war sie jedoch praktisch nie genutzt worden.
Die neueren Erfahrungen aus Hessen und Bremen haben überdies gezeigt, daß die bislang vorherrschenden Bedenken und Hindernisse nicht unüberwindlich sind. Der gemeinnützigen Arbeit als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe wird in ihrer gegenwärtigen Erprobungsphase im Schrifttum außerdem eine Art Pilotfunktion für die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als eigenständiger Sanktion beigemessen.
Im Gegensatz zur freien Arbeit i.§.d. Art. 293 EGStGB als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe ist der englische community service, durch den Criminal Justice Act 1972 eingeführt und seit 1975 in ganz England und Wales angewandt, als selbständige Hauptstrafe für alle Taten gedacht, die mit Freiheitsstrafe geahndet werden können. Unter Aufsicht leistet der Verurteilte während seiner Freizeit zwischen 40 und 240 Stunden unentgeltlicher sozialer Arbeit. Seine Einwilligung ist hierfür erforderlich, nicht nur im Hinblick auf Art. 4 IITa EMRK, sondern auch deshalb, weil eine auf Zwang beruhende, vom Verurteilten abgelehnte Arbeit als wenig sinnvoll und wirksam angesehen wird.
Für die gemeinnützige Arbeit als alternative Hauptstrafe spricht neben Kostengesichtspunkten ferner die Kombination verschiedener Strafzwecke, die durch sie verwirklicht werden können: Das Strafübel für den Täter besteht in dem Entzug der Freiheit, die in der heutigen Gesellschaft immer höher bewertet wird; Wiedergutmachung wird durch die soziale Arbeit an die Gesellschaft geleistet; Resozialisierung des Täters wird dadurch erleichtert, daß seine sozialen Kontakte durch den Eingriff nicht gestört werden, und gefördert, indem er durch die Arbeit konstantes Arbeitsverhalten erlernt, soziales Verantwortungsgefühl entwickelt und mehr Selbstvertrauen erhält. Skepsis hinsichtlich der Eignung gemeinnütziger Arbeit, in größerem Umfang die unbedingte Freiheitsstrafe zu ersetzen, folgt aus der Erfahrung der angloamerikanischen Praxis (vgl. dazu Tonry 1996, 121 ff.). Trotz entgegenstehender Intention wird der community service in England vorwiegend als Alternative zur Geld- bzw. kurzen Freiheitsstrafe eingesetzt. Daher wurde der eigentliche Zweck, die Verminderung der Gefängnispopulation, nicht erreicht. Ungleiche Zumessungspraktiken, Unsicherheiten hinsichtlich der Einstufung des community service im Sanktionensystem, Probleme im Hinblick auf Ersatzmaßnahmen bei Nicht- oder Schlechtleistung sowie Rückfallquoten von ca. 44% nach Beendigung des community service relativieren den anfangs nahezu uneingeschränkten Optimismus. Spielarten des community service wie auch der freien Arbeit i.S.d. Art. 293 EGStGB bestehen jedoch inzwischen in den meisten westeuropäischen Ländern (zur Lage in Skandinavien siehe Cornils 1995, 322 ff.), in Amerika und schließlich in Form arbeits- und freiheitsbeschränkender Strafen auch in Osteuropa. Sie befinden sich offenbar auf dem Vormarsch.
Möglichkeiten, die gemeinnützige Arbeit ohne die Verbindung mit uneinbringlicher Geldstrafe gem. Art. 293 EGStGB einzusetzen, bestehen de lege lata in der Bundesrepublik lediglich in Form der Weisung gem. § 10 Abs. 1 Nr. 4 JGG bzw. i.V.m. §§ 23 I, 27, 29 JGG im Jugendstrafrecht oder als Nebenanordnungen im Erwachsenenstrafrecht in Form der Bewährungsauflage gem. § 56 b II Nr. 3 bzw. i.V.m. §§ 57 1, I, 59 all StGB. Ferner kann gemeinnützige Arbeit im Bereich der Bagatellkriminalität als Auflage gem. § 153 al Nr. 3 StPO angeordnet werden. § 52 AE-StGB, der die gemeinnützige Arbeit als Alternativsanktion zur Freiheitsstrafe, also nicht lediglich im Falle ihrer Uneinbringlichkeit als Surrogat für die Ersatzfreiheitsstrafe einführen wollte, konnte sich in der Reformdiskussion nicht durchsetzen. Immerhin stehen verfassungsrechtliche Bedenken der Einführung gemeinnütziger Arbeit als eigenständiger Sanktion in der Bundesrepublik, namentlich in Bezug auf das Verbot des Arbeitszwanges und der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2, 3 GG), nicht entgegen, da die Verhängung der Sanktion von der Zustimmung des Verurteilten abhängt.
In der Schweiz hingegen wird die Verpflichtung zu einer Arbeitsleistung seit 1974 im Jugendstrafrecht in großem Umfang erfolgreich angewandt. Daneben besteht seit Mai 1990 für die einzelnen Kantone die Mögliehkeit, kurze Freiheitsstrafen bis zu 30 Tagen in der Form der gemeinnützigen Arbeit zu vollziehen. Damit hat der Schweizer Bundesrat die gemeinnützige Arbeit grundsätzlich als Vollzugsform anerkannt. Man rechnet damit, daß bis zum Ende dieses Jahrzehnts die gemeinnützige Arbeit als selbständige Sanktion Aufnahme in das StGB finden wird; der Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils sieht diese Möglichkeit bereits heute vor (Riklin 1990, 512 £.).
Wie die gemeinnützige Arbeit zielt die Wiedergutmachung auf eine möglichst sinnvolle und konstruktive Leistung des Täters als Beitrag zur Aussöhnung mit der Gesellschaft. Als Sanktion ist sie in der Bundesrepublik nur in Form von Auflagen und Weisungen, meist i1.V.m. anderen Sanktionen möglich und kommt bloß selten zur Anwendung (dazu unten § 49 mit eingehenden Belegen). Die während der letzten Jahre zahlreich eingeführten Wiedergutmachungsprogramme wirken jedoch ermutigend aufgrund ihres Erfolges — gemessen an gesellschaftlicher Akzeptanz und Erfüllung der jeweiligen Auflagen durch die Verurteilen. Im Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 wurden zusätzliche Elemente des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Wiedergutmachung aufgenommen. So ist nunmehr im Falle der Wiedergutmachung ein Strafverzicht bei allen Taten möglich, durch die eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verwirkt ist (§ 46 a StGB, zu Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich siehe unten § 49).
Als Alternative zur klassischen Freiheitsstrafe ist weiterhin der auf bestimmte Zeiten beschränkte Freiheitsentzug zu nennen, bei welchem die Freiheit grundsätzlich am Wochenende, am Feierabend oder über Nacht entzogen wird, so daß der normale Tagesrhythmus und das soziale Umfeld erhalten bleiben. Davon zu unterscheiden sind Sanktionen wie die „‚kontrollierte Freiheit“ (Italien) oder die Freiheitsbeschränkungsstrafe einiger osteuropäischer Staaten (z.B. Polen). Eine Nebenstrafe nicht freiheitsentziehender Natur bildet ferner das Fahrverbot. Zudem ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt gem. § 59 StGB hervorzuheben, von der allerdings die Praxis wenig Gebrauch macht. Eine Sanktion ganz anderer Art ist in Schweden vorgesehen und in einigen Staaten Nordamerikas eingeführt: das sogenannte „contract treatment‘ sowie sein Vorläufer, das „Civil-Commitment- Program“. Ihnen liegt die Auffassung zugrunde, daß die Gesellschaft eher bereit ist, auf traditionelle Bestrafung zu verzichten, wenn ein Entgegenkommen des Delinquenten in Form des Eingehens einer Verpflichtung zur Behandlung die Unrechtseinsicht und den Besserungswillen verdeutlicht. Da die Zielgruppe dieser Sanktion lediglich aus alkohol- und drogenabhängigen Tätern besteht – für letztere bildet § 35 des deutschen Betäubungsmittelgesetzes eine vergleichbare Regelung -, ist die Alternativwirkung dieser Sanktion sehr beschränkt.
Außerdem wird in den USA seit 1987 ein elektronischer Hausarrest („electronic monitoring‘) praktiziert, der sich dort seither wachsender Beliebtheit erfreut. 1989 wurde diese primär als Alternative zur unbedingten Freiheitsstrafe, jedoch auch anstelle einer Bewährungsstrafe oder Untersuchungshaft vorgesehene Sanktion bereits in 37 Bundesstaaten angewandt (NJ-Report 221 [1990], 9). Dabei wird der Verurteilte mittels eines Armbandes an ein Computersystem angeschlossen, so daß sein Aufenthaltsort jederzeit zu ermitteln ist. Damit kann die Befolgung von Anweisungen, z.B. sich zu bestimmten Zeiten über einen bestimmten Zeitraum zu Hause aufzuhalten, von außen lückenlos kontrolliert werden (kritisch jedoch Tonry 1996, 117 ff. m.N.).
In der Bundesrepublik Deutschland wird der elektronisch überwachte Hausarrest, so wie er in den USA angewandt wird, von Anfang an erheblich kritisiert (vgl. Weigend 1989, 289 ff.). Zwar ist zuzugeben, daß der Verurteilte in seinem beruflichen und sozialen Lebensbereich verbleiben kann und nicht mit der totalen Institution „Gefängnis“ konfrontiert wird. Ferner besticht die Sanktion durch ihre Flexibilität, da sie den persönlichen Umständen des Verurteilten angepaßt werden kann. Dennoch überwiegen die Nachteile. Einmal ist zu berücksichtigen, daß die unverschlossene Haustür — anders als im Fall der Inhaftierung in der Strafvollzugsanstalt — eine ständige Versuchung darstellt und den psychischen Druck verstärkt. Zum anderen ergeben sich verfassungsrechtliche Bedenken. So stellt der elektronische Hausarrest einen Eingriff in die Privatsphäre, ein Einfallstor für legale Möglichkeiten der elektronischen Totalüberwachung und -ausforschung dar (Weigend 1989, 300 ff.). Eine Einführung des „electronic monitoring“ dürfte damit in der Bundesrepublik nicht in Betracht kommen (kritisch Schöch 1992, 101). Gleichwohl wird sie neuerdings von den Senatoren für Justiz in Berlin und Hamburg erwogen (vgl. FAZ Nr. 22 v. 22.1.1997).
Insgesamt ist festzuhalten, daß die bisher entwickelten Alternativen nur zum Teil einen wirklichen Ersatz für die Freiheitsstrafe darstellen. Entweder beschränken sie sich auf bestimmte Tätergruppen oder Deliktsbereiche, häufig auf beides, oder sie sind besonders aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich und daher nicht anwendbar. Als allgemein leichtere Sanktionen führen sie in der Mehrzahl der Fälle zu einem Austausch mit ebenfalls weniger eingreifenden Sanktionen und nicht, wie eigentlich beabsichtigt, der Freiheitsstrafe. Daher giltes, nicht nur weitere Alternativen auch hinsichtlich der Täter — die aufgrund ihrer Persönlichkeit oder des begangenen Unrechts tatsächlich eine Freiheitsstrafe zu erwarten hätten — zu entwickeln, sondern darüber hinaus die Bereitschaft der Organe der Strafverfolgung zu fördern, diese Alternativsanktionen anstelle der Freiheitsstrafe auch tatsächlich zu verhängen
§ 46 International-pönologische Perspektiven
Schrifttum: Burgstaller, Zur Entwicklung der Strafenpraxis nach der Strafrechtsreform. ÖJZ 42 (1987), 417-428; Dünkel/Spieß, Alternativen zur Freiheitsstrafe — Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe im internationalen Vergleich. Freiburg 1983; Garland, The Limits of the Sovereign State. Strategies of Crime Control in Contemporary Society. BritJCrim 36 (1996), 445-471; Heiland, Das wohlfahrtsstaatliche Sanktionspuzzle — Zur Entwicklung und Verteilung der Strafen in England und Wales, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. In: Der Wohlfahrtsstaat und seine Politik des Strafens, hrsg. v. Haferkamp. Opladen 1990, 63-133; Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht. Baden-Baden 1984; Kaiser, Perspektiven vergleichender Pönologie. MschrKrim 63 (1980), 366-378; ders., Strafvollzug im internationalen Vergleich. In: GS für Kaufmann. Berlin u.a. 1986, 499-621; Kalmthout/Tak, Sanctions-Systems in the Member States of the Council of Europe. Deprivation of Liberty, Community Service and other Substitutes. Bd. 1 u. 2. Deventer u.a. 1988 u. 1992; Morgan, English Penal Politics and Prisons: Going for Broke. Overcrowded Times 7 (1996), 6, 1, 20 £.; Riklin, The Death of Common Sense — Kritische Gedanken zur gegenwärtigen amerikanischen Kriminalpolitik. In: FS für Rehberg. Zürich 1996, 269-283; Shichor/Sechrest (eds.), Three Strikes and You’re Out. Vengeance is Social Policy. London u.a. 1996; Tournier, Statistics on Prison Population in the Member States of the Council of Europe. Penological Information Bull 19 and 20 (1994-1995), 34-92.
Zu komparativer Pönologie kann man bekanntlich auf verschiedenen Wegen ansetzen. Doch stets steht die Frage im Mittelpunkt, wieviele Strafen in welcher Art und Höhe im Sinne eines präventiven Optimums notwendig sind. Obgleich die Hindernisse nicht verkannt werden, die dem internationalen oder dem interkulturellen Vergleich entgegenstehen, hat man in neuerer Zeit die komparative Analyse von Strafrechtssystemen und den jeweils betroffenen Populationen vorangetrieben. So kann man Systeme der Verbrechenskontrolle sowohl nach ihrer rechtsstaatlichen Qualität, nach dem Grad der (negativen) Chancengleichheit als auch nach ihrem Sozialisationspotential zu messen suchen und einander gegenüberstellen. Will der Maßstab für Punitivität oder Reaktionsbereitschaft des Systems jedoch überzeugen, so müßte er eigentlich die Zahl der Strafen mit der Zahl der Verbrechen nach Art und Schwere in Beziehung setzen. Um den punitiven Gehalt der verschiedenen Strafrechtssysteme vergleichbar zu machen, bedarfes der Benutzung von Indikatoren und Indexbildungen. Bei der Suche danach nehmen Freiheitsstrafe und Gefangenenzahlen eine zentrale Stellung ein. Dies kann einmal als Zeichen dafür gelten, welch hohen Rang heutzutage Staat und Gesellschaft der Entziehung oder Beschränkung von Freiheit einräumen. Zum anderen verdeutlicht es, in welchem Grade Zwecke der Prävention und „inneren Sicherheit“ noch immer durch die Verknüpfungen mit der Freiheitsstrafe verfolgt werden. Dies lassen besonders repressive Strategien und Praxis der amerikanischen Kriminalpolitik erkennen. Berühmt geworden ist das 1994 in Kalifornien geschaffene „Three Strikes and you’re out“-Gesetz (Drei Fehltritte und Du bist weg N), welches in Fällen, in denen sich ein Straftäter zum dritten Mal vor Gericht verantworten muß, besonders drastische Strafen von mindestens 25 Jahren Dauer oder lebenslängliche Haft ermöglicht, wobei eine bedingte Entlassung frühestens nach zehnjähriger Verbüßung in Betracht kommt (kritisch Riklin 1996, 272, Shichor u.a. 1996).
Bekanntlich herrschte in den fünfziger und sechziger Jahren der Behandlungsgedanke in der internationalen Theoriediskussion vor, nicht zuletzt unter dem Einfluß der defense sociale. Seit den 70er Jahren hat der Strafgedanke eine Renaissance erfahren. Werden derartige Wandlungen auch vorwiegend in Nordamerika, England und Skandinavien erörtert, so widersprechen sie doch einem Trend, der hierzulande vor drei Jahrzehnten mit dem „Abschied von Kant und Hegel“ eingeleitet wurde Wird die niederländische Praxis der kurzen Freiheitsstrafen nachträglich mit Hegel und dem Vergeltungsgedanken theoretisch zu begründen gesucht, so die nordische Handhabung mit der Generalprävention.
Wie in anderen europäischen Staaten beobachten auch wir einerseits die erneute Zunahme langer Freiheitsstrafen. Andererseits hat die Strafaussetzung während der letzten beiden Jahrzehnte in Westeuropa und den USA die vollstreckte Freiheitsstrafe durchweg an Häufigkeit überrundet. Hier handelt es sich um eine Entwicklung, die mit dem Behandlungsgedanken verbunden oder als „Alternative zur Freiheitsstrafe“ ausgestaltet, schon in den fünfziger Jahren eingesetzt hat. Die vergleichende Analyse der Sanktionenstatistik zeigt überdies den Siegeszug der Geldstrafe als Ausdruck des Strafgedankens, freilich nicht uneingeschränkt. Staaten der postkommunistischen Gesellschaft einerseits und westliche Länder wie Frankreich und die Schweiz andererseits veranschaulichen, daß man einem abweichenden Sanktionsstil mit nicht mindergroßem „Erfolg“ anhängen kann. Hingegen sichern Deutschland, England und Wales, Japan und Schweden der Geldstrafe eine beachtliche Anwendungsbreite, ordnen jedoch im Falle der Nichtbeitreibung die Ersatzfreiheitsstrafe höchst unterschiedlich an, ohne daß es dadurch bislang erkennbar zu erheblichen Störungen im Sanktionenvollzug gekommen wäre. Wenn dies aber so ist, stellt sich die Frage nach der Erforderlichkeit von Sanktion und Praxis mit besonderer Schärfe. Dabei kann wiederum die Verbrechenswirklichkeit und deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung nicht außer Betracht bleiben.
In vergleichender Perspektive hat der Sanktionierungsstil der Niederlande zunehmend Modellcharakter gewonnen. Die dort noch immer relativ niedrige Gefangenenpopulation (Tournier 1994-1995, 37, 69) ist um so erstaunlicher, als Kriminalitätsrate und Verbrechenswirklichkeit den entsprechenden Befunden in den übrigen westeuropäischen Staaten kaum nachstehen. Allerdings muß man neben der weitgehenden Praktizierung kurzer Freiheitsstrafen auch die von Zeit zu Zeit notwendig werdende Anordnung von Gnadenaktionen, die Einrichtung einer sogenannten „Warteliste“ für die zu Freiheitsstrafe Verurteilten und nicht zuletzt die billigende Hinnahme einer derartigen Praxis durch die niederländische Bevölkerung berücksichtigen. Immerhin ist es auch in den Niederlanden gelegentlich zu Proteststreiks der Gefangenen wegen der Verminderung des Aufsichtspersonals und der beträchtlichen Erhöhung der Kapazität der Strafanstalten gekommen. Wenn aber die Bevölkerung wegen rigider Wertvorstellungen oder spektakulärer Kriminalfälle und aus Verbrechensangst nicht geneigt ist, eine auf Resozialisierung und Solidarität angelegte Vollzugspolitik mitzutragen oder zumindest zu tolerieren, dann dürfte es auch kaum möglich sein, mit niedrigen Gefangenenzahlen auszukommen.
Vergleicht man freilich nicht die Gefangenenziffern, sondern die Verurteilungen zu Freiheitsstrafe, bezogen auf die Zahl derjenigen Personen, die in der Bevölkerung überhaupt von Freiheitsstrafen betroffen werden, dann sieht das Bild der Niederlande ebenso wie jenes von Schweden, wo ebenfalls eine sogenannte Warteliste existiert, wesentlich anders aus. Dann nämlich werden im Durchschnitt in den Niederlanden und in Schweden erheblich mehr Personen pro hunderttausend der jeweiligen Bevölkerung zu Freiheitsstrafen verurteilt, als dies etwa im Bundesgebiet der Fall ist. Auch andere Länder wie die Schweiz, Österreich, Frankreich oder Italien verurteilen wesentlich häufiger zu Freiheitsstrafen, wenn man die Bezugsgruppen der Bevölkerung konstant hält (dazu Tournier 1994- 1995, 56, 85). Daß sie mit Ausnahme Österreichs gleichwohl geringere Gefangenenpopulationen — bezogen auf die jeweilige Bevölkerung — aufweisen, wirft erneut die Frage auf, wie diese Staaten es fertigbringen, ein solches Ergebnis zu erzielen: offenbar durch eine gemischte Strategie von kurzen Freiheitsstrafen, bedingten Entlassungen, Gnadenerlassen und sonstigem Sanktionsverzicht. Andernfalls müßten die Staaten, die eine der Bundesrepublik vergleichbare Zahl von Tätern zu langen Freiheitsstrafen verurteilen wie die Schweiz und Frankreich, wesentlich höhere Gefangenenziffern aufweisen.
Überdies zeigt die vom Gesamtsystem der Sozialkontrolle abhängige Bedeutung der Kriminalsanktionen, daß Vergleiche nur dann aussagekräftig werden, wenn die Strukturen der Kontrollsysteme in den zu untersuchenden Gesellschaften insgesamt ähnlich sind und damit vergleichbar erscheinen. Andernfalls kann aus unterschiedlichen Gefangenenziffern der zu vergleichenden Länder nicht geschlossen werden, daß Staaten mit höherer Gefangenenziffer auch entsprechend punitiver seien, z.B. England und Wales oder die Bundesrepublik doppelt und die USA gar sechsmal so punitiv wie die Niederlande. Erfragte Einstellungen der Bevölkerung, insbesondere nach dem sogenannten Euro-Barometer, sprechen eher für das Gegenteil.
§47 Angewandte Viktimologie: Verbrechensopfer und Strafrechtspflege
Schrifttum: Arzt, Viktimologie und Strafrecht. MschrKrim 67 (1984), 105-124; Eser, Zur Renaissance des Opfers im Strafverfahren. Nationale und internationale Tendenzen. In: GS für A. Kaufmann. Köln u.a. 1989, 723-747, Hassemer, Rücksichten auf das Verbrechensopfer. In: FS für Klug. Köln 1983, 217-234; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten. Göttingen 1981; Hirsch, Zur Stellung des Verletzten im Straf- und Strafverfahrensrecht. Über die Grenzen strafrechtlicher Aufgaben. In: GS für A. Kaufmann. Köln u.a. 1989, 699-721; Janssen/Kerner (Hrsg.), Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz. Das Opfer im Spannungsfeld der Handlungs- und Interessenkonflikte. Bonn 1985; Kaiser/Kury/Albrecht (eds.), Victims and Criminal Justice. Vol. 51: Legal Protection, Restitution and Support. Freiburg 1991; Rössner/Wulf, Opferbezogene Strafrechtspflege. Leitgedanken und Handlungsvorschläge für Praxis und Gesetzgebung. Bonn 1984; Roxin, Viktimodogmatik und materielles Unrecht. In: Strafrecht A.T. München 1992, 375-378; Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege. Berlin u.a. 1982; Schünemann, Die Zukunft der Viktimo-Dogmatik: die viktimologische Maxime als umfassendes regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung im Strafrecht. In: FS für Faller. München 1984, 357-372, Zipf, Schadenswiedergutmachung, gemeinnützige Arbeit, Täter-Opfer-Ausgleich. In: Verhandlungen des 10. Österreichischen Juristentages. Abteilung Strafrecht. Wien 1989, 75-125.
Nach Theorie, System und Handhabung des Strafrechts treten das Verbrechensopfer und seine Belange zunächst zurück. Indessen würde sich ein Strafrecht, das sich allein um Schuldausgleich und Resozialisierung des Täters bemühte, ohne Rücksicht auf das Opfer zu nehmen, zu seinen eigenen Zielen, insbesondere der Normakzeptanz, der Humanisierung und Befriedung, in Widerspruch setzen. Selbst dem traditionellen Strafrecht und seiner Theorie waren Rücksichten auf das Opfer keineswegs fremd (Hassemer 1983, 218). Doch die Opferbefragungen der letzten zwei Jahrzehnte und die Opferforschung haben die breite Viktimisierung ebenso wie die kriminalpolitische Vernachlässigung des Opfers verdeutlicht. Fragestellungen der Viktimologie und die von ihr veranlaßte „Wiederentdeckung“ des Verbrechensopfers in der kriminalpolitischen Diskussion haben in der Gegenwart ein Problembewußtsein geschaffen und den Blick für die Erwartungen und Interessen des Verbrechensopfers geschärft. Häufig empfindet der Verletzte den staatlichen Schutz durch Strafverfolgung und Justizgewährung als zu spät, ungenügend und unökonomisch. Eine „opferbezogene Strafrechtspflege“ (Rössner u.a. 1984) soll daher körperlichen, seelischen, finanziellen und sozialen Schäden begegnen. Demgemäß ist etwa der Täter-Opfer-Ausgleich derzeit zu einem der zentralen Themen der internationalen Kriminalpolitik geworden. Seine Faszination besteht darin, daß ihm nahezu jede kriminalpolitische Grundposition zustimmungsfähige Aspekte abgewinnen kann und er für ganz unterschiedliche Auffassungen konsensfähig erscheint (Zipf 1989, 103). Selbst Richtungen, die der Viktimologie von Hause aus distanziert und fremd gegenüberstehen, gewinnen der Opferorientierung Vorzüge ab, indem diese Elemente der Entregelung und des Informalismus zumindest nicht ausschließen. Materielles und formelles Strafrecht sowie Jugendstrafrecht sind von der Opferorientierung nicht unbeeinflußt geblieben. Seit den achtziger Jahren ist die Rolle des Verbrechensopfers in der Strafrechtspflege aktuell. Der Verletzte beeinflußt mindestens mittelbar die sanktionierende Behandlung, die der Rechtsbrecher seitens der Träger formeller Sozialkontrolle erfährt. Dabei geht es sowohl um den Rang der Wiedergutmachung im Rahmen der Strafzwecke als auch um die Bedeutung des Opferverhaltens für die Konstruktion und Interpretation strafrechtlicher Tatbestände bis zur Stellung des Verletzten im Strafverfahren.
Umstritten ist vor allem, inwieweit und an welchem systematischen Ort mit welcher Zielsetzung die Beteiligung des Opfers am Tatgeschehen strafrechtlich berücksichtigungsfähig ist. Als strafrechtliche Themenkreise der „‚Viktimo-Dogmatik“ (grundlegend Hillenkamp 1981; kritisch Hassemer 1983, 220 ff.; Arzt 1984, 13 ff.; Schünemann 1984, 364 ff.;, Hirsch 1989, 720 f.; zusammenfassend Roxin 1992, 375 ff.) kommen in Betracht: Die Gewichtung der Straftaten (Schwereeinschätzung), die Präzisierung von Straftaten und Rechtsgütern durch genauere Umschreibung der Opferverluste und die Strafzumessung, insbesondere die Konsequenzen aus dem Opfermitverschulden, die extensive bzw. restriktive Tatbestandsauslegung sowie die Rechtsgutskonkretisierung im Hinblick auf das Opfermitverschulden. Die Strafrechtsdogmatik ist aufgerufen, die Verweigerung strafrechtlichen Schutzes unter Berufung auf das Selbstverantwortungsprinzip bewußt und sichtbar zu machen (Arzt 1984, 106, 111). Während Hillenkamp (1981, 213, 235 ff., 250 ff.) den Ausgleich von Mitverantwortung auf die Ebene der Strafzumessung verweist, will vor allem Schünemann (1984, 362) die viktimologische Maxime als umfassendes, regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung im Strafrecht begreifen. So gesehen erweist sich die Viktimologie auch als Prüfstein für die Bestimmung von Aufgaben und Funktionen des Strafrechts
Für den besseren Opferschutz im Strafverfahren hat der Gesetzgeber erste Vorkehrungen getroffen. Doch die Interessen des Opfers erschöpfen sich nicht in verfahrensrechtlichen Opferschutzbelangen, sondern umfassen auch Bedürfnisse nach Schadensausgleich und Hilfe. So stehen Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich (dazu unten § 49) auf dem Reformprogramm. Diese unterschiedlichen Aspekte angewandter Viktimologie suchen die Verfahrensgerechtigkeit zu verbessern und eine sekundäre Viktimisierung des Verbrechensopfers zu vermeiden. Die Ziele sollen durch folgende Mittel und Wege erreicht werden:
®e Anhörung, Beteiligung, Einflußnahme (Informations- und Kontrollrechte) des Opfers, e Begrenzung der Prozeßabsprachen zwischen Strafjustiz und Täter („plea-bargaining“), ® Genugtuung, Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer- Ausgleich, ® Fairness des Verfahrens und e_ Wiederherstellung des Rechtsfriedens, insbesondere durch Schlichtung.
§ 48 Stellung des Verletzten im Strafverfahren
Schrifttum: Eser, Zur Renaissance des Opfers im Strafverfahren. In: GS für A. Kaufmann. Köln u.a. 1989, 723-747; Hirsch, Zur Stellung des Verletzten im Strafund Strafverfahrensrecht. In: GS für A. Kaufmann. Köln u.a. 1989, 699-721; Jung, Zur Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. JR 1984, 209-312; Kaiser, M., Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren. Implementation und Evaluation des „Opferschutzgesetzes“. Freiburg 1992; Kühne (Hrsg.), Opferrechte im Strafprozeß. Ein europäischer Vergleich. Kehl. u.a. 1988; Martin, Das Sühneverfahren vor dem Schiedsmann in Strafsachen. Lübeck 1988; Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. Gutachten C für den 55. DJT. München 1984; ders., Der Strafprozeß und der Verletzte — eine Zwischenbilanz. Jura 1987, 281 ff.; Rössner/Wulf, Opferbezogene Strafrechtspflege. Bonn 1984; Schöch, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. NStZ 1984, 385- 391; Schünemann, Zur Stellung des Opfers im System der Strafrechtspflege. NStZ 1986, 193-200; Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht. JZ 1989, 670-676; Weigend, Viktimologische und kriminalpolitische Überlegungen zur Stellung des Verletzten im Strafverfahren. ZStW 96 (1984), 761-793; ders., Deliktsopfer und Strafverfahren. Berlin u.a. 1989.
Täter- und Opfermerkmale sowie unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber der Begehung bestimmter Delikte prägen den Zusammenhang zwischen Anzeigebereitschaft, Aufwand und Verfahrensausgang. Aber nicht nur durch sein Anzeigeverhalten — Strafverfahren werden überwiegend durch private Strafanzeige in Gang gesetzt—, sondern auch in seiner Rolle als Zeuge oder Nebenkläger nimmt das Verbrechensopfer auf den Gang des Strafverfahrens Einfluß. Vor den sechziger Jahren galt allerdings die Stellung des Verletzten für Wissenschaft und Praxis nicht als ernsthaft problematisch (Hirsch 1989, 700), auch wenn genau betrachtet das Verbrechensopfer nicht wieder entdeckt werden mußte. Jedoch wurde im Zuge der Blickschärfung für das Opfer zunehmend erkannt, auch im Ermittlungs- und Strafverfahren sicherzustellen, daß der Verletzte nicht ein zweites Mal zum Opfer gemacht wird (sog. sekundäre Viktimisierung). So richtet sich die Aufmerksamkeit sowohl auf den verstärkten prozessualen Schutz auf der Passivseite, z.B. bei der Vernehmung des Opfers, als auch auf den Ausbau der prozessualen Aktivbefugnisse, z.B. auf die Erweiterung des Klageerzwingungsverfahrens und der Beteiligung des Verletzten am Strafprozeß (vgl. Hirsch 1989, 701 m.N.).
Unmittelbar nach der Straftat kommt der Verletzte in der Regel mit der Polizei in Berührung. In dieser Phase geht es einmal darum, vor allem nach Gewalt- und Sexualdelikten ausgleichende Hilfen zur Überwindung psychischer Folgen der Tat zur Verfügung zu stellen. Zum anderen ist im gesamten Ermittlungsverfahren darauf zu achten, daß das Opfer soweit wie möglich geschützt wird. Bei Vernehmungen ist ihm mit Einfühlung und Rücksichtnahme zu begegnen. Vernehmungen sollen gut vorbereitet sein und möglichst selten wiederholt werden (Rieß 1984, 112 ff.; Rössner u.a. 1984, 34 ff.). Der Staatsanwaltschaft stehen verschiedene informelle Sanktionsinstrumente zur Verfügung, die zugleich opferausgleichenden Charakter haben, z.B. Schadenswiedergutmachungsauflagen bei Verfahrenseinstellungen. In der Hauptverhandlung kann sie die Einhaltung opferschützender Maßnahmen kontrollieren (Rössner u.a. 1984, 48 ff.). Obwohl nur ein Bruchteil aller Verbrechensopfer vor Gericht als Zeugen aussagt, kommt dem Opferschutz im Hauptverfahren große Bedeutung zu. Hier müssen sekundäre Viktimisierungseffekte verhindert werden. Der Grundsatz des fairen Strafprozesses ist auch für den Verletzten nutzbar zu machen. Dazu gehört das Recht, sich eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Beistandes zu bedienen (vgl. BVerfGE 38, 112). Man spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die angloamerikanische Terminologie von einem Opferanwalt. Ferner ist der Anspruch auf richterliche Verfahrenshilfe hervorzuheben (Rössner u.a. 1984, 87). Die zwar im Strafprozeßrecht verankerte, aber in der Praxis — abgesehen vom Jugendstrafverfahren — bisher eher marginale Gerichtshilfe könnte Belange des Verletzten im Strafverfahren ebenfalls stärker zur Geltung bringen. Sie wäre nicht nur dazu geeignet, schon in einem frühen Stadium des Verfahrens einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer anzustreben, sondern nach Erhebungen über die Situation des Verletzten einen „Opferbericht“ zu erstatten, der zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden könnte (Rössner u.a. 1984, 61 ff.).
Die herkömmliche Ausgestaltung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren bietet ein uneinheitliches Bild. Eine klare Konzeption ist nicht erkennbar (Rieß 1984, 44 f.; Weigend 1984, 764). Auszubauen sind zunächst Informations- und Kontrollrechte. Hier ist an die Einführung eines Akteneinsichtsrechts und die Erstreckung des Klageerzwingungsverfahrens (zur bisherigen Handhabung Rieß 1989, 194 m.N..) auf alle Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft zu denken (Schöch 1984, 388 f.,; Weigend 1984, 878; Hirsch 1989, 704). Weitere Beteiligungsrechte könnten von einer besonderen Anschlußerklärung abhängig gemacht werden (Rieß 1984, 81, 107 f.; Weigend 1984, 782 ff.). Soweit eine gesteigerte Beteiligung des Verletzten am Hauptverfahren nach geltendem Recht besonderen Verfahrensarten vorbehalten bleibt, ist zu prüfen, inwieweit diese als Basis für den Ausbau der Stellung des Opfers im Strafverfahren tauglich sind. Die Verweisung auf die Privatklage scheint angesichts ihrer weitgehenden Einstellungswirkung für die Verbrechensopfer eher eine Last als ein Privileg zu sein. Elemente der bisherigen Regelung wie das vorgeschaltete Sühneverfahren (Martin 1988), das vor allem dort zu funktionieren scheint, wo es ehrenamtlichen Schiedsrichtern anvertraut ist (Rössner u.a. 1984, 31 f.), könnten dagegen verallgemeinert werden und so Tendenzen der Diversion entgegenkommen (Rieß 1984, 88 ff.). Allerdings ist angesichts vorliegender Erfahrungen mit Schlichtungsmodellen, insbesondere aus den USA, eine gewisse Skepsis angebracht (Schöch 1984, 390 f.; Weigend 1984, 773 ff.; ders., 1989, 241; insbes. gegen die Entrechtung durch Entrechtlichung).
Auch die bestehende Ausgestaltung der Nebenklage bringt die Belange des Verletzten im Strafverfahren nicht genügend zur Geltung. Bei einer allgemeinen Verbesserung der Stellung des Verbrechensopfers wäre sie entbehrlich (Rieß 1984, 86). Ob sich dagegen das Adhäsionsverfahren für dieses Anliegen nutzbar machen läßt, kann bezweifelt werden. Einerseits erscheint das praktische Bedürfnis nach dieser Verfahrensart nicht allzu groß, wenn das Hauptproblem für den Verletzten nicht in der gerichtlichen Feststellung, sondern in der Vollstreckung seines Schadensersatzanspruchs liegt (Rieß 1984, 101). Andererseits lassen sich strafprozessuale Beweisanforderungen schlecht mit denen des Zivilprozeßrechts vereinbaren (Schöch 1984, 390).
Aufgrund der reformbedürftigen Rechtsstellung des Verbrechensopfers hat inzwischen der Gesetzgeber erste Schritte unternommen, um den Opferschutz im Strafverfahren zu verbessern. Das Erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18. Dezember 1986 will die Stellung der Opfer von Straftaten im Prozeß gegen den mutmaßlichen Täter durch Einräumung erweiterter eigener Rechte verstärken. Es beabsichtigt, den Persönlichkeitsschutz, insbesondere der Opfer von Sexualdelikten, im Strafprozeß zu verbessern und gleichzeitig sicherzustellen, daß die Verteidigungsmöglichkeiten der Beschuldigten gewahrt bleiben (kritisch-distanziert Schünemann 1986, 193 f.). Im einzelnen trifft das Gesetz folgende Regelungen:
1. Die Informationsmöglichkeiten aller Verletzten — ungeachtet welcher Straftat sie zum Opfer gefallen sind — über den Stand des Verfahrens gegen den Täter werden verbessert. Einem Verletzten wird ein gesetzliches Recht auf Akteneinsicht und auf Mitteilung über Verlauf und Ausgang des Strafverfahrens eingeräumt (§§ 406 d ff. StPO). 2. In § 406 f StPO wird gesetzlich bestimmt, daß sich alle Verletzten des Beistandes eines Rechtsanwaltes bedienen können, der ihnen auch zur Seite steht, wenn sie vor Gericht als Zeugen vernommen werden. 3. Opfer schwerer Straftaten, etwa von Vergewaltigungen, schwerwiegenden Körperverletzungen, schwerwiegenden Freiheitsberaubungen und versuchten Tötungsdelikten, erhalten weitergehende Rechte: a) Sie können sich unmittelbar als Nebenkläger aktiv am Verfahren gegen den Täter beteiligen (8§ 395 ff. StPO), im Prozeß eigene Anträge stellen sowie sich gegen ehrverletzende Befragungen und Schuldzuweisungen verteidigen. b) Ihnen kann ein Rechtsanwalt auf Kosten der Staatskasse als Beistand zugeordnet werden (§ 397 a StPO), und zwar auch schon im Emittlungsverfahren (§ 406 g Abs. 1 StPO). 4. Der Schutz der Persönlichkeitssphäre des Verletzten vor Gericht wird verbessert: Den Opfern wird das Recht eingeräumt, generell Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich zu beanstanden (§ 406 f Abs. 2 StPO). Bei der Erörterung höchstpersönlicher Angelegenheiten kann im weiteren Umfange als bisher die Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden (8 171b GVG). 5. Die Wiedergutmachung des durch die Straftat erlittenen Schadens zugunsten des Opfers wird verbessert durch a) eine erleichterte Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen des Verletzten gegen den Täter schon im Strafprozeß (§ 403 Abs. 1 StPO); b) Vorrang der Ersatzansprüche des Opfers vor staatlichen Ansprüchen auf Geldstrafe und Gerichtskosten. Der Täter soll zunächst den Schaden des Verletzten wiedergutmachen (vgl. § 459 a Abs. 1 Satz 2 StPO).
Wie allerdings erste Implementationsstudien zum Opferschutzgesetz erkennen lassen, hat sich in der alltäglichen Praxis erst wenig an der Stellung des Verletzten im Strafverfahren geändert (vgl. M. Kaiser 1992, 13 ff.). Offenbar hängt eine wirksame Umsetzung vor allem von einer besseren Lösung der Kostenfrage ab. Eine angemessene Kostenverteilung darf daher nicht vernachlässigt werden. Die geltende Vorschrift des § 465 StPO, welche die Kosten einer Nebenklage schematisch dem Verurteilten auferlegt, dient weder den Interessen des Verurteilten noch denen des Verletzten (Rieß 1984, 130 ff., Weigend 1984, 791 f., Schünemann 1986, 200).
Der Bundesrat hat am 16.12.1996 beschlossen, den Entwurf eines Zweiten Opferschutzgesetzes (BR-Drucks. 709/96) in den Bundestag einzubringen. Der Gesetzentwurf sieht eine Erweiterung des Nebenklagerechts für Opfer des einfachen Menschenhandels und des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen sowie die obligatorische Beiordnung eines Rechtsanwaltes für die Opfer von Sexualstraftaten („Opferanwalt“) vor. Zudem soll mit einer Aktivierung des Adhäsionsverfahrens die Möglichkeit der Geschädigten verbessert werden, bereits im Strafverfahren vermögensrechtliche Ansprüche geltend zu machen. So soll die strafgerichtliche Befugnis, im Adhäsionsverfahren von der Entscheidung über Schadensersatz und Schmerzensgeld abzusehen, beschränkt werden, wenn vorsätzliche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, den Körper, das Leben und die persönliche Freiheit verwirklicht sind. Eine solche Regelung würde eine Reihe von Mängeln beheben und zur Verbesserung der Stellung des Opfers im Strafverfahren beitragen. Das Problem der Kostenverteilung bliebe jedoch weiterhin ungelöst
§ 49 Schadenswiedergutmachung
Schrifttum: Bannenberg, Wiedergutmachung in der Strafrechtspraxis: Eine empirisch- kriminologische Untersuchung von Täter-Opfer-Ausgleichsprojekten in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1993; Baumann u.a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM). München 1992, Dölling, Der Täter-Opfer-Ausgleich, JZ 1992, 493-499; Eser/Kaiser/Madlener (Hrsg.), Neue Wege der Wiedergutmachung im Strafrecht. Freiburg 1990; Eser/Walther (Hrsg.), Wiedergutmachung im Kriminalrecht. Internationale Perspektiven. Freiburg 1996; Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument der strafrechtlichen Sozialkontrolle. Berlin 1987; Hartmann, Schlichten oder Richten: Der Täter-Opfer-Ausgleich und das (Jugend-)Strafrecht. München 1995; Hirsch, Wiedergutmachung des Schadens im Rahmen des materiellen Strafrechts. ZStW 102 (1990), 534-559; Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. A.T. Berlin 1996°; Kaiser, Erfahrungen mit dem Täter-Opfer-Ausgleich im Ausland. In: Täter-Opfer-Ausgleich – Zwischenbilanz und Perspektiven, hrsg. v. BMJ. Bonn 1991, 40-50; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung. Freiburg 1995; ders., Aktuelle Perspektiven für Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung im Erwachsenenstrafrecht. NStZ 1996, 309-317; Löschnig-Gspandl, Die Wiedergutmachung im Strafrecht. Auf dem Weg zu einem neuen Kriminalrecht? Wien 1996; Marks/Rössner (Hrsg.), Täter-Opfer-Ausgleich. Bonn 1989; Messmer, Unrechtsaufarbeitung im Täter-Opfer-Ausgleich: Sozialwissenschaftliche Analysen zur außergerichtlichen Verfahrenspraxis bei Jugendlichen. Bonn 1996; Roxin, Die Wiedergutmachung im System der Strafzwecke. In: Wiedergutmachung und Strafrecht, hrsg. v. Schöch. München 1987, 37-57; Schöch, Strafrecht zwischen Freien und Gleichen im demokratischen Rechtsstaat. Zur konkreten Utopie der Wiedergutmachung im Strafverfahren. In: FS für Maihofer. Frankfurt/M. 1988, 461-479; Schreckling u.a., Bestandsaufnahmen zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1991; Sessar, Wiedergutmachen oder Strafen. Pfaffenweiler 1992; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren. Berlin 1989; ders., Täter-Opfer-Ausgleich in den USA. MschrKrim 75 (1992), 105-114.
Der prägnante, schlagwortartige Begriff des Täter-Opfer-Ausgleichs findet sich im deutschsprachigen Schrifttum erst seit den späten siebziger Jahren. Doch das ihm zugrundeliegende und motivierende Opferinteresse reicht weit zurück. Als Schadenswiedergutmachung ist es seit unvordenklicher Zeit bekannt. Vor mehr als einhundert Jahren befaßte sich die Internationale Kriminalistische Vereinigung auf einer Tagung speziell mit der Frage, ob und inwieweit Gesetzgebung, Strafrechtspflege und Vollzug die Interessen des Verletzten, insbesondere durch Schadensersatz, stärker berücksichtigen sollten. Die Schadenswiedergutmachung gilt denn auch als „Kristallisationskern“ des Täter-Opfer-Ausgleichs (Frehsee 1987).
Man kann dem geltenden Sanktionensystem nicht vorwerfen, daß es den Gedanken der Wiedergutmachung ausklammere. Neben der allgemeinen Strafzumessungsnorm des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB, die unter anderem „das Bemühen des Täters“ erwähnt, „den Schaden wiedergutzumachen‘ sowie einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, bestehen Regelungen, die bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die Auflage der Schadenswiedergutmachung ermöglichen (z.B. 88 45 b StGB, 23 JGG; Art. 41 schwStGB). Größeres Gewicht erlangt die Wiedergutmachung im Bereich der informellen Sanktionierung durch Verfahrenseinstellung (§ 153 a StPO). Doch werden in der Praxis alle diese Regelungen noch relativ selten angewendet. Das gilt auch für die zusätzlichen Elemente des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Wiedergutmachung, die durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 in das Strafrecht aufgenommen wurden (dazu kritisch Jescheck/Weigend 1996, 867). Deshalb geht das Opfer noch immer häufig leer aus. Das zivilrechtliche Schadensersatzrecht vermag die Lücke nicht zu schließen, obwohl auch seine Funktion auf Befriedung zielt.
Daher ist der Einbau der Wiedergutmachung als ein Element innerhalb des Sanktionensystems kriminalpolitisch zu fordern (zu den Möglichkeiten der Integration in die Strafrechtspflege Dölling 1992, 497 ff.). Die Anwendbarkeit kann für weite Bereiche der Kriminalität erfolgen, ohne daß traditionelle Strafzwecke vernachlässigt werden (zur „Wiedergutmachung im System der Strafzwecke“ Roxin 1987, 37 f£.; ferner Jescheck/Weigend 1996, 7, 864 f.). So wäre zu erwägen, den Schadensersatzanspruch des Geschädigten auf die Geldstrafe anzurechnen. Bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung sollte der Wiedergutmachungsauflage Vorrang eingeräumt werden. Solange sich die Arbeitsentlohnung der Strafgefangenen auf Bruchteile des Durchschnittseinkommens beschränkt, erscheint eine angemessene Wiedergutmachung im Bereich der vollstreckten Freiheitsstrafen dagegen wenig realistisch. Immerhin kann sie im Rahmen von Entschuldungsprogrammen für Straftäter berücksichtigt werden. Das Jugendstrafrecht enthält bereits Normen (§§ 10, 45, 47 JGG), die den Gedanken der Wiedergutmachung stärker zur Geltung bringen.
International schätzt man die praktischen Möglichkeiten eines Täter- Opfer-Ausgleichs als vielversprechend ein. So begegnet man in Nordamerika ebenso wie in Europa zahlreichen Experimenten (dazu Weigend 1989; Marks/Rössner 1989; Kaiser 1991; Schreckling u.a. 1991; Bannenberg 1993; Hartmann 1995, Messmer 1995). Forderungen nach Ausgleichs- und Wiedergutmachungsleistungen des Täters erfreuen sich überdies einer breiten Akzeptanz in der Öffentlichkeit, im engeren Kreis der Betroffenen und abgeschwächt auch in der Strafjustiz. Die Evaluationen verdeutlichen jedoch, daß die Täter-Opfer-Ausgleichsbemühungen nur in den Fällen aussichtsreich erscheinen, in denen ein natürliches Opfer existiert sowie der Sachverhalt zweifelsfrei ist. Bei manchen Verbrechensformen, insbesondere bei abstrakten Gefährdungsdelikten, sind schon die Voraussetzungen nicht erfüllt. Ferner schätzen Opfer und Strafjuristen die Vereinbarkeit von Schadenswiedergutmachung und Bestrafung offensichtlich verschieden ein. Während die Opfer zwischen Zivil- und Strafrecht wenig unterscheiden und das Recht möglichst aus einer Hand begehren, betonen traditionelle juristische Denkweisen eher die Trennung von zivilrechtlichem Schadensersatz und Kriminalsanktion, was sich im Ergebnis wiederum frustrierend auf das sich selbst überlassene Opfer auswirkt. Außerdem läßt die Akzeptanz dort erhebliche Einbußen erkennen, wo eine spezielle Wiedergutmachung aufgrund von ausgleichenden Versicherungsleistungen entbehrlich erscheint. Auch findet der Vorschlag einer persönlichen Begegnung von Täter und Opfer allgemein nur abgeschwächte Zustimmung. Die Bereitschaft zum Eingehen einer Wiedergutmachungsvereinbarung und zu einem Vermittlungsgespräch sind auf seiten des Opfers stark von der Deliktsart und dem Bestehen einer persönlichen Beziehung zum Täter vor der Tat abhängig. Sie ist offenbar um so geringer, je besser das Opfer den Täter gekannt und je gravierender das Opfer das Delikt empfunden hat. Die in abstrakter Sicht beachtliche Aufmerksamkeit der Opfer gegenüber dem Gedanken des Täter-Opfer-Ausgleichs weicht somit im Falle konkreter Betroffenheit einer differenzierten Einstellung. Die mitunter mit dem Täter-Opfer-Ausgleich verknüpften Ansprüche und Ziele erscheinen daher weitgehend als zu hoch gesteckt.
Gleichwohl läßt sich nicht verkennen, daß ein entformalisiertes Ausgleichsverfahren die unmittelbar Betroffenen stärker zu Wort kommen läßt, die nur punktuelle Betrachtung des Konfliktereignisses vermeidet sowie Täter und Opfer zu sinnvolleren Lösungen führt (Weigend 1989, 343). Interpersonale Konflikte werden beim Täter-Opfer-Ausgleich anscheinend in einer Weise abgearbeitet, die ihrer zwischenmenschlichen Dimension besser entspricht als das in dieser Hinsicht allzu starre Strafverfahren (vgl. Messmer 1996). Offenbar werden Gespräche und Schlichtung auch von den Beteiligten befriedigend und konfliktlösend empfunden, was der beachtliche Grad an Zufriedenheit der Betroffenen mit der vorausgegangenen Schlichtungsverhandlung belegt (Bannenberg 1993, 229 ff., 261). Wenn überhaupt, so läßt sich Versöhnung und Konfliktschlichtung wohl nur auf solche Weise erreichen. Bisherige Erfahrungen haben Befürchtungen von Opfer- und Täterbenachteiligungen auch nicht bestätigt. Allerdings entstammen die dem Täter-Opfer-Ausgleich zugänglichen Fälle nach Deliktstypus und Schweregrad vornehmlich dem minderschweren Bereich. Die Schadenswiedergutmachung und der Täter-Opfer-Ausgleich können daher nur eine marginale Funktion in Höhe von etwa 10% an allen anhängigen Kriminalfällen erfüllen. Kann daher bei Lichte betrachtet von einer „Abrüstung des Strafrechts“ durch den Täter-Opfer-Ausgleich keine Rede sein, so bleibt doch dessen Potential zur Friedensstiftung beachtlich und ist noch keinesfalls ausgeschöpft.
Darüber hinaus verbindet man in der gegenwärtigen Diskussion mit dem Täter- Opfer-Ausgleich nicht selten eine weitergreifende Strategie der Konfliktregelung, die bis zum Abolitionismus reicht. Jedoch darf eine ebenso legitime wie verstärkte Opferorientierung nicht zur Beschneidung von Verteidigungsrechten des Beschuldigten führen. Dessen Interessen bilden ein Hindernis, das trotz Beachtung der besonderen Opferlage eingehalten werden muß.
Die der Befragungsforschung gelegentlich zugrunde gelegte Alternative „Wiedergutmachung als Unrechtsausgleich anstelle von Strafen“ (vgl. etwa Sessar 1992, 204 ff.) ist allerdings ungenau, weil sie den Begriff der Bestrafung auf Freiheits- und Geldstrafen einengt und die Ausdrucksmöglichkeiten der Strafe als Wiedergutmachung, Entschuldigung und gemeinnützige Arbeit ausschließt. Im übrigen wird offen gelassen, was bei jenen Straftaten geschehen soll, die zu keinem meßbaren Schaden führen. Aber selbst nach den Befragungsergebnissen kann von dem behaupteten „Nichtbedarf an Strafe“ (Sessar 1992, 243) keine Rede sein. Addiert man die Bestrafungsbedürfnisse, welcher Art auch immer, mit dem Wunsch nach Entschuldigung und gemeinnütziger Arbeit — sämtlich Sanktionen mit materiellem Strafcharakter —, so überwiegen die Strafbedürfnisse eindeutig. Dies ist um so mehr der Fall, je schwerer das Unrecht, je unsicherer die eigene Position und je stärker die eigene Betroffenheit begriffen werden. Dies zeigt sich nicht nur bei Gewaltdelikten, sondern auch beim Wohnungseinbruch.
§ 50 Opferentschädigung und Opferhilfe
1. Staatliche Opferentschädigung
Schrifttum: Keller, Überblick über das Opferhilfegesetz. Krim 1995, 65-69; Möllhoff{Kontner/Schmidt, Täter-Opfer-Entschädigungsgesetz (OEG) und seine Durchführung in Baden-Württemberg 1976-1980. In: FS für Leferenz. Heidelberg 1983, 233-257; Villmow, Staatliche Opferentschädigung — Entscheidungsstrukturen in den Bundesländern unter besonderer Berücksichtigung der Hamburger Situation. In: KrimFo 35. (1988), 1013-1041; ders./Plemper, Praxis der Opferentschädigung. Pfaffenweiler 1989; Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalttaten in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden 1980.
Nicht stets ist der Täter bekannt, willens und in der Lage, den durch seine Straftat verursachten Schaden wiedergutzumachen. Insoweit geht der Verletzte leer aus, was namentlich bei Gewaltopfern zu Härten führt. Staatliche Opferentschädigung soll hier die Lücke schließen, Schäden ausgleichen und die Härten mildern. Entsprechende Bestrebungen reichen international bis in die frühen sechziger Jahre zurück. In Deutschland sieht das Opferentschädigungsgesetz (OEG) aus dem Jahre 1976 Ausgleichsansprüche des Gewaltopfers vor.
Daß das Gesetz nur unvollkommen Schutz gewährt, wird schon aus der gesetzlichen Regelung deutlich. Entschädigungsansprüche werden nur für Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten gewährt, die für einen Zeitraum von mehr als 5 Monaten geschädigt sind und deren Erwerbsfähigkeit um mindestens 25% beeinträchtigt ist. Leistungen sind zu versagen, wenn die entscheidende Behörde ein Mitverschulden des Opfers feststellt oder das Opfer nicht unverzüglich Anzeige erstattet hat. Das OEG gewährt den Versorgungsämtern, die es ausführen, weite Entscheidungsspielräume. Angesichts solcher Regelungen kann erwartet werden, daß Leistungen nur einem kleinen Personenkreis zugutekommen. Die vorliegenden Untersuchungen zur Anwendung des Gesetzes bestätigen diese Bedenken. Die veranschlagten Mittel werden bisher nicht ausgeschöpft.
Selbst wenn man von einer engen Definition der Gewaltkriminalität und einer begrenzten Anzahl potentieller Antragsteller ausgeht, ist die Zahl der gestellten Entschädigungsanträge allgemein gering. 1981 waren es in der Bundesrepublik etwa 9% der Gewaltopfer, die einen Antrag auf Entschädigung stellten. Bis 1993 hatte sich dieser Anteil auf etwa 15% erhöht. Dabei zeigen sich erhebliche regionale Unterschiede, die sich nicht durch £ine unterschiedliche Struktur der registrierten Gewaltkriminalität erklären lassen. Vielmehr wird die Zahl der gestellten Anträge entscheidend durch die Krankenkassen gesteuert (Villmow 1988, 1029 ff.). Nach dem OEG gibt es nämlich Fälle, in denen zwar das Verbrechensopfer keine Entschädigung erhält, aber ein Kostenausgleich zwischen den verschiedenen Sozialversicherungsträgern stattfindet. Aus dieser Konstellation folgt die begründete Befürchtung, nicht die Verbrechensopfer seien die Hauptnutznießer des Gesetzes, sondern ihre Krankenkasse (Weintraud 1980, 182; Schwind 1996, 354).
Eine zweite Selektionsstufe liegt im Entscheidungsverhalten der Versorgungsverwaltung. In der Bundesrepublik wurden von 16 929 im Jahre 1993 erledigten Anträgen nach dem OEG ungefähr 30% positiv entschieden. In dieser Quote sind allerdings die Fälle enthalten, in denen lediglich die Krankenkasse des Opfers einen Erstattungsanspruch gegen die Versorgungsverwaltung erhält. Nach bisher vorliegenden Erfahrungen liegt der Anteil dieser Fälle relativ hoch. Die Quoten, in denen für die Antragsteller positive Bescheide ergehen, variieren von Bundesland zu Bundesland sehr stark (Möllhoffu.a. 1983, 244 ff.; Villmow 1988, 1022 f.). Dabei werden niedrige Antragszahlen nicht durch hohe Bewilligungsanteile ausgeglichen. Offenbar werden die zahlreichen unbestimmten Gesetzesbegriffe im OEG von den verschiedenen Behörden sehr unterschiedlich ausgelegt, wobei sich soziale Merkmale der Antragsteller auswirken können (Villmow 1988, 1035). Zur Verbesserung der Effizienz der Opferentschädigung wird vorgeschlagen, die enge Koppelung an die Kriegsopferversorgung aufzugeben, Bagatellfälle aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes von vornherein deutlich erkennbar auszuschließen und auch Leistungen an Verbrechensopfer zu gewähren, die nur vorübergehend oder durch eine fahrlässige Tat geschädigt sind.
Inzwischen hat der Bundesrat auf Initiative des Freistaates Bayern den Entwurf eines zivilrechtlichen Opferentschädigungsgesetzes (ZOEG – BR-Drucks. 787/97) in den Bundestag eingebracht, der ein gesetzliches Pfandrecht an allen Forderungen, die Straftäter aus der öffentlichen Darstellung ihrer Taten erwerben, zugunsten der Opfer vorsieht. Allerdings dürfte eine solche Regelung nur bei wenigen spektakulären Kriminalfällen zur Anwendung gelangen.
Während die Opferentschädigung in der Bundesrepublik in Form einer Rente gezahlt wird, gilt in Großbritannien seit 1964 eine Regelung, nach der die Leistung als einmalige Zahlung aus einem besonderen Fonds erfolgt, deren Höhe sich aus dem Zivilrecht ergibt (Weintraud 1980, 158 ff.). Das in Österreich seit 1972 geltende Bundesgesetz über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen orientiert sich dagegen, ähnlich wie das deutsche OEG, am Versorgungsrecht. Renten werden nur an Bedürftige gezahlt. Neben verschiedenen Ausschlußgründen besteht die Möglichkeit, die Leistung zu mindern. In der Schweiz haben National- und Ständerat 1991 das „Opferhilfegesetz“ beschlossen, das am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist. Es beinhaltet eine Entschädigung für Personen, die „durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt“ worden sind, unabhängig davon, ob der Täter ermittelt werden konnte oder nur fahrlässig gehandelt hat. Der Anspruch auf Entschädigung steht allerdings nur Opfern zu, die bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschreiten (dazu Keller 1995, 65 ff.).
Trotz der staatlichen Opferentschädigung in Geld bleibt noch immer genügend Raum für die Tätigkeit privater Initiativen. Dabei sollte der Schwerpunkt auf persönlichen Hilfen liegen
2. Private Opferhilfe
Schrifttum: Böhm, Praktische Erfahrungen mit Opferschutz und Opferhilfe. In: Kriminalogische Opferforschung, Bd. I, hrsg.v. Kaiser/Jehle. Heidelberg 1995, 99-115; Schädler/Baurmann/Sievering (Hrsg.), „Hilfe für Kriminalitätsopfer als internationale Bewegung“. Ein Vergleich mit den Niederlanden und den USA. Bonn 1990; Schuster, Opferschutz und Opferberatung – eine Bestandsaufnahme. In: Gewalt und Kriminalität, hrsg. v. BKA. Wiesbaden 1986, 161-189; Wetzels, Über die Nutzung von Opferhilfeeinrichtungen — Ergebnisse einer bundesweit repräsentativen Opferbefragung. Hannover 1995.
Die auf privater Grundlage beruhenden Wege der Opferhilfe gewinnen neben den justiziellen Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen zur Schadenswiedergutmachung und Opferentschädigung zunehmend Bedeutung. Dies lassen die allgemeine Bestandsaufnahme (siehe Schuster 1986, 161 ff.), aber auch die vergleichenden Analysen der Opferhilfen (dazu Schädler u.a. 1990) erkennen.
Der Vorzug privater Opferhilfe besteht vor allem in der flexibleren, schnelleren und unmittelbaren Unterstützung, ohne streng an Formvorschriften gebunden zu sein. Ferner sind der persönliche Beistand und die Korrekturmöglichkeit in Härtefällen hervorzuheben. Der „Weisse Ring“ ist eine gemeinnützige Organisation, die sich vor allem im Bereich der Opferbetreuung engagiert und seine Finanzmittel aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Bußgeldzuweisungen erhält (vgl. Böhm 1995, 99 ff.). Bei schweren Verletzungen gewährt die Verkehrsopferhilfe, ein gemeinnütziger Verein der deutschen Versicherer, auf Antrag Schmerzensgeld. Im Jahr 1989 zahlte sie knapp 4 Millionen DM Entschädigung an Opfer von Verkehrsunfällen, bei denen der schuldige Verursacher unerkannt entkam. Einen weiteren, nicht minder konstruktiven Einsatz stellen die Projekte einer Opferhilfe im Zusammenhang mit gemeinnütziger Arbeit dar. Hier werden Hilfeleistungen erbracht, die durch gemeinnützige Leistungen von Straftätern oder Spendern erlangt worden sind. Insgesamt und im internationalen Vergleich werden bislang nur in 2 bis 8% der Kriminalfälle, je nach Strafart verschieden, Unterstützungen an Verbrechensopfer geleistet. Jedoch weisen die Befragungen auf den mehrfachen Bedarf der Opfer an Beistand und Hilfe.
Gelten Schadenswiedergutmachung, Opferentschädigung und -hilfe als Bedürfnisse, die in der Bevölkerung sowie bei den Verletzten verwurzelt sind und Anerkennung finden, so verdienen sie auch in der modernen Strafrechtspflege verstärkte Beachtung. Fraglich ist nicht mehr das „Ob“, sondern lediglich das „Wie“. Die Analyse der verschiedenen Ausgleichs- und Hilfsstrategien zeigt, daß sowohl der Täter wie auch Staat und Gesellschaft gefordert sind. Die angemessene Lösung dieser Problematik reicht ebenso zur übergreifenden Theorie und Ausgestaltung der Verbrechenskontrolle wie zur Perspektive des künftigen Strafrechts.
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